Inhalt AUFSÄTZE BUCHREZENSIONEN VARIA ... - ZIS
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<strong>Inhalt</strong><br />
<strong>AUFSÄTZE</strong><br />
Strafrecht<br />
Alternative Kausalität und notwendige Bedingung<br />
Zu der neuen logischen Konzeption der Mehrfachkausalität<br />
von Kindhäuser<br />
Von Prof. Dr. Ingeborg Puppe, Bonn 267<br />
Völkerstrafrecht<br />
Erfordern Menschlichkeitsverbrechen die Beteiligung eines<br />
Staates oder einer „staatsähnlichen“ Organisation?<br />
Von Prof. Dr. Gerhard Werle, Dr. Boris Burghardt, Berlin 271<br />
Europäisches Strafrecht<br />
Das deutsche Inzestverbot vor den Schranken des EGMR<br />
Die Entscheidung und ihre Folgen für die<br />
strafrechtswissenschaftliche Debatte<br />
Von Wiss. Assistent Dr. Michael Kubiciel, Regensburg 282<br />
<strong>BUCHREZENSIONEN</strong><br />
<strong>VARIA</strong><br />
Strafrecht<br />
Sebastian Wollschläger, Der Täterkreis des § 299 Abs. 1<br />
StGB und Umsatzprämien im Stufenwettbewerb, 2009<br />
(Rechtsanwalt Harald Wostry, Essen) 290<br />
Europäisches Strafrecht<br />
Markus Mavany, Die Europäische Beweisanordnung und<br />
das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, 2012<br />
(Referendar Patrick M. Pintaske, Dresden) 292<br />
Betäubungsmittelstrafrecht<br />
Klaus Weber, BtMG, Betäubungsmittelgesetz, Kommentar,<br />
3. Aufl. 2009<br />
(Wiss. Assistentin Dr. Nina Nestler, Würzburg) 295<br />
Internationales Strafrecht<br />
Kai Ambos, Internationales Strafrecht, 3. Aufl. 2012<br />
(RiLG Dr. Helmut Kreicker, Karlsruhe 296<br />
Strafrecht<br />
Standpunkte der deutschen Strafrechtslehrer zu den<br />
Zukunftsperspektiven der Rechtswissenschaft und der<br />
akademischen juristischen Ausbildung in Deutschland<br />
Von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Bernd Schünemann, München 302<br />
TAGUNGSBERICHTE<br />
Völkerstrafrecht<br />
Tagungsbericht: Sitzung des Arbeitskreises Völkerstrafrecht<br />
am 4. und 5.5.2012 in Nürnberg<br />
Von Dr. Lars Berster, Köln 312
Alternative Kausalität und notwendige Bedingung<br />
Zu der neuen logischen Konzeption der Mehrfachkausalität von Kindhäuser*<br />
Von Prof. Dr. Ingeborg Puppe, Bonn<br />
Der Bestimmung einer Einzelursache als notwendige Bedingung<br />
eines Erfolges (conditio sine qua non) wird seit jeher<br />
entgegengehalten, dass sie in den Fällen der sog. alternativen<br />
Kausalität, also bei Vorhandensein mehrerer wahrer<br />
Kausalerklärungen eines Erfolges, versagt. 1 Auch die sog.<br />
Alternativenformel, die diesen Mangel beheben soll, ist auf<br />
logische und methodische Kritik gestoßen, 2 vor allem weil<br />
man nicht weiß, wann man die Formel von der notwendigen<br />
Bedingung anwenden soll und wann die mit ihr im Widerspruch<br />
stehende Alternativenformel. 3 In seinem neuesten<br />
Beitrag „Zurechnung bei alternativer Kausalität“ zu diesem<br />
Problem verteidigt Kindhäuser die Conditio sine qua non-<br />
Formel gegen diese Kritik, indem er es unternimmt, ein logisches<br />
Verfahren zu entwickeln, mit dem man allein mit Hilfe<br />
dieser Formel, ohne jede Zusatzformel, zu dem Ergebnis<br />
kommt, dass alle konkurrierenden Teilbedingungen Ursachen<br />
sind. Es ist zu erwarten, dass dies in der wissenschaftlichen<br />
Diskussion viel Beifall finden wird. Denn nachdem es Anfang<br />
der neunziger Jahre den Anschein hatte, dass die Conditio<br />
sine qua non-Formel an den logischen Mängeln scheitern<br />
werde, die man ihr seit Engischs berühmter Abhandlung 4<br />
entgegenhielt, erfreut sie sich heute, vor allem um ihrer Bequemlichkeit<br />
in der praktischen Anwendung willen, wieder<br />
* Kindhäuser, GA 2012, 134. Es handelt sich um den Festvortrag,<br />
den Herr Kindhäuser am 6.5.2011 aus Anlass der<br />
Übergabe meiner Festschrift in Bonn gehalten hat. Es hätte<br />
also nahe gelegen, auch diese Entgegnung in GA zu veröffentlichen,<br />
aber das GA veröffentlicht grundsätzlich keine<br />
Repliken.<br />
1<br />
Statt vieler Kühl, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl.<br />
2008, § 4 Rn. 9; Wessels/Beulke, Strafrecht, Allgemeiner<br />
Teil, 41. Aufl. 2011, Rn. 157; Kindhäuser, Strafrecht, Allgemeiner<br />
Teil, 5. Aufl. 2011, § 10 Rn. 34; Weber, in:<br />
Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 11. Aufl.<br />
2003, § 14 Rn. 41; Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1,<br />
4. Aufl. 2006, § 11 Rn. 13.<br />
2<br />
Puppe, GA 2010, 551 (553 f.); dies., in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen<br />
(Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch,<br />
Bd. 1, 3. Aufl. 2010, Vor § 13 Rn. 93; dies., ZStW 92 (1980),<br />
863 (878); Neumann, GA 2008, 463 (464); Jescheck/Weigend,<br />
Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 28 II. 4.;<br />
Roxin (Fn. 1), § 11 Rn. 13; Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder,<br />
Strafgesetzbuch, Kommentar, 28. Aufl. 2010,<br />
Vor § 13 Rn. 74, 82; Freund, in: Joecks/Miebach (Hrsg.),<br />
Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, 2. Aufl.<br />
2011,Vor § 13 Rn. 338 ff.<br />
3<br />
Puppe, GA 2010, 551 (553 f.); dies. (Fn. 2), Vor § 13<br />
Rn. 93; dies., ZStW 92 (1980), 863 (878); Neumann, GA<br />
2008, 463 (464); Jescheck/Weigend (Fn. 2), § 28 II. 4.; Roxin<br />
(Fn. 1), § 11 Rn. 13; Lenckner/Eisele (Fn. 2), Vor § 13 Rn.<br />
74, 82; Freund (Fn. 2), Vor § 13 Rn. 311 ff.<br />
4<br />
Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen<br />
Tatbestände, 1931, S. 15 ff.<br />
großer Anerkennung und Wertschätzung. 5 Umso wichtiger<br />
erscheint es, Kindhäusers neuen Versuch der Rehabilitation<br />
der Conditio sine qua non-Formel als ausschließliche Methode,<br />
eine Einzelursache begrifflich zu bestimmen und praktisch<br />
zu ermitteln, auf den logischen Prüfstand zu stellen.<br />
I. Kindhäusers logische Widerlegung der These, dass bei<br />
alternativer Kausalität mehrere hinreichende Erfolgsbedingungen<br />
bestehen<br />
Die Lehre von der hinreichenden Mindestbedingung löst das<br />
logische Problem der Mehrfachkausalität dadurch, dass sie<br />
die verschiedenen konkurrierenden Ursachen in verschiedene<br />
hinreichende Bedingungen einstellt, in denen sie dann als<br />
notwendige Teilbedingungen erscheinen, d.h. als notwendig<br />
dafür, dass die Bedingung hinreichend ist. 6 Kindhäuser verwirft<br />
diese Lösung mit der Begründung, dass aus logischen<br />
Gründen nicht gleichzeitig mehrere hinreichende Bedingungen<br />
für ein und denselben Erfolg instanziiert sein können.<br />
Diese These ist grundlegend neu. 7 Kindhäuser begründet sie<br />
5<br />
Toepel, Kausalität und Pflichtwidrigkeitszusammenhang<br />
beim fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1992, S. 93; Schaal, Strafrechtliche<br />
Verantwortlichkeit bei Gremienentscheidungen in<br />
Unternehmen, 2001, S. 91; Samson, in: Rogall/Puppe/Stein<br />
(Hrsg.), Festschrift für Hans-Joachim Rudolphi zum 70. Geburtstag,<br />
2004, S. 257 (S. 262 f.); Greco, <strong>ZIS</strong> 2011, 674 (685);<br />
Walter, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.),<br />
Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 1, 12. Aufl.<br />
2007, Vor § 13 Rn. 74; Frisch, in: Dölling (Hrsg.), Festschrift<br />
für Karl Heinz Gössel zum 70. Geburtstag am 16.<br />
Oktober 2002, 2002, S. 51 (S. 67 f.); ders., in: Böse/Bloy/<br />
Hillenkamp/Momsen/Rackow (Hrsg.), Gerechte Strafe und<br />
legitimes Strafrecht, Festschrift für Manfred Maiwald zum<br />
75. Geburtstag, 2010, S. 239 (S. 253 ff.); Jäger, in: Böse/<br />
Bloy/Hillenkamp/Momsen/Rackow (a.a.O.), S. 345; Bung,<br />
Wissen und Wollen im Strafrecht, 2009, S. 82 ff. Zur Bequemlichkeit<br />
der Conditio sine qua non-Formel als nur<br />
scheinbarer Vorzug Puppe, GA 2010, 551 (569 f.).<br />
6<br />
Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (875 ff.) = dies., Strafrechtsdogmatische<br />
Analysen, 2006, S. 114; dies. (Fn. 2), Vor § 13<br />
Rn. 103, 108; Sofos, Mehrfachkausalität beim Tun und Unterlassen,<br />
1999, S. 110 ff.; Honoré, Responsibility and Fault,<br />
1999, S. 109 ff.; Wright, California Law Review 75 (1985),<br />
1735 (1792 f.); ders., in: Goldberg (Hrsg.), Perspectives on<br />
Causation, 2011, S. 285 (S. 292).<br />
7<br />
Kindhäuser, GA 2012, 134 (139 ff.). Nicht so neu ist freilich<br />
die These, dass es aus tatsächlichen Gründen unmöglich<br />
sei, dass mehrere hinreichende Bedingungen vollständig<br />
erfüllt sind, so zuletzt Rotsch, in: Heinrich u.a. (Hrsg.), Strafrecht<br />
als Scientia Universalis, Festschrift für Claus Roxin<br />
zum 80. Geburtstag am 15. Mai 2011, Bd. 1, 2011, S. 337<br />
(S. 382 ff.) im Anschluss an Samson, Strafrecht, Bd. 1, 3.<br />
Aufl. 1980 7. Aufl. 1988, S. 22 und Walter (Fn. 5), Vor § 13<br />
Rn. 77. Er erläutert das anhand des Standardfalles der doppel-<br />
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267
Ingeborg Puppe<br />
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mit einer logischen Formel, die er als „Symmetrie“ bezeichnet<br />
und die in der Aussagenlogik Kontraposition genannt<br />
wird. Sie besagt: Wenn eine Tatsache oder ein Komplex von<br />
Tatsachen hinreichende Bedingung für einen Erfolg E ist, so<br />
ist E notwendige Bedingung für diesen Komplex von Tatsachen.<br />
Etwas gewöhnungsbedürftig ist es, dass wir bei der<br />
Anwendung dieser Formel auf die kausale Erklärung als<br />
hinreichende Bedingung ein späteres Ereignis als notwendige<br />
Bedingung für einen Komplex von früheren Ereignissen<br />
bezeichnen. Logisch ist das aber völlig korrekt, denn logische<br />
Bedingungsbeziehungen haben keine zeitliche Richtung. Sie<br />
bezeichnen nur Abhängigkeiten der Wahrheit eines Satzes<br />
von der eines anderen. Kindhäuser wendet nun die Kontraposition<br />
auf das Beispiel der doppelten Giftdosis wie folgt an:<br />
„Auf das Beispiel mit zwei Tätern bezogen, besagt die<br />
Symmetrie, dass die folgenden beiden Sätze wahr sein müssen,<br />
wenn es zwei unabhängig voneinander bestehende hinreichende<br />
Bedingungen für den Tod des O geben soll: (1)<br />
Wenn die Vergiftung durch A ceteris paribus hinreicht, um O<br />
zu töten, dann hat A den O nur vergiftet, wenn dieser unabhängig<br />
davon tot ist, ob er auch von B vergiftet wurde. Und:<br />
(2) Wenn die Vergiftung durch B ceteris paribus hinreicht,<br />
um O zu töten, dann hat B den O nur vergiftet, wenn dieser<br />
unabhängig davon tot ist, ob er auch von A vergiftet wurde.“ 8<br />
All dies ist logisch richtig. Der Tod des O ist eine notwendige<br />
Bedingung sowohl dafür, dass die Giftgabe durch A<br />
wahr ist, als auch dafür, dass die Giftgabe durch B wahr ist.<br />
Wenn O nicht tot ist, so hat er von A keine tödliche Dosis<br />
Gift erhalten und wenn O nicht tot ist, so hat er von B keine<br />
tödliche Dosis Gift erhalten. Aber nach Kindhäuser können<br />
diese beiden Sätze nicht zugleich wahr sein. Er fährt nämlich<br />
wie folgt fort: „Doch diese beiden Sätze geben die Sachlage<br />
nicht zutreffend wieder: O kann nicht unabhängig davon tot<br />
sein, ob ihn A vergiftet hat, oder nicht und zugleich unabhängig<br />
davon tot sein, ob ihn B vergiftet hat oder nicht. Träfe<br />
dies zu, dann erforderte der Tod des O weder, dass ihn A,<br />
noch dass ihn B vergiftet hat. Doch es ist gewiss, dass O noch<br />
ten Giftdosis. Der Tod des Vergifteten trete tatsächlich stets<br />
durch Teilmengen beider inkorporierter Giftgaben auf Grund<br />
nur einer hinreichenden Bedingung ein, während die überschießenden<br />
Giftmoleküle aus beiden Giftgaben nicht mehr<br />
zur Wirkung kommen, weil das Opfer vorher stirbt. Das mag<br />
z.B. bei einem Gift, das die Magenwand verätzt und so zum<br />
inneren Verbluten führt so sein. Aber das Argument erledigt<br />
nicht alle Fälle überbedingter Kausalverläufe. Wirkt das Gift<br />
erst später, etwa im Darm oder im Blut, so sind alle Moleküle<br />
beider Gifte schon zur Stelle, wenn die Wirkung beginnt.<br />
Und andere Fälle der Überbedingung, z.B. die illegale Hinrichtung<br />
durch zwölf Schützen, das Gremienproblem oder ein<br />
Unfall, der durch den Fehler jedes Beteiligten allein hinreichend<br />
bedingt ist (vgl. BGHSt 11, 1; BGH VRS 25, 262),<br />
lassen sich erst recht nicht durch eine Feinanalyse des Kausalprozesses<br />
erledigen. Hinzu kommt, dass die Formel von<br />
der notwendigen Bedingung für eine solche Feinanalyse gar<br />
keinen Raum lässt, auch nicht ex post, vgl. Puppe (Fn. 2),<br />
Vor § 13 Rn. 107.<br />
8 Kindhäuser, GA 2012, 134 (139).<br />
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268<br />
<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />
leben würde, wenn ihn weder A noch B vergiftet hätten.“<br />
Und nun folgt, was Kindhäuser mit diesen letzten Sätzen<br />
beweisen wollte: „Unter Beachtung der Symmetrie von Bedingungsrelationen<br />
(Kontraposition) lässt sich also der Tod<br />
des O zum Zeitpunkt t nicht durch zwei unabhängig voneinander<br />
bestehende hinreichende Bedingungen erklären.“ 9<br />
Kindhäuser sieht ein Problem, wo keines ist. Dass O unabhängig<br />
davon tot ist, ob A ceteris paribus eine hinreichende<br />
Bedingung für seinen Tod gesetzt hat, gilt nur unter der Voraussetzung,<br />
dass B eine hinreichende Bedingung für seinen<br />
Tod gesetzt hat und dass O unabhängig davon tot ist, ob B<br />
eine hinreichende Bedingung für seinen Tod gesetzt hat, gilt<br />
nur unter der Voraussetzung, dass A eine hinreichende Bedingung<br />
für seinen Tod gesetzt hat. Damit ist vereinbar, dass<br />
der Tod des O nicht eintritt, wenn weder A noch B eine hinreichende<br />
Bedingung dafür gesetzt hat. Wir können also weiterhin<br />
von mehreren hinreichenden Bedingungen für ein und<br />
denselben Erfolg sprechen, wenn beispielsweise zwei Täter<br />
ein und demselben Opfer je eine tödliche Dosis Gift verabreicht<br />
haben, zwölf Schützen bei einer standrechtlichen Erschießung<br />
auf Kommando gleichzeitig auf das Herz des Opfers<br />
schießen, ein rechtswidriger Beschluss mit allen sechs<br />
Stimmen eines Gremiums angenommen wird, obwohl vier<br />
Stimmen für die Beschlussmehrheit ausgereicht hätten.<br />
Kindhäuser bringt nun ein zweites Argument dafür, dass<br />
es nicht mehrere hinreichende Bedingungen für ein und denselben<br />
Erfolg geben kann, das von den bisherigen Überlegungen<br />
unabhängig ist. Eine menschliche Handlung oder<br />
sonst eine Einzeltatsache ist für sich allein nie hinreichende<br />
Bedingung eines Erfolges, sondern nur in Verbindung mit<br />
anderen zahllosen Tatsachen, dem sogenannten kausalen<br />
Feld. Befinden sich im kausalen Feld mehrere Teilbedingungen,<br />
die sich gegenseitig ersetzen können, so nehmen sie sich<br />
gegenseitig, wie Kindhäuser es nennt, die „kausale Relevanz“.<br />
„Dabei kann man den Nachweis der kausalen Relevanz<br />
eines Umstandes nicht sachgemäß führen, indem man –<br />
wie Puppe – genau die Tatsache, die dem fraglichen Umstand<br />
die kausale Relevanz nimmt, aus der Kausalerklärung<br />
streicht“. 10<br />
Aber man kann das nicht nur tun, sondern muss es auch.<br />
Sind nämlich in einer hinreichenden Bedingung mehrere Teilbedingungen<br />
enthalten, die sich gegenseitig in der kausalen<br />
Erklärung ersetzen können, so würde keine von ihnen als<br />
Ursache erscheinen. Dies ist der Grund dafür, dass die hinreichende<br />
Bedingung nach allgemeinen Gesetzen eine Minimalbedingung<br />
sein muss, in der keine Teilbedingung doppelt<br />
vertreten ist. 11<br />
Wiederum unabhängig davon ist das dritte Argument, das<br />
Kindhäuser gegen die Möglichkeit mehrerer hinreichender<br />
9<br />
Kindhäuser, GA 2012, 134 (139 f.).<br />
10<br />
Kindhäuser, GA 2012, 134 (140); ähnlich Moore, Causation<br />
in Law, An Essay in Law, Morals, and Metaphysics, 2010,<br />
S. 486; Knauer, Die Kollegialentscheidung im Strafrecht,<br />
2001, S. 121; Koriath, Kausalität und objektive Zurechnung,<br />
2007, S. 110.<br />
11<br />
Puppe (Fn. 2), Vor § 13 Rn. 102 f.; dies., ZStW 92 (1980),<br />
863 (875 ff.); dies., Rechtswissenschaft 2011, 400 (430).
Alternative Kausalität und notwendige Bedingung<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Erfolgsbedingungen ins Feld führt. Verschiedene hinreichende<br />
Mindestbedingungen eines Erfolges können gemeinsame<br />
Elemente haben. Sie haben sogar stets gemeinsame Elemente,<br />
wenn man in der Kausalkette weit genug zurückgeht und sei<br />
es bis zum Urknall. Beispielsweise im Doppelgiftmordfall<br />
haben beide hinreichenden Bedingungen das gemeinsame<br />
Element, dass dem Opfer das später vergiftete Getränk bereitet<br />
wurde und dass dieses es auch getrunken hat, im Hinrichtungsfall<br />
das gemeinsame Element, dass der Offizier die<br />
standrechtliche Erschießung angeordnet und ein anderer Soldat<br />
die Gewehre geladen hat usw., im Gremienfall, dass außer<br />
dem zu prüfenden Gremiumsmitglied auch noch drei<br />
weitere für den rechtswidrigen Beschluss gestimmt haben.<br />
Würde man nun diese gemeinsamen Elemente in Verbindung<br />
mit jeweils verschiedenen anderen Elementen zu mehreren<br />
hinreichenden Erfolgsbedingungen verknüpfen, so würde<br />
man sie nach Kindhäuser „doppelt berücksichtigen“ 12 . Die<br />
doppelte Berücksichtigung einer Tatsache, die nur einmal<br />
gegeben ist, ist nicht nur ein Fehler der Strafzumessung, sondern<br />
ein logischer Fehler. Man zählt zweimal, was nur einmal<br />
vorhanden ist. Aber das gilt nur dann, wenn die Tatsachen in<br />
ein und demselben logischen Kontext, zum Beispiel in einer<br />
Rechnung, mehrfach verwertet werden, nicht wenn sie in<br />
verschiedenen logischen Kontexten verwertet werden. Die<br />
mehreren hinreichenden Erfolgsbedingungen sind aber verschiedene<br />
logische Kontexte. Diejenigen Logiker und Juristen,<br />
die das Problem der Überdetermination von Erfolgen<br />
durch die Akzeptanz mehrerer hinreichender Erfolgsbedingungen<br />
lösen, nehmen keinerlei Anstoß daran, dass diese<br />
gemeinsame Elemente haben, m.a.W. sich „überlappen“<br />
können. Sie erwähnen das allenfalls beiläufig. 13<br />
II. Kindhäusers Lösung des Problems der alternativen<br />
Kausalität mit Hilfe der Conditio sine qua non-Formel<br />
Kindhäuser will nun vor allem dartun, dass die Bestimmung<br />
der Ursache als notwendige Bedingung auch bei mehreren<br />
konkurrierenden Ursachen logisch richtig ist. Geht man von<br />
seiner These aus, dass es nur eine hinreichende Bedingung<br />
für den Erfolg geben kann, so befinden sich, sofern es mehrere<br />
konkurrierende Ursachen gibt, diese auch sämtlich in der<br />
hinreichenden Bedingung. Aber innerhalb dieser hinreichenden<br />
Bedingung ist keine von ihnen notwendig. Zur Lösung<br />
dieses logischen Problems macht Kindhäuser zwei Vorschläge,<br />
die, wie es nicht anders sein kann, logisch äquivalent<br />
sind. Der erste geht dahin, als notwendige Bedingung die<br />
alternative Verknüpfung der konkurrierenden Ursachen in die<br />
Conditio sine qua non-Formel einzusetzen. Die notwendige<br />
Bedingung für den Erfolg lautet also bei Doppelkausalität (a<br />
12<br />
Kindhäuser, GA 2012, 134 (140).<br />
13<br />
Statt vieler Broad, Mind 39 (1930), 302 (308); Wright,<br />
California Law Review 75 (1985), 1735 (1792 f.); Honoré<br />
(Fn. 6), S. 116 f., 1792 ff.; Stapleton, in: Beebee/Menzies/<br />
Hitchcock (Hrsg.), The Oxford Handbook of Causation, 2009,<br />
S. 744 (S. 747); dies., Missouri Law Review 73 (2008), 433<br />
(435 ff.); Sofos (Fn. 6), S. 160 f.; T. Rodriguez Montanés, in:<br />
Schünemann u.a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin zum<br />
70. Geburtstag am 15. Mai 2001, 2001, S. 307 (S. 313 f.).<br />
oder b). 14 Den gleichen Vorschlag hat schon Mackie gemacht,<br />
ebenfalls mit dem Ziel die Bestimmung der Ursache<br />
als notwendige Bedingung gegen den Einwand der Doppelkausalität<br />
zu verteidigen. 15<br />
Es ist im Fall von Doppelkausalität logisch richtig, dass (a<br />
oder b) eine notwendige Bedingung des Erfolges ist, denn<br />
dieser würde nicht eintreten, wenn weder a noch b wahr wäre.<br />
Es ist aber doch das Ziel, den Erfolg nicht mit einem Ausdruck<br />
„(a oder b)“ in Beziehung zu setzen, sondern sowohl<br />
mit a, als auch mit b, denn wir wollen ihn ja sowohl dem A<br />
zurechnen, der die Handlung a begangen hat, als auch dem B,<br />
der die Handlung b begangen hat. Wir müssen also die These<br />
aufstellen, dass sowohl die Handlung a, als auch die Handlung<br />
b, eine Ursache des Erfolges E ist, wenn gilt, dass (a<br />
oder b) eine notwendige Bedingung des Erfolges ist. So verfährt<br />
denn auch Kindhäuser:<br />
„Nichts hindert uns daran, die disjunktiven Teilbedingungen<br />
einer komplexen notwendigen Bedingung jeweils als<br />
Ursachen anzusehen.“ 16<br />
Aber es gibt doch etwas, was uns daran hindern sollte.<br />
Denn nach dieser Regel könnten wir jede beliebige Tatsache,<br />
insbesondere jede beliebige menschliche Handlung x, zur<br />
Ursache jedes Erfolges erklären, indem wir sie mit einer<br />
wirklichen Ursache, also einer notwendigen Bedingung a des<br />
Erfolges disjunktiv verknüpfen. Wenn nämlich a eine notwendige<br />
Bedingung des Erfolges ist, ist auch (a oder b) eine<br />
solche. Denn (a oder b) ist immer wahr, wenn a wahr ist, also<br />
logisch schwächer als a. Wenn die logisch stärkere Bedingung<br />
eine notwendige ist, dann ist es auch eine logisch<br />
schwächere. Das ist der Grund dafür, dass sich die klassische<br />
sogenannte Alternativenformel eben nicht mit der Feststellung<br />
begnügt hat, dass (a oder b) eine notwendige Bedingung<br />
des Erfolges ist, sodass a und b nicht „kumulativ“ hinweggedacht<br />
werden können, ohne dass der Erfolg entfiele. Sie hat<br />
vielmehr zusätzlich gefordert, dass weder a noch b eine notwendige<br />
Bedingung ist, dass sie also alternativ „hinweggedacht<br />
werden können ohne dass der Erfolg entfiele.“ Für die<br />
nach der Alternativenformel als Ursachen bestimmten Bedingungen<br />
gilt nicht nur, dass sie für den Erfolgseintritt nicht<br />
notwendig sein müssen, sie dürfen dafür nicht notwendig<br />
sein. Also steht die Alternativenformel im direkten Widerspruch<br />
zur Formel von der notwendigen Bedingung. 17<br />
Kindhäuser bietet nun aber noch eine zweite Formel zur<br />
Bestimmung der Ursache, die lautet: „Ursache ist ein Umstand,<br />
der allein oder in Verbindung mit bestimmten anderen<br />
Umständen ceteris paribus nicht hinweggedacht werden<br />
kann, ohne dass der Eintritt des Erfolges zum Zeitpunkt t<br />
nach Maßgabe der einschlägigen Kausalgesetze entfiele.“ 18<br />
14 Kindhäuser, GA 2012, 134 (141).<br />
15 Mackie, The Cement of the universe, 1974, S. 47. Krit. zu<br />
diesem Vorschlag Honoré (Fn. 6), S. 108; Wright, California<br />
Law Review 75 (1985), 1735 (1795); Puppe, Rechtswissenschaft<br />
2011, 400 (410).<br />
16 Kindhäuser, GA 2012, 134 (142).<br />
17 Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, 2. Aufl.<br />
2011, S. 175 ff.; vgl. auch Puppe (Fn. 2), Vor § 13 Rn. 93.<br />
18 Kindhäuser, GA 2012, 134 (142).<br />
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269
Ingeborg Puppe<br />
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Uns interessiert hier nur die zweite Alternative, eine Ursache<br />
ist ein Umstand, der in Verbindung mit bestimmten<br />
anderen Umständen nicht hinweggedacht werden kann, ohne<br />
dass der Erfolg […] nach Maßgabe der einschlägigen Kausalgesetzte<br />
entfiele. Diese Formel ist logisch äquivalent mit<br />
der soeben diskutierten. Wenn gilt (a oder b) ist eine notwendige<br />
Bedingung für E, so gilt auch (nicht a und nicht b) ist<br />
eine hinreichende Bedingung für nicht E. Das ist wiederum<br />
die Kontraposition. Aber die Behauptung, dass man auf diese<br />
Weise jede beliebige Tatsache zur Ursache jedes beliebigen<br />
Erfolges erklären kann lässt sich auch für diese logische<br />
Form der kindhäuserschen Formel direkt beweisen. Die Formel<br />
stellt ihrer Form nach eine hinreichende Bedingung für<br />
das Ausbleiben des Erfolges dar. Nun gilt für hinreichende<br />
Bedingungen: Wenn eine Bedingung für einen Erfolg hinreichend<br />
ist, so ist auch jede logisch stärkere Bedingung dafür<br />
hinreichend. Wenn also ein Komplex von Tatsachen (a und<br />
b) eine hinreichende Bedingung für E ist, so ist auch der<br />
Komplex (a und b und x) eine solche, wobei x eine beliebige<br />
Aussage ist.<br />
Kindhäuser meint, diesen Einwand mit dem Hinweis widerlegen<br />
zu können, dass die hinreichende Bedingung ja<br />
naturgesetzlich bestimmt sein muss. Der Einwand würde<br />
stechen, wenn Kindhäuser sich darauf einlassen würde, die<br />
hinreichende Bedingung als nach Kausalgesetzen gültige<br />
Minimalbedingung zu bestimmen. Das hat er aber schon<br />
dadurch abgelehnt, dass er die These aufstellt, es könne für<br />
ein und denselben Erfolg nur eine hinreichende Bedingung<br />
geben. Denn dann ist man gerade bei Mehrfachkausalität<br />
genötigt, alle Teilbedingungen, mit denen gemeinsam eine<br />
Ursache a eine hinreichende Bedingung begründet und alle<br />
Teilbedingungen, mit denen gemeinsam eine Ursache b eine<br />
hinreichende Bedingung begründet, zu einer einzigen hinreichenden<br />
Bedingung zusammenzufassen. 19 Das ist dann aber<br />
keine nach allgemeinen Gesetzen hinreichende Mindestbedingung.<br />
Die Bestimmung der Ursache als notwendige Bedingung<br />
versagt nicht nur in den Fällen der sogenannten Mehrfachkausalität,<br />
sondern auch bei der überholenden Kausalität,<br />
indem sie zu dem Ergebnis führt, dass weder die überholende,<br />
noch die überholte Bedingung eine Ursache ist. 20 Kindhäuser<br />
will diesen Einwand mit folgenden Ausführungen<br />
entkräften: „Bei sog. Reserveursachen im allgemeinen wie<br />
auch beim Sonderfall der überholenden Kausalität sind keine<br />
komplexen Bedingungen gegeben. Vielmehr besitzt allein die<br />
für die kausale Erfolgserklärung notwendige Bedingung kausale<br />
Relevanz. Ein Täter, der ein Seil durchschneidet, an dem<br />
ein abgestürzter Bergsteiger hängt hat die Ursache für dessen<br />
Tod unabhängig davon gesetzt, dass das Seil ohnehin wenig<br />
später gerissen wäre. Letzteres kann bei der Erklärung des<br />
konkreten Geschehens unberücksichtigt bleiben.“ 21<br />
19 Kindhäuser, GA 2012, 134 (141).<br />
20 Die sog. Alternativenformel versagt in diesen Fällen deshalb,<br />
weil sie zu dem Ergebnis führt, dass sowohl die überholende,<br />
als auch die überholte Bedingung eine Ursache ist.<br />
21 Kindhäuser, GA 2012, 134 (143).<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
270<br />
<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />
Das Ergebnis ist freilich richtig und kann mithilfe der<br />
Darstellung des Kausalprozesses als Kette hinreichender Mindestbedingungen<br />
begründet werden. 22 Aber mit Hilfe der<br />
Bestimmung einer Ursache als schlechthin notwendige Bedingung<br />
ist es nicht vereinbar, wenn das Seil zu dünn war,<br />
den Bergsteiger auf die Dauer zu halten. Diese Tatsache<br />
nimmt, mit den Worten Kindhäusers, der Durchtrennung des<br />
Seils die „kausale Relevanz“. Und an einer früheren Stelle<br />
sagt er ausdrücklich: „Dabei kann man den Nachweis der<br />
kausalen Relevanz eines Umstandes nicht sachgemäß führen,<br />
indem man – wie Puppe – genau die Tatsache, die dem fraglichen<br />
Umstand die kausale Relevanz nimmt aus der Kausalerklärung<br />
streicht.“ 23<br />
Solange wir also nicht bereit sind alle freizusprechen, die<br />
Bedingungen für einen Erfolgseintritt gesetzt haben, die sich<br />
gegenseitig ersetzen können, solange wir nicht bereit sind,<br />
alle Unfallbeteiligten freizusprechen, die je für sich eine so<br />
krasse Verkehrswidrigkeit begangen haben, dass sie ausreicht,<br />
auch ohne die Verkehrswidrigkeit des anderen Beteiligten<br />
den Unfall zu verursachen, 24 bleibt es dabei, dass die Conditio<br />
sine qua non-Formel die Beziehung, die wir Ursächlichkeit<br />
nennen, logisch falsch beschreibt. 25<br />
22 Puppe (Fn. 2), Vor § 13 Rn. 114; dies., ZStW 92 (1980),<br />
863 (869 ff.) = dies. (Fn. 6), S. 106 ff.<br />
23 Kindhäuser, GA 2012, 134 (140).<br />
24 Beispiele dafür aus der Rspr., in denen der Überlebende<br />
Unfallverursacher unter Anwendung der Conditio sine qua<br />
non-Formel freigesprochen worden ist, weil die Doppelkausalität<br />
nicht erkannt wurde, sind BGHST 11, 1, dazu Puppe,<br />
in: Schünemann u.a. (Fn. 13), S. 287 (S. 290 ff.); und BGH<br />
VRS 25, 262, dazu Puppe, Strafrecht, Allgemeiner Teil,<br />
Bd. 1, 2. Aufl. 2010, § 3 Rn. 13 ff.<br />
25 Puppe (Fn. 2), Vor § 13 Rn. 91.
Erfordern Menschlichkeitsverbrechen die Beteiligung eines Staates oder einer<br />
„staatsähnlichen“ Organisation?<br />
Von Prof. Dr. Gerhard Werle, Dr. Boris Burghardt, Berlin*<br />
Verbrechen gegen die Menschlichkeit setzen gem. Art. 7<br />
Abs. 2 lit. a IStGH-Statut voraus, dass der tatbestandliche<br />
Angriff auf eine Zivilbevölkerung „in Ausführung oder zur<br />
Unterstützung der Politik eines Staates oder einer Organisation“<br />
begangen wird. Umstritten ist insbesondere die Auslegung<br />
des Merkmals „Organisation“. Die Autoren vertreten<br />
die Auffassung, dass das Merkmal entsprechend der üblichen<br />
Begriffsbedeutung zu verstehen ist: Erfasst wird jeder Personenzusammenschluss<br />
mit gefestigten Strukturen. Gegen eine<br />
Auslegung, die das Merkmal auf „staatsähnliche“ Organisationen<br />
beschränkt, sprechen sowohl systematische als auch<br />
teleologische Gründe.<br />
I. Einleitung<br />
Am 23.1.2012 hat die Vorverfahrenskammer II des Internationalen<br />
Strafgerichtshofs (IStGH) zwei Entscheidungen über<br />
die Bestätigung der bislang ergangenen Anklagen in der<br />
Kenia-Situation gefällt. 1 Die Entscheidungen verdeutlichen<br />
erneut, dass zwischen den Richtern der Vorverfahrenskammer<br />
ein tiefgreifender Dissens darüber besteht, ob der IStGH<br />
Gerichtsbarkeit über diese Situation ausüben darf. Zentraler<br />
Streitpunkt ist dabei die Auslegung des sogenannten Politikelements<br />
bei den Verbrechen gegen die Menschlichkeit.<br />
Art. 7 Abs. 2 lit. a IStGH-Statut bestimmt, dass ein Angriff<br />
auf eine Zivilbevölkerung verübt werden muss „in Ausführung<br />
oder zur Unterstützung der Politik eines Staates oder<br />
einer Organisation, die einen solchen Angriff zum Ziel hat“. 2<br />
Nach Auffassung der Kammermehrheit, bestehend aus der<br />
Vorsitzenden Richterin Ekaterina Trendafilova und dem<br />
Richter Cuno Tarfusser, erfasst Art. 7 Abs. 2 lit. a IStGH-<br />
Statut jede Organisation, die in der Lage ist, einen ausgedehnten<br />
oder systematischen Angriff gegen eine Zivilbevöl-<br />
* Prof. Dr. Gerhard Werle ist Inhaber des Lehrstuhls für<br />
deutsches und internationales Strafrecht, Strafprozessrecht<br />
und Juristische Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität<br />
zu Berlin und Extraordinary Professor an der University of<br />
the Western Cape, Kapstadt. Dr. Boris Burghardt ist Wissenschaftlicher<br />
Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin.<br />
Die Autoren hatten dankenswerterweise Gelegenheit, den<br />
Text beim Treffen des Arbeitskreises Völkerstrafrecht in<br />
Nürnberg am 4./5.5.2012 vorzustellen und zu diskutieren.<br />
1<br />
IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 23.1.2012 – ICC-<br />
01/09-01/11-373 (The Prosecutor v. Ruto, Kosgey and Sang)<br />
und IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 23.1.2012 –<br />
ICC-01/09-02/11-382 (The Prosecutor v. Muthaura, Kenyatta<br />
and Ali).<br />
2<br />
Art. 7 Abs. 2 lit. a IStGH-Statut: pursuant to or in furtherance<br />
of a State or organizational policy to commit such attack/en<br />
application ou dans la poursuite de la politique d’un<br />
État ou d’une organisation ayant pour but une telle attaque/de<br />
conformidad con la política de un Estado o de una<br />
organización de cometer ese ataque o para promover esa<br />
política.<br />
kerung zu begehen. 3 Dagegen schränkt Richter Hans-Peter<br />
Kaul das Merkmal ein: Die den Angriff tragende Organisation<br />
müsse „staatsähnlich“ (state-like) sein. 4 Für die Kenia-<br />
Situation verneint er diese Voraussetzung und damit zugleich<br />
die Zuständigkeit des IStGH. 5<br />
3<br />
Vgl. IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 31.3.2010 –<br />
ICC-01/09-19 (Decision Pursuant to Article 15 of the Rome<br />
Statute on the Authorization of an Investigation into the Situation<br />
in the Republic of Kenya), para. 90. Bestätigt in IStGH<br />
(Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 8.3.2011 – ICC-01/09-<br />
01/11-1, para. 15; IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v.<br />
8.3.2011 – ICC-01/09-02/11-1, para. 16; IStGH (Pre-Trial<br />
Chamber II), Beschl. v. 23.1.2012 – ICC-01/09-01/11-373<br />
(The Prosecutor v. Ruto, Kosgey and Sang), paras. 184 f.;<br />
IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 23.1.2012 – ICC-<br />
01/09-02/11-382 (The Prosecutor v. Muthaura, Kenyatta and<br />
Ali), para. 112. Ebenso bereits IStGH (Pre-Trial Chamber I),<br />
Beschl. v. 30.9.2008 – ICC-01/04-01/07-717 (The Prosecutor<br />
v. Katanga and Chui), para. 396; IStGH (Pre-Trial Chamber<br />
II), Beschl. v. 15.6.2009 – ICC-01/05-01/08-424 (The Prosecutor<br />
v. Bemba Gombo), para. 81.<br />
4<br />
Vgl. IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 31.3.2010 –<br />
ICC-01/09-19 (Dissenting Opinion by Judge Hans-Peter Kaul<br />
to Pre-Trial Chamber II’s “Decision Pursuant to Article 15 of<br />
the Rome Statute on the Authorization of an Investigation<br />
into the Situation in the Republic of Kenya”), para. 67:<br />
„[T]he ‘organization’ must be state-like.“ Bestätigt in IStGH<br />
(Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 8.3.2011 – ICC-01/09-<br />
01/11-2 (Dissenting Opinion by Judge Hans-Peter Kaul to<br />
Pre-Trial Chamber II’s “Decision on the Prosecutor’s Application<br />
for Summons to Appear for William Samoei Ruto,<br />
Henry Kiprono Kosgey and Joshua Arap Sang”), para. 12;<br />
IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 15.3.2011 – ICC-<br />
01/09-02/11-3 (Dissenting Opinion by Judge Hans-Peter<br />
Kaul to Pre-Trial Chamber II’s “Decision on the Prosecutor’s<br />
Application for Summonses to Appear for Francis Kirimi<br />
Muthaura, Uhuru Muigai Kenyatta and Mohammed Hussein<br />
Ali”), para. 12; IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v.<br />
23.1.2012 – ICC-01/09-01/11-373 (Dissenting Opinion by<br />
Judge Hans-Peter Kaul to Pre-Trial Chamber II’s “Decision<br />
on the Confirmation of Charges Pursuant to Article 61(7)(a)<br />
and (b) of the Rome Statute”), para. 8; IStGH (Pre-Trial<br />
Chamber II), Beschl. v. 23.1.2012 – ICC-01/09-02/11-382<br />
(Dissenting Opinion by Judge Hans-Peter Kaul to Pre-Trial<br />
Chamber II’s “Decision on the Confirmation of Charges<br />
Pursuant to Article 61(7)(a) and (b) of the Rome Statute”),<br />
para. 7.<br />
5<br />
Vgl. IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 31.3.2010 –<br />
ICC-01/09-19 (Dissenting Opinion by Judge Hans-Peter Kaul<br />
to Pre-Trial Chamber II’s “Decision Pursuant to Article 15 of<br />
the Rome Statute on the Authorization of an Investigation<br />
into the Situation in the Republic of Kenya”), paras. 71 ff.,<br />
82, 93, 102, 112, 119, 127, 137, 146, 150; IStGH (Pre-Trial<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
271
Gerhard Werle/Boris Burghardt<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Der Beitrag lehnt den Versuch des Sondervotums ab, die<br />
Reichweite der Menschlichkeitsverbrechen durch eine restriktive<br />
Auslegung des Merkmals „Organisation“ zu begrenzen.<br />
Eine solche Auslegung verkürzt ohne methodisch tragfähige<br />
Begründung in bedenklicher Weise den völkerstrafrechtlichen<br />
Schutz von Zivilbevölkerungen.<br />
II. Methodische Vorüberlegungen zur Auslegung des<br />
Begriffs „Organisation“ gem. Art. 7 Abs. 2 lit. a IStGH-<br />
Statut<br />
Das IStGH-Statut bildet grundsätzlich, d.h. soweit es nicht<br />
selbst die Berücksichtigung anderer Rechtsquellen nach<br />
Art. 21 IStGH-Statut zulässt, ein geschlossenes Regelungssystem<br />
(self-contained regime). 6 Die Argumentation hat<br />
daher statutsimmanent zu erfolgen. Die Methodik zur Auslegung<br />
des Statuts ergibt sich über Art. 21 Abs. 1 lit. b IStGH-<br />
Statut aus Art. 31 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens über<br />
das Recht der Verträge (WVRÜ). 7 Ausgangspunkt der Auslegung<br />
ist danach der Wortlaut, d.h. die gewöhnliche Bedeutung<br />
(ordinary meaning). 8 Zu berücksichtigen sind zudem der<br />
Chamber II), Beschl. v. 15.3.2011 – ICC-01/09-01/11-2 (Dissenting<br />
Opinion by Judge Hans-Peter Kaul to Pre-Trial<br />
Chamber II’s “Decision on the Prosecutor’s Application for<br />
Summons to Appear for William Samoei Ruto, Henry<br />
Kiprono Kosgey and Joshua Arap Sang”), paras. 22, 32, 49<br />
f.; IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 15.3.2011 –<br />
ICC-01/09-02/11-3 (Dissenting Opinion by Judge Hans-Peter<br />
Kaul to Pre-Trial Chamber II’s “Decision on the Prosecutor’s<br />
Application for Summonses to Appear for Francis Kirimi<br />
Muthaura, Uhuru Muigai Kenyatta and Mohammed Hussein<br />
Ali”), paras. 26 ff., 32; IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl.<br />
v. 23.1.2012 – ICC-01/09-01/11-373 (Dissenting Opinion by<br />
Judge Hans-Peter Kaul to Pre-Trial Chamber II’s “Decision<br />
on the Confirmation of Charges Pursuant to Article 61(7)(a)<br />
and (b) of the Rome Statute”), paras. 12 f., 59; IStGH (Pre-<br />
Trial Chamber II), Beschl. v. 23.1.2012 – ICC-01/09-02/11-<br />
382 (Dissenting Opinion by Judge Hans-Peter Kaul to Pre-<br />
Trial Chamber II’s “Decision on the Confirmation of Charges<br />
Pursuant to Article 61(7)(a) and (b) of the Rome Statute”),<br />
paras. 15 f., 19 ff., 65.<br />
6<br />
Vgl. dazu Burghardt, in: Beck/Burchard/Fateh-Moghadam<br />
(Hrsg.), Strafrechtsvergleichung als Problem und Lösung,<br />
2011, S. 235 (S. 242); Jesse, Der Verbrechensbegriff des<br />
Römischen Statuts, 2009, S. 177 f.<br />
7<br />
Vgl. IStGH (Appeals Chamber), Urt. v. 13.7.2006 – ICC-<br />
01/04-168 (Situation in the Democratic Republic of the Congo),<br />
para. 33; IStGH (Appeals Chamber), Urt. v. 27.5.2008 –<br />
ICC-01/04-01/07-522 (The Prosecutor v. Katanga and<br />
Ngudjolo Chui), paras. 38 f.; IStGH (Appeals Chamber), Urt.<br />
v. 21.10.2008 – ICC-01/04-01/06-1486 (The Prosecutor v.<br />
Lubanga Dyilo), para. 40; IStGH (Appeals Chamber), Urt. v.<br />
19.11.2010 – ICC-01/05-01/08-1019 (The Prosecutor v.<br />
Bemba Gombo), para. 49.<br />
8<br />
Für das IStGH-Statut gelten die arabische, chinesische,<br />
englische, französische, russische und spanische Fassung als<br />
gleichermaßen autoritativ, vgl. Art. 128 IStGH-Statut. Im<br />
Folgenden werden für die Auslegung nach dem Wortlaut die<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
272<br />
<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />
systematische Zusammenhang (context) sowie Ziel und<br />
Zweck (object and purpose) der Vertragsregel und des Vertrages<br />
insgesamt. Als „ergänzende Auslegungsmittel“ (supplementary<br />
means of interpretation) können gem. Art. 32<br />
WVRÜ die travaux préparatoires und die „Umstände des<br />
Vertragsschlusses“ herangezogen werden (recourse may be<br />
had).<br />
III. Auslegung nach dem Wortlaut (ordinary meaning)<br />
Für die Auslegung nach dem Wortlaut ist zunächst die übliche<br />
Begriffsbedeutung zu klären. Zudem ist bereits an dieser<br />
Stelle der unmittelbare grammatische Kontext zu berücksichtigen,<br />
in dem sich der auslegungsbedürftige Begriff findet. 9<br />
1. „Organisation“<br />
Der englische Text des Statuts spricht von einer „State or<br />
organizational policy“. Dieser Wortlaut ist nach einhelliger<br />
Ansicht missverständlich. Gemeint ist nicht eine organisierte<br />
Politik, sondern die Politik einer Organisation (policy of an<br />
organisation). 10 Das ergibt sich insbesondere auch aus den<br />
anderen autoritativen Sprachfassungen des IStGH-Statuts.<br />
Der danach maßgebliche Begriff „Organisation“ (organisation/organisation/organización)<br />
kann in drei Bedeutungen<br />
verwendet werden: Er kann erstens die Tätigkeit, Dinge in<br />
eine Ordnung zu bringen, meinen. „Organisation“ kann zweitens<br />
die Ordnung oder Struktur selbst bezeichnen. Und drittens<br />
kann der Begriff sich auf einen Personenzusammenschluss<br />
beziehen. 11<br />
Aus dem Satzgefüge von Art. 7 Abs. 2 lit. a IStGH-Statut<br />
ergibt sich zweifelsfrei, dass der Begriff in seiner letztgenannten<br />
institutionellen Bedeutung verwendet wird. Eine<br />
den Verf. des Beitrags geläufige englische, französische und<br />
spanische Fassung berücksichtigt. Es wird unterstellt, dass<br />
sich hinsichtlich der gewöhnlichen Bedeutung der arabischen,<br />
chinesischen und russischen Begriffsäquivalente keine Besonderheiten<br />
ergeben.<br />
9<br />
Vgl. z.B. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 10. Aufl.<br />
2006, S. 45; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft,<br />
2. Aufl. 1992, S. 208.<br />
10<br />
Vgl. IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 31.3.2010 –<br />
ICC-01/09-19 (Dissenting Opinion by Judge Hans-Peter Kaul<br />
to Pre-Trial Chamber II’s “Decision Pursuant to Article 15 of<br />
the Rome Statute on the Authorization of an Investigation<br />
into the Situation in the Republic of Kenya”), paras. 37 ff.;<br />
Kreß, Leiden Journal of International Law 23 (2010), 855<br />
(862 Fn. 39). Vgl. auch v. Hebel/Robinson, in: Lee (Hrsg.),<br />
The International Criminal Court, The Making of the Rome<br />
Statute, 1999, S. 79 (S. 97 Fn. 53).<br />
11<br />
Vgl. Oxford Dictionaries, Online-Wörterbuch Englisch,<br />
Eintrag „organization“, abrufbar unter:<br />
http://oxforddictionaries.com/definition/organization?q=orga<br />
nization (2.4.2012); Larousse, Online-Wörterbuch Französisch,<br />
Eintrag „organisation“, abrufbar unter:<br />
http://www.larousse.com/de/worterbucher/franzosisch/Organi<br />
sation (2.4.2012); Real Academia Española (Hrsg.), Diccionario<br />
de la lengua española, 22. Aufl. 2001, S. 1107.
Erfordern Menschlichkeitsverbrechen die Beteiligung eines Staates/einer „staatsähnlichen“ Organisation?<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Organisation in diesem Sinne setzt zweierlei voraus: Zum<br />
einen muss es sich um den Zusammenschluss mehrerer Personen<br />
handeln. Dabei legt der Wortsinn eine gewisse Größe<br />
des Personenzusammenschlusses nahe. Denn eine organisierte<br />
Personenmehrheit, die zu keinem Zeitpunkt mehr als eine<br />
Handvoll Beteiligte umfasst, mag als Gruppe oder Bande<br />
bezeichnet werden, nicht aber als Organisation. Freilich lässt<br />
sich aus der Bezeichnung als „Organisation“ keine feste<br />
Mindestzahl an Mitgliedern ableiten.<br />
Zum anderen impliziert der Begriff die Existenz von<br />
Strukturen, die es über eine konkrete Situation hinaus ermöglichen,<br />
den Zusammenschluss gegenüber der Umwelt abzugrenzen,<br />
Handeln zweckbezogen zu koordinieren und der<br />
Organisation zuzuschreiben. Personenzusammenschlüsse, die<br />
lediglich für die Dauer einer konkreten Handlungssituation<br />
bestehen, sind daher nach der üblichen Begriffsverwendung<br />
ebenso wenig eine „Organisation“ wie bloße Menschenansammlungen.<br />
Weitere Voraussetzungen, insbesondere zur Art der Organisationsstrukturen,<br />
lassen sich dem Begriff als solchem<br />
nicht entnehmen. Sie können sich allerdings aus dem grammatischen<br />
oder systematischen Kontext oder aus teleologischen<br />
Erwägungen ergeben. 12<br />
2. Grammatischer Kontext in Art. 7 Abs. 2 lit. a IStGH-Statut<br />
Die Legaldefinition des Angriffs in Art. 7 Abs. 2 lit. a IStGH-<br />
Statut stellt „Staat“ und „Organisation“ mit der Konjunktion<br />
„oder“ (or/ou/o) gleichrangig nebeneinander. Die Konjunktion<br />
weist darauf hin, dass „Staat“ und „Organisation“ eine<br />
Qualität teilen, die zum Anknüpfungspunkt einer normativen<br />
Gleichbehandlung in Art. 7 Abs. 2 lit. a IStGH-Statut erhoben<br />
wird. Welche Qualität das ist, ergibt sich nicht aus dem<br />
Begriff selbst oder einer systematischen Auslegung, sondern<br />
erfordert die Einbeziehung teleologischer Gesichtspunkte. Es<br />
widerspricht aber den Regeln der Sprache, der Konjunktion<br />
„oder“ zu entnehmen, der zweite der nebeneinander gestellten<br />
Begriffe (hier: Organisation) müsse Begriffsmerkmale<br />
des ersten (hier: Staat) teilen. 13<br />
12<br />
Dieses Ergebnis der Auslegung nach dem Wortlaut wird<br />
durch Art. 2 lit. a und lit. c der UN Convention against<br />
Transnational Organized Crime bestätigt. In Art. 2 lit. a wird<br />
„organized criminal group“ als „any structured group of three<br />
or more persons, existing for a period of time and acting in<br />
concert with the aim of committing one or more serious<br />
crimes“ definiert. In Art. 2 lit. c heißt es weiterhin: „‘Structured<br />
group’ shall mean a group that is not randomly formed<br />
for the immediate commission of an offence and that does not<br />
need to have formally defined roles for its members, continuity<br />
of its membership or a developed structure.“<br />
13<br />
Vgl. Werle, Völkerstrafrecht, 3. Aufl. 2012, Rn. 886. Diesem<br />
einfachen und klaren Befund widersprechen die weitreichenden<br />
Schlussfolgerungen, die das Sondervotum aus der<br />
Verbindung der Begriffe „Staat“ und „Organisation“ durch<br />
die Konjunktion „oder“ ziehen will, vgl. IStGH (Pre-Trial<br />
Chamber II), Beschl. v. 31.3.2010 – ICC-01/09-19 (Dissenting<br />
Opinion by Judge Hans-Peter Kaul to Pre-Trial Chamber<br />
II’s “Decision Pursuant to Article 15 of the Rome Statute on<br />
Keine Rückschlüsse für die Auslegung des Begriffs „Organisation“<br />
lassen sich überdies aus der Satzstellung als Genitivobjekt<br />
des Begriffs „Politik“ (policy/politique/política)<br />
ziehen. Von der „Politik“, also den handlungsleitenden Vorstellungen,<br />
Forderungen, Zielen und Programmen einer Organisation,<br />
lässt sich bei allen denkbaren Arten von Organisationen<br />
sprechen, nicht nur bei solchen, die staatsähnlich sind.<br />
3. Zwischenergebnis<br />
Als Zwischenergebnis ist festzuhalten: Nach der üblichen<br />
Begriffsverwendung bezeichnet „Organisation“ einen Personenzusammenschluss,<br />
der über Strukturen verfügt, die es<br />
über eine konkrete Situation hinaus ermöglichen, den Zusammenschluss<br />
gegenüber der Umwelt abzugrenzen, Handeln<br />
zielbezogen zu koordinieren und der Organisation zuzuschreiben.<br />
Eine Einzelperson oder Kleinstgruppe bildet begrifflich<br />
ebenso wenig eine Organisation wie ein bloß situationsbezogen<br />
bestehender Personenzusammenschluss oder eine<br />
Ansammlung von Personen ohne gemeinsames Ziel. Zu betonen<br />
ist, dass dies nicht das Ergebnis einer „weiten“ Auslegung<br />
ist, 14 sondern schlicht das Ergebnis der Auslegung nach<br />
dem Wortlaut.<br />
IV. Systematische Auslegung (context)<br />
Als auslegungsrelevanter Verwendungszusammenhang des<br />
Begriffs „Organisation“ sind zunächst die weiteren in Art. 7<br />
Abs. 1 IStGH-Statut geregelten Kontextelemente der Verbrechen<br />
gegen die Menschlichkeit zu berücksichtigen. In einem<br />
zweiten Schritt ist zu fragen, ob sich aus den Definitionen der<br />
anderen, der Gerichtsbarkeit des IStGH-Statuts unterfallenden<br />
Verbrechen Schlussfolgerungen für eine Auslegung des<br />
Begriffs „Organisation“ herleiten lassen. 15 Schließlich bedarf<br />
der Untersuchung, welche Konsequenzen sich aus dem Gebot<br />
der engen Auslegung ergeben, das in Art. 22 Abs. 2 IStGH-<br />
Statut und den Verbrechenselementen für Art. 7 IStGH-Statut<br />
geregelt ist. 16<br />
the Authorization of an Investigation into the Situation in the<br />
Republic of Kenya”), para. 51. Diesem vorsichtig zustimmend<br />
Kreß, Leiden Journal of International Law 23 (2010),<br />
855 (863).<br />
14<br />
So aber z.B. Kreß, Leiden Journal of International Law 23<br />
(2010), 855 (859): „a wide construction of the concept of<br />
organization“.<br />
15<br />
Vgl. dazu IStGH (Appeals Chamber), Urt. v. 13.7.2006 –<br />
ICC-01/04-168 (Situation in the Democratic Republic of<br />
Congo), para. 33: „The context of a given legislative provision<br />
is defined by the particular sub-section of the law read as<br />
a whole in conjunction with the section of an enactment in its<br />
entirety.“<br />
16<br />
Die Berücksichtigung des in Art. 22 Abs. 2 IStGH-Statut<br />
vorgesehenen Grundsatzes der engen Auslegung im Rahmen<br />
der systematischen Auslegung entspricht der im Sondervotum<br />
von Richter Kaul gewählten Argumentationsstruktur,<br />
vgl. Vgl. IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 31.3.2010<br />
– ICC-01/09-19 (Dissenting Opinion by Judge Hans-Peter<br />
Kaul to Pre-Trial Chamber II’s “Decision Pursuant to Article<br />
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273
Gerhard Werle/Boris Burghardt<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
1. Die weiteren Kontextmerkmale in Art. 7 Abs. 1 IStGH-<br />
Statut<br />
Aus den weiteren in Art. 7 Abs. 1 IStGH-Statut aufgeführten<br />
Kontextmerkmalen der Verbrechen gegen die Menschlichkeit<br />
lässt sich kein Argument für eine einschränkende Auslegung<br />
von „Organisation“ gewinnen. Insbesondere wird das Merkmal<br />
nicht überflüssig, wenn die übliche Begriffsbedeutung<br />
zugrunde gelegt wird. Fehlte es, könnte der erforderliche<br />
„ausgedehnte oder systematische Angriff auf eine Zivilbevölkerung“<br />
17 auch durch eine Einzelperson, eine Kleinstgruppe<br />
oder einen spontanen Zusammenschluss mehrerer<br />
Personen verübt werden.<br />
2. Die weiteren der Gerichtsbarkeit des IStGH unterliegenden<br />
Verbrechenstatbestände<br />
Auch aus den Definitionen der anderen Verbrechenstatbestände,<br />
die der Gerichtsbarkeit des IStGH unterliegen, ergibt<br />
sich kein systematisches Argument für eine vom Ergebnis der<br />
Wortlautinterpretation abweichende Auslegung des Merkmals<br />
„Organisation“. Im Gegenteil: Der Vergleich mit den<br />
Tatbeständen des Völkermordes und der Kriegsverbrechen<br />
zeigt, dass es der Systematik des IStGH-Statuts widerspricht,<br />
in das Merkmal „Organisation“ ein Erfordernis der Staatsähnlichkeit<br />
hinein zu lesen.<br />
Das Verbrechen des Völkermordes gem. Art. 6 IStGH-<br />
Statut setzt unstreitig nicht voraus, dass die Absicht zur Zerstörung<br />
einer geschützten Gruppe von einem Staat oder einer<br />
staatsähnlichen Organisation getragen wird. Selbst wenn im<br />
Einklang mit den Verbrechenselementen zu Art. 6 IStGH-<br />
Statut für den Völkermord verlangt wird, dass die mit Zerstörungsabsicht<br />
ausgeführte Einzeltat im Kontext einer entsprechenden<br />
Gesamttat begangen wird, ist nicht entscheidend,<br />
wer die Gesamttat begeht, sondern dass sie das Potential hat,<br />
die Existenz der angegriffenen Gruppe zu gefährden. 18<br />
Auch die Kriegsverbrechen gem. Art. 8 IStGH-Statut erfordern<br />
nicht, dass es sich bei den Konfliktparteien um Staaten<br />
oder staatsähnliche Gebilde handelt. Art. 8 Abs. 2 lit. f<br />
IStGH-Statut spricht insofern ausdrücklich nur von „organisierten<br />
bewaffneten Gruppen“. 19 Bei der näheren Bestimmung,<br />
wann die Existenz einer solchen „Gruppe“ anzuneh-<br />
15 of the Rome Statute on the Authorization of an Investigation<br />
into the Situation in the Republic of Kenya”), para. 55.<br />
Kritisch dazu Kreß, Leiden Journal of International Law 23<br />
(2010), 855 (863).<br />
17<br />
Art. 7 Abs. 1 IStGH-Statut: widespread or systematic attack<br />
against any civilian population/attaque généralisée ou<br />
systématique lancée contre toute population civile/ataque<br />
generalizado o sistemático contra una población civil.<br />
18<br />
Vgl. dazu IStGH (Pre-Trial Chamber I), Beschl. v. 4.3.<br />
2009 – ICC-02/05-01/09-1 (The Prosecutor v. Al Bashir),<br />
para. 124; Burghardt/Geneuss, <strong>ZIS</strong> 2009, 126 (132, 134 f.);<br />
Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar<br />
zum Strafgesetzbuch, Bd. 6/2, 2009, § 6 VStGB Rn. 15, 78;<br />
Werle (Fn. 13), Rn. 799 ff.<br />
19<br />
Art. 8 Abs. 2 lit. f IStGH-Statut: organized armed groups/<br />
groupes armés organisés/grupos armados organizados.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
274<br />
<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />
men ist, hat die Verfahrenskammer I des IStGH erst jüngst, in<br />
dem erstinstanzlichen Urteil des Lubanga-Verfahrens, einen<br />
ganz ähnlichen Ansatz gewählt wie die Vorverfahrenskammer<br />
II in der Kenia-Situation bei der Auslegung des Begriffs<br />
„Organisation“. 20 Nicht erforderlich sei, dass die Konfliktpartei<br />
Kontrolle über ein Gebiet ausübe 21 oder auch nur einer<br />
verantwortlichen Befehlsgewalt (responsible command) im<br />
Sinne von Art. 1 Abs. 1 ZP II unterstehe. 22 Sämtlichen Fragen<br />
der internen Organisationsstruktur komme lediglich indizieller<br />
Charakter zu. Entscheidend sei nicht, wie die Gruppe<br />
organisiert sei, sondern dass sie über ein Maß an Organisation<br />
verfüge, das es ihr ermögliche, ausgedehnte bewaffnete<br />
Gewalt auszuüben. 23<br />
3. Gebot der engen Auslegung<br />
Art. 22 Abs. 2 S. 1 IStGH-Statut verpflichtet zu einer engen<br />
Auslegung der „Begriffsbestimmung eines Verbrechens“. 24<br />
Die Verbrechenselemente zu Art. 7 IStGH-Statut formulieren<br />
dieses Gebot noch einmal spezifisch für den Tatbestand der<br />
Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Freilich ist dem Gerichtshof<br />
damit keineswegs aufgegeben, unter allen nur<br />
denkbaren Auslegungsmöglichkeiten stets die restriktivste zu<br />
wählen. Ein solches Verständnis von Art. 22 Abs. 2 IStGH-<br />
Statut führte zu unvernünftigen Ergebnissen, weil damit jede<br />
wertende Betrachtung der Auslegungsmöglichkeiten ausschiede.<br />
Richtigerweise setzt Art. 22 Abs. 2 IStGH-Statut<br />
voraus, dass ein wertender Auslegungsvorgang bereits stattgefunden<br />
hat. 25 Das Gebot der engen Auslegung greift erst,<br />
wenn nach Ausschöpfung der Auslegungsmethoden gem.<br />
Art. 31 WVRÜ zwei gleichermaßen gut begründbare Auslegungsergebnisse<br />
bestehen bleiben.<br />
Der materielle Bezugspunkt für die erforderliche wertende<br />
Betrachtung ergibt sich aus der Statutssystematik und den<br />
Verbrechenselementen: Sowohl die Präambel als auch Art. 1<br />
und Art. 5 Abs. 1 IStGH-Statut betonen, dass der Gerichtsbarkeit<br />
des IStGH nur „die schwersten Verbrechen“ unterfallen,<br />
„welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes<br />
20 Vgl. IStGH (Trial Chamber I), Urt. v. 14.3.2012 – ICC-<br />
01/04-01/06-2842 (The Prosecutor v. Lubanga Dyilo), para.<br />
536.<br />
21 Ebenso IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 15.6.2009<br />
– ICC-01/05-01/08-424 (The Prosecutor v. Bemba Gombo),<br />
para. 236.<br />
22 Insoweit anderer Ansicht IStGH (Pre-Trial Chamber II),<br />
Beschl. v. 15.6.2009 – ICC-01/05-01/08-424 (The Prosecutor<br />
v. Bemba Gombo), para. 234.<br />
23 Vgl. IStGH (Trial Chamber I), Urt. v. 14.3.2012 – ICC-<br />
01/04-01/06-2842 (The Prosecutor v. Lubanga Dyilo), para.<br />
536: „[T]he ‘organized armed groups’ must have a sufficient<br />
degree of organization, in order to enable them to carry<br />
out protracted armed violence.“ Ähnlich bereits IStGH (Pre-<br />
Trial Chamber II), Beschl. v. 27.1.2007 – ICC-01/04-01/06-<br />
803 (The Prosecutor v. Lubanga Dyilo), para. 233.<br />
24 Art. 22 Abs. 2 S. 1 IStGH-Statut: definition of a<br />
crime/définition d’un crime/definición de crimen.<br />
25 Vgl. Jesse (Fn. 6), S. 151 ff.; Werle (Fn. 13), Rn. 207.
Erfordern Menschlichkeitsverbrechen die Beteiligung eines Staates/einer „staatsähnlichen“ Organisation?<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
berühren“. 26 Die Verbrechenselemente zu Art. 7 IStGH-<br />
Statut nehmen diese Formulierung auf und stellen ausdrücklich<br />
klar, dass das Gebot der restriktiven Auslegung mit Blick<br />
auf die Bewertung als ein schwerstes Verbrechen, das die<br />
internationale Gemeinschaft als Ganzes berührt, umzusetzen<br />
ist. 27 Im Umkehrschluss bedeutet dies freilich auch: Eine<br />
enge Auslegung ist durch Art. 22 Abs. 2 IStGH-Statut dort<br />
nicht geboten, wo das Merkmal für eine solche Bewertung<br />
irrelevant ist. Vielmehr widerspricht in einem solchen Fall<br />
eine restriktive Auslegung der Statutssystematik und dem<br />
Telos der Norm.<br />
Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Setzte das Gebot der<br />
restriktiven Auslegung gem. Art. 22 Abs. 2 IStGH-Statut<br />
nicht voraus, dass bereits ein wertender Auslegungsvorgang<br />
stattgefunden hat, ließe sich argumentieren, dass „Organisation“<br />
im Sinne von Art. 7 Abs. 2 lit. a IStGH-Statut nur Nichtregierungsorganisationen<br />
meine oder nur afrikanische Organisationen.<br />
Die Restriktionswirkung wäre denkbar groß, die<br />
Regelung aber ausgesprochen unvernünftig. Das Gebot der<br />
restriktiven Auslegung verlangt nicht, dass der Begriff „Organisation“<br />
irgendwie eng ausgelegt wird. Das Gebot der<br />
engen Auslegung greift nur, wenn sich argumentieren lässt,<br />
das einschränkende Merkmal (Nichtregierungs-, afrikanisch)<br />
sei relevant für die Bewertung als schwerstes Verbrechen, das<br />
die internationale Gemeinschaft als Ganzes berührt. Das lässt<br />
sich für die genannten Attribute aber evident nicht begründen.<br />
V. Teleologische Auslegung (object and purpose)<br />
Mit den vorangegangenen Überlegungen zum materiellen<br />
Bezugspunkt der gebotenen restriktiven Auslegung ist zugleich<br />
die Grundlage für die teleologische Auslegung bereitet.<br />
Zu fragen ist, was die Einordnung der Verbrechen gegen<br />
die Menschlichkeit als eines der schwersten Verbrechen,<br />
welches die internationale Gemeinschaft als Ganzes berührt,<br />
rechtfertigt. Eine restriktive Auslegung des Begriffs „Organisation“<br />
ist geboten, wenn der Begriff normative Relevanz für<br />
diesen Bewertungsvorgang beanspruchen kann.<br />
26<br />
Präambel, Art. 5 Abs. 1 IStGH-Statut: the most serious<br />
crimes of concern to the international community as a<br />
whole/les crimes les plus graves qui touchent l’ensemble de<br />
la communauté internationale/los crímenes más graves de<br />
trascendencia para la comunidad internacional.<br />
27<br />
Vgl. die Verbrechenselemente zu Art. 7 IStGH-Statut,<br />
Einführung: „1. Since article 7 pertains to international criminal<br />
law, its provisions, consistent with article 22, must be<br />
strictly construed, taking into account that crimes against<br />
humanity as defined in article 7 are among the most serious<br />
crimes of concern to the international community as a whole,<br />
warrant and entail individual criminal responsibility, and<br />
require conduct which is impermissible under generally applicable<br />
international law, as recognized by the principal<br />
legal systems of the world.“<br />
1. Verbrechen gegen die Menschlichkeit als „Verbrechen, welche<br />
die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren“<br />
Erste Aussagen lassen sich erneut statutsimmanent gewinnen:<br />
Nach der Präambel des IStGH-Statuts charakterisieren sich<br />
die Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als<br />
Ganzes berühren, dadurch, dass sie „den Frieden, die Sicherheit<br />
und das Wohl der Welt bedrohen“. 28 Indem es die Verbrechen<br />
gegen die Menschlichkeit der Gerichtsbarkeit des<br />
IStGH unterstellt, erklärt das Statut zugleich, dass eine solche<br />
Bedrohung für den Frieden, die Sicherheit und das Wohl der<br />
Welt vorliegt, wenn die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1<br />
IStGH-Statut erfüllt sind, wenn also die näher umschriebenen<br />
Einzeltaten „im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen<br />
Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis<br />
des Angriffs“ 29 begangen werden. Gemeinsam ist allen Einzeltatbeständen<br />
gem. Art. 7 Abs. 1 lit. a-k IStGH-Statut, dass<br />
es sich um vorsätzliche Verletzungen grundlegender, menschenrechtlich<br />
anerkannter Individualrechtspositionen handelt.<br />
30 Die sich in ihrem Sinngehalt überschneidenden Kontextmerkmale<br />
„Angriff“, „systematisch“ und „ausgedehnt“<br />
implizieren im Wesentlichen dreierlei:<br />
� Es gibt eine Vielzahl von vorsätzlichen Verletzungen<br />
menschenrechtlich geschützter Rechtspositionen.<br />
� Zwischen den Einzeltaten besteht ein planmäßigintentionaler<br />
Zusammenhang, der es rechtfertigt, sie zu<br />
einer Gesamttat zusammenzufassen.<br />
� Die Gesamttat erreicht ein erhebliches Ausmaß.<br />
Ohne das Politikelement lautet die normative Grundaussage<br />
der Verbrechen gegen die Menschlichkeit demnach vereinfacht:<br />
Verletzungen grundlegender, menschenrechtlich anerkannter<br />
Individualrechtspositionen sind eine Bedrohung für<br />
den Frieden, die Sicherheit und das Wohl der Welt, wenn sie<br />
vorsätzlich-plangemäß geschehen und ein erhebliches Ausmaß<br />
erreichen. Eine Auslegung des Begriffs „Organisation“,<br />
die den üblichen Wortsinn beschränkt, kann nur dann überzeugen,<br />
wenn sie den genannten Parametern ein weiteres<br />
Moment hinzufügt, das bei einer normativen Betrachtung<br />
eine Unrechtssteigerung begründet.<br />
28<br />
Präambel des IStGH-Statuts: threaten the peace, security<br />
and well-being of the world/menacent la paix, la sécurité et le<br />
bien-être du monde/constituyen una amenaza para la paz, la<br />
seguridad y el bienestar de la humanidad.<br />
29<br />
Art. 7 Abs. 1 IStGH-Statut: as part of a widespread or<br />
systematic attack directed against any civilian population<br />
with knowledge of the attack/dans le cadre d’une attaque<br />
généralisée ou systématique lancée contre toute population<br />
civile/como parte de un ataque generalizado o sistemático<br />
contra una población civil.<br />
30<br />
Vgl. Ambos/Wirth, Criminal Law Forum 13 (2002), 1 (14);<br />
Ambos, Internationales Strafrecht, 3. Aufl. 2011, § 7 Rn. 173;<br />
Kreß, Leiden Journal of International Law 23 (2010), 855<br />
(859); Werle, in: Grundmann u.a. (Hrsg.), Festschrift 200<br />
Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin,<br />
Geschichte, Gegenwart und Zukunft, 2010, S. 1219<br />
(S. 1227).<br />
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Gerhard Werle/Boris Burghardt<br />
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Zur Verdeutlichung können die zuvor gewählten Beispiele<br />
aufgegriffen werden: Eine Beschränkung des Begriffs<br />
„Organisation“ auf Nichtregierungsorganisationen oder auf<br />
afrikanische Organisationen erweist sich als evident falsch.<br />
Die restringierenden Merkmale reichern die Grundaussage<br />
um jeweils ein neues Moment an, das sich bei einer normativen<br />
Betrachtung aber nicht als valide erweist. Es lässt sich<br />
einfach nicht begründen, warum es für die Bewertung von<br />
vorsätzlichen Individualrechtsverletzungen erheblichen Ausmaßes<br />
als Weltfriedensstörungen einen Unterschied machen<br />
soll, ob sie von einer Nichtregierungsorganisation oder einer<br />
afrikanischen Organisation begangen werden und nicht von<br />
einer Organisation, die diese Qualifikationen nicht aufweist.<br />
2. Die Begehung des Angriffs durch einen Staat oder eine<br />
staatsähnliche Organisation als unrechtserhöhender Umstand?<br />
Lässt sich nun begründen, dass es für die normative Bewertung<br />
eines Angriffs auf eine Zivilbevölkerung relevant ist, ob<br />
dieser Angriff durch einen Staat oder eine „staatsähnliche“<br />
Organisation begangen wird oder nicht? Die Befürworter<br />
einer restriktiven Auslegung des Politikelements nennen vier<br />
Argumente.<br />
a) Das historisch-phänomenologische Argument: Staatskriminalität<br />
als „Idealtypus“<br />
Erstens wird auf die Geschichte des Völkerstrafrechts verwiesen:<br />
Staatlich gesteuerte Verbrechen hätten nach dem<br />
Zweiten Weltkrieg den Anstoß für die Entwicklung des Völkerstrafrechts<br />
in Nürnberg und Tokio gegeben, nur solche<br />
Taten hätten erfasst werden sollen. 31<br />
Das Argument trägt nicht. Dass das Völkerstrafrecht historisch<br />
in Reaktion auf Staatsverbrechen entstanden ist und<br />
diese auch heute noch den Regelfall darstellen, lässt sich<br />
nicht bestreiten, impliziert aber nicht, dass es sich bei der<br />
Staatsbeteiligung um ein normativ gebotenes Merkmal der<br />
Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt. 32 Soweit die<br />
Befürworter der restriktiven Auslegung aus der Entstehungsgeschichte<br />
bzw. der Verbrechensphänomenologie umstandslos<br />
normative Folgerungen ableiten wollen, unterliegen sie<br />
einem naturalistischen Fehlschluss.<br />
b) Das materielle Argument: Staatsähnliches Bedrohungspotential<br />
Ein zweites Argument lautet, dass nur Verbrechen, die von<br />
der Politik eines Staates oder einer staatsähnlichen Organisation<br />
getragen würden, das „gewaltige Risiko und die enorme<br />
Bedrohung von Massenverbrechen mit massenhaften Opfern“<br />
31 Vgl. z.B. IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v.<br />
31.3.2010 – ICC-01/09-19 (Dissenting Opinion by Judge<br />
Hans-Peter Kaul to Pre-Trial Chamber II’s “Decision Pursuant<br />
to Article 15 of the Rome Statute on the Authorization of<br />
an Investigation into the Situation in the Republic of Kenya”),<br />
paras. 59 ff.<br />
32 Ähnlich Di Filippo, European Journal of International Law<br />
19 (2008), 533 (567).<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
276<br />
<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />
aufwiesen. 33 Dieses Risiko- und Bedrohungsmoment sei es<br />
aber, was die Bewertung als Weltfriedensstörung überhaupt<br />
erst rechtfertige. Daher könnten auch nur Staaten und staatsähnliche<br />
Organisationen Träger des Angriffs sein.<br />
Das Argument überzeugt nicht. Wenn tatsächlich das Bedrohungspotential<br />
entscheidend sein soll, müssen alle Organisationen<br />
einbezogen werden, die ein solches entfalten.<br />
Dann aber lässt sich gerade nicht rechtfertigen, warum Organisationen<br />
ausgeklammert werden sollen, die zwar nicht<br />
staatsähnlich, aber sehr wohl in der Lage sind, einen ausgedehnten<br />
und systematischen Angriff gegen eine Zivilbevölkerung<br />
zu verüben. Soll aber doch die „Staatsähnlichkeit“ als<br />
solche einen normativen Unterschied ausmachen, bedarf es<br />
einer Begründung, was das für die normative Bewertung<br />
entscheidende Charakteristikum der Staatsähnlichkeit ist.<br />
Indes bleibt bereits unklar, was mit dem Kriterium der<br />
Staatsähnlichkeit gemeint ist. Konsequent wäre eine Beschränkung<br />
auf Gebietskörperschaften, doch befürworten<br />
selbst jene, die sich für eine Restriktion stark machen, selten<br />
eine derart enge Lesart. 34 Im Sondervotum heißt es dazu<br />
lediglich, „staatsähnlich“ sei eine Organisation, wenn sie<br />
„einige Eigenschaften eines Staates teile“. 35 Eine Festlegung,<br />
welche Charakteristika dies im Einzelnen sein sollen, wird<br />
vermieden. Stattdessen wählt das Sondervotum ausdrücklich<br />
eine beispielhafte Konkretisierung. 36 Indizien für die Staats-<br />
33<br />
Vgl. IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 31.3.2010 –<br />
ICC-01/09-19 (Dissenting Opinion by Judge Hans-Peter Kaul<br />
to Pre-Trial Chamber II’s “Decision Pursuant to Article 15 of<br />
the Rome Statute on the Authorization of an Investigation<br />
into the Situation in the Republic of Kenya”), para. 61: „enormous<br />
risk and threat of mass crimes and mass victimization“.<br />
34<br />
Vgl. aber Bassiouni, The Legislative History of International<br />
Criminal Court: Introduction, Analysis and Integrated<br />
Text, Bd. 1, 2005, S. 151 f.<br />
35<br />
Vgl. IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 31.3.2010 –<br />
ICC-01/09-19 (Dissenting Opinion of Judge Hans-Peter Kaul<br />
to Pre-Trial Chamber II’s “Decision Pursuant to Article 15 of<br />
the Rome Statute on the Authorization of an Investigation<br />
into the Situation in the Republic of Kenya”), para. 51: „partake<br />
of some characteristics of a State“.<br />
36<br />
Vgl. IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 31.3.2010 –<br />
ICC-01/09-19 (Dissenting Opinion by Judge Hans-Peter Kaul<br />
to Pre-Trial Chamber II’s “Decision Pursuant to Article 15 of<br />
the Rome Statute on the Authorization of an Investigation<br />
into the Situation in the Republic of Kenya”), para. 51:<br />
„These characteristics could involve the following […].“<br />
(Hervorhebung der Verf.). Kreß meint den weiteren Ausführungen<br />
entnehmen zu können, dass Kaul die aufgezählten<br />
Gesichtspunkte nicht als beispielhafte Konkretisierungen,<br />
sondern im Sinne begriffsnotwendiger Definitionsmerkmale<br />
verstanden wissen wolle, vgl. Kreß, Leiden Journal of International<br />
Law 23 (2010), 855 (862). Dieser Lesart kann nicht<br />
zugestimmt werden. Vielmehr verdeutlichen die fallbezogenen<br />
Ausführungen von Kaul in diesem und den folgenden<br />
Sondervoten, dass die Staatsähnlichkeit im Wege einer offenen<br />
Gesamtbetrachtung festgestellt werden soll, nicht durch<br />
eine Subsumtion unter einzelne Begriffsmerkmale.
Erfordern Menschlichkeitsverbrechen die Beteiligung eines Staates/einer „staatsähnlichen“ Organisation?<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
ähnlichkeit seien insbesondere das Vorhandensein einer hierarchischen<br />
Struktur (hierarchical structure) oder einer verantwortlichen<br />
Befehlsgewalt (responsible command) sowie<br />
das Bestehen von Sanktionsgewalt über die Mitglieder der<br />
Organisation und die Möglichkeit, den Mitgliedern eine Politik<br />
zu oktroyieren. In eine ähnliche Richtung weisen Vorschläge,<br />
denen zu Folge nur solche Organisationen unter<br />
Art. 7 Abs. 2 lit. a IStGH-Statut fallen, die im Rahmen eines<br />
nicht-internationalen bewaffneten Konflikts Konfliktpartei<br />
gem. Art. 1 Abs. 1 ZP II sein können. 37<br />
Das Attribut „staatsähnlich“ wirkt angesichts dieser Konkretisierungsvorschläge<br />
irreführend. Treffender ließe sich die<br />
damit angedeutete Restriktion des Wortlauts als Beschränkung<br />
auf „hierarchisch strukturierte Organisationen“, eventuell<br />
ergänzt um das Erfordernis der Gebietskontrolle, beschreiben.<br />
Der Fehlschluss, der solchen Restriktionsvorschlägen<br />
zugrunde liegt, ist aber stets der nämliche: Es<br />
werden typische Indizien für die Handlungsmacht eines Personenzusammenschlusses<br />
zu normativ bindenden Voraussetzungen<br />
des Organisationsbegriffs erhoben. Die Handlungsmacht<br />
erweist sich aber hinreichend in der Begehung eines<br />
Angriffs auf eine Zivilbevölkerung gem. Art. 7 Abs. 1<br />
IStGH-Statut, welcher der Organisation zurechenbar ist. Alle<br />
weiteren Merkmale sind unter Berücksichtigung des Telos<br />
akzidentiell, nicht notwendig. Nicht näher reflektierte Prämisse<br />
der hier kritisierten Gegenauffassung könnte dabei die<br />
Vorstellung sein, die effektive Ausübung von Macht, Gewalt<br />
und Herrschaft erfordere stets gefestigte Organisationsstrukturen<br />
mit klar bestimmten Hierarchieebenen und Befehlsketten.<br />
Die Kenia-Situation führt beispielhaft vor Augen, dass<br />
diese Annahme, die für die in Europa begangenen Großverbrechen<br />
zutreffen mag, sich nicht ohne weiteres auf andere<br />
politische und kulturelle Kontexte übertragen lässt. 38<br />
c) Das funktionale Argument: erwartbares Defizit staatlicher<br />
Strafverfolgung<br />
Drittens wird geltend gemacht, dass nur bei Angriffen von<br />
Staaten oder staatsähnlichen Organisationen das Bedürfnis<br />
nach internationaler Strafjustiz bestehe. Nur in diesem Fall<br />
sei nämlich zu erwarten, dass eine (ernstzunehmende) Strafverfolgung<br />
auf staatlicher Ebene nicht stattfinde. 39<br />
Auch dieses Argument verfängt nicht. Zunächst ist es unplausibel,<br />
eine effektive Strafverfolgung auf staatlicher Ebene<br />
für Situationen zu vermuten, in denen der Staat offenbar nicht<br />
in der Lage war, einen tatbestandlichen Angriff auf eine Zi-<br />
37<br />
Vgl. Kreß, Journal of Conflict & Security Law 15 (2010),<br />
245 (271 f.).<br />
38<br />
Vgl. Werle (Fn. 13), Rn. 888. Zu parallelen Überlegungen<br />
im Kontext der mittelbaren Täterschaft kraft Organisationsherrschaft<br />
z.B. Ambos, in: Heinrich u.a. (Hrsg.), Strafrecht als<br />
Scientia Universalis, Festschrift für Claus Roxin zum 80.<br />
Geburtstag am 15. Mai 2011, 2011, Bd. 1, S. 837 (S. 848 f.);<br />
Osiel, Making Sense of Mass Atrocities, 2009, S. 99, 104,<br />
114.<br />
39<br />
Vgl. z.B. Kreß, Leiden Journal of International Law 23<br />
(2010), 855 (866); Schabas, Journal of Criminal Law &<br />
Criminology 98 (2008), 953 (974).<br />
vilbevölkerung auf seinem Staatgebiet zu verhindern. Naheliegend<br />
ist vielmehr der umgekehrte Schluss: Wenn es einem<br />
Personenzusammenschluss gelingt, das Gewaltmonopol des<br />
Staates in so grundlegender und schwerwiegender Weise zu<br />
durchbrechen, ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Verantwortlichen<br />
sich auch der staatlichen Strafverfolgung entziehen<br />
können. Das Fehlen einer angemessenen strafrechtlichen<br />
Aufarbeitung der nun vom IStGH untersuchten Verbrechen<br />
durch kenianische Gerichte verdeutlicht dies beispielhaft.<br />
Grundsätzlich ist aber ohnehin zu betonen, dass die<br />
Wahrscheinlichkeit strafrechtlicher Verfolgung auf staatlicher<br />
Ebene keine Relevanz für die normative Bewertung als<br />
Weltfriedensstörung hat. In der Sache betrifft die für das<br />
Erfordernis einer „staatsähnlichen“ Organisation geltend<br />
gemachte funktionale Überlegung nicht die Qualifikation als<br />
Völkerrechtsverbrechen, sondern die Aufgabenverteilung<br />
zwischen staatlicher und internationaler Strafjustiz. Diese<br />
Frage ist sachgerecht nicht über die Verbrechensdefinitionen,<br />
sondern über Kompetenzregelungen zu lösen. Im Regelungssystem<br />
des IStGH erfüllt diesen Zweck insbesondere der<br />
Grundsatz der Komplementarität.<br />
d) Das rechtstechnische Argument: Handeln nicht-staatlicher<br />
Akteure ist keine Menschenrechtsverletzung<br />
Schließlich wird darauf hingewiesen, dass es sich nicht um<br />
Menschenrechtsverletzungen handle, wenn der Angriff nicht<br />
einem Staat zugerechnet werden könne. 40 Auch dieses Argument<br />
ist zurückzuweisen. Die Frage, wer den Angriff auf die<br />
Zivilbevölkerung verübt, berührt nicht das Vorliegen von<br />
Individualrechtsverletzungen. Dass die Taten möglicherweise<br />
keine Menschenrechtsverletzungen darstellen, wenn sie nicht<br />
einem Staat zugerechnet werden können, weist allenfalls auf<br />
ein Konzeptualisierungsproblem des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes<br />
hin. 41 Für die normative Bewertung als<br />
völkerrechtlich strafbare Weltfriedensstörung ist die Verletzung<br />
menschenrechtlich geschützter Individualrechtspositionen<br />
ausschlaggebend, nicht die rechtstechnische Erfassung<br />
als Menschenrechtsverletzung. Ebenso wenig wie auf nationaler<br />
Ebene nur dem Staat zurechenbare Grundrechtsverletzungen<br />
strafbar sind, ist die völkerrechtliche Strafbarkeit auf<br />
Menschenrechtsverletzungen beschränkt.<br />
e) Ein denkbares fünftes Argument: Staatsbegehung als qualifizierter<br />
Pflichtenverstoß?<br />
Ein denkbares fünftes Argument wurde im Schrifttum bisher<br />
nicht diskutiert, soll hier aber im Sinne einer Einwandvorwegnahme<br />
erörtert werden. Vorstellbar ist nämlich, eine<br />
Unrechtssteigerung im Falle der staatlichen Begehung des<br />
40<br />
Vgl. z.B. Kreß, Journal of Conflict & Security Law 15<br />
(2010), 245 (271).<br />
41<br />
Vgl. in diesem Sinne Clapham, in: Odello/Beruto (Hrsg.),<br />
Non-State Actors and International Humanitarian Law, Organized<br />
Armed Groups: A Challenge for the 21st Century,<br />
2010, S. 102 (S. 103).<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
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277
Gerhard Werle/Boris Burghardt<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Angriffs auf die Zivilbevölkerung wie folgt zu begründen: 42<br />
Staaten sind völkerrechtlich verpflichtet, die Einhaltung fundamentaler<br />
menschenrechtlicher Standards auf ihrem Staatsgebiet<br />
zu gewährleisten (sog. Schutzverantwortung oder<br />
responsibility to protect). 43 Wenn ein Staat seine Organisationsmittel<br />
dazu nutzt, einen Angriff auf eine Zivilbevölkerung<br />
zu begehen, verletzt er nicht allein die Individualrechtspositionen<br />
der Einzelpersonen, sondern auch seine gegenüber der<br />
internationalen Gemeinschaft obliegenden Pflichten als Garant<br />
der Verwirklichung menschenrechtlicher Standards.<br />
Diese zusätzliche Pflichtverletzung, so ließe sich argumentieren,<br />
führt zu der entscheidenden Unrechtssteigerung. 44 Die<br />
Trennlinie wäre dann zu ziehen zwischen Staaten und anderen,<br />
ebenfalls der Schutzverantwortung unterliegenden Organisationen<br />
einerseits und Organisationen, die keine Schutzverantwortung<br />
trifft, andererseits.<br />
Auch diese Begründung hält näherer Betrachtung nicht<br />
stand. Sie führte zu untragbaren Wertungswidersprüchen.<br />
Sinn und Zweck der Schutzverantwortung ist es, ein lückenloses<br />
Netz der (gestuften) Verantwortlichkeit zur Sicherung<br />
fundamentaler Menschenrechte zu spannen. Die oben skizzierte<br />
Überlegung beruft sich dagegen auf das Konzept, um<br />
die Unzuständigkeit der internationalen Gemeinschaft für die<br />
Ahndung massenhafter und planmäßiger Verletzungen menschenrechtlich<br />
geschützter Individualrechtspositionen zu begründen.<br />
Die Idee der Schutzverantwortung wird damit geradewegs<br />
in ihr Gegenteil verkehrt und ad absurdum geführt.<br />
Der völkerstrafrechtliche Schutz darf nicht versagt werden,<br />
nur weil die Organisation, welcher der Angriff auf die Zivilbevölkerung<br />
zugerechnet werden kann, selbst nicht der<br />
Schutzverantwortung unterliegt. Die Bewertung eines Geschehens<br />
als Menschlichkeitsverbrechen ist unabhängig von<br />
der Pflichtensituation der angreifenden Organisation. Andernfalls<br />
könnte etwa der Angriff eines Staates auf eine Zivilbevölkerung<br />
eines anderen Staates nie das Kontextelement<br />
eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit erfüllen, weil<br />
den angreifenden Staat in diesem Fall gegenüber der ange-<br />
42<br />
Die folgenden Ausführungen greifen Überlegungen auf,<br />
die Stefan Kirsch im Rahmen einer Diskussion dieses den<br />
Teilnehmer/-innen vorliegenden Textes auf dem Treffen des<br />
Arbeitskreises Völkerstrafrecht am 4.5.2012 in Nürnberg<br />
geltend machte.<br />
43<br />
Vgl. dazu zusammenfassend Werle (Fn. 13), Rn. 138<br />
m.w.N.<br />
44<br />
Strukturanaloge Überlegungen finden sich im deutschen<br />
Strafrecht zur Begründung der als Qualifikationstatbestände<br />
ausgestalteten unechten Amtsdelikte. Vgl. z.B. Cramer/Sternberg-Lieben/Hecker,<br />
in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch,<br />
Kommentar, 28. Aufl. 2010, § 340 Rn. 1; Heine, in: Schönke/<br />
Schröder (a.a.O.), Vor §§ 331 ff. Rn. 1; Heinrich, Der Amtsträgerbegriff<br />
im Strafrecht, 2001, S. 275 ff., 310, 692; Lilie,<br />
in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch,<br />
Leipziger Kommentar, Bd. 13, 12. Aufl. 2009,<br />
§ 340 Rn. 1; Sowada, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann<br />
(a.a.O.), Vor § 331 Rn. 16; Walter, in: Laufhütte/Rissing-van<br />
Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger<br />
Kommentar, Bd. 8, 12. Aufl. 2010, § 258a Rn. 1 f.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
278<br />
<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />
griffenen Zivilbevölkerung ebenfalls keine Schutzverantwortung<br />
trifft.<br />
VI. Ergänzende Auslegungsmittel (supplementary means<br />
of interpretation) gem. Art. 32 WVRÜ<br />
Abschließend sollen, obgleich methodisch nicht geboten,<br />
auch die ergänzenden Auslegungsmittel gem. Art. 32 WVRÜ<br />
in die Überlegungen einbezogen werden. Aus der Verhandlungsgeschichte<br />
des IStGH-Statuts ergibt sich kein Hinweis<br />
darauf, dass die Vertragsstaaten den Begriff „Organisation“<br />
in Art. 7 Abs. 2 lit. a IStGH-Statut restriktiv verstanden wissen<br />
und auf staatsähnliche Organisationen beschränken wollten.<br />
Während der Verhandlungen herrschte Konsens, dass als<br />
Träger des Angriffs nicht allein ein Staat in Betracht kommen<br />
sollte. 45 Diskutiert wurde insoweit lediglich, ob der Statutstext<br />
über Staaten und Organisationen hinaus auch Gruppen<br />
(groups) als Träger eines tatbestandsmäßigen Angriffs nennen<br />
sollte. Dies wurde letztlich abgelehnt. Darryl Robinson,<br />
Verhandlungsteilnehmer in Rom, fasst die Gründe dafür wie<br />
folgt zusammen: „The solution reached in Rome was to refer<br />
only to a state or organization, as it was agreed that using the<br />
term ‘organization’ is fairly flexible, and to the extent that<br />
there might be a gap between the concept of ‘group’ and<br />
‘organization’, it was considered that the planning of an attack<br />
against a civilian population requires a higher degree of<br />
organization, which is consistent with the latter concept.“ 46<br />
Mit anderen Worten: In Frage stand nicht, dass alle Arten von<br />
Organisationen erfasst sein sollten, sondern ob auch Personenzusammenschlüsse<br />
als Träger eines Angriffs in Betracht<br />
kommen, die nicht einmal die begrifflichen Mindestanforderungen<br />
an eine Organisation erfüllen.<br />
Eine Untersuchung des Völkergewohnheitsrechts erlaubt<br />
keine anderen Schlussfolgerungen. Die Beteiligung eines<br />
Staates oder einer staatsähnlichen Organisationen wird in<br />
keiner einzigen völkerrechtlichen Regelung der Menschlichkeitsverbrechen<br />
vorausgesetzt. 47 Internationale oder internationalisierte<br />
Gerichte haben eine solche Beschränkung in den<br />
letzten 20 Jahren stets abgelehnt: Nach der seit der Entscheidung<br />
der Rechtsmittelkammer im Verfahren gegen Kunarac<br />
45<br />
Vgl. v. Hebel/Robinson (Fn. 10), S. 97 Fn. 53.<br />
46<br />
Robinson, American Journal of International Law 93<br />
(1999), 43 (50). Ähnlich v. Hebel/Robinson (Fn. 10), S. 97<br />
Fn. 53.<br />
47<br />
Vgl. nur Art. 6 lit. c IMG-Statut; Art. 5 lit. c IMGFO-<br />
Statut; Art. II lit. c KRG 10; Nuremberg Principle VI lit. c;<br />
Art. 5 JStGH-Statut; Art. 3 RStGH-Statut. Soweit Art. 6<br />
IMT-Statut bestimmt, der Militärgerichtshof habe „das Recht,<br />
alle Personen abzuurteilen, die im Interesse der der europäischen<br />
Achse angehörenden Staaten als Einzelpersonen oder<br />
als Mitglieder einer Organisation oder Gruppe eines der folgenden<br />
Verbrechen begangen haben […]“ (shall have the<br />
power to try and punish persons who, acting in the interests<br />
of the European Axis countries, whether as individuals or as<br />
members of organizations, committed any of the following<br />
crimes […]), handelt es sich offenkundig um eine Jurisdiktionsbeschränkung,<br />
nicht um ein Merkmal der dann folgenden<br />
Verbrechenstatbestände.
Erfordern Menschlichkeitsverbrechen die Beteiligung eines Staates/einer „staatsähnlichen“ Organisation?<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
u.a. die Rechtsprechung der Ad hoc-Strafgerichtshöfe bestimmenden<br />
Auffassung ist nach Völkergewohnheitsrecht<br />
sogar jedes Politik-Element verzichtbar. 48 In der Zeit davor<br />
war die Rechtsprechung davon ausgegangen, Träger einer<br />
Politik könnten auch kriminelle Organisationen und Terrorgruppen<br />
sein. 49 Diese Position vertrat bereits die Völkerrechtskommission<br />
der Vereinten Nationen in ihren Beratungen<br />
zu den Draft Codes of Crimes against Peace and the<br />
Security of Mankind von 1991 und 1996. 50 Soweit geltend<br />
gemacht wird, Ad hoc-Strafgerichtshöfe und Völkerrechtskommission<br />
hätten ihre Rechtsansicht nicht hinreichend begründet,<br />
51 wird außer Acht gelassen, dass etwaige Begründungsdefizite<br />
nichts an dem Bestehen der entsprechenden<br />
opinio iuris ändern. Das Völkergewohnheitsrecht spricht<br />
daher nicht für, sondern gegen eine restriktive Auslegung des<br />
Merkmals „Organisation“.<br />
VII. Ergebnis<br />
Nach der üblichen Begriffsverwendung bezeichnet „Organisation“<br />
einen Personenzusammenschluss, der über Strukturen<br />
48<br />
Vgl. JStGH (Appeals Chamber), Urt. v. 12.6.2002 – IT-96-<br />
23 & IT-96-23/1-A (Kunarac u.a.), paras 94, 98, 104.<br />
Bestätigt in JStGH (Appeals Chamber), Urt. v. 19.4.2004 –<br />
IT-98-33-A (Krstić), para. 225; JStGH (Appeals Chamber),<br />
Urt. v. 29.7.2004 – IT-95-14-A (Blaškić), paras. 100, 120;<br />
RStGH (Appeals Chamber), Urt. v. 20.5.2005 – ICTR-97-20-<br />
A (Semanza), para. 269; RStGH (Appeals Chamber), Urt. v.<br />
7.7.2006 – ICTR-2001-64-A (Gacumbitsi), para. 84; RStGH<br />
(Appeals Chamber), Urt. v. 28.11.2007 – ICTR-99-52-A<br />
(Nahimana u.a.), para. 922; RStGH (Appeals Chamber), Urt.<br />
v. 12.3.2008 – ICTR-2001-66-A (Seromba), para. 149.<br />
Ebenso SLSGH (Appeals Chamber), Urt. v. 28.5.2008 –<br />
SCSL-04-14-T (Fofana und Kondewa), para. 246; Report of<br />
the International Commission of Inquiry on Violations of<br />
International Humanitarian Law and Human Rights Law in<br />
Darfur, UN-Doc. S/2005/60 (2005), para. 179. Ob sich aus<br />
älteren Entscheidungen etwas anderes ergibt, ist zweifelhaft.<br />
Die Entscheidungen bezogen sich jedenfalls auf staatsgesteuerte<br />
Verbrechen. Die Frage, ob auch Angriffe nicht-staatlicher<br />
Akteure auf eine Zivilbevölkerung den Tatbestand der<br />
Menschlichkeitsverbrechen erfüllen können, stellte sich daher<br />
nicht.<br />
49<br />
Vgl. z.B. JStGH (Trial Chamber), Urt. v. 7.5.1997 – IT-94-<br />
12-T (Tadić), paras. 654 ff.; JStGH (Trial Chamber), Urt. v.<br />
3.3.2000 – IT-95-14-T (Blaškić), para. 205.<br />
50<br />
Vgl. Yearbook of the International Law Commission 1991,<br />
Bd. 2, Part 2 A/CN.4/SER.A/1991/Add.1 (Part 2) (1991),<br />
S. 103 f.; ILC Report on the work of its 48th session (6.5-26.<br />
7.1996), Doc. A/51/10, S. 47.<br />
51<br />
Vgl. z.B. van den Herik, in: Darcy/Powderly (Hrsg.): Judicial<br />
Creativity at the International Criminal Tribunals, 2010,<br />
S. 80 (S. 91 ff.); Kreß, in: Hankel (Hrsg.), Die Macht und das<br />
Recht, Beiträge zum Völkerrecht und Völkerstrafrecht am<br />
Beginn des 21. Jahrhunderts, 2008, S. 323 (S. 375); ders.,<br />
Leiden Journal of International Law 23 (2010), 855 (870);<br />
Schabas, Journal of Criminal Law & Criminology 98 (2008),<br />
953 (960 ff.).<br />
verfügt, die es über eine konkrete Situation hinaus ermöglichen,<br />
den Zusammenschluss gegenüber der Umwelt abzugrenzen,<br />
Handeln zielbezogen zu koordinieren und der Organisation<br />
zuzuschreiben. In diesem Sinne ist der Begriff auch<br />
in Art. 7 Abs. 2 lit. a IStGH-Statut zu verstehen. Eine Auslegung,<br />
die das Merkmal gegenüber der üblichen Begriffsbedeutung<br />
einschränkt, ist verfehlt. Insbesondere lässt sich nicht<br />
rechtfertigen, warum der Frage, wer den ausgedehnten und 52<br />
systematischen Angriff auf eine Zivilbevölkerung verübt, für<br />
die Bewertung dieses Angriffs als Weltfriedensstörung normative<br />
Relevanz zukommen soll. Unbestritten bilden staatliche<br />
Angriffe den Regelfall der Verbrechen gegen die Menschlichkeit.<br />
Gelingt es indes anderen Akteuren, einen solchen<br />
Angriff zu verüben, lässt sich kein normativ stichhaltiges<br />
Argument anführen, ein solches Geschehen nicht als ein den<br />
Weltfrieden gefährdendes Verbrechen gegen die Menschlichkeit<br />
zu behandeln. 53 Eine Argumentation nach Sinn und<br />
Zweck rechtfertigte daher sogar die Einbeziehung von Taten<br />
Einzelner oder solcher Gruppen, die nicht einmal die Minimalanforderungen<br />
des Organisationsbegriffes erfüllen. 54<br />
Insoweit setzt freilich der Wortlaut von Art. 7 Abs. 2 lit. c<br />
IStGH-Statut als verbindliche lex lata den teleologischen<br />
Erwägungen eine Grenze.<br />
VIII. Ausblick<br />
Gewalt in großem Ausmaß wird heute nicht nur von Staaten<br />
oder anderen territorial organisierten Entitäten ausgeübt. Auf<br />
den Plan treten Milizen und paramilitärische Verbände, Terrorgruppen<br />
und kriminelle Netzwerke, aber auch Parteien und<br />
private Sicherheitsfirmen. Dass diese Flexibilisierung der<br />
Gewalt ausübenden Akteure das traditionell staatszentrierte<br />
Völkerrecht vor Herausforderungen stellt, ist längst bekannt.<br />
55 Das Völkerstrafrecht zeigt sich diesen Herausforde-<br />
52 Die alternative Verknüpfung wird zumindest im IStGH-<br />
Statut durch die Formulierung des Politikelements in Art. 7<br />
Abs. 2 lit. a IStGH-Statut überholt. Vgl. dazu näher Werle<br />
(Fn. 13), Rn. 891.<br />
53 Vgl. im Ergebnis Di Filippo, EJIL 19 (2008), 533 (567);<br />
Werle (Fn. 13), Rn. 886 ff.<br />
54 Ebenso Ambos/Wirth, Criminal Law Forum 13 (2002), 1<br />
(17).<br />
55 Vgl. zur Diskussion um die erforderliche Anpassung des<br />
Rechts der bewaffneten Konflikte aus politikwissenschaftlicher<br />
Sicht z.B. Münkler, Der Wandel des Krieges, Von der<br />
Symmetrie zur Asymmetrie, 2006, passim; Münkler, in: Hankel<br />
(Fn. 51), S. 300. Aus völker(-straf-)rechtlicher Sicht z.B.<br />
Hobe, in: Heintze/Ipsen (Hrsg.), Heutige bewaffnete Konflikte<br />
als Herausforderungen an das humanitäre Völkerrecht,<br />
2011, S. 69; Kreß (Fn. 51), S. 323; Lehnardt, Private Militärfirmen<br />
und völkerrechtliche Verantwortlichkeit, 2011, S. 39<br />
ff., 67 ff.; Lubell, Extraterritorial Use of Force Against Non-<br />
State Actors, 2010, S. 85 ff.; Mammen, Völkerrechtliche Stellung<br />
von internationalen Terrororganisationen, 2008, S. 161<br />
ff. Inwieweit es sich dabei um ein neues Phänomen handelt<br />
oder nur um die nach dem Wegfall eines Wahrnehmungsde-<br />
fizits erfolgte Wiederentdeckung von Altbekanntem, mag<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
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279
Gerhard Werle/Boris Burghardt<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
rungen allerdings besser gewachsen als andere Teilbereiche<br />
des Völkerrechts. Sein Grundprinzip – individuelle strafrechtliche<br />
Verantwortlichkeit nach dem Völkerrecht ungeachtet<br />
der staatlichen Legalität – setzte stets die Relativierung des<br />
Staates und seiner Souveränität als normativen Ausgangspunkt<br />
für die Konstruktion der Völkerrechtsordnung voraus. 56<br />
Diese der Rechtsmaterie inhärente Progressivität spiegelt sich<br />
in den Tatbeständen des Völkermordes und der Verbrechen<br />
gegen die Menschlichkeit, die nach ihrem Wortlaut seit jeher<br />
keinen Staatsbezug verlangen. 57 Diese Position entspricht<br />
auch der heutigen völkerstrafrechtlichen Realität. Es ist kein<br />
Zufall, dass sämtliche bislang geführten Verfahren des IStGH<br />
in den Situationen Demokratische Republik Kongo, Uganda<br />
und Zentralafrikanische Republik sowie einige der Verfahren<br />
in der Darfur-Situation Verbrechen betreffen, die Entitäten<br />
zugerechnet werden, welche sich kaum als „staatsähnlich“<br />
bezeichnen lassen. 58<br />
Der Vorschlag, das eigentlich überholte staatszentrierte<br />
Denken quasi durch die Hintertür ins Völkerstrafrecht zurückzuholen<br />
und als normativ entscheidendes Abgrenzungskriterium<br />
einer Verbrechenskategorie zu etablieren, überrascht<br />
vor diesem Hintergrund. Sollte damit tatsächlich gemeint<br />
sein, das Handeln von Organisationen, die nicht<br />
„staatsähnlich“ sind, könne prinzipiell keine Bedrohung für<br />
Frieden, Sicherheit und Wohl der Welt darstellen? Oder soll<br />
lediglich nahe gelegt werden, nicht Verbrechen gegen die<br />
Menschlichkeit, sondern allenfalls ein anderer Verbrechenstatbestand<br />
wie ein neu geschaffenes Völkerrechtsverbrechen<br />
des Terrorismus sei die adäquate Kategorie, um solche Weltfriedensstörungen<br />
zu erfassen? Doch warum ließe sich über<br />
ein eigenständiges Verbrechen des Terrorismus überzeugender<br />
die Betroffenheit der internationalen Gemeinschaft be-<br />
dahinstehen. Vgl. dazu nur Schmitt, Der Begriff des Politischen,<br />
7. Aufl. 1996, S. 10.<br />
56<br />
Vgl. dazu zusammenfassend Werle (Fn. 30), S. 1219<br />
(S. 1220 ff.). Zu der Erforderlichkeit einer entsprechenden<br />
normativen Neuorientierung des Völkerrechts vgl. Peters,<br />
European Journal of International Law 20 (2009), 513.<br />
57<br />
Vgl. nur Art. 6 lit. c IMG-Statut; Art. 5 lit. c IMGFO-<br />
Statut; Art. II lit. c KRG 10; Nuremberg Principle VI lit. c;<br />
Art. 5 JStGH-Statut; Art. 3 RStGH-Statut. Soweit Art. 6<br />
IMT-Statut bestimmt, der Militärgerichtshof habe „das Recht,<br />
alle Personen abzuurteilen, die im Interesse der der europäischen<br />
Achse angehörenden Staaten als Einzelpersonen oder<br />
als Mitglieder einer Organisation oder Gruppe eines der folgenden<br />
Verbrechen begangen haben […]“ (shall have the<br />
power to try and punish persons who, acting in the interests<br />
of the European Axis countries, whether as individuals or as<br />
members of organizations, committed any of the following<br />
crimes […]), handelt es sich offenkundig um eine Jurisdiktionsbeschränkung,<br />
nicht um ein Merkmal der dann folgenden<br />
Verbrechenstatbestände.<br />
58<br />
Nicht nachvollziehbar ist daher der polemisch akzentuierte<br />
Vorwurf, die Begehung von tatbestandsmäßigen Angriffen<br />
durch nicht-staatsähnliche Organisationen sei eine wirklichkeitsfremde<br />
Hypothese. So aber z.B. Schabas, Leiden Journal<br />
of International Law 23 (2010), 847 (848 f.).<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
280<br />
<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />
gründen als mit dem Verweis auf die vorsätzlich-planmäßige<br />
Verletzung menschenrechtlich geschützter Individualrechtspositionen<br />
in großem Umfang?<br />
Wer hingegen eine Restriktion des Anwendungsbereichs<br />
der Verbrechen gegen die Menschlichkeit aus rechtsgrundsätzlichen<br />
Gründen für erforderlich hält, muss an einem anderen<br />
Punkt ansetzen: Bei der Bestimmung, wann ein Angriff<br />
gegen eine Zivilbevölkerung vorliegt bzw. wann ein solcher<br />
Angriff ausgedehnt und 59 systematisch ist. Gierhake hat insofern<br />
vorgeschlagen, nur solche Angriffe auf Individualrechtspositionen<br />
zu erfassen, die auf eine prinzipielle Entrechtung<br />
einer bestimmten Bevölkerungsgruppe abzielen. 60 Normativ<br />
ließe sich wohl begründen, dass die angemaßte prinzipielle<br />
Entrechtung zu einer Unrechtserhöhung gegenüber bloß situationsbezogenem<br />
Handeln führt. Fragwürdig ist aber, ob dieser<br />
Gesichtspunkt wirklich erforderlich ist, um im Zusammenhang<br />
mit massenhaften planmäßigen Verletzungen von<br />
Individualrechtspositionen von einer Weltfriedensstörung zu<br />
sprechen. Salopp formuliert: Welche Rolle spielt es für die<br />
internationale Gemeinschaft noch, ob die Gesamttat auf eine<br />
prinzipielle Entrechtung abzielt, wenn massenhaft planmäßig<br />
getötet wird? Zudem muss bezweifelt werden, dass die vorgeschlagene<br />
Beschränkung als Differenzierungskriterium in<br />
der Praxis präzisere Abgrenzungen erlaubt als der hier entwickelte<br />
Ansatz.<br />
Die nüchterne Erkenntnis lautet, dass die kategoriale Unterscheidung<br />
von völkerrechtlichem und nationalem Kriminalunrecht<br />
im Einzelfall eben doch im Wege einer nicht vollständig<br />
systematisierbaren Gesamtbetrachtung zu treffen ist,<br />
die qualitative wie quantitative Faktoren, insbesondere auch<br />
die Zahl der Opfer, einbeziehen muss. Eindeutigere Grenzen<br />
lassen sich nicht ziehen. Als Anhänger eines Ideals systematischer<br />
Rechtswissenschaft mag man dies bedauern. Die Konsequenz<br />
sollte aber nicht sein, aus vermeintlich rechtsprinzipiellen<br />
Gründen so hohe Voraussetzungen für das Vorliegen<br />
völkerrechtlichen Kriminalunrechts zu errichten, dass nur<br />
noch die ganz extremen Fälle erfasst sind. Denn anders als im<br />
nationalen Strafrecht geht es nicht um die Abgrenzung zwischen<br />
strafbarem und straflosem Verhalten, sondern lediglich<br />
um die Radizierung der Strafgewalt. Sachgerecht erscheint<br />
daher ein offener Ansatz, der dem Umstand Rechnung trägt,<br />
dass dem Völkerstrafrecht allgemein und dem Internationalen<br />
Strafgerichtshof im Besonderen mehrere Ebenen zur Verfügung<br />
stehen, um eine angemessene Kompetenz- und Aufgabenverteilung<br />
zwischen nationaler und internationaler Strafgewalt<br />
zu ermöglichen: nicht allein die materiell-rechtlichen<br />
Verbrechensdefinitionen, sondern auch der Grundsatz der<br />
Komplementarität und das Auswahlermessen der Anklagebehörde.<br />
Diese verschiedenen Ebenen sind auch bei der Bewertung<br />
der Strafverfolgungsaktivitäten des IStGH in der Kenia-<br />
Situation zu berücksichtigen. Hilfreich ist es, die gedankliche<br />
Nagelprobe zu unternehmen: Richten sich Skepsis und Vorbehalte<br />
tatsächlich gegen die Bewertung des Geschehens als<br />
Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder nicht doch eher<br />
59 Siehe zur kumulativen Verknüpfung bereits Fn. 52.<br />
60 Vgl. Gierhake, <strong>ZIS</strong> 2010, 676 (691 f.).
Erfordern Menschlichkeitsverbrechen die Beteiligung eines Staates/einer „staatsähnlichen“ Organisation?<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
dagegen, dass der IStGH sich mit dieser Situation befasst und<br />
nicht ein kenianisches Gericht oder ein hybrides Sondertribunal?<br />
61 Natürlich lässt sich angesichts der begrenzten Ressourcen<br />
des IStGH trefflich diskutieren, ob der Ankläger sein<br />
Auswahlermessen in der Kenia-Situation klug genutzt hat. 62<br />
Angesichts der verbreiteten Kritik ist indes dreierlei zu erinnern:<br />
Erstens steht eine „Banalisierung“ oder „Trivialisierung“ 63<br />
der Verbrechen gegen die Menschlichkeit derzeit nicht zu<br />
befürchten. Die den Ermittlungsgegenstand in der Kenia-<br />
Situation bildenden Gewalttätigkeiten haben insgesamt etwa<br />
1.200 Menschenleben gekostet, schätzungsweise 350.000<br />
Personen wurden zumindest zeitweise von ihrem Wohnort<br />
vertrieben. 64 Das sind kaum die Dimensionen „normaler“<br />
Schwerstkriminalität. Ausgedehnte Gewalttätigkeiten im<br />
Zusammenhang mit Wahlen sind zudem ein wiederkehrendes,<br />
strukturelles Problem, das nicht allein in Kenia, 65 son-<br />
61<br />
Vgl. insofern nur IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v.<br />
23.1.2012 – ICC-01/09-01/11-373 (Dissenting Opinion by<br />
Judge Hans-Peter Kaul to Pre-Trial Chamber II’s “Decision<br />
on the Confirmation of Charges Pursuant to Article 61(7)(a)<br />
and (b) of the Rome Statute”), para. 59; IStGH (Pre-Trial<br />
Chamber II), Beschl. v. 23.1.2012 – ICC-01/09-02/11-382<br />
(Dissenting Opinion by Judge Hans-Peter Kaul to Pre-Trial<br />
Chamber II’s “Decision on the Confirmation of Charges<br />
Pursuant to Article 61(7)(a) and (b) of the Rome Statute”),<br />
para. 65.<br />
62<br />
Vgl. z.B. Sadat, Emerging From the Shadow of Nuremberg:<br />
Crimes Against Humanity in the Modern Age, Legal<br />
Studies Research Paper Series, Paper No. 11-11-04, 6, unter:<br />
http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=2013254<br />
(7.5.2012).<br />
63<br />
So IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 31.3.2010 –<br />
ICC-01/09-19 (Dissenting Opinion of Judge Hans-Peter Kaul<br />
to Pre-Trial Chamber II’s “Decision Pursuant to Article 15 of<br />
the Rome Statute on the Authorization of an Investigation<br />
into the Situation in the Republic of Kenya”), para. 55.<br />
64<br />
Vgl. IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 31.3.2010 –<br />
ICC-01/09-19 (Decision Pursuant to Article 15 of the Rome<br />
Statute on the Authorization of an Investigation into the Situation<br />
in the Republic of Kenya), para. 131 mit zahlreichen<br />
Nachweisen zu den unterschiedlichen Schätzungen. Human<br />
Rights Watch setzt die Zahl der Vertriebenen in einem aktuelleren<br />
Report mit 663.921 deutlich höher an. vgl. Human<br />
Rights Watch, “Turning Pebbles”, Evading Accountability<br />
for Post-Election Violence in Kenya, 2011, S. 13, abrufbar<br />
unter:<br />
http://www.hrw.org/news/2011/12/09/kenya-prosecuteperpetrators-post-election-violence<br />
(4.4.2012).<br />
65<br />
In Kenia kam es bereits im Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen<br />
1992 und 1997 zu Gewalttätigkeiten vergleichbaren<br />
Ausmaßes, vgl. z.B. Human Rights Watch World<br />
Report 1993 – Kenya, 1.1.1993 und Human Rights Watch<br />
World Report 1998 – Kenya, 1.1.1998, abrufbar unter<br />
http://www.unhcr.org/refworld/docid/467fca5d1e.html und<br />
http://www.unhcr.org/refworld/docid/3ae6a8b124.html<br />
(17.4.2012).<br />
dern auch in anderen afrikanischen Staaten wiederholt zu<br />
bürgerkriegsähnlichen Zuständen geführt hat 66 und daher<br />
bereits als Friedensgefährdung im engeren Sinne erscheint.<br />
Und ganz allgemein lässt sich konstatieren: Während eine<br />
Überkriminalisierung bislang allenfalls düstere Prophezeiung<br />
ist, bleibt das Verfolgungsdefizit bei Verbrechen gegen die<br />
Menschlichkeit realiter das größte Problem des Völkerstrafrechts.<br />
Zweitens hatten die kenianischen Entscheidungsträger alle<br />
Möglichkeiten, eine Intervention des IStGH durch eigene<br />
Strafverfolgungsmaßnahmen abzuwenden. Der Ankläger hat<br />
die Ermittlungen in der Kenia-Situation erst vorangetrieben,<br />
als sich immer deutlicher abzeichnete, dass die kenianischen<br />
Bemühungen um eine angemessene strafrechtliche Aufarbeitung<br />
der post-election violence an machtpolitischen Erwägungen<br />
scheitern würden. 67<br />
Drittens könnte die Aktivität des IStGH in der Kenia-<br />
Situation zum bislang größten Erfolg des Gerichtshofs werden,<br />
gerade weil Kenia trotz aller Probleme, die geschehenen<br />
Verbrechen selbst aufzuarbeiten, kein gescheiterter oder<br />
verbrecherischer Staat ist, der als Kooperationspartner des<br />
Gerichthofs von vornherein ausschiede. Und wer wollte bestreiten,<br />
dass ein friedlicher Ablauf der nächsten kenianischen<br />
Präsidentschaftswahlen am 4. März 2013 auch dem<br />
disziplinierenden Effekt der Intervention des IStGH zuzuschreiben<br />
wäre?<br />
66<br />
Zu denken ist in jüngerer Vergangenheit etwa an gewalttätige<br />
Unruhen im Kontext von Wahlen in Côte d’Ivoire, Nigeria,<br />
Uganda und Gabun.<br />
67<br />
Vgl. zu den kenianischen Bemühungen zusammenfassend<br />
Human Rights Watch, “Turning Pebbles”, Evading Accountability<br />
for Post-Election Violence in Kenya, 2011, unter:<br />
http://www.hrw.org/news/2011/12/09/kenya-prosecuteperpetrators-post-election-violence<br />
(4.4.2012).<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
281
Das deutsche Inzestverbot vor den Schranken des EGMR<br />
Die Entscheidung und ihre Folgen für die strafrechtswissenschaftliche Debatte<br />
Von Wiss. Assistent Dr. Michael Kubiciel, Regensburg<br />
Nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte<br />
(EGMR) ist das Verbot des Beischlafs zwischen<br />
Verwandten mit der Europäischen Menschenrechtskonvention<br />
(EMRK) vereinbar. Zwar fügen sich wesentliche Entscheidungserwägungen<br />
nicht in die Systematik des StGB ein; konventionsrechtlich<br />
ist die Entscheidung indes nicht zu kritisieren.<br />
Insbesondere ist es aus institutionellen und intrinsischen<br />
Gründen richtig, dass der EGMR den Vertragsstaaten in<br />
Kriminalisierungsfragen wie dieser einen Beurteilungsspielraum<br />
gewährt. Mit der Entscheidung des EGMR muss der<br />
Schwerpunkt der Debatte um § 173 StGB verlagert werden:<br />
Wichtiger als die kriminalpolitische Kritik wird die Suche<br />
nach einem Strafgrund, von dem aus der Tatbestand rational<br />
und restriktiv interpretiert werden kann. Anders als weithin<br />
angenommen, lässt sich ein solcher Grund benennen: Nach<br />
hiesiger Auffassung antwortet die Strafe des § 173 StGB auf<br />
die Verletzung einer positiven Pflicht zum Schutz der Institution<br />
Familie.<br />
The European Court of Human Rights (ECHR) has held that<br />
the criminalisation of sibling incest by the German criminal<br />
code (StGB) is in line with the European Convention on Human<br />
Rights. While important parts of the court’s reasoning<br />
are incompatible with the systematic order of the StGB, the<br />
application of the European (case) law cannot be criticised.<br />
In particular, for institutional and intrinsic reasons it is necessary<br />
for the ECHR to acknowledge a national margin of<br />
appreciation with regard to criminal policy issue like the<br />
incest. After the ECHR has approved the criminalisation of<br />
sibling incest, the focus of the debate must be shifted: Instead<br />
of criticising the prohibition of incest, law scholars must<br />
search for a basis, on which the criminal law statute can be<br />
founded and which may enable a reasonable and restrictive<br />
interpretation. Contrary to a widespread opinion, such a<br />
basis exists: The punishment of an incestuous relationship is<br />
a reaction for the violation of a (positive) duty, which protects<br />
the family as an institution.<br />
I. Das Strafgesetzbuch – ein „schicklicher Platz“ für ein<br />
Inzestverbot?<br />
Das Verbot des Beischlafs zwischen Verwandten zählt zu den<br />
am heftigsten kritisierten Tatbeständen des StGB. 1 Viele<br />
sehen in § 173 StGB gar eine Vorschrift, die sich nicht rational<br />
begründen lasse, 2 sondern lediglich ein gesellschaftliches<br />
1<br />
So mit weiteren Nachweisen Hörnle, Grob anstößiges Verhalten,<br />
2005, S. 452; Schramm, Ehe und Familie im Strafrecht,<br />
2011, S. 400.<br />
2<br />
Jung, in: Kerner u.a. (Hrsg.), Kriminologie – Psychiatrie –<br />
Strafrecht, Festschrift für Heinz Leferenz zum 70. Geburtstag,<br />
1983, S. 311 (S. 316); Roxin, Strafrecht, Allgemeiner<br />
Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 2 Rn. 43 ff. (S. 27 f.).<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
282<br />
<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />
Tabu schütze. 3 Wie wirkmächtig dieses Tabu ist, hat bereits<br />
Feuerbach erleben müssen: Der Gegner des „Blutschande“-<br />
Tatbestands sah sich gezwungen, das Inzestverbot im Bayerischen<br />
Strafgesetzbuch von 1813 im Abschnitt über die Delikte<br />
gegen die Person unterzubringen, obgleich ein einverständlicher<br />
Geschlechtsverkehr schwerlich eine „Beschädigung“<br />
oder „Mißhandlung“ der Person darstellen kann. 4 An die<br />
Stelle einer dogmatischen Begründung traten bei Feuerbach<br />
daher kriminalpolitische Argumente: Die öffentliche Meinung<br />
belege unsittliche Handlungen wie die Blutschande mit<br />
weit größerem Abscheu als manches „eigentliche“ Verbrechen.<br />
Wolle der Gesetzgeber nicht das allgemeine sittliche<br />
Gefühl empören, wolle er nicht vor dem Volk als Beschützer<br />
des „groben verworfenen Lasters“ erscheinen, müsse er Tatbeständen<br />
wie diesen ihren „schicklichen Platz“ im Kriminalgesetzbuch<br />
einräumen. 5 Auch in der Folgezeit scheiterten<br />
zahlreiche Versuche, das Inzestverbot aus der Sphäre des<br />
Rechts zu drängen. 6 Selbst aus der Großen Strafrechtsreform<br />
der langen 1960er Jahre 7 und der „revolutionären“ 8 Umgestaltung<br />
des Sexualstrafrechts in den 1990er Jahren ging der<br />
Tatbestand im Kern unverändert hervor.<br />
3 Roxin, StV 2009, 544 (548): „Die Strafbarkeit des Geschwisterinzests<br />
entspricht einer uralten Tabuvorstellung, die<br />
evolutionsgeschichtlich einen Sinn hatte, heute aber keine<br />
Funktion mehr hat.“ S. ferner Jäger, Strafgesetzgebung und<br />
Rechtsgüterschutz bei Sittlichkeitsdelikten, 1957, S. 66 ff.;<br />
Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 59.<br />
Aufl. 2012, § 179 Rn. 7; Hörnle (Fn. 1), S. 457; Ritscher, in:<br />
Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch,<br />
Bd. 3, 2. Aufl. 2012, § 173 Rn. 2; Wittig, in:<br />
Satzger/Schmitt/Wittmaier (Hrsg.), Strafgesetzbuch, 2009,<br />
§ 173 Rn. 2.<br />
4 S. die Überschrift der Delikte des 2. Kapitels des 1. Titels<br />
(„Privatverbrechen“) im 2. Buch des BayStGB von 1813<br />
sowie darin Art. 206 („Blutschande“) und Art. 207 („Unzucht<br />
mit Geschwistern und Abhängigen“), abgedruckt in Buschmann,<br />
Textbuch zur Strafrechtsgeschichte der Neuzeit, 1998,<br />
S. 447 ff. – Zu Feuerbachs Einstellung gegenüber dem Blutschande-Tatbestand<br />
Hull, in: Opitz/Weckel/Kleinau (Hrsg.),<br />
Tugend, Vernunft und Gefühl, 2000, S. 45 (S. 56 ff.); Rosenberg,<br />
Das Sexualstrafrecht in Bayern von 1813 bis 1871,<br />
1973, S. 180.<br />
5 Feuerbach, in: L. Feuerbach (Hrsg.), Paul Johann Anselm<br />
Ritter von Feuerbachs Leben und Wirken, 1976, S. 596.<br />
6 Zur rechtgeschichtlichen Entwicklung Löhnig, in: Kroppenberg/Löhnig<br />
(Hrsg.), Fragmentierte Familien, 2010, S. 207;<br />
Sieber, in: Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales<br />
Strafrecht (Hrsg.), Stellungnahme zu dem Fragenkatalog<br />
des Bundesverfassungsgerichts in dem Verfahren 2<br />
BvR 392/07 zu § 173 Abs. 2 S. 2 StGB – Beischlaf zwischen<br />
Geschwistern –, 2007, S. 4 ff.<br />
7 Schroeder, ZRP 1971, 14.<br />
8 So Schroeder, JZ 1999, 827.
Das deutsche Inzestverbot vor den Schranken des EGMR<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Angesichts der Fehlschläge legislativer Reformversuche<br />
richteten sich die Hoffnungen derer, die dem Inzestverbots<br />
seinen Platz im StGB streitig machen wollen, in den letzten<br />
Jahren auf das BVerfG und den EGMR – jedoch vergebens:<br />
Nach der Bestätigung der Verfassungskonformität im Jahr<br />
2008 9 hat vor wenigen Wochen auch der EGMR den deutschen<br />
Inzeststraftatbestand passieren lassen. Das Verbot des<br />
Beischlafs zwischen Verwandten greife zwar in das von<br />
Art. 8 EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Familien-<br />
und Privatlebens ein, doch sei dieser Eingriff gerechtfertigt.<br />
10 Auch wenn wesentliche Erwägungen des Straßburger<br />
Gerichts nicht mit der Systematik des deutschen Strafrechts<br />
vereinbar sind: Am für die Individualbeschwerde entscheidenden<br />
Konventionsrecht gemessen sind das Urteil und seine<br />
Begründung richtig (II.). Mit der Kriminalisierung des Beischlafs<br />
zwischen Geschwistern überschreitet der nationale<br />
Gesetzgeber nicht jenen „margin of appreciation“, der ihm<br />
bei der Austarierung kollidierender Interessen aus institutionellen<br />
und intrinsischen Gründen zuzubilligen ist. Weil sich<br />
an der Strafbarkeit des Beischlafs zwischen Verwandten auf<br />
absehbare Zeit nichts ändern wird, 11 muss die Diskussion um<br />
§ 173 StGB in eine neue Phase eintreten. Die Strafrechtswissenschaft<br />
kann sich nicht länger hinter ihrer kriminalpolitischen<br />
Kritik verschanzen, sondern muss sich auf die Suche<br />
nach einer Grundlage für den Tatbestand begeben, 12 von dem<br />
aus § 173 StGB (einschränkend) ausgelegt werden kann. Wie<br />
wir sehen werden, lässt sich ein solcher Grund benennen:<br />
Nach hiesiger Auffassung antwortet die Strafe des § 173<br />
StGB auf die Verletzung einer positiven Pflicht zum Schutz<br />
der Institution Familie (III.).<br />
II. Die Entscheidung des EGMR<br />
1. Gegenstand der Individualbeschwerde<br />
In seiner Entscheidung aus dem Jahr 2008 bestätigte das<br />
BVerfG die Verurteilung eines Mannes, der über Jahre hinweg<br />
eine sexuelle Beziehung zu seiner leiblichen Schwester<br />
9<br />
BVerfGE 120, 224. Dazu (krit.) Bottke, in: Hassemer u.a.<br />
(Hrsg.), In dubio pro libertate, Festschrift für Klaus Volk zum<br />
65. Geburtstag, 2009, S. 93; M. Cornils, ZJS 2009, 85 (87);<br />
Hassemer, in: BVerfGE 120, 224 (255 ff.); Hörnle, NJW<br />
2008, 2085 ff.; Greco, <strong>ZIS</strong> 2008, 234; Krauß, in: Herzog/Neumann<br />
(Hrsg.), Festschrift für Winfried Hassemer,<br />
2010, S. 423; Roxin, StV 2009, 544; Noltenius, ZJS 2009, 15;<br />
Zabel, JR 2008, 453; Ziethen, NStZ 2008, 617.<br />
10<br />
EGMR, Urt. v. 12.4.2012 – 43547/08 (Stübing v. Deutschland).<br />
11<br />
Schramm (Fn. 1), S. 403, hegt die Hoffnung, dass der Tatbestand<br />
bei einer neuerlichen Verfassungsbeschwerde verworfen<br />
werden könne. Doch dürften – schon aus tatsächlichen<br />
und prozessualen Gründen – Jahre bis zu einer neuen<br />
Entscheidung vergehen. Realistischer daher die Einschätzung<br />
von M. Heinrich, in: M. Heinrich u.a. (Hrsg.), Strafrecht als<br />
Scientia Universalis Festschrift – Festschrift für Claus Roxin<br />
zum 80. Geburtstag am 15. Mai 2011, 2011, S. 131 (S. 140).<br />
12<br />
Dass diese Suche bislang von vielen Fehlschlägen begleitet<br />
ist, konstatiert Ritscher (Fn. 3), § 173 Rn. 2.<br />
unterhalten und mit dieser mehrere Kinder gezeugt hatte. 13<br />
Der Gesetzgeber verfolge mit dem Verbot des Beischlafs<br />
zwischen Verwandten verfassungsrechtlich zulässige Zwecke,<br />
die „jedenfalls in ihrer Gesamtheit“ den Tatbestand legitimierten:<br />
die Bewahrung der familiären Ordnung vor schädigenden<br />
Wirkungen des Inzests, den Schutz der in einer Inzestbeziehung<br />
unterlegenen Partner sowie ergänzend die Vermeidung<br />
schwerwiegender genetisch bedingter Erkrankungen<br />
bei Abkömmlingen aus Inzestbeziehungen. 14 Dem Rechtsgutsbegriff<br />
vermochte das BVerfG keine Anforderungen abzugewinnen,<br />
die der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit des<br />
§ 173 StGB im Wege gestanden hätten. 15 Dies mit Recht.<br />
Denn ganz unabhängig von der Vagheit des Rechtsgutsbegriffs,<br />
16 seinem ungeklärten Geltungsgrund 17 und der Tatsache,<br />
dass sich selbst Vertreter einer systemkritischen Rechtsgutskonzeption<br />
über deren Grenzen hinwegsetzen: 18 Das<br />
BVerfG begründet § 173 StGB (auch) mit dem Schutz der<br />
Familie sowie dem sexuellen Selbstbestimmungsrecht, kurz:<br />
mit anerkannten Rechtsgütern. 19 Die am BVerfG geübte<br />
13<br />
Zur Prozessgeschichte BVerfGE 120, 224 (234 f.); EGMR,<br />
Urt. v. 12.4.2012 – 43547/08 (Stübing v. Deutschland), Rn. 5<br />
ff.<br />
14<br />
BVerfGE 120, 224 (243).<br />
15<br />
BVerfGE 120, 224 (241 f.).<br />
16<br />
S. nur Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 357 ff.;<br />
Frisch, in: Hefendehl/v. Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie:<br />
Legitimationsbasis des Strafrechts oder dogmatisches<br />
Glasperlenspiel?, 2003, S. 215 (S. 217); Hörnle (Fn. 1),<br />
S. 17 f.; Kuhlen, in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung<br />
und Strafprozess im gesamten Strafrechtssystem,<br />
1996, S. 77 (S. 97); Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts,<br />
1993, S. 279; Rönnau, JuS 2009, 209 f.; Stuckenberg,<br />
GA 2011, 653 (657). Klassisch die Kritik v. Liszts,<br />
Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. 1, 1970, S. 224,<br />
aus dem Jahr 1873: Der Rechtsgutsbegriff (namentlich Bindings)<br />
sei ein „Proteus, der alle Gestalten annimmt; ein Wort,<br />
das heute das und morgen wieder etwas ganz anderes bedeutet,<br />
ein Blankett, dem jeder den <strong>Inhalt</strong> geben kann, der ihm<br />
gerade passt.“ Fast wortgleich 50 Jahre später Welzel, Abhandlungen<br />
zum Strafrecht und zur Rechtsphilosophie, 1975,<br />
S. 135 (zum Rechtsgutsbegriff insgesamt).<br />
17<br />
Dazu zuletzt Hilgendorf, NK 2010, 125 (128 f.); Stuckenberg,<br />
GA 2011, 653. S. auch Greco, <strong>ZIS</strong> 2008, 234 (237).<br />
18<br />
Zu „Erweiterungen des strafrechtlichen Regelungsbereichs<br />
über den Rechtsgüterschutz hinaus“ s. Roxin (Fn. 2), § 2<br />
Rn. 29 ff. Eine derart topisch begründete Aufsprengung von<br />
Systemgrenzen führt freilich unweigerlich zu der Frage, wie<br />
dem Gesetzgeber in anderen Fällen die begründete Erweiterung<br />
des strafrechtlichen Regelungsbereiches über den Rechtsgüterschutz<br />
hinaus untersagt werden kann (vgl. zu den Folgen<br />
einer solchen Verwendung der Topik Viehweg, Topik und<br />
Jurisprudenz, 5. Aufl. 1973, S. 31 ff.).<br />
19<br />
Der von Noltenius, ZJS 2009, 15 (17) und Roxin, StV<br />
2009, 544 (545) ausgemachte Widerspruch zwischen dem<br />
Hinweis des BVerfG auf den Rechtsgüterschutz als Aufgabe<br />
des Strafrechts einerseits und der Ablehnung des Rechtsgutsbegriffs<br />
als Prüfstein der Kriminalisierung andererseits lässt<br />
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283
Michael Kubiciel<br />
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Kritik, es bestätige einen irrational-tabuschützenden Tatbestand,<br />
ist in dieser Pauschalität daher unbegründet. 20<br />
2. Begründung der Beschwerde<br />
Mit der Zurückweisung der Verfassungsbeschwerde gegen<br />
die Verurteilung war der Weg zu einer Individualbeschwerde<br />
beim EGMR eröffnet. In dieser monierte der Beschwerdeführer<br />
eine Missachtung des von Art. 8 Abs. 1 EMRK gewährleisteten<br />
Privat- und Familienlebens. Ein Artikel, der bislang<br />
hauptsächlich als Rechtsschutznorm gegen strafprozessuale<br />
Eingriffe wie die Überwachung des Telefon- und Briefverkehrs<br />
genutzt wurde, 21 sollte also nun jenes kritische Potenzial<br />
entfalten, das dem Rechtsgutsbegriff und dem Grundgesetz<br />
fehlt. Zur Begründung machte der Beschwerdeführer zunächst<br />
geltend, die Verurteilung wegen Beischlafs unter Verwandten<br />
verletze sein Recht auf Achtung des Familienlebens,<br />
weil sie ihn davon abhalte, an der Erziehung seiner Kinder<br />
teilzuhaben. 22 Diese Wirkung kann jedoch den Anwendungsbereich<br />
des Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht eröffnen. Denn die<br />
Trennung von der Familie ist die Folge jeder Verurteilung zu<br />
einer Freiheitsstrafe, deren konventionsrechtlichen Anforderungen<br />
die Artt. 5, 6 und 7 EMRK statuieren. Soll Art. 8<br />
Abs. 1 EMRK nicht systemwidrig zu einem Türöffner für eine<br />
umfassende Prüfung des gesamten nationalen Strafrechtsregimes<br />
umgewandelt werden, kann der Eingriff in das Familien-<br />
und Privatleben nicht in der Straffolge, sondern nur in<br />
der Strafbegründung liegen: Der Grund der Strafe muss mit<br />
dem Recht auf Achtung des Familien- und Privatlebens konfligieren.<br />
Die inhaltlichen Argumente des Beschwerdeführers beziehen<br />
sich denn auch auf die Begründung der Strafe. Das<br />
Verbot des Beischlafs zwischen Verwandten greife in sein<br />
Sexualleben und damit in das von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte<br />
Privatleben ein, 23 ohne dass dieser Eingriff durch<br />
eine „drängende soziale Notwendigkeit“ i.S.d. Art. 8 Abs. 2<br />
EMRK gerechtfertigt werden könnte. 24 Erstens lasse sich<br />
§ 173 StGB nicht als Mittel zum Schutz vor Erbkrankheiten<br />
rechtfertigen, weil der Zusammenhang zwischen Inzest und<br />
derartigen Kindsschädigungen nicht hinreichend belegt sei<br />
und der Staat Risikopaaren die Zeugung von Kindern nicht<br />
verbieten dürfe. Zweitens diene das Inzestverbot nicht dem<br />
Schutz des Familienverbandes. Denn der Straftatbestand gelte<br />
sich daher auflösen: Das BVerfG bestätigt einen systemimmanenten<br />
Rechtsgutsbegriff, während es einen weitergehenden<br />
systemkritischen Rechtsgutsbegriff ablehnt. Wie hier<br />
Frommel, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos<br />
Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 2, 3. Aufl. 2010, § 173<br />
Rn. 2.<br />
20 Im Ergebnis wie hier Schramm (Fn. 1), S. 425.<br />
21 Ambos, Internationales Strafrecht, 3. Aufl. 2011, § 10<br />
Rn. 54 ff.<br />
22 EGMR, Urt. v. 12.4.2012 – 43547/08 (Stübing v. Deutsch-<br />
land), Rn. 34.<br />
23 EGMR, Urt. v. 12.4.2012 – 43547/08 (Stübing v. Deutsch-<br />
land), Rn. 34.<br />
24 Dazu und zum Folgenden EGMR, Urt. v. 12.4.2012 –<br />
43547/08 (Stübing v. Deutschland), Rn. 36 ff.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
284<br />
<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />
einerseits nur für erwachsene Kinder, die in der Regel die<br />
Familie alsbald verließen, andererseits erfasse er Stief- und<br />
Adoptivkinder nicht, obgleich auch diese zur Familie gehörten.<br />
Drittens sei § 173 StGB weder geeignet noch gedacht,<br />
die sexuelle Selbstbestimmung zu schützen: Diese Funktion<br />
erfüllten andere Tatbestände des StGB. Viertens lasse sich<br />
die Verurteilung nicht mit dem Schutz der Moral rechtfertigen,<br />
denn es sei nicht zu erwarten, dass ein Freispruch das<br />
gesellschaftliche Inzesttabu schwächte.<br />
3. Entscheidungsgründe<br />
Mit diesen Argumenten war der Beschwerdeführer bereits in<br />
Karlsruhe gescheitert und ein Blick auf das Prüfungsprogramm<br />
des EGMR dürfte bei ihm Zweifel daran ausgelöst<br />
haben, dass er mit ihnen in Straßburg durchdringt. Denn eine<br />
Individualbeschwerde ist keine „fourth instance“ oder Superrevision,<br />
25 in der zu erörtern wäre, ob sich die von einem nationalen<br />
Gesetzgeber oder Verfassungsgericht für eine Kriminalisierung<br />
bzw. Verurteilung angeführten Gründe passgenau<br />
in das nationale Straf- oder Verfassungsrecht einfügen<br />
lassen. 26 Im „europäischen Verfassungsgerichtsverbund“ 27<br />
kommt dem EGMR vielmehr die beschränkte Aufgabe zu,<br />
eine nationale Entscheidung auf ihre Vereinbarkeit mit den<br />
Standards der EMRK zu prüfen. Der Verfassungsgerichtsverbund<br />
zwischen BVerfG und EGMR bezweckt folglich nur<br />
einen komplementären Grundrechtsschutz. 28 Dies gebietet<br />
eine Rücksichtnahme des einen Gerichts auf den von dem<br />
jeweils anderen Gericht gewährleisteten Schutz. 29 Dem<br />
Rücksichtnahmegebot trägt der EGMR dadurch Rechnung,<br />
dass er den Institutionen der Konventionsstaaten einen Beurteilungsspielraum<br />
(„margin of appreciation“) hinsichtlich der<br />
Umsetzung der von der EMRK gewährleisteten Menschenrechte<br />
zubilligt. 30 Aus diesem Grund nimmt die Kontrolldich-<br />
25<br />
Zum subsidiären Charakter Grabenwarter/Pabel, Europäischen<br />
Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2010, § 18 Rn. 20.<br />
Zur „fourth instance formula“ Conde, A Handbook of International<br />
Human Rights Terminology, 2. Aufl. 2004, S. 52.<br />
26<br />
Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention,<br />
Handkommentar, 3. Aufl. 2011, Art. 8 Rn. 109, 118; Peukert,<br />
in: Frohwein/Peukert, EMRK-Kommentar, 3. Aufl. 2009,<br />
Art. 34 Rn. 6.<br />
27<br />
Voßkuhle, NVwZ 2010, 1 (3).<br />
28<br />
Di Fabio, FAZ v. 20.10.2011 (www.faz.net/aktuell/politik/<br />
staat-und-recht/gastbeitrag-friedliche-koexistenz-11057029);<br />
Oeter, VVDStRL 66 (2007), 361; Schumann, in: Bernreuther<br />
u.a. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Spellenberg zum 70. Geburtstag,<br />
2010, S. 729 (S. 733 f.); Steiner, in: Detterbeck<br />
(Hrsg.), Recht als Medium der Staatlichkeit, Festschrift für<br />
Herbert Bethge, 2009, S. 653 (S. 662 ff.).<br />
29<br />
Voßkuhle, NVwZ 2010, 1 (3).<br />
30<br />
Brems, ZaöRV 56 (1996), 240 (242 ff.); Delmas-Marty,<br />
Ordering Pluralism, 2009, S. 47 ff.; Kühling, in: v. Bogdandy/Bast<br />
(Hrsg.) Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009,<br />
S. 695; Letsas, Oxford Journal of Legal Studies 26 (2006),<br />
705 (709 ff.); Prepeluh, ZaöRV 61 (2001), 771 (772 ff.). Vgl.<br />
auch Nußberger, RW 2012, 197 (210 f.): „Wahrung von<br />
allgemein akzeptierten (Mindest)standards“.
Das deutsche Inzestverbot vor den Schranken des EGMR<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
te auf dem Weg von Karlsruhe nach Straßburg nicht zu, sondern<br />
ab. 31<br />
Dies bestätigt auch der vorliegende Fall. 32 Zwar müsse<br />
ein Staat, so der EGMR, besonders wichtige Gründe („particular<br />
serious reasons“) geltend machen können, wenn er –<br />
wie hier – in eine bedeutsame Facette der individuellen Existenz<br />
eingreife. Doch sei der nationale Beurteilungsspielraum<br />
weiter, wenn die streitgegenständliche Frage in den Mitgliedstaaten<br />
des Europarates nicht einheitlich beantwortet werde<br />
oder wenn sie ein sensibles moralisches oder ethisches Thema<br />
berühre. Beides sei hier der Fall. Daher hat sich der<br />
EGMR nicht näher mit den vom Beschwerdeführer vorgetragenen<br />
kriminalpolitischen, dogmatischen und systematischen<br />
Argumenten befasst, 33 sondern sich mit einer Vertretbarkeitsprüfung<br />
begnügt. Dementsprechend fallen die weiteren Erwägungen<br />
des EGMR aus. 34 Das BVerfG, so das Straßburger<br />
Gericht, habe eine sorgfältige Abwägung der Argumente für<br />
und gegen die Strafbarkeit sexueller Beziehungen zwischen<br />
Geschwistern vorgenommen und mehrere Strafzwecke genannt,<br />
auf die sich die Verurteilung des Beschwerdeführers<br />
stützen ließen. Besondere Beachtung schenkt der EGMR dem<br />
Schutz des sexuellen Selbstbestimmungsrechts. In diesem<br />
Zusammenhang betont das Gericht, dass die Schwester des<br />
Beschwerdeführers im Alter von sechzehn Jahren und nach<br />
dem Tod ihrer Mutter eine Beziehung mit ihrem sieben Jahre<br />
älteren Bruder eingegangen sei, dass sie an einer schweren<br />
Persönlichkeitsstörung leide und in hohem Maße von ihrem<br />
Bruder abhängig gewesen sei. 35<br />
„Unter diesen Umständen“, fand der EGMR, lasse sich<br />
die Verurteilung des Beschwerdeführers auf ein dringendes<br />
soziales Bedürfnis („pressing social need“) zurückführen. 36<br />
III. Bewertung der Entscheidung<br />
Die Entscheidung lässt sich aus einem strafrechtsdogmatischen<br />
und aus einem europarechtlichen Blickwinkel kommentieren.<br />
Kritisieren kann man sie aber nur aus der national-<br />
31<br />
Zur geringeren Kontrolldichte Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.),<br />
Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009,<br />
§ 2 Rn. 99 (S. 74); Letsas, Oxford Journal of Legal Studies<br />
26 (2006), 705 (721): „It is the idea that the Court’s power to<br />
review decisions taken by domestic authorities should be<br />
more limited than the powers of a national constitutional<br />
court [...].“<br />
32<br />
Dazu und zum Folgenden EGMR, Urt. v. 12.4.2012 –<br />
43547/08 (Stübing v. Deutschland), Rn. 58 f.<br />
33<br />
Dazu und zum Folgenden EGMR, Urt. v. 12.4.2012 –<br />
43547/08 (Stübing v. Deutschland), Rn. 55 ff.<br />
34<br />
Dazu und zum Folgenden EGMR, Urt. v. 12.4.2012 –<br />
43547/08 (Stübing v. Deutschland), Rn. 63 f.<br />
35<br />
EGMR, Urt. v. 12.4.2012 – 43547/08 (Stübing v. Deutschland),<br />
Rn. 64.<br />
36<br />
EGMR, Urt. v. 12.4.2012 – 43547/08 (Stübing v. Deutschland),<br />
Rn. 65. A.A. Klöpper, Das Verhältnis von § 173 StGB<br />
zu Art. 6 Abs. 1 GG, 1995, S. 136 ff., der mit ähnlichen Erwägungen<br />
wie jenen der Beschwerde den Eingriff für nicht<br />
gerechtfertigt erachtet.<br />
rechtlichen Perspektive (1.), die der EGMR gerade nicht<br />
einnehmen kann (2.).<br />
1. § 173 StGB als Tatbestand zum Schutz des sexuellen<br />
Selbstbestimmungsrechts?<br />
Die besondere Aufmerksamkeit, die der EGMR dem Schutz<br />
des sexuellen Selbstbestimmungsrechts schenkt, hat ihre Ursache<br />
in den entsprechenden Ausführungen des BVerfG. 37<br />
Dogmatisch ist sie jedoch unangebracht. Denn die sexuelle<br />
Selbstbestimmung wird im 13. Abschnitt des StGB geschützt,<br />
während § 173 StGB seinen Platz im 12. Abschnitt des StGB<br />
über die Straftaten gegen den Personenstand, die Ehe und die<br />
Familie hat. 38 Den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung<br />
vor Übergriffen in „spezifischen, durch die Nähe der Familie<br />
bedingten oder in der Verwandtschaft wurzelnden Abhängigkeiten“<br />
39 haben folglich die §§ 174 ff. StGB zu gewährleisten.<br />
Es hieße, die von ihnen aufgestellten, fein ziselierten<br />
Regeln systemwidrig zu umgehen, wenn § 173 StGB auf die<br />
pauschale Behauptung gestützt würde, bei einem Beischlaf<br />
zwischen Verwandten werde stets das sexuelle Selbstbestimmungsrecht<br />
eines Beteiligten verletzt. 40 Aus systematischen<br />
und dogmatischen Gründen kann § 173 StGB daher<br />
kein (weiteres) Delikt gegen die Person bzw. deren sexuelle<br />
Selbstbestimmung sein. Der Hinweis des EGMR auf die<br />
Unterlegenheit der Schwester des Beschwerdeführers, ihre<br />
Persönlichkeitsstörung und verminderte Schuldfähigkeit wäre<br />
folglich für die Erörterung der §§ 174 ff. StGB beachtlich; an<br />
der systematischen Stellung und dem Telos des § 173 StGB<br />
geht er hingegen vorbei.<br />
2. Der „margin of appreciation“ – Grundlage und Wirkung<br />
Wer den EGMR kritisieren will, kann daher nicht mit strafrechtssystematischen<br />
und -dogmatischen Argumenten operieren,<br />
sondern muss an dessen Interpretation der EMRK, insbesondere<br />
an der „Margin of appreciation“-Doktrin, ansetzen.<br />
Diese ist, wie gesehen, ein Instrument zur Flexibilisierung<br />
des Kontrollmaßstabs in Lebens- und Problembereichen, in<br />
denen sich kein europäischer Konsens herausgebildet hat. 41<br />
37<br />
BVerfGE 120, 224 (245 f.); s. auch Frommel (Fn. 19),<br />
§ 173 Rn. 1, 6.<br />
38<br />
So u.a. Jung (Fn. 2), S. 311 (S. 317); Lenckner/Bosch, in:<br />
Schönke/ Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 28. Aufl.<br />
2010, § 173 Rn. 1; Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht,<br />
Besonderer Teil, Bd. 2, 9. Aufl. 2005, § 63 Rn. 86 (S. 183);<br />
Ritscher (Fn. 3), § 173 Rn. 2, 4; Roxin, StV 2009, 544 (547);<br />
Zabel, JR 2008, 453 (455).<br />
39<br />
BVerfGE 120, 224 (246).<br />
40<br />
Zudem ließe sich diese Deutung nicht mit der Tatsache in<br />
Einklang bringen, dass § 173 StGB die Strafe auf den überlegenen<br />
und unterlegenen Verwandten erstreckt, so richtig<br />
Roxin, StV 2009, 544 (547).<br />
41<br />
Dazu Brems, ZaöRV 56 (1996), 240 f.; Grabenwarter/Pabel<br />
(Fn. 34), § 18 Rn. 20; Letsas, Oxford Journal of Legal<br />
Studies 26 (2006), 705 (724 ff.); Marauhn/Meljnik, in: Grote/<br />
Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Konkordanzkommentar, 2006,<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
285
Michael Kubiciel<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Ein solcher normativer „Weichmacher“ 42 ist freilich kritischen<br />
Einwänden ausgesetzt: Führt er nicht zu einer kulturellen<br />
Relativierung der Menschenrechte anstatt den „Weg<br />
zu einer kollektiven Garantie“ der Menschenrechte zu ebnen,<br />
von dem in der Präambel der Konvention die Rede ist? 43<br />
Müsste der EGMR nicht gerade auf jene menschenrechtssensiblen<br />
moralisch-ethischen Fragen eine eigene Antwort formulieren,<br />
hinsichtlich derer er den Mitgliedstaaten einen<br />
Ermessensspielraum gewährt? Auf den vorliegenden Fall übertragen:<br />
Hätte er nicht die Auffassung vertreten können, das<br />
deutsche Inzestverbot verletze das Recht auf Achtung des<br />
Privatlebens in seinem Kernbereich 44 und zwinge den Betroffenen<br />
die herrschenden moralischen Standards einer Gesellschaft<br />
auf? 45<br />
Diese Fragen können nicht beantwortet werden, ohne sich<br />
Klarheit über den tragenden Grund der „Margin of appreciation“-Doktrin<br />
zu verschaffen. Der EGMR hat sich dazu in<br />
seiner Rechtsprechung bislang nur skizzenhaft geäußert: Er<br />
verweist darauf, dass es kein uniformes europäisches Verständnis<br />
von den Anforderungen gebe, unter denen Rechte<br />
anderer oder die öffentliche Ordnung geschützt werden dürften.<br />
46 Daher seien die Konventionsstaaten insbesondere bei<br />
Kap. 16 Rn. 92 (S. 811), jeweils mit zahlreichen Nachweisen<br />
aus der Rechtsprechung.<br />
42<br />
Treffende Bezeichnung für das Verhältnismäßigkeitsprinzip<br />
Voßkuhle, JuS 2004, 2 (4).<br />
43<br />
So Letsas, Oxford Journal of Legal Studies 26 (2006), 705<br />
(723).<br />
44<br />
So insbesondere Greco, <strong>ZIS</strong> 2008, 234 (238 f.). S. auch<br />
Roxin, StV 2009 544 (547 f.); Noltenius, ZJS 2008 15 (16).<br />
Unabhängig von ihrer konventionsrechtlichen Relevanz ist<br />
diese Kritik auch inhaltlich nicht stichhaltig. Denn die Annahme,<br />
es lasse sich rein faktisch, d.h. ohne abwägende Bewertung<br />
auch der Folgen eines Verhaltens, bestimmen, dass<br />
Lebensbereiche wie der Sexualverkehr zwischen Erwachsenen<br />
rechtlich unantastbar seien, geht fehl: Entscheidend ist<br />
nämlich nicht der lebensweltliche Kontext, in dem ein Verhalten<br />
angesiedelt ist, sondern dessen rechtlicher Sinngehalt.<br />
Für dessen Bestimmung sind aber die konkreten Folgen<br />
durchaus relevant: So kann, wie schon Kant (Metaphysik der<br />
Sitten, hrsgg. von Ebeling, 1990, S. 303) am Beispiel der<br />
(versuchten) Selbsttötung von Eltern gezeigt hat, ein Verhalten<br />
nicht nur eine Verletzung einer Pflicht gegen sich selbst<br />
darstellen, die nach heutigen Maßstäben rechtlich irrelevant<br />
ist. Das Verhalten kann zugleich Pflichten gegen andere<br />
verletzen (im Beispiel: Pflichten gegenüber den Kindern) und<br />
damit – obwohl im „Kernbereich“ der Persönlichkeit angesiedelt<br />
– rechtlich relevant sein. Auch das geltende Strafrecht<br />
berücksichtigt (etwa beim Verbot des Erwerbs oder des Besitzes<br />
kinderpornographischer Schriften) Folgen eines im<br />
Intimbereich angesiedelten Verhaltens.<br />
45<br />
So die generelle Kritik am „margin of appreciation“ von<br />
Letsas, Oxford Journal of Legal Studies 26 (2006), 705 (729<br />
f.).<br />
46<br />
EGMR, Urt. v. 25.11.1996 – 17419/90 (Wingrove v. United<br />
Kingdom), Rn. 58. S. ferner Delmas-Marty (Fn. 30),<br />
S. 50 f. m.w.N.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
286<br />
<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />
moralisch und ethisch heiklen Problemen, in denen es an<br />
einem europäischen Konsens fehle, in einer „besseren Position“,<br />
diese angemessen zu lösen. 47 Im Verhältnis zu den Konventionsstaaten<br />
nähmen EMRK und EGMR folglich nur eine<br />
subsidiäre Rolle ein; ihre Aufgabe bestünde nicht darin, den<br />
Konventionsstaaten „uniform solutions“ aufzuerlegen. 48<br />
Der EGMR lässt offen, welcher Maßstab seiner Einschätzung<br />
zugrunde liegt, die Mitgliedstaaten befänden sich in<br />
einer besseren Position als er selbst. Denkbar ist, dass der<br />
EGMR davon ausgeht, die Institutionen der Konventionsstaaten<br />
seien aufgrund ihrer sachlichen und örtlichen Nähe faktisch<br />
in einer besseren Position, um eine für ihre Gesellschaft<br />
angemessene Lösung zu finden. 49 Denkbar ist aber auch, dass<br />
die Konventionsstaaten aus institutionellen, völkerrechtlichen<br />
oder rechtsethischen, kurz: normativen Gründen vorrangig<br />
zuständig sein sollen.<br />
In der Literatur klingt häufig diese normative Deutung an.<br />
So wird darauf hingewiesen, dass der europäische Verfassungsgerichtsverbund<br />
von der freiwilligen Kooperationsbereitschaft<br />
der beteiligten Institutionen lebe. 50 Das Institutionengefüge<br />
drohe sich aufzulösen, wenn sich die Rechtsprechung<br />
des EGMR zu weit von den (Grund-)Rechtsstandards<br />
und Wertüberzeugungen der Staaten entferne. 51 Aus völkerrechtlicher<br />
Sicht wird argumentiert, dass eine weite Auslegung<br />
den Konventionsstaaten Verpflichtungen auferlege, die<br />
sie bei der Ratifikation der EMRK nicht voraussehen konnten<br />
und deren Folgen für die Souveränität die Staaten nicht hingenommen<br />
hätten. 52 Daher ließen sich die Souveränität der<br />
Konventionsstaaten einerseits und das Menschenrechtsversprechen<br />
der EMRK andererseits nur durch die Anerkennung<br />
weiter Ermessensspielräume der Staaten in Einklang<br />
bringen. 53 Über diese funktionalen und völkerrechtlichen<br />
Erwägungen darf der rechtsethische Wert der Subsidia-<br />
47 EGMR, Urt. v. 12.4.2012 – 43547/08 (Stübing v. Deutsch-<br />
land), Rn. 60 m.w.N.<br />
48 EGMR, Urt. v. 10.11.2005 – 44774/98 (Leyla Şahin v.<br />
Turkey), Rn. 2.<br />
49 Dies klingt an in EGMR, Urt. v. 16.12.2010 – 25579/2005<br />
(A, B und C v. Ireland), Rn. 223: „As noted above, by reason<br />
of their direct and continuous contact with the vital forces of<br />
their countries, the State authorities are, in principle, in a<br />
better position than the international judge to give an opinion.”<br />
– In diese Richtung auch Grimm, VVDStRL 66 (2007),<br />
427 (427 f.); Steiner (Fn. 28), S. 653 (S. 667): Die nationalen<br />
Gerichte befänden sich in einem steten Rechtsdiskurs, der sie<br />
in einem Maße mit der Rechtsgemeinschaft in Verbindung<br />
halte, das internationalen Gerichten wie dem EGMR fehle.<br />
50 Oeter, VVDStRL 66 (2007), 361 (187 f.); ähnlich Merli,<br />
VVDStRL 66 (2007), 392 (418 f.).<br />
51 Harris/O’Boyle/Warbrick, Law of the European Convention<br />
on Human Rights, 2. Aufl. 2009, S. 9.<br />
52 Jacobs/White, The European Convention on Human Rights,<br />
4. Aufl. 2006, S. 53.<br />
53 So etwa Helfer/Slaughter, Yale Law Journal 107 (1997),<br />
273 (316 f.). Die Kompetenzfrage betont Grabenwarter, in:<br />
Dupy u.a. (Hrsg.), Völkerrecht als Werteordnung, Festschrift<br />
für Christian Tomuschat, 2006, S. 193 (S. 199).
Das deutsche Inzestverbot vor den Schranken des EGMR<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
rität nicht in Vergessenheit geraten. Berücksichtigt man, dass<br />
Personen aufgrund ihrer Sozialisation in ihren jeweiligen<br />
Gesellschaften unterschiedliche Vorstellungen vom Gerechten<br />
und Guten entwickeln und dass diese Vorstellungen die<br />
Identität der Person wesentlich prägen, 54 können politische<br />
und rechtliche Entscheidungen nicht immer weiter von der<br />
staatlichen auf eine überstaatliche Ebene verschoben werden.<br />
55 Vielmehr muss das Recht an die Lebens- und Bezugswelt<br />
der Menschen rückgebunden bleiben, soll es nicht als<br />
Fremdkörper empfunden werden. Dies gilt insbesondere für<br />
das Strafrecht: Es ist kein Instrument, das einer Gesellschaft<br />
fremde Normen aufzwingt, sondern den Bürgern durch den<br />
Schutz ihrer grundlegenden Normen die Entfaltung personaler<br />
Freiheit ermöglicht. 56 So gesehen ist die „Margin of appreciation“-Doktrin<br />
nicht Ausdruck der Achtung der Souveränität<br />
der Staaten. Sie ist auch und vor allem ein Gebot der<br />
Achtung der Souveränität der Bürger, die ihre politische<br />
Selbstbestimmung wesentlich innerhalb ihrer jeweiligen nationalen<br />
Assoziationen entfalten. 57<br />
Dass sich der EGMR Zurückhaltung bei der kriminalpolitischen<br />
Bewertung eines Tatbestandes auferlegt hat, der von<br />
einer „kulturhistorisch begründeten, nach wie vor wirkmächtigen<br />
gesellschaftlichen Überzeugung von der Strafwürdigkeit<br />
des Inzests“ getragen wird, 58 ist daher wohlbegründet. 59<br />
Der Straßburger Gerichtshof hat damit keinen Tatbestand<br />
abgesegnet, der dem Einzelnen grundlos die Moralvorstellungen<br />
der Mehrheitsgesellschaft aufzwingt. Wie wir nun<br />
sehen werden, lässt sich aus der (wenig gelungenen) äußeren<br />
Form des § 173 StGB auch dann ein freiheitstheoretisch<br />
akzeptabler Kern schälen, wenn man – anders als der EGMR<br />
– nicht auf den Schutz des sexuellen Selbstbestimmungsrechts<br />
abstellt.<br />
54<br />
Zusammenfassend zu diesen, in jüngerer Vergangenheit<br />
von den Kommunitaristen in Erinnerung gerufenen vorrechtlich-moralischen<br />
Grundlagen liberaler Gesellschaften Honneth,<br />
in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 1993, S. 7<br />
(insb. S. 12 f.). S. ferner Burmeister, in: Friedrich/Jagodzinski<br />
(Hrsg.), Soziale Integration, 1999, S. 353 (S. 361); Dahrendorf,<br />
Homo Sociologicus, 16. Aufl. 2006, S. 61 ff.; Rawls,<br />
Political Liberalism, 1993, S. 142 f. Am Beispiel Kubiciel,<br />
ZStW 120 (2008), 429 (438 ff.).<br />
55<br />
In diesem Sinn Gutmann, in: Honneth (Fn. 54), S. 68<br />
(S. 82).<br />
56<br />
Näher dazu im Zusammenhang mit der Europäisierung des<br />
Strafrechts Kubiciel, GA 2010, 99 (110 ff.).<br />
57<br />
Dazu Mahlmann, Europarecht 2011, 469 (483).<br />
58<br />
BVerfGE 120, 224 (248 f.).<br />
59<br />
Dies unterscheidet die „margin of appreciation“ von der<br />
vom BVerfG konstatierten, nicht aber begründeten kriminalpolitische<br />
Einschätzungsprärogative (BVerfGE 120, 224 [240])<br />
des nationalen Gesetzgebers.<br />
IV. Der Strafgrund des § 173 StGB<br />
1. Schutz der Institution Familie<br />
Nach einer Bemerkung Feuerbachs hat jedes Verbrechen<br />
„ein ihm eigenthümliches Hauptmerkmal, welches den Gesichtspunkt<br />
bestimmt, aus welchem seine Strafbarkeit im<br />
Ganzen zu beurtheilen ist.“ 60 Hätte Feuerbach recht, müsste<br />
sich auch der Inzeststraftatbestand auf ein strafbarkeitsbestimmendes<br />
Hauptmerkmal zurückführen lassen. Dies ist tatsächlich<br />
möglich. Zwar verlieren sich die Gründe des Inzestverbots<br />
im Dunkel der frühchristlichen Zeit; doch lehrt die<br />
uns bekannte Geschichte, dass die Entwicklung des Inzestverbots<br />
und seiner Grenzen eng mit der sozialen, ökonomischen<br />
und soziokulturellen Bedeutung der Familie verflochten<br />
ist. 61 Während das Inzestverbot in der Geschichte nicht<br />
stets eine sexuelle Komponente enthielt, ist ein Element über<br />
die Zeiten erhalten geblieben: Das Inzestverbot normiert die<br />
Inkompatibilität verschiedener sozialer Rollen in Familienverbänden.<br />
62<br />
Auch nach dem Willen des Gesetzgebers liegt der Strafgrund<br />
des § 173 StGB in dem von Art. 6 GG geforderten<br />
besonderen Schutz von Ehe und Familie. 63 Der Tatbestand<br />
trägt damit dem Umstand Rechnung, dass der Familie auch in<br />
der heutigen Gesellschaft eine erhebliche soziale und personale<br />
Bedeutung zukommt: In ihr wächst der Einzelne nicht<br />
nur heran; auch als Jugendlicher und Erwachsener bleibt er in<br />
aller Regel Bestandteil einer sozialen Einheit, deren Mitglieder<br />
nicht den Regeln der Konkurrenzgesellschaft folgen, 64<br />
sondern einander Beistand leisten. 65 Die Familie ist mithin<br />
eine Institution, welche die Ausprägung einer personalen<br />
Identität des Einzelnen vorbereitet, ihm später als sozialer<br />
Schutzraum dient, seine begrenzten Möglichkeiten erweitert,<br />
kurz: ihm reale, personale Freiheit vermittelt.<br />
60<br />
Feuerbach, in: L. Feuerbach (Hrsg.), Anselm Ritter von<br />
Feuerbach’s Biographischer Nachlass, Bd. 1, 2. Aufl. 1853,<br />
S. 212 (S. 217).<br />
61<br />
Grundlegend Goody, Die Entwicklung von Ehe und Familie<br />
in Europa, 1989, S. 70 ff. Deutlich wird dies auch daran,<br />
dass Forderungen nach Abschaffung des Inzestverbots vor<br />
allem in Epochen erhoben wurden, welche der Familie die<br />
personale und gesellschaftliche Bedeutung absprachen. Dazu<br />
mit Beispiel Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung,<br />
2003, S. 124 f.<br />
62<br />
Löhnig (Fn. 6), S. 207 (S. 209).<br />
63<br />
So explizit BT-Drs. VI/1552, S. 14. Auf den Schutz der<br />
Familie durch § 173 StGB verweisen (mit unterschiedlicher<br />
Nuancierung) auch Bottke, in: Bottke u.a. (Hrsg.), Familie als<br />
zentraler Grundwert demokratischer Gesellschaften, 1994,<br />
S. 101 (S. 113 f.); Frommel (Fn. 19), § 173 Rn. 1, 7; Krauß<br />
(Fn. 9), S. 423 (430); Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar,<br />
27. Aufl. 2011, § 173 Rn. 1; Schramm (Fn. 1),<br />
S. 423.<br />
64<br />
Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2007, S. 338.<br />
65<br />
Vgl. zur Bedeutung der Familie nur Kroppenberg, in:<br />
Kroppenberg/Löhnig (Fn. 6), S. 89.<br />
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287
Michael Kubiciel<br />
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Die Familie durch ein Inzestverbot zu schützen ist mithin<br />
kein „Ausdruck paternalistischer Ordnungsmacht“, 66 sondern<br />
eine freiheitstheoretisch akzeptable Zielsetzung. Denn unzweifelhaft<br />
stellen inzestuöse Beziehungen in der Regel eine<br />
schwere Belastung für die Familie dar: Sie wirken „familienzerstörend“,<br />
67 sie fragmentieren Familien. 68 Daher bedingt –<br />
mit Binding gesprochen – die „Gesundheit“ des Familienlebens<br />
die „strenge Lokalisierung des Geschlechtlebens in der<br />
Ehe bei voller Ungeschlechtlichkeit des ganzen übrigen Familienlebens.“<br />
69<br />
2. <strong>Inhalt</strong> und Geltungsdauer der Pflicht<br />
Gleichwohl werden Einwände gegen den Versuch erhoben,<br />
§ 173 StGB als Tatbestand zum Schutz der Familie zu konstruieren.<br />
So wird häufig darauf verwiesen, inzestuöse Beziehungen<br />
verursachten keine Störung von Familienbeziehungen,<br />
sondern seien deren Folge. 70 Dieser Einwand lässt sich<br />
indes entkräften, wenn man die Struktur der Pflichten innerhalb<br />
und gegenüber einer Institution näher betrachtet. Grundsätzlich<br />
lassen sich zwei Typen von Pflichten unterscheiden.<br />
71 Die (negative) Pflicht, andere Personen nicht zu schädigen,<br />
trennt Personen und ihren Rechtssphären voneinander.<br />
Die – aus der Garantenlehre bekannte – (positive) Förderungspflicht<br />
sorgt hingegen für eine echte Verbindung der<br />
Personen, von einem „Rechtsverhältnis in einem tieferen<br />
Sinne“. 72 Positive Pflichten bestehen nicht gegenüber jedermann,<br />
sondern nur innerhalb besonderer Institutionen, namentlich<br />
innerhalb einer Familie. In ihr sind die Einzelnen<br />
nicht nur zur Nicht-Schädigung verpflichtet, sie schulden<br />
einander auch Beistand und Förderung. Auf § 173 StGB<br />
übertragen heißt dies, dass die Pflicht, von inzestuösen Beziehungen<br />
abzusehen, nicht entfällt, sobald die Familienstruktur<br />
vorgeschädigt ist. Denn positive Pflichten verlangen,<br />
die Institution zu fördern, und das heißt in Bezug auf § 173<br />
StGB: den Erhalt oder die Wiederherstellung der familiären<br />
Beziehungen nicht durch die Aufnahme inzestuöser Beziehungen<br />
zu konterkarieren. Diese Pflicht entfällt erst dann,<br />
66<br />
So aber Zabel, JR 2008, 453 (455).<br />
67<br />
BT-Drs. VI/1552, S. 14. S. auch Frommel (Fn. 19), § 173<br />
Rn. 2.<br />
68<br />
Löhnig (Fn. 6), S. 207.<br />
69<br />
Binding, Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts,<br />
Besonderer Teil, Bd. 1, 1902, S. 228.<br />
70<br />
Statt vieler dazu Jung (Fn. 2), S. 311 (S. 315); Noltenius,<br />
ZJS 2009, 15 (19); Schramm (Fn. 1), S. 422; Zabel, JR 2008,<br />
453 (456).<br />
71<br />
Zur Unterscheidung von negativen und positiven Pflichten<br />
s. bereits Pufendorf, Über die Pflicht des Menschen und des<br />
Bürgers nach dem Gesetz der Natur, 1994, S. 72 ff., 82 ff.<br />
S. ferner Jakobs, System der Zurechnung, 2012, S. 83;<br />
Pawlik, in: M. Heinrich u.a. (Fn. 11), S. 931 (S. 938 ff.);<br />
Sánchez-Vera, Pflichtdelikt und Beteiligung, 1999, S. 60 f.;<br />
Vogel, Norm und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten,<br />
1993, S. 364.<br />
72<br />
Vgl. Braun (Fn. 64), S. 127.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
288<br />
<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />
wenn die Familie nicht nur vorgeschädigt ist, sondern tatsächlich<br />
und rechtlich nicht mehr besteht. 73<br />
Aus diesem Grund verfängt auch der Einwand nicht,<br />
§ 173 StGB diene nicht dem Schutz der Familie, weil der<br />
Geschwisterinzest erst ab dem 18. Lebensjahr (§ 173 Abs. 3<br />
StGB) und damit ab einer Entwicklungsphase strafbar sei, in<br />
der sich Familien regelmäßig auflösten. 74 Familiäre Bindungen<br />
erlöschen aber weder tatsächlich noch rechtlich mit dem<br />
Eintritt der Kinder in das Erwachsenenalter. 75 Kinder bleiben<br />
beispielsweise bis zum Tod ihrer Eltern für diese unterhaltspflichtig.<br />
76 Sind mehrere Kinder vorhanden, haften diese<br />
gleichrangig für den Unterhalt der Eltern je nach Leistungsfähigkeit.<br />
Folglich kann das Geschwisterverhältnis noch in<br />
weit fortgeschrittenem Alter (von Eltern und Kindern) tatsächlich<br />
und rechtlich wieder aufleben, indem familiäre Beistandspflichten<br />
aktualisiert werden. So gesehen stellt § 173<br />
Abs. 3 StGB zwar eine empfindliche Einschränkung des vom<br />
Inzestverbot gewährten Familienschutzes dar; die Vorschrift<br />
schließt den Schutz der Familie als teleologischen Bezugspunkt<br />
aber nicht aus.<br />
3. Grenzen des Tatbestands<br />
Auch ein dritter Einwand, der gegen die hier vorgenommene<br />
Konstruktion des § 173 StGB erhoben wird, schlägt nicht<br />
durch. Die Familie, heißt es, werde nicht (erst) durch den<br />
vom Tatbestand erfassten Vollzug des Beischlafs beschädigt,<br />
sondern (schon) durch die Vornahme anderer sexueller Handlungen.<br />
77 Weil der Gesetzgeber nicht alle familiengefährdenden<br />
Handlungen pönalisiert habe, so das Argument weiter,<br />
könne der Tatbestand auch insgesamt nicht den Zweck verfolgen,<br />
die Institution Familie zu schützen. Dieses Argument<br />
verkennt nicht nur, dass der kriminalpolitische Entscheidungsspielraum<br />
des Gesetzgebers wesentlich darin besteht,<br />
nicht jede potenzielle Gefährdung von Rechtsgütern kriminalisieren<br />
zu müssen. 78 Vor allem kann die Wissenschaft, die<br />
73 Im vorliegenden Fall war dem so, sind die Geschwister<br />
doch in früher Kindheit getrennt und in Pflege- und Adoptivfamilien<br />
erzogen wurden. Eine Familie, deren Erhalt § 173<br />
StGB dienen könnte, bestand daher nicht mehr. Folglich wäre<br />
eine teleologische Reduktion des Tatbestands und eine Einstellung<br />
des Verfahrens die angemessene Entscheidung deutscher<br />
Gerichte gewesen; eine „kleine Lösung“ zu Recht vermissend<br />
Hörnle, NJW 2008, 2085 (2087).<br />
74 Statt vieler Hassemer, in: BVerfGE 120, 224 (262 f.); Roxin,<br />
StV 2009, 544 (546); Zabel, JR 2008, 453 (456). S. auch<br />
Hörnle (Fn. 1), S. 454.<br />
75 Zur rechtlichen Dimension Gernhuber/Coester-Waltjen,<br />
Familienrecht, 6. Aufl. 2010, S. 560 ff. Dazu, dass die Solidarität<br />
zwischen Eltern und erwachsenen Kindern und die<br />
Akzeptanz von Unterhaltspflichten gegenüber Eltern recht<br />
hoch ist, Lüscher/Hoch, FPR 2003, 648.<br />
76 Dazu Gernhuber/Coester-Waltjen (Fn. 75), S. 563.<br />
77 Dazu und zum Folgenden Hassemer, in: BVerfGE 120,<br />
224 (262); Hörnle (Fn. 1), S. 454; Roxin, StV 2009, 544<br />
(546).<br />
78 Richtig Roxin, StV 2009, 544 (546); BVerfGE 120, 224<br />
(250).
Das deutsche Inzestverbot vor den Schranken des EGMR<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
heute einmütig verlangt, der Schutz des Strafrechts müsse<br />
fragmentarisch bleiben, 79 einem Tatbestand kaum jeglichen<br />
Sinn absprechen, nur weil dieser die (sonst postulierten)<br />
Schutzlücken lässt. Zudem lassen sich für die in Rede stehende<br />
Fragmentarität des § 173 StGB Gründe nennen. Der<br />
Gesetzgeber hatte seinerzeit die Beschränkung des tatbestandlichen<br />
Handelns mit eugenischen Gesichtspunkten erklärt.<br />
80 Dieser Erwägung wird entgegen gehalten, der Tatbestand<br />
könne keine eugenischen Zwecke verfolgen, weil es<br />
absurd sei, ein Kind vor seiner eigenen inzestuösen Zeugung<br />
bewahren zu wollen. Außerdem dürften kollektive eugenische<br />
Ziele nicht mit den Mitteln des Strafrechts durchgesetzt<br />
werden. 81 Die Argumente sind zwar für sich richtig, treffen<br />
aber auf § 173 StGB nicht zu: Der Tatbestand verfolgt keine<br />
eugenischen Zwecke. Vielmehr dienen die eugenischen Erwägungen<br />
lediglich als Differenzierungskriterien, mit denen<br />
die Weite des Schutzes der Familie bemessen wird. In diesen<br />
familienbezogenen teleologischen Rahmen lässt sich die<br />
Einschränkung auf Beischlafhandlungen aber gut einfügen:<br />
Schwerer und nachhaltiger noch als durch eine inzestuöse<br />
Beziehung wird eine Familie geschädigt, wenn aus dieser<br />
Beziehung Kinder hervorgehen. Sind diese Kinder gar erbgeschädigt,<br />
treten zu den ohnehin schon vorhandenen Belastungen<br />
noch jene hinzu, die stets mit der Erziehung eines behinderten<br />
Kindes einhergehen. So gesehen, ist die tatbestandliche<br />
Beschränkung auf den Beischlaf nachvollziehbar.<br />
Auch eine letzte Lücke – die Beschränkung auf leibliche<br />
Kinder unter Aussparung von Adoptivkindern – lässt sich<br />
damit erklären. Zudem dürfte für diesen Schritt des Gesetzgebers<br />
die Tatsache mitentscheidend gewesen sein, dass in<br />
den späten 1960er Jahren Familien mit Adoptivkindern wesentlich<br />
weniger weit verbreitet gewesen sind als heute. In<br />
einer Gesellschaft mit einer wachsenden Zahl von „Patchwork“-Familien<br />
dürfte sich die Begrenzung des Tatbestands<br />
stärker bemerkbar machen. Der Zweck des § 173 StGB, Familien<br />
zu schützen, wird durch diese gesellschaftliche Entwicklung<br />
aber (noch) nicht in Frage gestellt.<br />
V. Schluss<br />
Die Entscheidung des EGMR wirft nicht nur spezifische<br />
Fragen zur Auslegung des § 173 StGB und zur Interpretation<br />
des Art. 8 EMRK auf. Sie verweist darüber hinaus auf zwei<br />
Aspekte von übergeordneter Bedeutung: Bis zu welcher<br />
Grenze darf sich der EGMR mit kriminalpolitischen Entscheidungen<br />
von Staaten auseinandersetzen? Wie weit muss<br />
sich die Strafrechtswissenschaft auf eine dogmatische Analyse<br />
eines Tatbestandes einlassen, den sie kriminalpolitisch für<br />
verfehlt hält?<br />
Wie wir gesehen haben, tut der EGMR gut daran, in Bereichen<br />
wie diesem Distanz zur nationalen Kriminalpolitik zu<br />
halten. Die Strafrechtswissenschaft aber muss sich – trotz<br />
79<br />
Umfassend dazu Vormbaum, ZStW 123 (2011), 660.<br />
80<br />
BT-Drs. VI/1552, S. 14.<br />
81<br />
Umfassend dazu Duttge, in: Heinrich u.a. (Fn. 11), S. 227;<br />
Hörnle (Fn. 1), S. 456 f.; Schramm (Fn. 1), S. 439 ff. S. ferner<br />
Hassemer, in: BVerfGE 120, 224 (258 f.); Hörnle, NJW<br />
2008, 2085 (2087).<br />
ihrer kriminalpolitischen Funktion – fortan § 173 StGB dogmatisch<br />
annähern: Nachdem feststeht, dass sich an der Strafbarkeit<br />
des Beischlafs zwischen Verwandten auf absehbare<br />
Zeit nichts ändern wird, hat sie sich um eine Deutung des<br />
§ 173 StGB zu bemühen, die mit den Wertüberzeugungen der<br />
Gesellschaft und den Plausibilitätsstandards der Strafrechtswissenschaft<br />
vereinbar ist. 82 Diese Behauptungen könnten<br />
sichtbar machen, dass das Verbot des Beischlafs zwischen<br />
Verwandten zwar einem soziokulturell tief verwurzelten<br />
Tabu entspricht, dass aber das Tabu und seine strafrechtliche<br />
Überformung weniger irrational sind als gemeinhin angenommen<br />
wird.<br />
82<br />
Zu dieser Aufgabe der Rechtswissenschaft Henkel, Einführung<br />
in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1977, S. 183 ff.;<br />
Neumann, in: Kaufmann/Hassemer/Neumann, Rechtsphilosophie<br />
und Rechtstheorie der Gegenwart, 7. Aufl. 2007,<br />
S. 333 (S. 341, 346 f.); Ryffel, Grundprobleme der Rechtsund<br />
Staatsphilosophie, 1969, S. 379 ff. Am Beispiel Kubiciel,<br />
JZ 2009, 600 (601 ff.).<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
289
Wollschläger, Der Täterkreis des § 299 Abs. 1 StGB und Umsatzprämien im Stufenwettbewerb Wostry<br />
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290<br />
B u c h r e z e n s i o n<br />
Sebastian Wollschläger, Der Täterkreis des § 299 Abs. 1<br />
StGB und Umsatzprämien im Stufenwettbewerb, C.F. Müller<br />
Verlag, Heidelberg 2009, 180 S., € 52,-<br />
Der Täterkreis des § 299 Abs. 1 StGB ist ein strafrechtliches<br />
Dauerthema – sowohl in der Praxis als auch in der Wissenschaft.<br />
Dabei umschreibt der Titel der zu besprechenden Dissertation<br />
ein Feld, auf dem teilweise mit grob kalibrierten<br />
Seismographen nach „mittleren Erdbeben“ 1 gesucht wird, wo<br />
doch juristisches Handwerkszeug und eine der Ultima Ratio-<br />
Funktion des Strafrechts Rechnung tragende Auslegung gefragt<br />
sind. 2 In diese Lücke stößt die vorliegende Kölner Dissertation<br />
von Wollschläger. Der Autor ist mit dem Anspruch<br />
angetreten, „den geltenden Anwendungsbereich der Vorschrift<br />
einzugrenzen und rechtspolitische Forderungen nach einer<br />
Ausweitung desselben kritisch zu hinterfragen“ (S. 2). Die<br />
Dissertation teilt sich in zwei Abschnitte: Im ersten Teil beschäftigt<br />
sich der Verf. – dem Titel der Arbeit entsprechend –<br />
mit dem Täterkreis des § 299 Abs. 1 StGB, den das Gesetz<br />
mit „Angestellten“ oder „Beauftragten“ umschreibt. Der<br />
zweite Teil der Arbeit ist der Frage nach der Reformbedürftigkeit<br />
des Bestechlichkeitstatbestandes gewidmet.<br />
Im ersten Teil seiner Dissertation untersucht Wollschläger<br />
zunächst das durch § 299 StGB geschützte Rechtsgut. Dieses<br />
sieht er – nach intensiver Auseinandersetzung mit divergierenden<br />
Auffassungen – allein im Schutze des lauteren Wettbewerbs<br />
(S. 13 ff.). Hier findet der Leser eine willkommen<br />
klare Stellungnahme dazu, an welchem Maßstab der Tatbestand<br />
des § 299 StGB abzumessen ist. Auch wenn die bislang<br />
wohl h.M. ein darüber hinausgehendes Konglomerat von<br />
Schutzgütern ausmacht, so ist diesem Teil der Untersuchung<br />
uneingeschränkt zuzustimmen. 3 Das gefundene Ergebnis nutzt<br />
Wollschläger sogleich dazu, das UWG für die weitere Tatbestandsauslegung<br />
fruchtbar zu machen (S. 26). 4 So legt er seiner<br />
Ausarbeitung die Maxime zugrunde, wonach ein nach<br />
dem UWG zulässiges Verhalten nicht zu einer strafrechtlichen<br />
Sanktion unter § 299 StGB führen dürfe, was methodisch<br />
als Eingangshürde der Strafbarkeitsprüfung anzusehen<br />
sei (S. 28 f.).<br />
Der methodischen Grundlegung folgt eine Betrachtung<br />
der lauterkeitsrechtlichen Rechtsprechung zu Fällen sog.<br />
„Umsatzprämien“, mithin solcher Prämien, die etwa ein Lie-<br />
1<br />
Pragal, NStZ 2005, 133 (136).<br />
2<br />
Vgl. dazu auch Wollschläger, Der Täterkreis des § 299<br />
Abs. 1 StGB und Umsatzprämien im Stufenwettbewerb,<br />
2009, S. 164 ff.<br />
3<br />
Vgl. in dieser Richtung auch Brand/T. Wostry, ZInsO 2008,<br />
64; dies., WRP 2008, 637 sowie T. Wostry, JR 2011, 165,<br />
jeweils m.w.N. zu anderen Auffassungen.<br />
4<br />
Ein weiteres überzeugendes Beispiel für diese Vorgehensweise<br />
(mit eingehender Erörterung des sog. „Korkengeld-<br />
Falles“) findet sich bei Rengier, in: Sieber u.a. (Hrsg.), Strafrecht<br />
und Wirtschaftsstrafrecht, Dogmatik, Rechtsvergleich,<br />
Rechtstatsachen, Festschrift für Klaus Tiedemann zum 70.<br />
Geburtstag, 2008, S. 837.<br />
<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />
ferant an Angestellte oder den Inhaber eines geschäftlichen<br />
Betriebs zur Absatzförderung auslobt oder gewährt (S. 29 ff.).<br />
Den Umstand, dass die Rechtsprechung herkömmlich auch<br />
die Prämiengewährung an den Betriebsinhaber für wettbewerbswidrig<br />
halte, kontrastiert Wollschläger mit zahlreichen<br />
Stellungnahmen aus der Literatur (S. 36 ff.) und gelangt<br />
schließlich zu dem Ergebnis, dass gerade die Gewährung von<br />
Prämien an den Betriebsinhaber wettbewerbsrechtlich unbedenklich<br />
sei. 5 Nichts anderes dürfe sodann für den Fall gelten,<br />
dass mit Einverständnis des Prinzipals die Prämien an die<br />
Angestellten oder Beauftragten geleistet werden (S. 54). Eine<br />
Ausnahme macht Wollschläger allerdings für Fälle der sog.<br />
„Drittverantwortlichkeit“ des Prinzipals: habe der Geschäftsherr<br />
rein rechtlich für die sachliche Beratung des Kunden einzustehen,<br />
so ziele die Erwartung des Verbrauchers auf dessen<br />
unbeeinflusstes Vorgehen; mithin trage auch das Einverständnis<br />
des selbst wettbewerbswidrig handelnden Geschäftsherren<br />
die Prämienannahme seiner Angestellten oder Beauftragten<br />
nicht (ebd.).<br />
Nunmehr widmet sich Wollschläger dem eigentlichen<br />
Kernthema seiner Arbeit – dem Täterkreis des § 299 Abs. 1<br />
StGB. Vorgeschaltet ist an dieser Stelle zunächst ein recht<br />
detaillierter Abschnitt über das Merkmal „geschäftlicher Betrieb“.<br />
Zustimmungswürdig ist hier insbesondere die Feststellung,<br />
dass mit dem Eintritt in wettbewerbliche Verhältnisse<br />
der Staat nicht ohne Weiteres den Schutz der §§ 331 ff. StGB<br />
in Anspruch nehmen darf (S. 62), sondern ggf. in das Regime<br />
des § 299 StGB fällt. 6 Im Anschluss daran werden die Anforderungen<br />
an die Merkmale des Angestellten und des Beauftragten<br />
skizziert (S. 70 ff.). Dass auch an dieser Stelle die eingangs<br />
vorgestellte Methode der abgestuften Auslegung durchgehalten<br />
wird, exemplifiziert der Autor etwa daran, dass er<br />
die Einbeziehung von „Noch-Nicht-Angestellten“ (S. 72) unter<br />
dem Aspekt der Wettbewerbsgefährdung für wünschenswert<br />
erachtet, de lege lata zumindest mit dem Wortlautargument<br />
ablehnt. Uneingeschränkt zustimmungsfähig ist auch<br />
die nachfolgende Position Wollschlägers, für das Tatbestandsmerkmal<br />
des Beauftragten nach § 299 Abs. 1 StGB sei<br />
eine Bestellung durch den Geschäftsherren erforderlich. Damit<br />
kommt etwa der Insolvenzverwalter nicht als Täter des<br />
§ 299 Abs. 1 StGB in Betracht. 7 Diese Position ist u.a. auch<br />
Gegenstand der aktuellen Vertragsarztdebatte 8 . Des Weiteren<br />
schließt sich Wollschläger – wieder zum Kern seiner Arbeit<br />
gewendet – der Auffassung an, dass bereits die Kenntnis des<br />
Prinzipals von der Prämienforderung oder -gewährung die<br />
Strafbarkeit der Angestellten und Beauftragten entfalle. Methodisch<br />
wählt der Autor den Weg einer teleologischen Reduktion<br />
des Tatbestandes, die sich stets an der Frage nach der<br />
Wettbewerbswidrigkeit der Prämienleistung orientiert (S. 80).<br />
Im Anschluss an einen Abriss zu Fragen mit Auslandsbezug<br />
wendet sich Wollschläger sodann unter der Überschrift<br />
5<br />
Kritik auch bei Rengier (Fn. 4), S. 837, 842 ff.<br />
6<br />
Vgl. weiterführend zu Kassenvorständen Rust/T.Wostry,<br />
MedR 2009, 319.<br />
7<br />
Vgl. Brand/T. Wostry, ZInsO, 2008, 64; Brand, DZWIR<br />
2008, 318.<br />
8<br />
Vgl. T. Wostry, JR 2011, 165.
Wollschläger, Der Täterkreis des § 299 Abs. 1 StGB und Umsatzprämien im Stufenwettbewerb Wostry<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
„Der Betriebsinhaber als Beauftragter“ (S. 92 ff.) dem derzeit<br />
besonders lebhaft umstrittenen Themenfeld des vertragsärztlich<br />
tätigen Arztes zu, dessen Bedeutung sich insbesondere<br />
daraus speist, dass bekanntlich der Große Senat in Strafsachen<br />
noch in diesem Jahr über die Frage entscheiden könnte,<br />
ob der Vertragsarzt in den Täterkreis des § 299 Abs. 1 StGB<br />
fällt. 9 Auch hier bleibt Wollschläger seiner Linie treu und<br />
verweist den Vertragsarzt aus den Reihen der tauglichen<br />
Täter. Dafür führt er einerseits aus dem Wettbewerbsrecht<br />
entnommene unternehmerische Freiheitsrechte ins Feld (S. 93),<br />
andererseits das Erfordernis einer rechtsgeschäftlichen Befugniseinräumung<br />
durch den Geschäftsherren (S. 95). Gegen<br />
beide Argumente ist wenig zu erinnern; 10 selbstredend hätte<br />
es einen systematischen Vorzug gehabt, den Topos von der<br />
unternehmerischen Freiheit selbstständig zu entwickeln, ohne<br />
allein hilfsweise auf das Erfordernis einer Bestellung durch<br />
den Prinzipal zurückgreifen zu müssen (vgl. S. 95).<br />
Nachdem Wollschläger damit die weitere Marschroute<br />
abgesteckt hat, widmet er sich der Strafbarkeit nach § 299<br />
Abs. 1 StGB im Umfeld von Kapital- und Personengesellschaften<br />
(S. 96 ff.). Hier lehnt der Autor insbesondere eine<br />
„rechtsformunabhängige Pönalisierung“ (S. 109) ab. Mit dieser<br />
Positionierung nur bedingt in Einklang zu bringen ist es<br />
indes, wenn zwar einerseits festgestellt wird, dass die „Gesamtheit<br />
der Gesellschafter einer Kapitalgesellschaft“ und die<br />
„Gesellschafterversammlung einer Personengesellschaft“<br />
(S. 109) als Betriebsinhaber anzusehen seien und dies die<br />
maßgebliche faktische Betrachtungsweise auch gebiete (ebd.),<br />
andererseits im Zuge der Strafbarkeitsbeurteilung des AG-<br />
Vorstandes allerdings angenommen wird, dieser erfülle das<br />
Merkmal des Beauftragten (S. 107). Konsequent weitergeführt<br />
wäre der Ansatz einer faktischen Betrachtung nur dann,<br />
wenn man den AG-Vorstand aufgrund seiner weitgehenden<br />
Befugnisse aus § 76 Abs. 1 AG aus dem Täterkreis des § 299<br />
Abs. 1 StGB herausnähme. 11<br />
Im zweiten Teil der Dissertation erörtert Wollschläger einen<br />
möglichen Reformbedarf des § 299 StGB. Hier kommt er<br />
zu dem Ergebnis, dass die derzeitige Tatbestandsfassung<br />
weitgehend konsistent sei (S. 125) und erteilt damit insbesondere<br />
der Forderung nach der Einbeziehung des Betriebsinhabers<br />
– auch für Fälle der Drittverantwortlichkeit (S. 128)<br />
– eine Absage. Sodann stellt der Autor über die aktuelle Gesetzesfassung<br />
hinausgehende Reformmodelle vor (S. 132 ff.).<br />
Im Fazit liegt mit der Dissertation Wollschlägers eine die<br />
jüngere Diskussion rund um den Tatbestand des § 299 Abs. 1<br />
StGB aufgreifende Untersuchung vor, die neben klaren Posi-<br />
9 Vgl. die Vorlagebeschlüsse des 5. Senats (5 StR 115/11)<br />
und des 3. Senats (3 StR 458/10) des BGH. Zu Fällen der<br />
„Kopfprämien“ in diesem Zusammenhang vgl. Lindemann,<br />
in: Lindemann/Ratzel (Hrsg.), Brennpunkte des Wirtschaftsstrafrechts<br />
im Gesundheitswesen, 2010, S. 9, 27 ff., 33 f.<br />
m.w.N.<br />
10 In Bezug auf die Befugniseinräumung vgl. eingehend Rönnau,<br />
in: Achenbach/Ransiek (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht,<br />
3. Aufl. 2012, 3. Teil 2. Kap. Rn. 16; Brand/T.<br />
Wostry, ZInsO, 2008, 64; T. Wostry, JR 2011, 165.<br />
11 So Brand/T. Wostry, WRP 2008, 637.<br />
tionen einige erhellende Aspekte aufzuzeigen vermag und<br />
daher zur Lektüre unbedingt empfohlen wird.<br />
RA Harald Wostry, Fachanwalt für Strafrecht, Fachanwalt<br />
für Medizinrecht, Essen<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
291
Mavany, Die Europäische Beweisanordnung und das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung Pintaske<br />
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292<br />
B u c h r e z e n s i o n<br />
Markus Mavany, Die Europäische Beweisanordnung und das<br />
Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, Verlag C.F. Müller,<br />
Heidelberg u.a. 2012, 204 S., € 54,95<br />
Der Vertrag über die Europäische Union in der Fassung des<br />
am 1.12.2009 in Kraft getretenen Vertrages von Lissabon<br />
stellt in Art. 3 Abs. 2 fest, dass die Union ihren Bürgern „einen<br />
Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ bietet.<br />
Gerade die Ausgestaltung des einen Raumes des Rechts steht<br />
auf dem Gebiet des Strafrechts in einem Spannungsfeld, da<br />
einerseits das Strafrecht als „letzte Bastion“ der nationalen<br />
Gesetzgebung angesehen wird, andererseits gerade die Strafverfolgung<br />
bei grenzüberschreitenden Aktivitäten darauf<br />
angewiesen ist, die Zusammenarbeit mit anderen Staaten zu<br />
verbessern, um ihre Aufgaben effektiv zu erfüllen. Vor diesem<br />
Hintergrund legt Markus Mavany seine – von Prof. Dr.<br />
Mark Zöller (Universität Trier) betreute – Untersuchung vor,<br />
in der er sich mit dem Rahmenbeschluss 2008/978/JI über die<br />
europäische Beweisanordnung und dem ihm zugrunde liegenden<br />
Prinzip der gegenseitigen Anerkennung tiefgehend<br />
auseinandersetzt. Im ersten Teil seiner Arbeit stellt der Autor,<br />
ohne den strafrechtlichen Bezug aus den Augen zu verlieren,<br />
allgemein die Grundlagen des Prinzips der gegenseitigen<br />
Anerkennung vor, wozu die historische Entwicklung, der <strong>Inhalt</strong><br />
sowie dessen dogmatische Herleitung zählen. Anschließend<br />
analysiert Mavany die Übertragung des Prinzips auf das<br />
Strafrecht. Im zweiten Teil der Untersuchung widmet sich der<br />
Autor konkret dem Rahmenbeschluss über die europäische<br />
Beweisanordnung im Hinblick auf die Umsetzungsanforderungen<br />
und die Folgen für das deutsche Beweisrecht und für<br />
die deutschen Justizbehörden. Abschließend wird im dritten<br />
Teil der Untersuchung auf Grundlage der bisherigen Forschungsergebnisse<br />
ein Vorschlag für ein Umsetzungsgesetz<br />
der Kernregelungen des Rahmenbeschlusses unterbreitet.<br />
Letzteres zeigt die nicht nur wissenschaftliche sondern – aus<br />
Sicht der Strafverfolgung – auch praxisorientierte Bedeutung<br />
der Untersuchung, die bereits während ihrer Ausarbeitung auf<br />
Interesse des Ministerialdirigenten a.D. Hans Hilger gestoßen<br />
ist, wie das Vorwort der Untersuchung zeigt.<br />
Zu den Abschnitten der Untersuchung im Einzelnen: Der<br />
erste Teil (S. 1 bis 76) beinhaltet das Prinzip der gegenseitigen<br />
Anerkennung. Mavany zeigt bei der historischen Entwicklung<br />
des Prinzips in Europa zunächst auf, dass Ansätze<br />
eines Prinzips der gegenseitigen Anerkennung zwar bereits<br />
im 19. Jahrhundert zu finden sind, sich aber daraus Rückschlüsse<br />
für die heutige Auseinandersetzung mit dem Prinzip<br />
aufgrund der unterschiedlichen rechtlichen Ausgangslagen<br />
nur sehr bedingt ziehen lassen. Vielmehr seien die Vorläufer<br />
eines Prinzips der gegenseitigen Anerkennung, aber eben<br />
auch nicht mehr, in den Übereinkommen des Europarates auf<br />
dem Gebiet der Rechtshilfe sowie dem Schengen-Besitzstand<br />
zu sehen. Die Grundlagen des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung<br />
im Rechtsrahmen der EU wurden nach Ansicht<br />
von Mavany erst durch die Rechtsprechung des EuGH in den<br />
siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts konkretisiert. Der<br />
Autor stellt diese Rechtsprechung zur Warenverkehrsfreiheit<br />
<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />
dar und zeigt, wie sie sich auf andere Grundfreiheiten übertragen<br />
lässt. Dieser prägnanten Darstellung folgt die Darstellung<br />
der Übertragung des Prinzips auf das Strafrecht durch<br />
den Tampere-Prozess und das Haager Programm. Mavany<br />
arbeitet abschließend im historischen Teil heraus, dass das<br />
Prinzip der gegenseitigen Anerkennung durch den Vertrag<br />
von Lissabon im Primärrecht der Europäischen Union als leitendes<br />
Prinzip verankert und daher von einer wachsenden Bedeutung<br />
des Prinzips auszugehen ist.<br />
Nach der historischen Entwicklung widmet sich der Autor<br />
weiterhin im ersten Teil der Untersuchung dem Regelungsgehalt<br />
und den Grundlagen des Prinzips der gegenseitigen<br />
Anerkennung. In der Konzeption der Europäischen Union<br />
führe das Prinzip zu einer unmittelbaren und automatischen<br />
unionsweiten Geltung strafrechtlicher Entscheidungen in allen<br />
Deliktsbereichen. Der Schwerpunkt liege im Bereich der<br />
Internationalen Rechtshilfe in Strafsachen. Der Autor arbeitet<br />
heraus, dass die Grundlage des Prinzips der gegenseitigen<br />
Anerkennung das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten<br />
in die jeweils ausländische justizielle Entscheidung ist. Der<br />
Schutz des Einzelnen durch die Rechtsordnung des Vollstreckungsstaates<br />
werde durch die Vollstreckung einer ausländischen<br />
Maßnahme nicht unterlaufen, da innerhalb der EU gemeinsame<br />
Grundrechtsstandards bestünden und so zwar nicht<br />
die gleichen, aber gleichwertige Vorschriften vorhanden seien,<br />
so die von Mavany dargestellte herrschende Argumentationslinie.<br />
Ausgehend hiervon diskutiert Mavany bereits hervorgebrachte<br />
Bedenken gegen die Übertragung des Prinzips<br />
der gegenseitigen Anerkennung auf das Strafrecht. Die Gebotenheit<br />
der Übertragung bejaht er überzeugenderweise, denn<br />
das mit der Übertragung verfolgte Ziel liege nicht in der Verwirklichung<br />
des Binnenmarktzieles und der Gewährung von<br />
Grundfreiheiten, sondern in der Verwirklichung eines Raumes<br />
der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Er lehnt<br />
ebenfalls die Bedenken gegen die Übertragung des Prinzips<br />
als Erweiterung von Rechten auf das eingriffsintensive Strafrecht<br />
ab, denn bei dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung<br />
handle es sich um ein neutrales Rechtsinstrument. Der<br />
<strong>Inhalt</strong> der konkreten Maßnahme müsse vom Regelungsgehalt<br />
abstrahiert werden. Sämtliche vom Autor dargestellten Bedenken<br />
wegen eines möglichen Verstoßes gegen das Demokratieprinzip<br />
sowie der Gefahr des sog. „forum shoppings“<br />
werden argumentativ nachvollziehbar und überzeugend abgelehnt.<br />
Dabei legt der Autor zu Recht Wert darauf, dass zwischen<br />
der generellen Geeignetheit des Prinzips der gegenseitigen<br />
Anerkennung als rechtstechnisches Instrument und seiner<br />
konkreten Umsetzung bei der Strafverfolgung, wo der<br />
Gefahr des „forum shoppings“ und der Entstehung eines hybridisierten<br />
Verfahrensrechts entgegenzutreten ist, differenziert<br />
werde.<br />
Zum Abschluss des ersten Teils erarbeitet Mavany erstmals<br />
drei Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Prinzips<br />
der gegenseitigen Anerkennung: das Bestehen des gegenseitigen<br />
Vertrauens in die Rechtsordnungen der EU-Mitgliedstaaten,<br />
verbindliche Zuständigkeitsregelungen der Union<br />
für die Durchführung des Strafverfahrens und das Erfordernis<br />
eines effektiven Rechtsschutzsystems gegen die auf<br />
dem Prinzip beruhenden Maßnahmen. Der Autor stellt her-
Mavany, Die Europäische Beweisanordnung und das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung Pintaske<br />
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aus, dass nur die erstere auf dem Gebiet des Strafrechts existiert<br />
und dass die Konsequenz des derzeitigen Fehlens der<br />
letzten beiden Voraussetzungen wäre, sämtliche Maßnahmen<br />
zur Umsetzung des Prinzips nicht anzuwenden und bereits<br />
angeordnete Maßnahmen auszusetzen. Dieser Konsequenz<br />
vermag er selbst aber nicht folgen zu wollen – jedoch allein<br />
aus tatsächlichen und politischen Gründen. An dieser Stelle<br />
zeigt der Autor, dass die politische Rechtstatsächlichkeit –<br />
zumindest vorübergehend – zu akzeptieren sei statt die Umsetzung<br />
der eigenen rechtlich und dogmatisch fundiert hergeleiteten<br />
Voraussetzungen mit Nachdruck zu fordern.<br />
Im zweiten Teil der Untersuchung (S. 77 bis 170) stellt<br />
der Autor den Rahmenbeschluss 2008/978/JI des Rates über<br />
die Europäische Beweisanordnung (RB-EBA) zur Erlangung<br />
von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in<br />
Strafsachen vor. Der Abschnitt beginnt mit der Entwicklung<br />
des Rahmenbeschlusses im Jahre 1999. Es folgt ein Vergleich<br />
mit dem Grünbuch zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen<br />
Interessen der Europäischen Gemeinschaften und zur<br />
Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft, bevor dann<br />
der Vorschlag des Rahmenbeschlusses dargestellt und analysiert<br />
wird. In der Untersuchung folgt die Darstellung und<br />
Erläuterung des Regelungsgehaltes des Rahmenbeschlusses.<br />
Ohne auf jedes Detail eingehen zu können, seien hier nur die<br />
interessantesten Punkte hervorgehoben. Der Autor stellt heraus,<br />
dass der Rahmenbeschluss nur die Beweiserhebung und<br />
-übermittlung, nicht aber die Beweisverwertung geregelt hat.<br />
Die europäische Beweisanordnung beruhe auf dem Prinzip<br />
der gegenseitigen Anerkennung, so dass von dem tradierten<br />
Rechtshilfesystem auf Basis des Ersuchen-Prinzips abgewichen<br />
werde und kein Zulässigkeits- und Bewilligungsverfahren<br />
mehr existiere.<br />
Bei der Erläuterung der Erlassvoraussetzungen und des<br />
Erlassverfahrens kritisiert Mavany die Möglichkeit der Errichtung<br />
von Zwischenbehörden (Art. 8 Abs. 2 RB-EBA), da<br />
dies die Vorteile der direkten Übermittlung abschwächen und<br />
den Dienstweg verlängern würde. Dabei differenziert er jedoch<br />
zwischen dem Anordnungsstaat, wo von der Möglichkeit<br />
der Benennung einer Behörde kein Gebrauch gemacht<br />
werden sollte, und dem Vollstreckungsstaat, wo die Benennung<br />
einer Behörde jedenfalls als Verteilungs- und Auskunftsstelle<br />
ratsam sei. Der bereits in der Literatur erhobenen<br />
Kritik an der Einschränkung des Erfordernisses der beiderseitigen<br />
Strafbarkeit durch Art. 14 Abs. 2 RB-EBA und der ihm<br />
zugrunde liegenden Deliktsgruppenkonstruktion schließt sich<br />
Mavany an. Es mangele derzeit an der ausreichenden Gesetzesbestimmtheit,<br />
wobei Alternativen denkbar wären.<br />
Bei der Vollstreckung von europäischen Beweisanordnungen<br />
(EBA) seien zwei Besonderheiten zu beachten, wonach<br />
einerseits die EBA selbst rechtliche Wirkung im Vollstreckungsstaat<br />
entfaltet, andererseits die Vollstreckungsbehörde<br />
die Verfahrens- und Formvorschriften des Anordnungsstaates<br />
anzuwenden hat. Mavany stellt heraus, dass beides für<br />
die deutschen Vollstreckungsbehörden neue rechtliche und<br />
tatsächliche Herausforderungen mit sich bringt, die er am<br />
Beispiel einer Durchsuchung und des Zeugnisverweigerungsrechts<br />
darstellt. Im Ergebnis lehnt der Autor es ab, die Einhaltung<br />
deutscher Verfahrensvorschriften bei der Anordnung der<br />
Vollstreckung einer EBA zu fordern, begrüßt jedoch die Forderung<br />
nach einer unionsrechtlichen Verbürgung und Ausgestaltung<br />
von Verfahrensrechten für die Betroffenen. Der<br />
Schutz der Rechte des Betroffenen soll durch das Recht des<br />
Anordnungsstaates gewährleistet werden. Abschließend zum<br />
RB-EBA werden das Rechtschutzsystem und die Rechtsbehelfe<br />
analysiert. Dabei stellt Mavany heraus, dass der Rechtsschutz<br />
nicht auf Unionsebene, sondern auf mitgliedstaatlicher<br />
Ebene erfolgt. Eine Besonderheit ist hierbei, dass der Rechtsweg<br />
danach gespalten wird, ob das „Ob“ oder das „Wie“<br />
einer EBA betroffen ist. Ersteres wird anhand der Regeln des<br />
Anordnungsstaates, letzteres anhand der des Vollstreckungsstaates<br />
überprüft. Diese Trennung ist Kritik ausgesetzt, die<br />
der Autor im Folgenden darstellt, sich aber im Ergebnis für<br />
die separierte Betrachtung entschließt, nicht ohne die Folgeprobleme<br />
der Rechtswegspaltung aufzuzeigen. Im Ergebnis<br />
sprechen aus Sicht Mavanys die „besseren Argumente für eine<br />
solche Spaltung“.<br />
Den zweiten Teil der Untersuchung schließt Mavany mit<br />
der Analyse der Verwertbarkeit erhobener Beweise ab. Dabei<br />
stellt er drei denkbare Fallkonstellationen auf, bei denen im<br />
Rahmen der Beweiserhebung die Vorschriften einer oder beider<br />
beteiligter Rechtsordnungen nicht eingehalten wurden.<br />
Während keine Besonderheiten bei der Missachtung beider<br />
beteiligter Rechtsordnungen auftreten, die ein unselbstständiges<br />
Beweisverwertungsverbot nach sich ziehen kann, gebe es<br />
bei den gekreuzten Beweisverwertungsverboten (rechtswidrige<br />
Maßnahme im Anordnungsstaat, die im Vollstreckungsstaat<br />
rechtmäßig ist und andersherum) ergeben sich erhebliche<br />
Differenzen. Mavany plädiert dafür, dass auch im Falle<br />
der Rechtswidrigkeit der Beweiserhebung nach deutschem<br />
Recht selbst bei rechtmäßiger Beweiserhebung im Erhebungsstaat<br />
die deutschen Grundsätze über die unselbstständigen<br />
Beweisverwertungsverbote zur Anwendung gelangen. Er hält<br />
eine Gesamtbetrachtung des Verfahrens auch für Beweismittel,<br />
die aus einem Rechtshilfeverfahren stammen, für vorzugswürdig.<br />
Mavany fordert bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses<br />
den Erlass einer entsprechenden Regelung, selbst<br />
wenn es der Rechtslage nach dem EuRhÜbk weitestgehend<br />
entspricht. Bei der umgekehrten Konstellation (Rechtmäßigkeit<br />
der Erhebung nach deutschem Recht – rechtswidrig im<br />
Erhebungsstaat) untermauere der Rahmenbeschluss die bisherige<br />
Rechtsprechungspraxis zur traditionellen Rechtshilfe,<br />
wonach die Beweismittel verwertbar sind. Mavany fordert für<br />
die Umsetzung des Rahmenbeschlusses eine dem § 369 ZPO<br />
entsprechende Regelung.<br />
Der dritte und letzte Teil der Untersuchung Mavanys<br />
(S. 171 bis 191) beginnt mit einer Zusammenfassung der<br />
wichtigsten Arbeitsergebnisse. Dieser folgt ein praktischer<br />
Vorschlag für ein Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses<br />
mit einigen Erläuterungen. Der Vorschlag beinhaltet<br />
die zentralen Regelungen des Rahmenbeschlusses und<br />
kann dem deutschen Gesetzgeber als (Diskussions-)Vorlage<br />
dienen. Bevor die Untersuchung mit der Gesamtzusammenfassung<br />
schließt, widmet sich der Autor noch der aktuellen<br />
Diskussion um den Entwurf für eine Richtlinie des Europäischen<br />
Parlamentes und des Rates über die Europäische Ermittlungsanordnung<br />
in Strafsachen (RL-EEA-E) und stellt<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
293
Mavany, Die Europäische Beweisanordnung und das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung Pintaske<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
diesen im gebotenen Umfang dar. Dabei räumt der Autor<br />
ehrlicherweise ein, dass durch diese Richtlinie die Umsetzung<br />
des Rahmenbeschlusses 2008/978/JI über die europäische<br />
Beweisanordnung von der weiteren Entwicklung überholt<br />
werden könnte. Jedoch zeigt der Autor auch auf, dass<br />
sich einige Regelungen des RB-EAB auch in dem RL-EEA-E<br />
wiederfinden, so dass eine Übertragung der Argumentation<br />
ohne weiteres möglich sei. Hinzu komme, dass die Umsetzung<br />
des RB-EAB bereits überfällig ist, die Diskussion um<br />
die Europäische Ermittlungsanordnung hingegen noch in der<br />
Anfangsphase stecke. Dank des Vorschlages von Mavany<br />
scheint eine schnelle Umsetzung des RB-EAB jedoch möglich,<br />
wodurch gleichzeitig ein Teil einer europäischen Ermittlungsanordnung<br />
bereits umgesetzt wäre.<br />
Fazit: Die Untersuchung Mavanys überzeugt durch ihre<br />
klare Struktur und den übersichtlichen aufbautechnischen<br />
Dreischritt – Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, Rahmenbeschluss<br />
über die Europäische Beweisanordnung und<br />
Ausblick auf die weitere Entwicklung samt Gesetzesvorschlag<br />
zur Umsetzung. Die Darstellung des Rahmenbeschlusses<br />
zur europäischen Beweisanordnung ist verständlich und<br />
mit zahlreichen kritischen Reflexionen versehen. Die Ausführungen<br />
zur Verwertbarkeit der Beweise zeigen auch dem<br />
Praktiker, welche Auswirkungen der Rahmenbeschluss in den<br />
denkbaren Fallkonstellationen hat. Die Auseinandersetzung<br />
des Autors mit dem Rahmenbeschluss über die europäische<br />
Beweisanordnung wird selbst eine möglicherweise in Zukunft<br />
anstehende europäische Ermittlungsanordnung überdauern<br />
und die hier aufgezeigten Gedanken und Ideen für<br />
eine solche fruchtbar machen können. Die Darstellung des<br />
Gesetzesvorschlages ist ein besonders wertvolles Kernstück<br />
bei der Diskussion zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses.<br />
Mavany ist eine Dissertationsschrift gelungen, die in Zukunft<br />
bei der Auseinandersetzung mit der europäischen Beweisanordnung<br />
und Ermittlungsanordnung eine wertvolle Grundlage<br />
bilden wird.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
294<br />
Referendar Patrick M. Pintaske, Dresden<br />
<strong>ZIS</strong> 6/2012
Weber, Betäubungsmittelgesetz Nestler<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
B u c h r e z e n s i o n<br />
Klaus Weber, BtMG, Betäubungsmittelgesetz, Kommentar,<br />
3. Aufl., Verlag C.H. Beck, München 2009, 1489 S., € 76,-<br />
Nach den Vorauflagen aus den Jahren 1999 und 2003 erschien<br />
bereits 2009 die dritte Auflage des BtMG-Kommentars<br />
von Klaus Weber. Im Zeitraum zwischen Mitte 2002 und<br />
Dezember 2008 – so der Stand laut dem Vorwort des Autors<br />
– hat sich eine Reihe von Änderungen im Bereich des Betäubungsmittelstrafrechts<br />
ereignet, welche es in diese Auflage<br />
einzuarbeiten galt:<br />
Neben einigen Anpassungen der Anlagen zum BtMG<br />
wurden mit der Achten Zuständigkeitsanpassungs-Verordnung<br />
die §§ 1, 12, 20, 21, 25, 26 BtMG modifiziert, durch Art. 1<br />
des Zweiten Justizmodernisierungsgesetzes die Anrechnungsregelung<br />
des § 36 BtMG. Darüber hinaus betrafen das Betäubungsmittel(-straf-)recht<br />
Modifikationen im Recht der Europäischen<br />
Union, so etwa durch den Rahmenbeschluss vom<br />
25.10.2004 zur Festlegung von Mindestvorschriften über die<br />
Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen<br />
im Bereich des illegalen Drogenhandels. Zudem ergingen innerhalb<br />
dieses Zeitraums etliche relevante höchstrichterliche<br />
Judikate. Besondere Beachtung findet dabei insbesondere die<br />
Entscheidung des Großen Senats vom 26.10.2005 1 , die den<br />
regelmäßig gegen die (weite) Auslegung des Merkmals des<br />
Handeltreibens vorgebrachten Bedenken eine Absage erteilte.<br />
Die Berücksichtigung dieser Neuerungen führte zwar zu<br />
nicht unerheblichen Veränderungen im Umfang des Werks,<br />
das von ca. 1077 Seiten in der ersten, 1716 Seiten in der<br />
zweiten auf nunmehr 1489 aufgrund der neuen Formatierung<br />
deutlich umfangreicheren Seiten in der dritten Auflage gewachsen<br />
ist. Dennoch hat der Kommentar – wie vom Autor<br />
beabsichtigt – seine Konzeption als übersichtliches Arbeitsmittel<br />
für die Praxis beibehalten. Dies belegen die zahlreichen<br />
Aufzählungen und Einteilungen, mit denen Weber diese<br />
von Einzelfallrechtsprechung gekennzeichnete Materie zu<br />
strukturieren versucht. So enthält die Kommentierung bspw.<br />
vor §§ 29 ff. Rn. 603 ff. Darlegungen zur Strafzumessung, in<br />
die Weber die relevanten Probleme des Betäubungsmittelstrafrechts<br />
einbindet. Die Konzeption zeigt sich aber auch<br />
und vor allem in der Kommentierung der betäubungsmittelrechtlichen<br />
Strafvorschriften, die der Verf. wie schon in der<br />
Vorauflage in mehrere Kapitel, Abschnitte und Teile untergliedert.<br />
Weber gibt den einzelnen Teilen hierbei jeweils<br />
einen in der Struktur identischen Aufbau, was dem Benutzer<br />
das Auffinden der einschlägigen Ausführungen erheblich erleichtert.<br />
Die Kommentierung des § 29 BtMG hat der Autor<br />
in der dritten Auflage um 353 Randnummern gegenüber der<br />
Vorauflage erweitert. Ein wesentlicher Teil dieser Erweiterung<br />
entfällt dabei auf das praxisrelevante Merkmal des Handeltreibens<br />
(Rn. 147 bis 757) und die diesbezügliche Rechtsprechung<br />
des BGH vom 26.10.2005. Der besondere Wert<br />
der Kommentierung dieses Abschnitts erwächst dabei nicht<br />
nur aus den Ausführungen zur Auslegung des Begriffs sowie<br />
dem diesbezüglichen europäischen Rechtsakt v. 25.10.2004.<br />
1 BGHSt 50, 252.<br />
Weber bindet vielmehr auch kriminalpolitische Überlegungen<br />
in die Kommentierung ein (Rn. 172 bis 177), die er in Bezug<br />
zu den rechtlichen Darlegungen bringt.<br />
Solche Inbezugnahmen ergänzen an vielen Stellen die<br />
Ausführungen zur Drogenpolitik, die der Verf. in seiner Einleitung<br />
(Rn. 103 bis 224) macht; diese liefert im Übrigen einen<br />
Überblick über die Rechtslage, die zum Zeitpunkt des<br />
Erscheinens aktuellsten gesetzlichen Änderungen sowie die<br />
Einflüsse der internationalen Entwicklung auf das deutsche<br />
Betäubungsmittel(-straf-)recht. Dabei bildet gerade die Inbezugnahme<br />
unionsrechtlicher Rechtsquellen und deren Auswirkungen<br />
im deutschen Recht ein weiteres Charakteristikum<br />
des Kommentars. Auch dem erheblichen Gewicht, das im<br />
Bereich des Betäubungsmittelrechts mittlerweile das SDÜ<br />
sowie die Rechtsprechung des EuGH zum Doppelbestrafungsverbot<br />
erlangt haben, widmet Weber vor §§ 29 ff. in<br />
Rn. 24 ff. (insb. Rn. 28 bis 40) angemessenen Raum.<br />
Eine kleine Schwachstelle, die der Kommentar allerdings<br />
mit vielen Werken im Bereich des Nebenstrafrechts teilt und<br />
die partiell dem Umfang des vorhandenen Literaturbestands<br />
geschuldet ist, bleiben die zum Teil fehlenden Hinweise auf<br />
weiterführende Literatur.<br />
Einziges echtes Manko ist aber die mangelnde Aktualität<br />
des Kommentars: Da nach 1999, 2003 und 2009 nun wohl<br />
alsbald auf eine Neuauflage des BtMG-Kommentars von Weber<br />
zu hoffen ist, dürfen die vorstehenden Ausführungen als<br />
Anregung verstanden werden, diese Charakteristika weiter<br />
auszubauen, die den Kommentar von seinen Konkurrenzprodukten<br />
durchaus abgrenzen. Denn das Betäubungsmittel(straf-)recht<br />
prägen neben seinen besonderen kriminologischen<br />
Grundlagen vor allem die diese Materie betreffende Kriminalpolitik<br />
sowie seine internationalen Bezüge. Deren – noch<br />
weitergehende – Einbeziehung in die Kommentierung würde<br />
die Qualität des Werks ohne Zweifel noch weiter heben.<br />
Wiss. Assistentin Dr. Nina Nestler, Würzburg<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
295
Ambos, Internationales Strafrecht Kreicker<br />
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296<br />
B u c h r e z e n s i o n<br />
Kai Ambos, Internationales Strafrecht: Strafanwendungsrecht<br />
– Völkerstrafrecht – Europäisches Strafrecht – Rechtshilfe, 3.<br />
Auflage, Verlag C.H. Beck, München 2011, 586 S., € 39,90<br />
Das in der renommierten Reihe „Juristische Kurz-Lehrbücher“<br />
des Beck-Verlages veröffentlichte Lehrbuch von RiLG<br />
Prof. Dr. Kai Ambos zum internationalen Strafrecht, erstmals<br />
erschienen im Jahr 2006, liegt nach nur fünf Jahren bereits in<br />
der dritten Auflage vor. Schon dies zeigt, dass Ambos, der als<br />
Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsvergleichung<br />
und internationales Strafrecht an der Georg-August-<br />
Universität Göttingen tätig und ein weit über die deutschen<br />
Grenzen hinweg anerkannter Völkerstrafrechtler ist, ein großes<br />
Werk gelungen ist, das sich bereits nach kürzester Zeit als<br />
„das“ deutschsprachige Standardwerk zum internationalen<br />
Strafrecht etabliert hat. Für die hier zu besprechende Neuauflage,<br />
deren Bearbeitung im Mai 2011 abgeschlossen wurde,<br />
hat der Verf. – tatkräftig unterstützt von den namentlich in der<br />
Titelei beziehungsweise im Vorwort genannten Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeitern seines Lehrstuhls – das Buch nicht<br />
nur gründlich aktualisiert, sondern in Teilen vollständig überarbeitet,<br />
um der nach wie vor dynamischen Entwicklung im<br />
Bereich des Völkerstrafrechts und Europarechts gerecht zu<br />
werden. Damit spiegelt das Lehrbuch den ganz aktuellen<br />
Stand des internationalen Strafrechts wider; unter anderem<br />
sind im Teil zum Völkerstrafrecht das Ergebnis der Staatenkonferenz<br />
von Kampala zum Aggressionsverbrechen berücksichtigt<br />
und der Teil zum Europäischen Strafrecht aus Anlass<br />
des Inkrafttretens des Vertrages von Lissabon neu strukturiert<br />
worden. Wie schon die Vorauflagen, so deckt auch die Neuauflage<br />
das gesamte internationale Strafrecht im weiten Sinne<br />
ab, also nicht nur das Völkerstrafrecht, sondern auch das<br />
Strafanwendungsrecht und das Europäische Strafrecht einschließlich<br />
des europäischen Rechtshilferechts und der strafrechtlichen<br />
Garantien der EMRK, wenngleich der Schwerpunkt<br />
der Darstellung dem Völkerstrafrecht gewidmet ist.<br />
Der Reihentitel „Juristische Kurz-Lehrbücher“ wird dem<br />
Buch allerdings bei weitem nicht gerecht. Wie auch das<br />
Lehrbuch von Ipsen zum Völkerrecht, das demnächst in derselben<br />
Reihe in sechster Auflage erscheinen wird, handelt es<br />
sich weniger um ein Lernbuch für Studierende als vielmehr<br />
um ein in jeder Hinsicht großes Lehr- und Studienbuch. Insbesondere<br />
im völkerstrafrechtlichen Teil genügt es auch<br />
höchsten Ansprüchen an ein wissenschaftlich fundiertes Handbuch.<br />
Es ist damit auch dem erfahrenen Strafrechtspraktiker<br />
eine große Hilfe, der sich vertieft mit Fragen des internationalen<br />
Strafrechts zu befassen hat.<br />
Das Buch gliedert sich in insgesamt drei Teile. Im ersten<br />
Teil wird das Strafanwendungsrecht dargestellt, der zweite<br />
Teil befasst sich ausführlich mit dem Völkerstrafrecht und<br />
der dritte Teil mit dem Europäischen Strafrecht im weiten<br />
Sinne. Die Teile sind in insgesamt dreizehn klar strukturierte<br />
Kapitel unterteilt, wodurch das Werk auch als „Nachschlagewerk“<br />
zur schnellen Klärung spezieller Rechtsfragen geeignet<br />
ist. Den einzelnen Kapiteln sind jeweils ausführliche<br />
Angaben zur einschlägigen neueren Literatur vorangestellt;<br />
<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />
ältere relevante Literatur, die in den Vorauflagen aufgeführt<br />
war, ist über die Internetseite des Lehrstuhls des Verf. 1 leicht<br />
abrufbar, so dass das Werk in Verbindung mit den ergänzenden<br />
Angaben auf der zugehörigen Internetseite eine hervorragende<br />
Basis für eine weitere wissenschaftliche Durchdringung<br />
einzelner Rechtsprobleme darstellt. Im Hinblick auf die<br />
Funktion des Buches als Lehrbuch hat der Rezensent allerdings<br />
gewisse Zweifel, ob es wirklich sachgerecht ist, die<br />
Auswahl der im Druckwerk angeführten Literatur nach dem<br />
Erscheinungsdatum vorzunehmen, also lediglich neuere einschlägige<br />
Literatur in den Literaturverzeichnissen im Buch<br />
anzuführen, hinsichtlich älterer Fundstellen dagegen auf die<br />
Vorauflagen beziehungsweise die Internetseite Bezug zu nehmen,<br />
zumal insbesondere dem studentischen Leser, der sich<br />
das Buch als Lernbuch zulegt, die Vorauflagen nur schwer<br />
verfügbar sein dürften. Möglicherweise wäre jedenfalls dem<br />
Studierenden mit einer allein nach inhaltlichen Kriterien vorgenommenen<br />
Literaturauswahl, die durch Hinweise auf weniger<br />
relevante Literatur auf der dem Buch zugeordneten<br />
Internetseite ergänzt werden könnte, mehr geholfen.<br />
Den Detailerörterungen hat der Autor kleinere didaktisch<br />
aufgearbeitete Fälle vorangestellt, die denjenigen, der das<br />
Buch als Lernbuch verwendet, für die rechtliche Problematik<br />
sensibilisieren und Neugier auf das Kennenlernen des für die<br />
Falllösung erforderlichen normativen Rüstzeugs wecken. Dabei<br />
handelt es sich keinesfalls nur um rein fiktive Sachverhalte,<br />
sondern regelmäßig um interessante reale Fälle aus der<br />
Strafrechtspraxis. Die Falllösungen, die den Textpassagen<br />
nachfolgen, in denen die betreffenden Rechtsfragen erörtert<br />
werden, animieren zum nochmaligen Durchdringen des<br />
Rechtsstoffes und verfestigen das gewonnene Fachwissen<br />
durch dessen Verbindung mit eingängigen Lebenssachverhalten.<br />
Hinzu kommen insgesamt 28 Schaubilder, die komplexe<br />
rechtliche Strukturen grafisch aufarbeiten und durch deren<br />
Visualisierung zu einem besseren Verständnis beitragen.<br />
Der erste Teil des Buches (S. 1-90) befasst sich – wie<br />
auch schon in den Vorauflagen – mit der Frage der Anwendbarkeit<br />
des deutschen materiellen Strafrechts auf Sachverhalte<br />
mit Auslandsbezug; primär geht es hier um die §§ 3-7<br />
StGB und den § 1 VStGB sowie deren völkerrechtliche Fundierung.<br />
Dabei beschränkt sich Ambos nicht darauf, im Sinne<br />
einer bloßen Vermittlung des für die richtige Rechtsanwendung<br />
in einer studentischen Klausur oder in der Strafrechtspraxis<br />
erforderlichen Normwissens die einschlägigen gesetzlichen<br />
Regelungen zu erläutern, sondern er bettet die deutschen<br />
Vorschriften ausführlich in ihren völkerrechtlichen<br />
Kontext ein und diskutiert kritisch, inwieweit der deutsche<br />
Gesetzgeber im Bereich des völkerrechtlich Erlaubten geblieben<br />
ist beziehungsweise die Regelungen des deutschen<br />
Strafrechtwendungsrechts völkerrechtliche Schranken überschreiten.<br />
Nach einer einleitenden Einordnung der Bestimmungen<br />
des so genannten Strafanwendungsrechts, bei der es unter<br />
anderem um den Standort der einschlägigen Normen im deutschen<br />
Verbrechenssystem geht (§ 1), erörtert Ambos zunächst<br />
1 Abrufbar: http://www.department-ambos.uni-goettingen.de/<br />
lehrbuch.html.
Ambos, Internationales Strafrecht Kreicker<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
die völkerrechtlichen Grundlagen, auf denen die deutschen<br />
Regelungen beruhen und die ihre Reichweite zugleich legitimieren<br />
und begrenzen. Überzeugend legt er dar, dass sich<br />
jede extraterritoriale Strafgewalterstreckung am völkerrechtlichen<br />
Nichteinmischungsgrundsatz zu messen hat und potentiell<br />
Gefahr läuft, fremdstaatliche Souveränitätsrechte zu verletzen<br />
(§ 2). Dem Leser wird insofern ein breites völkerrechtliches<br />
Hintergrundwissen vermittelt, das ihn zu einer kritischen<br />
Rechtsanwendung befähigt, die sich nicht auf das deutsche<br />
Straf- und Verfassungsrecht beschränkt, sondern auch<br />
die internationalen Bezüge in den Blick nimmt.<br />
Anschließend werden die verschiedenen völkerrechtlichen<br />
Anknüpfungsprinzipien im Detail vorgestellt und wird dargelegt,<br />
inwieweit sie Eingang in das deutsche Recht gefunden<br />
haben (§ 3), wobei Ambos – wie auch in anderen Abschnitten<br />
seines Lehrbuches – das dargestellte deutsche Recht regelmäßig<br />
in Bezug setzt zu entsprechenden Regelungen in anderen<br />
Rechtsordnungen. Bereits hier fällt auf: Es ist geradezu<br />
ein Charakteristikum des zu besprechenden Werkes, dass<br />
nicht nur Rechtsprechung und Literatur aus dem deutschen<br />
Sprachraum ausgewertet worden sind, sondern (neben der<br />
internationalen) auch ausländische Rechtsprechung sowie<br />
fremdsprachige, insbesondere englischsprachige Literatur in<br />
großem Umfang Eingang in die Darstellung, namentlich in<br />
den außerordentlich differenzierten Fußnotenapparat gefunden<br />
haben. Dies ist ausdrücklich zu begrüßen, geht es doch<br />
um eine wahrhaft internationale Materie, weshalb derjenige,<br />
der sich intensiver mit ihr beschäftigen will, um die mittlerweile<br />
überwiegend in englischer Sprache geführte Diskussion<br />
nicht herumkommt.<br />
<strong>Inhalt</strong>lich ist dem Autor uneingeschränkt beizupflichten,<br />
wenn er vor dem Hintergrund des völkerrechtlichen Nichteinmischungsgrundsatzes<br />
eine Strafgewalterstreckung auf Auslandstaten<br />
nach einem absoluten aktiven beziehungsweise<br />
passiven Personalitätsprinzip, also ohne eine entsprechende<br />
Tatortstrafbarkeit, für völkerrechtswidrig erachtet (§ 3<br />
Rn. 40, 55 ff., 71 f.), wenn er eine Strafverfolgung nach dem<br />
Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege, wie sie in § 7<br />
Abs. 2 Nr. 2 StGB normiert ist, nicht nur von einer Tatortstrafbarkeit,<br />
sondern zudem einer Verfolgbarkeit der Tat am<br />
Tatort abhängig macht (§ 3 Rn. 52, 122), wenn er die gegenwärtige<br />
Ausdehnung deutscher Strafgewalt nach dem so genannten<br />
Schutzprinzip (Realprinzip) für allzu weitgehend hält<br />
(§ 3 Rn. 79 ff.) und wenn er bei den völkerrechtlichen Kernverbrechen<br />
– hier gewissermaßen eine gegenläufige Position<br />
zu seiner ansonsten zu verzeichnenden Zurückhaltung bei der<br />
Bejahung extraterritorialer Strafgewalt einnehmend – eine<br />
Strafgewalterstreckung nach dem uneingeschränkten Weltrechtsprinzip<br />
für statthaft erachtet (§ 3 Rn. 93).<br />
Hervorzuheben ist, dass Ambos auch neue Rechtsfragen<br />
meinungsfreudig diskutiert, so etwa die von der Rechtsprechung<br />
noch nicht abschließend geklärte Frage des Tatortes<br />
bei Straftaten im Internet (§ 1 Rn. 19 ff.), wobei er die unterschiedlichen<br />
in der Rechtswissenschaft vertretenen Positionen<br />
jeweils klar herausarbeitet und kritisch hinterfragt. Aufgrund<br />
des umfangreichen Fußnotenapparats, der von einer<br />
beeindruckend gründlichen Erfassung und Durchdringung der<br />
Rechtsprechung und wissenschaftlichen Literatur zeugt, bleibt<br />
dabei für den Leser leicht erkennbar, wo die Darstellung der<br />
in der Rechtsprechung vertretenen Auffassung beziehungsweise<br />
der vorherrschenden Meinung in der Literatur folgt und<br />
wo Ambos hiervon abweichende eigene Positionen vertritt.<br />
Positiv fällt bei der Lektüre weiter auf, dass Ambos neben<br />
den deutschen Normen des Strafanwendungsrechts auch die<br />
sie flankierenden prozessualen Bestimmungen aufgreift (§ 3<br />
Rn. 45, 99 ff.), die bei Auslandstaten die grundsätzlich nach<br />
dem Legalitätsprinzip geltende Verfolgungspflicht (§ 152<br />
Abs. 2 StPO) aufheben (§ 153c StPO) beziehungsweise modifizieren<br />
(§ 153f StPO für Taten nach dem VStGB, die nach<br />
§ 1 VStGB nahezu alle dem uneingeschränkten Weltrechtsprinzip<br />
unterliegen). Der in diesem Zusammenhang von Ambos<br />
geäußerten Kritik an der restriktiven deutschen Verfolgungspraxis<br />
bei Taten nach dem VStGB (§ 3 Rn. 100 f.)<br />
vermag der Rezensent allerdings nicht beizupflichten. Denn<br />
die Ahndung völkerrechtlicher Verbrechen, die im fremdsprachigen<br />
Ausland, vielfach sogar in einem anderen Kulturkreis<br />
und zumeist als staatsverstärkte Kriminalität beziehungsweise<br />
in Gebieten mit fehlender oder sehr eingeschränkter<br />
staatlicher Infrastruktur verübt worden sind, ist mit ganz erheblichen<br />
Schwierigkeiten behaftet. Diesen Schwierigkeiten<br />
kann auch mit mehr Personal nur bedingt begegnet werden,<br />
was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass der personell sehr<br />
großzügig ausgestattete Internationale Strafgerichtshof (ISt-<br />
GH) erst kürzlich, zehn Jahre nach Aufnahme seiner Tätigkeit,<br />
ein erstes Urteil fällen konnte. Insofern erscheint es<br />
sinnvoll (und ist es von § 153f StPO gedeckt), aufwändige<br />
Verfahren nur bei einem klaren Inlandsbezug einer Tat durch<br />
einen (tatsächlichen oder zumindest sicher erwartbaren) Aufenthalt<br />
eines Beschuldigten in Deutschland und bei einer<br />
reellen Chance auf Erzielung eines nennenswerten Ermittlungserfolges<br />
zu betreiben.<br />
Abschließend geht Ambos im ersten Teil seines Lehrbuches<br />
der Frage nach, ob sich die verschiedenen völkerrechtlichen<br />
Anknüpfungspunkte des Strafanwendungsrechts in eine<br />
Rangfolge bringen lassen, die bei völkerrechtlichen Jurisdiktionskonflikten<br />
fruchtbar gemacht werden kann (§ 4) – eine<br />
innovative Überlegung, die sich so in anderen wissenschaftlichen<br />
Publikationen zum Strafanwendungsrecht nicht findet.<br />
Diese von der Rechtsprechung bislang nicht aufgegriffenen<br />
Überlegungen vermögen zwar die Reichweite einer extraterritorialen<br />
Strafgewalterstreckung, wie sie sich aus den §§ 3-7<br />
StGB ergibt, nicht zu beeinflussen, haben aber für die Strafrechtspraxis<br />
insofern durchaus Bedeutung, als sie ermessensleitend<br />
bei einer Entscheidung nach § 153c StPO über die<br />
Verfolgung einer Auslandstat herangezogen werden können<br />
(§ 4 Rn. 23).<br />
Der zweite Teil des Buches (S. 91-379) befasst sich auch<br />
in der Neuauflage ausführlich mit dem Völkerstrafrecht. Gerade<br />
für diesen klaren Schwerpunktteil des Werkes gilt, dass<br />
Ambos die nationale, ausländische und internationale (völkerstrafrechtliche)<br />
Rechtsprechung und Literatur in beeindruckendem<br />
Umfang, ja in geradezu sisyphosartiger Manier zur<br />
Kenntnis genommen, ausgewertet und im Fußnotenapparat<br />
verarbeitet hat, womit eine wahre Fundgrube weiterführender<br />
Quellen entstanden ist, die für denjenigen, der sich vertieft<br />
mit speziellen Fragestellungen befassen will, von unschätzba-<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
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Ambos, Internationales Strafrecht Kreicker<br />
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rem Wert ist. Ambos kann (gemeinsam mit dem Team seiner<br />
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter) zu Recht für sich in Anspruch<br />
nehmen, mit dieser „Serviceleistung“ dem deutschsprachigen<br />
Leser überhaupt erst den Zugang zur immensen,<br />
für eine Einzelperson schon lange nicht mehr überschaubaren<br />
Menge der fremdsprachigen völkerstrafrechtlichen Literatur<br />
zu öffnen und mit dieser „Vorarbeit“ wesentlich zur weiteren<br />
wissenschaftlichen Durchdringung der Materie beizutragen.<br />
Dass deswegen manche Fußnoten fast eine ganze Druckseite<br />
ausfüllen (§ 5 Fn. 23), hin und wieder vielleicht auch „über<br />
das Ziel hinausgeschossen“ wurde (etwa § 7 Fn. 1209) und –<br />
was angesichts des Umfanges der Nachweise und der Dynamik<br />
der völkerstrafrechtlichen Entwicklung gar nicht vermeidbar<br />
ist – vereinzelt auch Aktualisierungslücken zu entdecken<br />
sind (vgl. etwa § 6 Fn. 78 und 80), nimmt man als<br />
Leser gerne in Kauf. Der studentische Nutzer, der das Buch<br />
als reines Lernbuch nutzt, sollte allerdings, will er angesichts<br />
der Fülle von Detailinformationen nicht verzweifeln, den Mut<br />
aufbringen, sich (zunächst) auf die Wahrnehmung des Haupttextes<br />
zu beschränken.<br />
Im einleitenden Kapitel des zweiten Teils (§ 5) erläutert<br />
Ambos zunächst den Begriff und Gegenstand des Völkerstrafrechts<br />
und stellt die Quellen des völkerrechtlichen Strafrechts<br />
vor. Anschließend folgt ein – insbesondere im Vergleich zu<br />
älteren Darstellungen des Völkerstrafrechts – sehr knapp gehaltenes<br />
Kapitel zu den historischen Grundlagen und zur<br />
Entwicklungsgeschichte des Völkerstrafrechts und supranationaler<br />
Durchsetzungsinstanzen (§ 6). Den Nürnberger Prozessen<br />
ist gerade mal ein Absatz gewidmet (§ 6 Rn. 2), nur<br />
wenig mehr Raum nimmt die Vorstellung der UN-Strafgerichtshöfe<br />
für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda ein<br />
(§ 6 Rn. 15 ff.). Beides allerdings verdient Zustimmung und<br />
ist eine sinnvolle Konsequenz aus der Konsolidierung des<br />
Völkerstrafrechts und der Etablierung des IStGH. Das Völkerstrafrecht<br />
hat sich mittlerweile – insbesondere durch die<br />
Arbeit des ICTY und ICTR – soweit entfaltet und verfestigt,<br />
dass es zur Rechtsfindung keines Rückgriffes auf das „Nürnberger<br />
Recht“ mehr bedarf, weshalb dieses im Wesentlichen<br />
„nur“ noch von rechtshistorischer Bedeutung ist und damit in<br />
einem Lehr- und Studienbuch zum aktuellen Völkerstrafrecht<br />
bloß noch gestreift zu werden braucht. Und auch die temporären<br />
UN-Strafgerichtshöfe werden, wie Ambos darlegt (§ 6<br />
Rn. 15), schon in Kürze Rechtsgeschichte sein.<br />
Ganz zu Recht geht die nachfolgende, knapp 170 Druckseiten<br />
starke Darstellung des gegenwärtigen materiellen Völkerstrafrechts<br />
(§ 7), die bereits für sich genommen als eigenständiges<br />
Lehrbuch durchgehen würde, deshalb konsequent<br />
von den Bestimmungen des Römischen Statuts des IStGH<br />
aus, dessen Struktur Ambos dem Leser zuvor zur Kenntnis<br />
bringt (§ 6 Rn. 21 ff.). Dabei unterschlägt er nicht, dass nach<br />
der Grundkonzeption des IStGH (vgl. Art. 17 IStGH-Statut)<br />
dieser nur nachrangig gegenüber nationalen Strafgerichten<br />
tätig werden soll, weshalb – wie Ambos unter Strukturierung<br />
der entsprechenden Gesetzgebungen aufzeigt (§ 6 Rn. 34 ff.)<br />
– viele Länder, darunter Deutschland mit dem VStGB, das<br />
Völkerstrafrecht des Römischen Statuts in ihr nationales<br />
Recht implementiert haben. In § 7 stellt Ambos zunächst die<br />
Regelungen des „Allgemeinen Teils“ des Völkerstrafrechts<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
298<br />
<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />
vor, wobei – zu Recht, da die diesbezüglichen völkerstrafrechtlichen<br />
Regelungen für den mit dem deutschen Strafrecht<br />
vertrauten Leser am schwersten verständlich sein dürften –<br />
die Bestimmungen über die strafrechtliche Zurechnung im<br />
Sinne einer individuellen Haftung für bestimmte Ereignisse<br />
als Täter, Teilnehmer oder Vorgesetzter (Art. 25, 28 IStGH-<br />
Statut) verhältnismäßig breiten Raum einnehmen (§ 7 Rn. 10-<br />
62). Ausführlich erläutert Ambos auch die spezifisch völkerstrafrechtliche<br />
Zurechnungsfigur der „Joint Criminal Enterprise“<br />
(§ 7 Fn. 30 ff.), wobei ihm beizupflichten ist, wenn er<br />
diese Rechtsfigur wegen der Gefahr, eine mit dem Schuldgrundsatz<br />
nicht zu vereinbarende Erfolgshaftung zu begründen,<br />
sehr kritisch sieht (§ 7 Rn. 33). Weiter befasst sich Ambos<br />
in diesem Kapitel in einer auch für den studentischen<br />
Leser gut verständlichen Sprache mit dem Vorsatzbegriff des<br />
Völkerstrafrechts, der Versuchsstrafbarkeit sowie den sogenannten<br />
Straffreistellungsgründen (defences). Hier folgt Ambos<br />
in seiner Darstellung dem Verbrechensbegriff des angloamerikanischen<br />
Strafrechts, das – ohne zwischen den Wertungsebenen<br />
der Rechtswidrigkeit und Schuld sowie einer<br />
Zugehörigkeit zum materiellen Recht oder zum Prozessrecht<br />
zu differenzieren – den strafbarkeitsbegründenden Umständen<br />
(offences) pauschal die zum Ausschluss einer strafrechtlichen<br />
Verantwortlichkeit führenden Umstände (defences) gegenüberstellt.<br />
Ambos erläutert die Regelungen des Römischen<br />
Statuts zur Schuldfähigkeit, zur Notwehr, zum Handeln auf<br />
Befehl, zum (Nötigungs-)Notstand sowie zu möglichen Irrtümern<br />
eines Täters. Ferner befasst er sich ausführlich mit der<br />
Frage, inwieweit Amnestien, Begnadigungen und Immunitäten<br />
einer Strafverfolgung wegen völkerrechtlicher Verbrechen<br />
entgegenstehen können.<br />
Es folgt eine Darstellung des „Besonderen Teils“ des Völkerstrafrechts,<br />
also der völkerstrafrechtlichen Verbrechenstatbestände<br />
(Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit,<br />
Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression). Insofern<br />
ist hervorzuheben, dass die einzelnen Tatbestandsmerkmale<br />
in intensiver Auseinandersetzung mit der – im Fußnotenapparat<br />
ausführlich berücksichtigten – Rechtsprechung des<br />
ICTY und ICTR sowie – soweit bereits vorhanden – des<br />
IStGH entfaltet werden, was die Erläuterungen auch für den<br />
Strafrechtspraktiker interessant macht. Auch in diesem Abschnitt<br />
seines Lehr- und Studienbuches beschränkt sich Ambos<br />
nicht auf eine wissensvermittelnde deskriptive Darstellung,<br />
sondern scheut er sich nicht, (konstruktive und juristisch<br />
wohl begründete) Kritik zu üben, wobei er diese stets<br />
mit eigenen Lösungsvorschlägen verbindet. Beispielhaft sei<br />
insofern seine sehr differenzierte Kritik an Tendenzen vor<br />
allem in der wissenschaftlichen Literatur genannt, das Erfordernis<br />
einer spezifischen Vernichtungsabsicht beim Genozid,<br />
die elementar für das Unrechtsgepräge dieses Tatbestands ist,<br />
zu missachten und eine bloße Kenntnis von einem – eigentlich<br />
vom Tatbestand gar nicht verlangten (vgl. § 7 Rn. 140) –<br />
besonderen Begehungszusammenhang im Sinne eines makrokriminellen<br />
Kontextes ähnlicher Verhaltensweisen ausreichen<br />
zu lassen (§ 7 Rn. 146 ff.). Zutreffend weist Ambos darauf<br />
hin, dass hier Beweisschwierigkeiten durch eine Tatbestandsmodifizierung<br />
überwunden werden sollen (§ 7 Rn. 148).<br />
Dies aber kann nicht Aufgabe der Justiz sein, zumal es zur
Ambos, Internationales Strafrecht Kreicker<br />
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Überzeugung des in der Strafrechtspraxis tätigen Rezensenten<br />
zur wenn auch nicht immer einfachen, so aber doch zu bewältigenden<br />
und alltäglichen Aufgabe der Strafjustiz gehört, aus<br />
äußeren Tatumständen auf Intentionen eines Angeklagten zu<br />
schlussfolgern – man denke nur an die auf besondere Beweggründe<br />
abstellenden Mordmerkmale des § 211 StGB, die in<br />
der Justizpraxis kaum ein Angeklagter einzuräumen bereit ist.<br />
Besonders herauszustellen ist in der vorliegenden, speziell<br />
die dritte Auflage betreffenden Rezension, dass Ambos in der<br />
Neuauflage bereits detailliert auf die Staatenkonferenz zum<br />
Aggressionsverbrechen eingeht, die 2010 in Kampala (Uganda)<br />
stattfand (§ 7 Rn. 261 ff.). Es ist zu begrüßen, dass er<br />
nicht nur die verabschiedeten Ergänzungen des Römischen<br />
Statuts beschreibt und kommentiert, sondern auch im Wortlaut<br />
wiedergibt, weil noch geraume Zeit bis zu ihrem Inkrafttreten<br />
verstreichen dürfte. Die ausführliche Schilderung des<br />
Prozesses bis zur Verabschiedung der Änderungen des Statuts<br />
macht zudem exemplarisch deutlich, wie schwierig es ist,<br />
bei einer Fortentwicklung der Zuständigkeit des IStGH die<br />
unterschiedlichsten Interessen der Staaten zu vereinen, weswegen<br />
Ambos zuzustimmen ist, wenn er den in Kampala<br />
letztlich gefundenen Kompromiss als Erfolg bezeichnet (§ 7<br />
Rn. 274).<br />
Abschließend befasst sich Ambos im zweiten Teil seines<br />
Lehrbuches mit dem Völkerstrafprozessrecht, also den verfahrensrechtlichen<br />
Regelungen zur Durchsetzung einer völkerrechtlichen<br />
Strafbarkeit (§ 8). Dabei geht es ihm – wie<br />
auch schon bei der Darstellung des materiellen Völkerstrafrechts<br />
– im Wesentlichen um die einschlägigen Bestimmungen<br />
des Römischen Statuts, das (erstmals) ein umfassendes<br />
völkerrechtliches Strafprozessrecht (für Verfahren vor dem<br />
IStGH) normiert.<br />
Gegenstand des dritten Teils des Lehrbuchs (S. 381-562)<br />
ist das Europäische Strafrecht im weiten Sinne, das, wie<br />
Ambos zu Recht besonders herausstellt, kein supranationales<br />
Strafrecht wie das Völkerstrafrecht ist und auch nicht nur<br />
strafrechtliche Regelungen der Europäischen Union umfasst.<br />
Vielmehr handelt es sich um einen Sammelbegriff für alle<br />
strafrechtlich relevanten Regelungen im Rahmen des Europarates<br />
und der Europäischen Union, die primär eine Harmonisierung<br />
der nationalen Strafrechtsordnungen der jeweiligen<br />
Mitgliedsstaaten bezwecken, also – wie Ambos es formuliert<br />
– auf ein „europäisiertes Strafrecht“ abzielen (§ 9 Rn. 4).<br />
Diesen Teil seines Lehrbuches hat Ambos für die Neuauflage<br />
vollkommen neu strukturiert, wobei die Gliederung nun anders<br />
als in den Vorauflagen nicht mehr institutionenorientiert<br />
(einerseits das Recht des Europarates, andererseits EU-Recht)<br />
ist, sondern thematischen Kriterien folgt (Grundrechtsschutz,<br />
Angleichung des materiellen Strafrechts, Rechtshilfe). Dabei<br />
hat Ambos seine Darstellung zur Rechtshilfe, dem für die<br />
Strafrechtspraxis wohl wichtigsten Bereich des Europäischen<br />
Strafrechts, in der hier besprochenen dritten Auflage deutlich<br />
ausgebaut (§ 12), was sich auch darin widerspiegelt, dass der<br />
Begriff „Rechtshilfe“ nunmehr in den Untertitel des Buches<br />
aufgenommen wurde.<br />
Ambos zeigt zunächst auf, auf welchen Rechtsquellen die<br />
relevanten Vorschriften beruhen können, und macht deutlich,<br />
dass der Europäischen Union eine echte supranationale Recht-<br />
setzungsgewalt im Bereich des Strafrechts allenfalls in sehr<br />
engen Grenzen zukommt (§ 9 Rn. 5 ff.), wobei seine Darstellung,<br />
die beim Leser europarechtliche Grundkenntnisse voraussetzt<br />
und damit für einen mit dem Europarecht noch gar<br />
nicht vertrauten Studierenden wohl nur mit gewissen Schwierigkeiten<br />
zu erfassen sein dürfte, durchgängig vom aktuellen<br />
Rechtszustand nach Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages<br />
ausgeht.<br />
Schwerpunktmäßig befasst sich Ambos anschließend mit<br />
den Grundrechtsgewährleistungen auf europäischer Ebene,<br />
insbesondere mit den Garantien der EMRK (§ 10 Rn. 5 ff.).<br />
Diese Gewichtung ist ausdrücklich zu begrüßen, denn die<br />
strafrechtlich relevanten Gewährleistungen der EMRK spielen<br />
– als unmittelbar anwendbares Recht – in der deutschen<br />
Strafrechtspraxis eine immer größere Rolle, so dass es für<br />
Studierende und Referendare heutzutage nicht mehr genügt,<br />
sich im Rahmen ihrer strafprozessualen Ausbildung mit der<br />
deutschen Strafprozessordnung vertraut zu machen, sondern<br />
sie auch die EMRK mit in den Blick nehmen müssen. Ambos<br />
erläutert unter gründlicher Auswertung der – in einem wiederum<br />
umfassenden Fußnotenapparat nachgewiesenen – Rechtsprechung<br />
des EGMR die einschlägigen Normen der EMRK.<br />
Auch wenn seine Darstellung – selbstredend – nicht den<br />
Tiefgang haben kann wie diejenige in dem speziellen Lehrbuch<br />
zur EMRK von Grabenwarter/Pabel 2 , das in derselben<br />
Reihe wie das hier besprochene Werk erschienen ist, so bietet<br />
Ambos doch weitaus mehr als nur einen Überblick. Auch in<br />
diesem Abschnitt seines Buches setzt er sich kritisch mit<br />
unterschiedlichen Ansichten in der Rechtsprechung und Literatur<br />
auseinander und bezieht er eigene Positionen, wobei er<br />
im Grundsatz und im Zweifel die Beschuldigtenrechte sehr<br />
weitreichend verstanden wissen will. Der Rezensent hat allerdings<br />
gewisse Zweifel, ob eine extensive Auslegung der<br />
strafverfahrensrechtlichen Beschuldigtenrechte den Opferbelangen<br />
– und damit deren Menschenrechten! – immer hinreichend<br />
Rechnung trägt. Wenn der Rezensent sich an Vernehmungen<br />
traumatisierter Opfer von Sexualdelikten im Rahmen<br />
seiner eigenen ermittlungsrichterlichen Tätigkeit erinnert, so<br />
vermag er jedenfalls ein Anwesenheitsrecht eines Beschuldigten<br />
(neben seinem Verteidiger!) bei ermittlungsrichterlichen<br />
Zeugenvernehmungen und eine Befugnis eines Beschuldigten,<br />
Zeugen selbst „auf Herz und Nieren zu prüfen“<br />
(§ 10 Rn. 36), nicht vorbehaltlos gutzuheißen.<br />
Bei der Lektüre dieses Abschnitts des Lehrbuches zeigt<br />
sich erneut, dass sich die Neuauflage auf einem ganz aktuellen<br />
Stand befindet, denn auch die jüngste europäische und<br />
deutsche Rechtsprechung zur Sicherungsverwahrung wird<br />
von Ambos aufgegriffen (§ 10 Rn. 88). Dieses weitere Beispiel<br />
für die Dynamik der Rechtsentwicklung in den vom<br />
Buch abgedeckten Bereichen macht einmal mehr deutlich,<br />
dass es eine wirklich große und vor allem auch dauerhafte<br />
Herausforderung darstellt, ein Lehrbuch zum internationalen<br />
Strafrecht aktuell zu halten; eine Herausforderung, der Ambos<br />
– wie die hier besprochene Neuauflage zeigt – hervorragend<br />
gerecht wird.<br />
2 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonven-<br />
tion, 5. Aufl. 2012.<br />
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299
Ambos, Internationales Strafrecht Kreicker<br />
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Größeren Raum nimmt auch die Erörterung der – im Zuge<br />
einer Ausweitung der grenzüberschreitenden Kriminalität für<br />
die Strafrechtspraxis immer wichtiger werdenden – Regelung<br />
des transnationalen Doppelverfolgungsverbots in Art. 54<br />
SDÜ ein (§ 10 Rn. 104 ff.). Die von Ambos breit dargestellte<br />
und von ihm durch differenzierte eigene Positionen bereicherte<br />
Diskussion, inwieweit verfahrensbeendenden Entscheidungen<br />
der Staatsanwaltschaft mit Sanktionscharakter<br />
(etwa Einstellungen nach § 153a StPO) Strafklageverbrauch<br />
zukommt (§ 10 Rn. 108 ff.) und wann von einer Tat, auf die<br />
sich der Strafklageverbrauch erstreckt, gesprochen werden<br />
kann (§ 10 Rn. 115 ff.), zeigt exemplarisch auf, dass es angesichts<br />
der vielen in Europa gesprochenen Sprachen, der sehr<br />
unterschiedlichen Strafrechtsordnungen und der damit verbundenen<br />
verschiedenen Vorverständnisse ein sehr schwieriges<br />
Unterfangen ist, durch unmittelbar anwendbare europarechtliche<br />
Vorschriften eine Harmonisierung der Strafverfolgungspraxis<br />
in Europa zu erreichen.<br />
Sodann erläutert Ambos die Mechanismen zur Europäisierung<br />
des materiellen Strafrechts (§ 11), wobei er verschiedene<br />
völkerrechtliche Verträge auf der Ebene des Europarats<br />
vorstellt, welche die Staaten zur Schaffung materieller Strafnormen<br />
verpflichten (§ 11 Rn. 2), und ausführlich auf die<br />
Verzahnung des EU-Rechts mit dem materiellen Strafrecht<br />
der EU-Mitgliedsstaaten eingeht. Er beleuchtet die Aufladung<br />
von nationalen Strafnormen – etwa solchen zur Strafbarkeit<br />
von Falschaussagen vor Gericht – durch EU-Recht im Sinne<br />
einer Geltungserweiterung auf Handlungen gegenüber EU-<br />
Institutionen beziehungsweise gegen EU-Rechtsgüter (§ 11<br />
Rn. 20 ff.) und die vielfältigen Bezugnahmen auf EU-Rechtsvorschriften<br />
in nationalen Strafnormen (§ 11 Rn. 26 ff.). Insbesondere<br />
aber stellt Ambos in der hier besprochenen dritten<br />
Auflage die mit der EU-Reform von Lissabon neu geregelten<br />
Kompetenzen der EU zur Verabschiedung von Richtlinien<br />
vor, die – im Sinne einer Harmonisierung der nationalen<br />
Strafrechtsordnungen der EU-Staaten – die einzelnen Mitgliedsstaaten<br />
dazu verpflichten, ein Mindestmaß an Strafbarkeit<br />
für bestimmte Arten besonders schwerer Kriminalität,<br />
die von grenzüberschreitender Relevanz sind, im nationalen<br />
Recht festzulegen beziehungsweise nicht zu unterschreiten<br />
(§ 11 Rn. 5 ff., 32 ff.). Diese in Art. 83 AEUV normierten<br />
Richtlinienkompetenzen der EU sieht Ambos – ganz zu Recht<br />
– kritisch. Er weist darauf hin, dass solche EU-Richtlinien in<br />
der Tendenz zu einer Ausweitung der Strafbarkeit führen und<br />
damit die ultima ratio-Funktion des Strafrechts gefährden<br />
(§ 11 Rn. 7), dass das Strafrecht auf EU-Ebene opferzentriert<br />
auf die Funktion reduziert wird, Sicherheit durch repressive<br />
Maßnahmen zu gewährleisten (§ 11 Rn. 8), und dass die<br />
Kompetenznorm des Art. 83 AEUV in ihrer Weite mit dem<br />
Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung der EU-Organe<br />
durch das Primärrecht und der fehlenden Kompetenz-Kompetenz<br />
der EU zu kollidieren droht (§ 11 Rn. 6, 9).<br />
Im nächsten Abschnitt seines Lehrbuches befasst sich<br />
Ambos mit den verfahrensrechtlichen Regelungen zur Zusammenarbeit<br />
der Strafverfolgungsbehörden der Staaten Europas<br />
(§ 12). Seine Darstellung macht deutlich, dass die zunehmende<br />
Zahl von Straftaten mit transnationalem Bezug<br />
zwar eine Kooperation der Staaten bei der Strafverfolgung<br />
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300<br />
<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />
immer wichtiger werden lässt, das hierfür vorhandene rechtliche<br />
Instrumentarium aber ganz erhebliche Defizite aufweist.<br />
Ambos, der auch diesen Rechtsbereich souverän beherrscht<br />
und dem Leser durch eine klare Strukturierung sowie detaillierte<br />
Hinweise auf Rechtsprechung und weiterführende Literatur<br />
zugänglich macht, stellt das außerordentlich differenzierte<br />
Regelungsgefüge vor, das sich durch ein Ineinandergreifen<br />
von völkerrechtlichen Verträgen des Europarats, hierauf<br />
aufbauenden Normen des EU-Rechts und nationalem<br />
Recht auszeichnet. Zutreffend weist Ambos darauf hin, dass<br />
die einschlägigen Regelungen für den Studierenden, aber<br />
auch für den Strafrechtspraktiker sehr unübersichtlich sind<br />
(§ 12 Rn. 61). Ein schönes Beispiel für die Regelungskomplexität<br />
ist der Europäische Haftbefehl: Den eigentlich zur<br />
Vereinfachung der Rechtshilfe gedachten Rahmenbeschluss<br />
über den Europäischen Haftbefehl, auf den Ambos ausführlich<br />
eingeht (§ 12 Rn. 35 ff.), hat der deutsche Gesetzgeber<br />
nach dem Urteil des BVerfG von 2005 so umgesetzt, dass –<br />
wie Ambos darlegt – statt des klassischen zweistufigen Auslieferungsverfahrens<br />
nun sogar ein dreistufiges Verfahren zu<br />
verzeichnen ist (§ 12 Rn. 46, 54, 57). Den im Rahmen der EU<br />
eingeschlagenen Weg zur Verbesserung der Zusammenarbeit<br />
– der auf der Grundidee beruht, dass die Justiz des Staates, in<br />
dem ein Strafverfahren betrieben wird, die in einem anderen<br />
Staat durchzuführenden Maßnahmen (etwa Verhaftungen,<br />
Durchsuchungen) nach ihrem nationalen Recht anordnen und<br />
der andere Staat die Maßnahmen dann ohne eigene Prüfung<br />
und ohne Rücksicht auf das eigene nationale Recht ergreifen<br />
soll (Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, Art. 82 Abs. 1<br />
AEUV) – sieht Ambos mit guten Gründen außerordentlich<br />
kritisch (§ 12 Rn. 21, 41 f., 47, 61, 67). Ganz zu Recht betont<br />
er, dass eine solche bedingungslose Anerkennung ausländischer<br />
Festnahme- beziehungsweise Ermittlungsanordnungen<br />
im Grunde eine – nicht erstrebenswerte – weitgehende Vereinheitlichung<br />
der nationalen Strafrechtsordnungen voraussetzte<br />
und die Verteidigungsrechte der betroffenen Bürger<br />
gefährdet. Im Normalfall der Alltagskriminalität mit grenzüberschreitendem<br />
Bezug dürfte eine Durchführung erbetener<br />
Ermittlungsmaßnahmen nach Maßgabe und in den Grenzen<br />
des Rechts des ersuchten Staates im Übrigen wohl nicht als<br />
Hemmschuh wirken; die für die Strafrechtspraxis relevanten<br />
Defizite liegen vielmehr im Wesentlichen im organisatorischen<br />
Bereich der grenzüberschreitenden Kooperation. Auf<br />
die diesbezüglichen Bemühungen auf europarechtlicher Ebene<br />
durch Schaffung und Ausbau von Institutionen zur polizeilichen<br />
und justiziellen Zusammenarbeit wie Europol und<br />
Eurojust geht Ambos in einem abschließenden Kapitel des<br />
europarechtlichen Teils seines Lehrbuches ein (§ 13).<br />
Abgerundet wird das Werk durch ausführliche Verzeichnisse,<br />
und zwar ein dem Text vorgeschaltetes umfangreiches<br />
Literatur- und Quellenverzeichnis, in dem vor allem die kapitelübergreifend<br />
relevante Literatur aufgeführt ist, aber auch<br />
einschlägige nationale Gesetze und internationale Verträge<br />
gelistet sind (S. XXXV-LII), eine Aufstellung wichtiger Urteile<br />
und weiterer zentraler Dokumente internationaler Gerichte,<br />
unter anderem des IGH, des ICTY und des IStGH<br />
(S. 563-578) sowie ein umfangreiches Sachverzeichnis<br />
(S. 579-586). Letzteres könnte allerdings, auch wenn, viel-
Ambos, Internationales Strafrecht Kreicker<br />
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leicht aber auch gerade weil das Werk bereits sehr umfangreich<br />
ist, durchaus noch ausgebaut werden, um das Buch für<br />
die Strafrechtspraxis noch besser als handbuchartiges Nachschlagewerk<br />
nutzbar zu machen. Beispielhaft sei insofern<br />
darauf hingewiesen, dass die Verjährung im Stichwortverzeichnis<br />
nicht aufgegriffen wird, obgleich Ambos auch auf<br />
diesen eher randständigen Straffreistellungsgrund differenziert<br />
eingeht (§ 7 Rn. 79 mit Fn. 376).<br />
Ergänzt wird das Buch zudem durch ein speziell auf die<br />
universitäre Ausbildung zugeschnittenes Fallbuch 3 sowie –<br />
wie bereits erwähnt – eine Sammlung von Nachweisen zu<br />
älterer Literatur und Rechtsprechung, die aus Platzgründen in<br />
der Neuauflage keine Berücksichtigung mehr finden konnte,<br />
auf der Homepage des Lehrstuhls des Autors.<br />
Als Fazit kann festgehalten werden, dass das Lehr- und<br />
Studienbuch zum internationalen Strafrecht von Ambos auch<br />
in der dritten Auflage wieder beeindruckt und überzeugt.<br />
Aufgrund der hohen Aktualität der Darstellung, der großen<br />
Bearbeitungstiefe und der umfassenden Literatur- und Rechtsprechungsnachweise<br />
bleibt das Werk auch in der Neuauflage<br />
das bedeutendste Lehr- und Studienbuch zum internationalen<br />
Strafrecht im deutschsprachigen Raum. Studierende, die sich<br />
ohne Vorkenntnisse erstmals mit dem Völkerstrafrecht und<br />
anderen Bereichen des internationalen Strafrechts befassen<br />
wollen, dürften zwar – insbesondere, wenn es ihnen lediglich<br />
darum geht, im Rahmen eines engen Zeitbudgets Grundkenntnisse<br />
zu erwerben – aufgrund des Tiefganges und hohen<br />
wissenschaftlichen Niveaus der Darstellung, die nicht nur<br />
strafrechtliche, sondern auch völker- und europarechtliche<br />
Grundkenntnisse voraussetzt, mit dem Buch ihre Schwierigkeiten<br />
haben. Sie werden wahrscheinlich gut beraten sein,<br />
(zunächst einmal) das Anfängerlehrbuch von Satzger 4 , das<br />
rein didaktisch orientiert ist und sich auf die Vermittlung von<br />
Basiswissen konzentriert, zur Hand zu nehmen. Studierenden<br />
dagegen, die sich – etwa im Rahmen eines universitären Seminars<br />
oder Schwerpunktstudiums – vertieft mit der Materie<br />
befassen wollen, ist das Buch von Ambos wärmstens zu empfehlen.<br />
Auch auf dem Schreibtisch eines jeden Wissenschaftlers<br />
und Strafrechtspraktikers, der Fragen des internationalen<br />
Strafrechts zu klären hat, ist das Werk, das im Übrigen zu<br />
einem Preis im Handel angeboten wird, der einen Erwerb für<br />
die eigene Bibliothek erschwinglich macht, ein Muss.<br />
RiLG Dr. Helmut Kreicker, GBA, Karlsruhe<br />
3 Ambos, Fälle zum internationalen Strafrecht, 2010.<br />
4 Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht,<br />
5. Aufl. 2011.<br />
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301
Standpunkte der deutschen Strafrechtslehrer zu den Zukunftsperspektiven der<br />
Rechtswissenschaft und der akademischen juristischen Ausbildung in Deutschland<br />
Von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Bernd Schünemann, München<br />
I. Kritisch-salvatorische Vorbemerkungen<br />
1. Wer wie der Verf. die jetzt gut vier Jahrzehnte währende<br />
Diskussion über die Rolle der Rechtswissenschaft und der<br />
Rechtsausbildung in Deutschland als teilnahmsvoller Beobachter<br />
verfolgt hat, schwankt zwischen zwei Empfindungen:<br />
einer „unendlichen Geschichte“ (Michael Ende) oder<br />
eines „rasenden Stillstandes“ (Paul Virilio). Zeitweise mochte<br />
die in alle interessierten Kreise hineingetragene und von<br />
diesen argumentativ befeuerte Auseinandersetzung wie die<br />
Annäherung an eine „ideale Sprechsituation“ (Jürgen Habermas)<br />
und geradezu als Exempel einer „deliberativen Demokratie“<br />
(Joseph Bessette) erscheinen. Seit nicht einmal<br />
vier Jahren könnte man allerdings auch geneigt sein, darin ein<br />
systemisch geschaffenes Exempel der „Postdemokratie“<br />
(Colin Crouch) zu erblicken, durch das unverhältnismäßig<br />
große Teile des politischen Engagements der Zivilgesellschaft<br />
absorbiert werden, während die weitaus gewichtigen<br />
Entscheidungen unter Vorgabe ihrer Alternativlosigkeit von<br />
kleinen Zirkeln des politischen Systems sei es an einem Tage,<br />
sei es über Nacht lanciert werden können. 1<br />
2. Als sich der Wissenschaftsrat im Jahr 2011 erneut den<br />
Perspektiven der Rechtswissenschaft zuwandte 2 , standen die<br />
1<br />
So ist das sog. Finanzmarktstabilisierungsgesetz am 17.10.<br />
2008 an ein und demselben Tage von Bundestag und Bundesrat<br />
verabschiedet und vom Bundespräsidenten unterzeichnet<br />
worden, während der EFSF in der Nacht vom 9. auf den<br />
10.5.2010 beschlossen worden ist. Die jeweils damit verbundenen<br />
Haftungsrisiken beliefen sich auf viele hundert Milliarden<br />
Euro, die Absegnung der Regierungsmaßnahmen im<br />
Parlament waren jeweils nur Formsache, eine deliberative<br />
Einbeziehung der Zivilgesellschaft fand in keinem Falle statt.<br />
Das am Wenigsten verbrämte Exempel für die in der EU ihr<br />
Aktionszentrum findende Paralyse klassischer demokratischer<br />
Prinzipien bildet die im ESM-Vertrag vorgesehene<br />
Etablierung einer lebenslangen Immunität der ESM-Organe,<br />
das die von der Demokratiebewegung des 19. Jahrhunderts<br />
erkämpfte Ministerverantwortlichkeit abschaffen und damit<br />
im Finanzwesen spätabsolutistische Herrschaftsformen wiederherstellen<br />
würde. Zu einem anderen Beispiel der Ersetzung<br />
deliberativ-demokratischer Entscheidungsformen durch<br />
(vermöge eines einzigen Exekutivbeschlusses ausgelöste)<br />
Automatismen in Gestalt der Umfunktionierung des Euro-<br />
Verrechnungssystems TARGET 2 in einen von keinem Parlament<br />
gebilligten Rettungsschirm Schünemann, <strong>ZIS</strong> 2012,<br />
84.<br />
2<br />
Nachdem in den früheren „Empfehlungen zur Reform der<br />
staatlichen Abschlüsse“ des Wissenschaftsrats v. 15.11.2002<br />
(online unter: http://www.hrk.de/bologna/de/home/3160.php<br />
[zuletzt abgerufen am 31.5.2012]) eine Reform der Juristenausbildung<br />
weitgehend nach dem Bologna-Model befürwortet<br />
worden war (S. 13 ff.), sollen nunmehr die „Perspektiven<br />
in der Rechtswissenschaft“ in einer Arbeitsgruppe unter dem<br />
Vorsitz von Peter Strohschneider im Juli 2012 beraten und<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
302<br />
<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />
deutschen Strafrechtslehrer vor dem Dilemma, dass sie mangels<br />
einer korporativen Organisation als solche keine verbindliche<br />
Stellungnahme abgeben und das Thema überhaupt<br />
erst am 25.6.2011 auf ihrer Tagung in Leipzig erörtern konnten,<br />
und auch das nur in Umrissen. Die nachfolgenden Thesen<br />
mussten deshalb vom Verf. unter größtem Zeitdruck<br />
formuliert werden (was eine starke Konzentration und damit<br />
auch Verkürzung der angesprochenen Gesichtspunkte und<br />
Argumente unvermeidbar machte), wobei die Leipziger Meinungsbildung<br />
auch nur die allgemeine Richtung vorgeben<br />
konnte. Für die nachfolgend gewählten Formulierungen trägt<br />
deshalb der Verf. die alleinige Verantwortung. Dabei konnte<br />
von vornherein nicht mehr als eine thesenhafte Zuspitzung<br />
angestrebt werden, weshalb auch (um nicht das äußere Erscheinungsbild<br />
einer wissenschaftlichen Behandlung zu malen)<br />
auf Fußnoten verzichtet und lediglich für den Hintergrund<br />
auf drei tieferdringende Analysen exemplarisch hingewiesen<br />
werden soll. 3<br />
II. Thesen<br />
1. Perspektiven und zentrale Herausforderungen der Rechtswissenschaft<br />
in Deutschland<br />
a) Die wichtigste Perspektive der (Straf-)Rechtswissenschaft<br />
in Deutschland besteht in der Einflussnahme auf die Rechtskultur<br />
der EU bei der Europäisierung des Rechts, speziell des<br />
Straf- und Strafprozessrechts. Die hierfür zentrale, auch im<br />
internationalen Vergleich führende Leistung der Strafrechtswissenschaft<br />
der BRD besteht in der Verbindung des bis<br />
1933 entwickelten, die Rationalität und Intersubjektivität der<br />
Rechtsfindung garantierenden formalen Strafrechtssystems<br />
mit den im Grundgesetz niedergelegten inhaltlichen Werten<br />
des liberalen Rechtsstaats. In der seit Ende des vergangenen<br />
Jahrhunderts einsetzenden Europäisierung des Strafrechts<br />
dominiert dagegen bis heute eine eher polizeilich-operative<br />
Sichtweise, deren Zähmung und Ergänzung durch die in der<br />
deutschen Strafrechtswissenschaft entwickelte und perfektionierte<br />
Methode der systematischen Verarbeitung des fundamentalen<br />
Strafrechtszwecks „ultima ratio zum Rechtsgüterschutz<br />
durch Androhungsgeneralprävention“ sowie des strafrechtsbegrenzenden<br />
und zugleich in der Idee der Androhungsgeneralprävention<br />
vorausgesetzten Schuldprinzips geleistet<br />
werden kann und zur Herstellung eines wahrhaften „Raumes<br />
mit Empfehlungen versehen werden (Arbeitsprogramm Januar-Juni<br />
2012 des Wissenschaftsrates vom 27.1.2012, online:<br />
http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/Arbeitsprog<br />
ramm.pdf [zuletzt abgerufen am 31.5.2012]).<br />
3<br />
Siehe das Gutachten für den Juristen-Fakultätstag von Hirte/Mock,<br />
Reform der Juristenausbildung vor dem Hintergrund<br />
des Bologna-Prozesses (http://www.djft.de/Hirte_Mock.pdf<br />
[zuletzt abgerufen am 31.5.2012]); Schöbel, JA 2011, 161;<br />
Hilgendorf, in: Hilgendorf/Eckert (Hrsg.), Subsidiarität –<br />
Sicherheit – Solidarität, Festgabe für Franz-Ludwig Knemeyer<br />
zum 75. Geburtstag, 2012, S. 559 f.
Standpunkte der deutschen Strafrechtslehrer zu den Zukunftsperspektiven der Rechtswissenschaft<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
der Freiheit und des Rechts“ auch geleistet werden muss. Um<br />
die bisher schon in dem deutschen strafrechtswissenschaftlichen<br />
Diskussionsraum entfalteten Ansätze EU-weit zu kommunizieren,<br />
wird möglicherweise eine in englischer Sprache<br />
entfaltete (nicht mit der lexikalischen Übersetzung deutscher<br />
Texte zu verwechselnde) systematische Strafrechtsdogmatik<br />
zu entwickeln sein, was man ohne Übertreibung als eine<br />
ebenso grandiose wie herausfordernde Perspektive bezeichnen<br />
kann.<br />
b) Auch im globalen Maßstab müssen gegenüber dem<br />
derzeitigen internationalen Trend einer (in der Aushandlung<br />
des Strafurteils gipfelnden) Ent-Formalisierung und Ent-<br />
Rechtsstaatlichung der Strafrechtspflege die in der deutschen<br />
Strafrechtswissenschaft in einem Gesamtsystem verarbeiteten<br />
Werte des freiheitlichen demokratischen Rechtsstaats behauptet<br />
werden. Aufgrund des aus dem 19. Jahrhundert<br />
stammenden, aber bis heute bewahrten „Nimbus“ der deutschen<br />
Strafrechtswissenschaft erscheint diese Aufgabe im<br />
Grundsatz lösbar, wobei beispielsweise der Einflussnahme<br />
auf die in einem rasanten Aufbruch befindliche chinesische<br />
Rechtskultur eine Schlüsselstellung zukommen dürfte.<br />
Selbstverständlich gilt dies auch für die deutsche Rechtskultur<br />
selbst, die sich in den letzten Jahren dem „pragmatistischen“<br />
Trend, der in letzter Konsequenz zur Eröffnung immer<br />
größerer Willkürspielräume der Rechtspflege führt, nicht<br />
entziehen konnte. Die Aufgabe der Strafrechtswissenschaft<br />
gewissermaßen als „intellektueller Zuchtmeister“ der Rechtsprechung<br />
muss hier offensiv verteidigt werden, indem gezeigt<br />
wird, dass die durch gesellschaftliche Veränderungen<br />
naturgemäß notwendig werdenden Modernisierungen des<br />
Rechts nicht zu einer letztlich nur noch von bürokratischen<br />
Grundsätzen regierten Unkontrollierbarkeit der Strafjustiz<br />
führen dürfen. Dies gilt insbesondere auch angesichts einer<br />
auf dem Gebiet der Strafrechtspflege seit Jahren zunehmend<br />
von polizeilich-operativen Zielen beherrschten Gesetzgebung.<br />
c) Eine nicht weniger große und anspruchsvolle Perspektive<br />
besteht in der Fortentwicklung der dem geltenden Recht<br />
gewidmeten Rechtsdogmatik (Strafrechtsdogmatik) zu einer<br />
Gesetzgebungswissenschaft (Strafgesetzgebungswissenschaft).<br />
Wissenschaftstheoretisch gesehen geht es um keine neue<br />
Disziplin, sondern um die Verbindung des auf die Verfassung<br />
bezogenen und deshalb zweifellos weitaus größere Entscheidungsspielräume<br />
übrig lassenden interpretativen Paradigmas<br />
mit dem metaethisch-konsequentialistischen Paradigma bei<br />
der Konkretisierung der erwähnten, in der Strafrechtswissenschaft<br />
weithin unstrittigen Strafrechtsfunktion „Androhungsgeneralprävention<br />
als ultima ratio zum Schutz der von der<br />
Verfassung für schutzwürdig erklärten Güter“.<br />
d) Die Erfüllung dieser Aufgaben der Strafrechtswissenschaft<br />
muss durch eine Verteidigung der wissenschaftlich<br />
fundierten Lehre an den deutschen Universitäten flankiert<br />
werden, weil die auf die Dauer größte Gefahr einer Ersetzung<br />
rechtswissenschaftlich fundierter durch rein pragmatisch<br />
orientierte Rechtsfindung in der Praxis darin besteht, dass<br />
durch eine Verflachung der juristischen Ausbildung die neue<br />
Juristengeneration den Wert der spezifisch von der Wissen-<br />
schaft geleiteten Strafrechtspflege nicht mehr begreift und<br />
dann naturgemäß auch nicht mehr zu realisieren vermag.<br />
2. Zum Wissenschaftsbegriff der Strafrechtswissenschaft und<br />
dem Verhältnis von Dogmatik und Grundlagenfächern sowie<br />
den sich daraus für Forschung und Lehr ergebenden Konsequenzen<br />
a) Die Gesamtheit der akademischen Rechtswissenschaft<br />
besteht einerseits aus der Rechtsdogmatik, andererseits aus<br />
den sog. Grundlagendisziplinen; dies gilt auch für die Strafrechts-<br />
und Strafprozessrechtswissenschaft. Die Verknüpfung<br />
der Dogmatik mit den Grundlagenfächern ist im Bereich des<br />
Strafrechts traditionell dadurch besonders eng, dass die Kriminologie<br />
als Schnittmenge von Kriminalsoziologie, -psychologie,<br />
-psychiatrie u.ä. regelmäßig durch einen Lehrstuhl in<br />
der juristischen Fakultät vertreten wird.<br />
b) Der Wissenschaftsbegriff der Grundlagenfächer entspricht<br />
naturgemäß denjenigen Disziplinen, von denen sie<br />
einen Teil darstellen.<br />
c) Der Wissenschaftsbegriff der Strafrechtsdogmatik kann<br />
natürlich nicht verstanden werden, wenn man von einem<br />
empiristischen Wissenschaftsbegriff ausgeht. Im vorliegenden<br />
Zusammenhang kommt es nicht auf die in der Metaethik<br />
wie in der Diskurstheorie viel behandelte und bis heute umstrittene<br />
Frage der Wahrheitsfähigkeit normativer Sätze an,<br />
vielmehr dürften die drei Richtigkeitsgarantien genügen,<br />
deren Institutionalisierung der dogmatischen Rechtswissenschaft<br />
als Leistung von niemandem abgesprochen werden<br />
kann: (1) Für die Behauptung, eine Handlung sei gesollt oder<br />
verboten, darf nicht nur auf die eigene Willkür verwiesen (sic<br />
volo, sic iubeo, sit pro ratione voluntas), sondern es müssen<br />
rationale Gründe angegeben werden, die bis hin zu einer<br />
allgemein akzeptierten Prämisse („Evidenzkonsens“) weiterverfolgt<br />
werden können; (2) das daraus entstehende Begriffs-<br />
und Argumentationssystem muss widerspruchsfrei sein („deduktive<br />
Logik als Organon der Kritik“); (3) durch den freien<br />
Diskurs wird eine ständige Überprüfung der einzuhaltenden<br />
Standards etabliert. Wer das anerkennt, es aber für die Bezeichnung<br />
„Wissenschaft“ zu gering findet, muss sich entgegenhalten<br />
lassen, dass der Streit dann nur noch um Worte<br />
geht.<br />
d) Die hierbei die Rationalität, Intersubjektivität und Kontrollierbarkeit<br />
der dogmatischen Aussagen steigernde Besonderheit<br />
der Rechtswissenschaft gegenüber allen anderen<br />
„Geisteswissenschaften“ liegt darin, dass bei ihr das interpretative<br />
Paradigma mit dem (wie man es nennen könnte) metaethischen<br />
Paradigma kombiniert auftritt, indem einerseits<br />
im Unterscheid zur allgemeinen Moralphilosophie eine riesige<br />
Anzahl an als Axiom wirkenden legislatorischen Vorentscheidungen<br />
und damit Fixpunkten gegeben ist, während<br />
andererseits im Unterschied zu anderen interpretatorischen<br />
Disziplinen ein von der Metaethik bereitgestelltes Organon<br />
der Kritik existiert. In der Strafrechtswissenschaft sind die<br />
hierdurch möglichen „Gewissheitsgewinne“ dadurch sogar<br />
noch einmal vermehrt und intensiviert, dass das erwähnte<br />
Fundamentalprinzip „Strafrechtsschutz durch Androhungsgeneralprävention<br />
als ultima ratio“ eine stringente konsequentialistische<br />
Ableitung zahlreicher Systemelemente und damit<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
303
Bernd Schünemann<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
eine manchmal sogar formallogisch zwingende Kritik des<br />
positiven Rechts und/oder der Rechtsprechung ermöglicht.<br />
Ein konkretes Beispiel: Dass im Unterschied zu dem insoweit<br />
auf einer vormodernen Entwicklungsstufe stehen gebliebenen<br />
Common Law eine im die Hemmungsfähigkeit ausschließenden<br />
Rausch begangene Tat nicht als solche bestraft werden,<br />
sondern dass nur das Sichberauschen Gegenstand einer präventiv<br />
wirkenden Verbotsnorm sein kann, ist eine ebenso<br />
zwingende wie triviale Folgerung, die für zahllose Strafrechtsordnungen<br />
in Europa wie in der Welt dennoch ein Novum<br />
darstellt.<br />
e) Wegen dieser spezifischen Folgenorientierung des Strafrechts<br />
ist die enge Verzahnung der Strafrechtsdogmatik mit<br />
den Grundlagenfächern zwingend vorgegeben und auch in<br />
der akademischen Realität realisiert. Diese Vernetzung darf<br />
deshalb weder im juristischen Diskurs noch in der akademischen<br />
Lehre aufgehoben werden, ohne den Wissenschaftscharakter<br />
und eine daraufhin orientierte Ausbildung anzutasten.<br />
In Abwandlung des bekannten Dictums von Immanuel Kant<br />
könnte man deshalb sagen, empirische Wissenschaft vom<br />
Verbrechen ist blind, Strafrechtsdogmatik ohne empirischen<br />
Bezug ist leer. Und dies gilt ganz genauso für die noch auszubauende<br />
Strafgesetzgebungswissenschaft.<br />
3. Zur gesellschaftlichen Bedeutung der Rechtswissenschaft<br />
und ihrer gesellschaftlichen Verantwortung<br />
a) Es darf vorausgesetzt werden, dass das Rechtssystem das<br />
wichtigste und für jede denkbare Gesellschaft unverzichtbare<br />
normative Subsystem ist. Man kann sich eine Gesellschaft<br />
ohne Religion vorstellen (die im Grunde durch Art. 4 GG<br />
sogar garantiert wäre), aber nicht eine Gesellschaft ohne<br />
Recht, jedenfalls keine moderne Gesellschaft. Als notfalls mit<br />
Zwang durchsetzbare Ordnung kann ein Recht im eigentlichen,<br />
d.h. auf Gerechtigkeit angelegten Sinn aber ohne Rechtswissenschaft<br />
nicht existieren, weil der staatliche Zwang, über<br />
dessen Anwendung in einer modernen Gesellschaft letztlich<br />
die Gerichte entscheiden, sonst nichts anderes als Willkür<br />
wäre.<br />
b) Diese Anleitung und intellektuelle Kontrolle der Rechtsprechung<br />
(als Form der staatlichen Zwangsausübung!) durch<br />
die Rechtswissenschaft ist im Strafrecht gewissermaßen naturnotwendig,<br />
denn das Strafrecht trennt den Bürger vom<br />
Verbrecher, den freien Menschen von der wie in einem Käfig<br />
gehaltenen Kreatur. Allein die Rechtswissenschaft kann hier<br />
eine Antwort auf die Frage geben „quis custodiet ipsos custodientes?“,<br />
indem sie kontrolliert, aber nicht herrscht und den<br />
sonst unvermeidbaren unendlichen Regress beendet. Es ist<br />
ein erst durch die weiter voranschreitende Informalisierung<br />
der Strafjustiz ins Wanken geratenes Spezifikum der modernen<br />
deutschen (und insoweit vorbildlichen) Rechtskultur,<br />
dass die Gerichte ihre Entscheidungen (also Zwangsanordnungen)<br />
in Form abgekürzter rechtswissenschaftlicher Diskurse<br />
legitimieren und sich dadurch der analytischen Kontrolle<br />
der Rechtswissenschaft aussetzen, wodurch diese wiederum<br />
mit dem lebensnahen Fallmaterial versorgt wird, durch<br />
das erst eine die gesellschaftliche Wirklichkeit wie ein Netz<br />
überspannende Rechtsdogmatik möglich wird.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
304<br />
<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />
c) Die gesellschaftliche Verantwortung der Rechtswissenschaft<br />
kann also speziell bei der Strafrechtswissenschaft gar<br />
nicht überschätzt werden, woraus zugleich folgt, dass jede<br />
Einbuße auf dem akademischen Sektor (der über die Ausbildung<br />
des Nachwuchses die Perpetuierbarkeit der rechtswissenschaftlichen<br />
Leistungen zu garantieren hat) direkt an die<br />
Fähigkeit zur Wahrnehmung dieser Verantwortung rühren<br />
und damit eo ipso in der staatlichen Zwangsausübung den<br />
Anteil der Willkür auf Kosten ihrer Rückführbarkeit auf allgemein<br />
konsentierte Gerechtigkeitsprinzipien steigern würde.<br />
4. Zur Rolle der Grundlagenforschung und der interdisziplinären<br />
Forschung in der Strafrechtswissenschaft<br />
Speziell in der Strafrechtswissenschaft ist die Grundlagenforschung<br />
immer zugleich interdisziplinäre Forschung, deren<br />
Vermittlung in Gestalt der akademischen Kriminologie institutionalisiert<br />
worden ist. Ein Beispiel: Durch informationspsychologische<br />
und strafjustizsoziologische empirische Forschungen<br />
kann nicht nur die weltweite Rivalität zwischen<br />
dem sog. adversatorischen und dem inquisitorischen Modell<br />
des Strafverfahrens auf eine wissenschaftliche Argumentationsebene<br />
gehoben werden, sondern es kann auch die aktuelle<br />
Rechtsprechung etwa zur Einschränkung von Verteidigerrechten<br />
oder die legislatorische Sanktionierung ursprünglich<br />
gesetzeswidriger informeller Verfahrenspraktiken von ihren<br />
unausgesprochenen empirischen Prämissen her analysiert und<br />
kritisiert werden. Dass eine adäquate Einstellung zur prekären<br />
Funktion der Strafjustiz, die sich wiederum bis in den<br />
einzelnen Akt der richterlichen Straffestsetzung auswirkt,<br />
ohne eine Kenntnis der Strafrechtsgeschichte nicht gewonnen<br />
kann, liegt ebenso auf der Hand.<br />
5. Qualitätskriterien in der Rechtswissenschaft zur Bewertung<br />
von Forschungs- und Lehrleistungen<br />
a) Die Qualität von Forschungsleistungen wird in der Strafrechtswissenschaft<br />
durch eine ungeheuer dichte Vernetzung<br />
der wissenschaftlichen Diskussion garantiert, indem es so gut<br />
wie keine Publikation gibt, die nicht in einer anderen Publikation<br />
analysiert und gegebenenfalls kritisiert wird. Durch<br />
das im üblichen Weg der Berufsqualifikation beibehaltene<br />
Erfordernis der Habilitationsschrift wird der Nachweis der<br />
Fähigkeit, eine nicht zu enge rechtswissenschaftliche Fragestellung<br />
nach allen Richtungen hin zu analysieren und eine<br />
umfassend begründete Antwort auszuarbeiten, zur Grundvoraussetzung<br />
für die Übernahme eines verantwortlichen Amtes<br />
in der akademischen Rechtswissenschaft gemacht. Für die<br />
Rechtswissenschaft, jedenfalls aber für die Strafrechtswissenschaft<br />
ergibt sich die Richtigkeit dieser Praxis (möglicherweise<br />
im Unterschied zu anderen Geisteswissenschaften oder<br />
den empirischen Wissenschaften) daraus, dass die rechtswissenschaftlichen<br />
Begründungsnetze notwendig darauf angelegt<br />
sind, die normativen und (für die Folgenorientierung) empirischen<br />
Gesichtspunkte vollständig zu verknüpfen und bis hin<br />
zu allgemein akzeptierten Prämissen fortzuführen und dort zu<br />
verankern. Weil diese Vollständigkeit naturgemäß in kleineren<br />
Abhandlungen nicht erreicht werden kann, sondern hier<br />
immer wieder gewisse offene Flanken gelassen werden müssen,<br />
die erst in dem gesamten strafrechtswissenschaftlichen
Standpunkte der deutschen Strafrechtslehrer zu den Zukunftsperspektiven der Rechtswissenschaft<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Diskurs nach und nach geschlossen werden, bilden die in der<br />
Habilitationsschrift vor sich gehende Entwicklung und der<br />
durch sie zu leistende Nachweis der Fähigkeit, zu einer derart<br />
umfassenden Argumentation in der Lage zu sein, eine sachlogische<br />
Grundbedingung akademischer Rechtswissenschaft.<br />
b) Die Qualität der Lehre wird mit den heute üblichen<br />
Evaluationsmethoden überprüft. Probleme können hier von<br />
einer Abflachung der Examensanforderungen und einer entsprechenden<br />
Niveauabsenkung der studentischen Klientel<br />
entstehen, beispielsweise wenn sich das Missverständnis<br />
weiter erhärten sollte, das Studium der Rechtswissenschaft<br />
sei als billiges Massenfach und damit als Auffangbecken für<br />
alle mäßig qualifizierten Studienanfänger einsetzbar. Scharen<br />
mäßig begabter und unzulänglich ausgebildeter Juristen bedeuten<br />
aber nicht nur eine Ressourcenverschwendung für die<br />
Gesellschaft und vertane Lebenszeit für den Einzelnen, sondern<br />
auch eine Beeinträchtigung der Rechtspraxis und der<br />
von ihr herzustellenden sozialen Gerechtigkeit und Befriedung.<br />
Das bloße Auswendiglernen von Gesetzen und Gerichtsentscheidungen,<br />
die dann als bloße Schemata auf in den<br />
entscheidenden Punkten anders liegende Fälle angewendet<br />
werden, führt nicht nur (beim Eindringen in den Staatsapparat)<br />
zu unbewusst willkürlicher Rechtsanwendung, sondern<br />
auch (wenn dieser Personenkreis auf nicht-staatliche juristische<br />
Berufe beschränkt werden kann) zu einem Niveauverfall<br />
der Rechtsberatung, die etwa im Zivilrecht bei der Vorsortierung<br />
sozialer Konflikte eine quantitativ um mehrere Zehnerpotenzen<br />
höhere soziale Effektivität als die Rechtsprechung<br />
besitzt und im Strafrecht als Gegengewicht zu den Strafverfolgungsinstanzen<br />
keine geringere qualitative Bedeutung hat.<br />
6. Die spezifischen Publikationsformen der Rechtswissenschaft,<br />
ihre zukünftige Entwicklung und die dadurch ausgelösten<br />
Wechselwirkungen<br />
Als Publikationsformen der Rechtswissenschaft sind Monografien<br />
(vor allem in Form von Habilitationsschriften und<br />
Dissertationen), Kommentare zu Gesetzen (die in den Großkommentaren<br />
durchweg wissenschaftliche Ziele verfolgen<br />
und dabei insbesondere die Systematik und Kritik der Rechtsprechung<br />
betreiben), Lehrbücher (die in Form der großen<br />
Lehrbücher eine zentrale Bedeutung für den Aufbau des<br />
strafrechtlichen Gesamtsystems haben), Zeitschriftenaufsätze<br />
und Urteilsanmerkungen als spezifisches Instrument der Rechtsprechungskritik<br />
zu nennen. Die Zahl der Verlage ist so groß,<br />
dass letztlich jede juristische Arbeit auch publiziert werden<br />
kann. Die daraus resultierende Gefahr einer Qualitätseinbuße<br />
wird durch die schon erwähnte umfassende kritische Auseinandersetzung<br />
innerhalb des Diskussionskreises gebannt. Seit<br />
einiger Zeit wird das Internet ebenfalls intensiv als Publikationsorgan<br />
benutzt, wodurch nicht nur die Kapazität nochmals<br />
erhöht, sondern vor allem auch der bei Printmedien unvermeidliche<br />
zeitliche Abstand zwischen Problementstehung<br />
und Problemanalyse ausgeschaltet werden kann. Wichtige<br />
Entscheidungen der obersten Gerichte können so innerhalb<br />
kürzester Zeit von der Wissenschaft bereits analysiert und<br />
kritisiert werden. Auch für das internationale Auftreten der<br />
deutschen Rechtswissenschaft, speziell der Strafrechtswissenschaft,<br />
hat das geradezu einen Quantensprung gebracht.<br />
Zwar erfreuen sich die strafrechtswissenschaftlichen Zeitschriften<br />
einer bemerkenswert großen Zahl ausländischer<br />
Abonnenten und Leser (beispielsweise findet die Zeitschrift<br />
für die Gesamte Strafrechtswissenschaft, obwohl sie nur in<br />
deutscher Sprache erscheint, im Ausland noch mehr Abonnenten<br />
als im Inland), aber durch neue Strafrechtszeitschriften<br />
im Internet sind die Zeit- wie die Kostenbarrieren für eine<br />
Verarbeitung deutscher Publikationen im Ausland beseitigt<br />
worden, wodurch wiederum ausländische Strafrechtswissenschaftler<br />
auch in die deutsche Diskussion eingreifen können.<br />
Das alles führt, nicht zuletzt auch wegen des Fortfalls starrer<br />
Umfangsbegrenzungen, zu einer intensiveren Ausbildung des<br />
bereits erwähnten juristischen Argumentationsnetzes auch in<br />
der kleineren Publikationsform des Aufsatzes und der Entscheidungsrezension.<br />
7. Zum Austausch zwischen dem Wissenschafts- und dem<br />
Rechtssystem bzw. der Rechtspraxis, seinem Potential und<br />
seinen Problemen<br />
Wie schon erwähnt, bemüht sich die Rechtsprechung der<br />
Obergerichte jedenfalls im Bereich des Straf- und Strafprozessrechts<br />
um eine wissenschaftliche Begründung ihrer Entscheidungen<br />
und setzt sich dabei auch manchmal knapper,<br />
manchmal ausführlicher mit dem wissenschaftlichen Schrifttum<br />
auseinander, während dieses wiederum, wie ebenfalls<br />
schon erwähnt, die Rechtsprechung auf Schritt und Tritt mit<br />
Analyse und Kritik begleitet, von der kleinsten Form der<br />
Urteilsanmerkung bis zu einer eingehenden Behandlung in<br />
den Großkommentaren und Monografien. Nicht wenige Richter<br />
der Strafsenate des Bundesgerichtshofes wirken auch als<br />
Honorarprofessoren an juristischen Fakultäten. Der Austausch<br />
der Rechtswissenschaft mit anderen gesellschaftlichen Teilsystemen<br />
ist im Bereich des Strafrechts eng, auch wenn er<br />
teilweise nur auf der Oberfläche praktiziert wird (namentlich<br />
bei der Hinzuziehung von Strafrechtswissenschaftlern bei<br />
Expertenanhörungen im Bereich der Politik, mittlerweile ja<br />
auch intensiv auf der Ebene der EU, wobei aber meist erkennbar<br />
ist, dass die Politik nicht wirklich beraten werden<br />
möchte, sondern die Strafrechtsexperten vorwiegend als<br />
Alibi-Instrument heranzieht und auch dementsprechend auswählt).<br />
Mehrere Strafrechtslehrer sind auch im Nebenamt an<br />
einem Strafsenat eines Oberlandesgerichts tätig, wofür aber<br />
jeglicher finanzieller Anreiz fehlt. Umgekehrt verhält es sich<br />
bei der immer noch zunehmenden Tätigkeit von Strafrechtsprofessoren<br />
als Strafverteidiger, deren prozessual unbeschränkte<br />
Zulässigkeit sich aus § 138 Abs. 1 StPO ergibt,<br />
deren Ausmaß inzwischen aber Rückwirkungen auf die Strafrechtswissenschaft<br />
besitzt, die nicht ohne Bedenken sind.<br />
Denn während der Gesetzgeber der StPO naturgemäß davon<br />
ausgegangen war, dass das gelegentliche Auftreten eines<br />
Hochschullehrers als Strafverteidiger in rechtlich komplizierten<br />
Fällen das Niveau der Verteidigung und damit des ganzen<br />
Verfahrens hebt, woraus wiederum befruchtende Auswirkungen<br />
auf eine praxisnahe Rechtsdogmatik zu erwarten seien,<br />
kann eine zu starke Verankerung des Wissenschaftlers in der<br />
Lebenswelt der Strafverteidigung auch umgekehrt zu einer<br />
einseitigen Ausrichtung seiner wissenschaftlichen Tätigkeit<br />
und der von ihm vertretenen Auffassungen führen.<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
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Bernd Schünemann<br />
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8. Die Auswirkungen der institutionellen und strukturellen<br />
Wandlungsprozesse im Hochschulsystem auf die Rechtswissenschaft<br />
Die Auswirkungen sind überwiegend als neutral zu bezeichnen,<br />
weil die mit den Wandlungsprozessen verfolgten Ziele<br />
im Bereich der Rechtswissenschaft schon vorher im Wesentlichen<br />
verwirklicht waren; im Punkt der Bedeutung der<br />
Drittmitteleinwerbung sind sie aber auch teilweise negativ zu<br />
bewerten.<br />
a) Aus dem „umfassenden Begründungsnetz“ als Wissenschaftsparadigma<br />
der Rechtsdogmatik folgt, dass die Profilbildung<br />
einer Universität oder Fakultät in der Rechtswissenschaft<br />
nicht in der Weise vor sich gehen darf, dass einzelne<br />
Gebiete vernachlässigt werden dürfen; am Beispiel der Strafrechtswissenschaft:<br />
wenn eine Fakultät auf das Strafprozessrecht<br />
oder die Kriminologie verzichten wollte. Auch die sog.<br />
Grundlagenfächer müssen angemessen vertreten sein, doch<br />
könnte man hier am ehesten eine unterschiedliche Profilbildung<br />
sinnvoll finden (am Beispiel der LMU München der<br />
starke Schwerpunkt in der Rechtsgeschichte, anderer Fakultäten<br />
etwa bei der Soziologie oder der Rechtsphilosophie). Eine<br />
Autonomie der Universität, die gleichzeitig mit der Entmachtung<br />
der Fakultäten einhergeht, wie sie etwa für das neue<br />
bayerische Hochschulrecht kennzeichnend ist, bringt dagegen<br />
für die Wissenschaft keinen Gewinn, gleichgültig für welches<br />
Fach.<br />
b) Die leistungsbezogene Mittelverteilung hat zweifellos<br />
insoweit einen positiven Effekt, wie sie wissenschaftliche<br />
Leistungen durch verbesserte Mittelzuteilung prämiiert, doch<br />
ist dieser Effekt angesichts der begrenzten zur Verteilung<br />
stehenden Mittel selbst äußerst begrenzt und das Anreizsystem<br />
bleibt hinter den früher existierenden Systemen erkennbar<br />
zurück. Es verkennt auch in elementarer Weise das intrinsische<br />
Motivationssystem eines Rechtswissenschaftlers, der<br />
die ihm nach einem Spitzenexamen winkenden, horrenden<br />
Verdienstmöglichkeiten in den heutigen Anwalts-Großkanzleien<br />
ausgeschlagen hat und ein eher an McDonalds’ „Mitarbeiter<br />
des Monats“ erinnerndes Prämiensystem eher als Herabsetzung<br />
empfindet.<br />
c) Problematisch ist die Abhängigkeit der Mittelzuweisung<br />
von der Drittmitteleinwerbung, weil es für die schlichte<br />
dogmatische Arbeit selbst dann keine Drittmittel gibt, wenn<br />
sie in exzeptioneller und vorzüglicher Form geleistet wird,<br />
weshalb nicht selten krampfhaft nach drittmittelfähigen, aber<br />
nicht eigentlich wissenschaftlich zentralen Projekten gefahndet<br />
wird. Dagegen ist die sonst manifeste Gefahr der interessenabhängigen<br />
Forschung bei der (Straf-) Rechtswissenschaft<br />
eher gering, abgesehen natürlich von der erwähnten Verquickung<br />
mit intensiver Strafverteidiger-Tätigkeit.<br />
9. Zur Struktur einer „rechtswissenschaftlichen Fakultät der<br />
Zukunft“, der Wünschbarkeit spezifischer Profile und der<br />
(Un-)Verzichtbarkeit von Teilfächern<br />
a) Die Idee einer stark unterschiedlichen Profilbildung juristischer<br />
Fakultäten ist, wie schon bemerkt, mit dem Wissenschaftsparadigma<br />
der Rechtsdogmatik nicht zu vereinbaren<br />
und muss deshalb entschieden abgelehnt werden. So wie nur<br />
der klassische „Einheitsjurist“ im Grundsatz zu einer Erfül-<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
306<br />
<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />
lung dieses Paradigmas in der Lage ist, muss in jeder Fakultät<br />
die Ausbildung in den drei Säulen Zivilrecht, öffentliches<br />
Recht und Strafrecht und die Verbindung mit den zugehörigen<br />
„Grundlagenfächern“ präsentiert werden. Auf dieser<br />
gemeinsamen Basis ist es freilich nicht ausgeschlossen, dass<br />
eine Fakultät etwa die Spezialitäten des Zivilrechts, eine<br />
andere diejenigen des internationalen Rechts oder eine dritte<br />
diejenige des Strafrechts im Lehrkörper und -betrieb stärker<br />
ausbildet und in den Vordergrund stellt. Den organisatorischen<br />
Rahmen liefert die gegenwärtige Unterscheidung einer<br />
auf den genannten Säulen ruhenden Staatsprüfung und einer<br />
mehr spezialisierten Schwerpunktbereichsprüfung.<br />
b) Dabei ist freilich eine examenstechnisch stärkere Einbindung<br />
der Grundlagenfächer zu vermissen, deren heutiger<br />
Mangel übrigens in einem auffälligen Gegensatz zur traditionellen<br />
Stärke der deutschen Rechtswissenschaft gerade in<br />
diesen Feldern, zu ihrer internationalen Ausstrahlung und zu<br />
der Prüfungsorganisation anderer Länder steht. Andererseits<br />
muss darauf geachtet werden, die Ausbildung nicht durch<br />
Spezialgebiete zu überfrachten und dadurch eine Verflachung<br />
der Ausbildung in den drei Säulen zu provozieren. Keinesfalls<br />
sollten die rechtswissenschaftlichen Fakultäten in der<br />
Zukunft zu spezialisierten Abteilungen für einzelne juristische<br />
Sparten degenerieren, weil dadurch eine am Ideal des<br />
Wissenschaftsparadigmas der Rechtsdogmatik orientierte Ausbildung<br />
zerstört und das später zu einem Einsatz in allen<br />
Sparten befähigende Studium der Rechtswissenschaft in ein<br />
Anlernen einzelner Techniken verwandelt würde.<br />
10. Zur (Un-)Abdingbarkeit von Grundlagenfächern, ihrer<br />
Kooperation mit den dogmatischen Fächern und der interdisziplinären<br />
Vernetzung mit anderen Wissenschaftsdisziplinen<br />
Rechtsphilosophie unter Einschluss der einzelnen rechtstheoretischen<br />
Disziplinen, Rechtsgeschichte mit ihren verschiedenen<br />
Fächern (wobei hier Raum für eine Schwerpunktbildung<br />
der einzelnen Fakultäten besteht), Rechtssoziologie und<br />
Kriminologie müssen in jeder rechtswissenschaftlichen Fakultät<br />
vertreten sein und gelehrt werden. Die Kooperation<br />
ergibt sich theoretisch aus den obigen Bemerkungen zum<br />
Wissenschaftsbegriff der Jurisprudenz, die praktische Kooperation<br />
folgt regelmäßig daraus, dass die Vertreter der Grundlagenfächer<br />
normalerweise auch bestimmte dogmatische<br />
Gebiete beherrschen und vertreten. Über diese Grundlagenfächer<br />
ergibt sich auch unproblematisch die Vernetzung mit<br />
anderen Wissenschaftsdisziplinen, beispielsweise der Geschichte,<br />
der Soziologie und Psychologie sowie der Psychiatrie.<br />
Im Bereich der Strafrechtswissenschaft ist dies bereits<br />
heute an den meisten Fakultäten intensiv ausgeprägt.<br />
11. Zur Frage eines institutionellen Entwicklungsbedarfs in<br />
der Rechtswissenschaft, namentlich im Hinblick auf Fachhochschulen<br />
und den demographischen Wandel<br />
Hierzu lohnt sich ein Blick nach Japan und Taiwan, wo kürzlich<br />
juristische Fakultäten nach deutschem Muster mit Law<br />
Schools nach amerikanischem Muster kombiniert worden<br />
sind. Die Erfahrungen sind, soweit ersichtlich, auf beiden<br />
Seiten negativ, es ist auch irgendwie kein rechtes Ziel dahinter<br />
ersichtlich. Wenn das Studium am Wissenschaftsparadig-
Standpunkte der deutschen Strafrechtslehrer zu den Zukunftsperspektiven der Rechtswissenschaft<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
ma der Rechtsdogmatik orientiert bleiben soll, ist ein Entwicklungsbedarf<br />
jenseits der vorstehend skizzierten Möglichkeiten<br />
weder erkennbar noch realisierbar. Stattdessen sollten<br />
die (eine an diesem Paradigma orientierte Ausbildung gegenwärtig<br />
und schon seit geraumer Zeit stark einschränkenden)<br />
äußeren Bedingungen in den Blick genommen und optimiert<br />
werden, weil hier das eigentliche Problem der Juristenausbildung<br />
liegt. Die Überfüllung der juristischen Fakultäten<br />
mit Studierenden, die hier mehr aus Verlegenheit landen<br />
und die spezifische Begabung für eine rechtswissenschaftliche<br />
Ausbildung nicht mitbringen, beeinträchtigt das Ausbildungsniveau<br />
insgesamt. Auch die seit geraumer Zeit intensiven<br />
Anstrengungen der Fakultäten zur didaktischen Verbesserung<br />
der Lehre im Sinne eines „Studiums ohne Repetitor“<br />
stoßen dadurch an vorgegebene Grenzen. Andererseits würde<br />
es keinen Sinn machen, den Gegenstand der Repetitorkurse,<br />
also die juristische Technik der Subsumtion unter schon bekannte<br />
Obersätze, etwa unter Mitnahme eines Großteils der<br />
heutigen Jurastudenten an Fachhochschulen auszugliedern.<br />
Denn wie schon bemerkt, besteht für reine Techniker der<br />
Rechtsanwendung außerhalb der bereits heute existierenden<br />
und im Fachhochschulbereich verankerten Berufsbilder kein<br />
echter gesellschaftlicher Bedarf. Daran ändert auch der demographische<br />
Wandel nichts, weil die sog. Juristenschwemme,<br />
also das seit längerer Zeit zu beobachtende Überangebot<br />
fertiger Juristen auch außerhalb des engen Bereichs staatlicher<br />
Berufe, den Bedarf noch für lange Zeit befriedigt bzw.<br />
übersteigt. Speziell für das Strafrecht lässt sich sagen, dass<br />
dieser Bereich der problematischsten staatlichen Machtausübung<br />
schlechthin nur durch am Wissenschaftsparadigma der<br />
Rechtsdogmatik ausgebildete und zugleich durch die Vernetzung<br />
mit Grundlagenfächern zu vertieftem Verständnis und<br />
zu eigener Reflexion befähigte Juristen versehen werden darf,<br />
wenn die skizzierte rechtswissenschaftliche Kontrolle über<br />
staatliche Machtausübung ernsthaft angestrebt und beibehalten<br />
werden soll.<br />
12. Zur Frage standortübergreifender Infrastrukturen (z.B.<br />
Datenbanken oder auch Institutes for Advanced Study)<br />
Standortübergreifende Infrastrukturen im Sinne von Datenbanken<br />
gibt es bereits heute in einem ausreichenden Umfange,<br />
überdies werden sie ständig weiterentwickelt und perfektioniert.<br />
Ein „Institute for Advanced Studies“ ist weder notwendig<br />
noch als seriöse Institution vorstellbar. Rechtswissenschaft<br />
kann entweder seriös betrieben werden und ist dann<br />
„advanced“ oder überhaupt nicht, es gibt keine zwei Stufen<br />
quasi einer Rechtswissenschaft für Biedermänner und einer<br />
anderen für Intellektuelle. Soweit es um den Einbau der<br />
Rechtsvergleichung in die Rechtswissenschaft geht, der gerade<br />
im Strafrecht und Strafprozessrecht eine lange Tradition<br />
besitzt, existiert hierfür in Gestalt des Freiburger Max Planck-<br />
Instituts seit langem eine Einrichtung, die in der Welt jedenfalls<br />
von ihren Ressourcen her allgemein als vorbildlich gilt.<br />
Auch ist gerade im Strafrecht die Vernetzung mit aus anderen<br />
Ländern stammenden Strafrechtswissenschaftlern optimal,<br />
weil die deutsche Strafrechtsdogmatik noch immer weltweit<br />
als vorbildlich gilt und deshalb jedes Jahr eine enorme Zahl<br />
von Gastwissenschaftlern in Deutschland arbeitet. In man-<br />
chen Ländern wie etwa früher Korea und Japan und heute<br />
Spanien ist sogar ein hinreichender Forschungsaufenthalt in<br />
Deutschland wenn nicht formell erforderlich, so doch materiell<br />
die entscheidende Voraussetzung für eine erfolgreiche strafrechtswissenschaftliche<br />
Karriere. Zahlreiche deutsche Strafrechtswissenschaftler<br />
sind als Berater für die Strafrechts- und<br />
Strafprozessreformen in Lateinamerika, Ostasien und den<br />
GUS-Nachfolgestaaten tätig und besorgen dadurch einen<br />
ständigen, über eine bloß lineare Rechtsvergleichung weit<br />
hinausgehenden Erfahrungsaustausch.<br />
13. Zur Wünschbarkeit differenzierter Ausbildungsangebote<br />
etwa einer anwaltsbezogenen Juristen- oder Bachelor-<br />
Ausbildung<br />
a) Die Antwort ergibt sich aus den bisherigen Ausführungen<br />
zur Struktur der Rechtswissenschaft. Entscheidend für das<br />
Profil eines zu selbständigen kritischen und wissenschaftlich<br />
fundierten Urteilen befähigten Juristen ist nach wie vor eine<br />
die Grundlagen einbeziehende Ausbildung in den drei traditionellen<br />
Säulen. Durch die bereits erfolgte Hinzufügung des<br />
Schwerpunktbereichsstudiums ist die Ausbildung schon heute<br />
mit Spezialisierungsangeboten versehen worden, die die<br />
nicht zu Lasten der „Gesamtausbildung“ gehenden Möglichkeiten<br />
ausgeschöpft haben. Bei der anwaltsbezogenen Juristenausbildung<br />
darf nicht vergessen werden, dass der Anwalt<br />
als der Justiz vorgeschalteter Filter tatsächlich den größten<br />
Teil der rechtlichen Konfliktlösung besorgt, hierbei aber<br />
immer im Hinblick auf die mögliche gerichtliche Entscheidung<br />
agieren muss, entsprechend der soziologischen Figur<br />
des „bargaining in the shadow of the Law“. Eine isolierte<br />
anwaltsbezogene Ausbildung kann es deshalb gar nicht geben.<br />
Speziell im Bereich des Strafrechts geht es deshalb dabei<br />
um die Erlernung zusätzlicher „Soft Skills“, die in der<br />
Schwerpunktbereichsausbildung erfolgen kann.<br />
b) Die Fähigkeit zur Generierung des „Rechtsfalles“ aus<br />
der mehr oder weniger amorphen Lebenswirklichkeit und zu<br />
dessen Analyse und Subsumtion nach dem angesprochenen<br />
rechtsdogmatischen Paradigma ist die Grundvoraussetzung<br />
für jede sozial relevante Tätigkeit des Juristen. Sie wird in der<br />
traditionellen deutschen Juristenausbildung durch die Kombination<br />
des Studiums und des juristischen Vorbereitungsdienstes<br />
seit langem in einer Weise beigebracht, die zugegebenermaßen<br />
aufwendig, aber in ihrem Ergebnis auch im<br />
internationalen Vergleich optimal ist. Wie erwähnt muss auch<br />
im Bereich der Rechtsberatung die etwaige Behandlung in<br />
den formellen staatlichen Verfahren komplett antizipiert<br />
werden können, wenn die Beratung sachgemäß erfolgen soll.<br />
Die universelle Einsetzbarkeit des deutschen Volljuristen auf<br />
allen sozialen Gebieten ist gerade bei dem heutigen permanenten<br />
sozialen Wandel und der beruflichen Mobilität noch<br />
weitaus wichtiger geworden als früher und international allgemein<br />
anerkannt. Speziell im Strafrecht wäre es unverantwortlich,<br />
einen juristischen „Bachelor“ als unterqualifizierten<br />
Verteidiger gegenüber einer höher qualifizierten Justiz auftreten<br />
zu lassen. Auch für sonstige Ausbildungsgänge an Fachhochschulen<br />
ist deshalb im Bereich der Strafjustiz kein vernünftiges<br />
Berufsfeld zu erkennen, abgesehen natürlich vom<br />
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Bernd Schünemann<br />
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Bereich der sozialen Arbeit (Bewährungshelfer etc.), der aber<br />
noch niemals für Juristen reserviert worden war.<br />
c) Die juristische Ausbildung ist in den letzten Jahrzehnten<br />
vielfach verändert worden. Die permanente Veränderung<br />
ist aber nicht etwa ein Wert an sich, sondern beeinträchtigt<br />
die Herausbildung bewährter Strukturen, die wie alles menschliche<br />
Handeln wesentlich auch auf Erfahrung beruhen, und<br />
untergräbt sich dadurch selbst. Eine durchgreifende Verbesserung<br />
der Ausbildungsbedingungen dürfte nur durch eine<br />
Verringerung der Studierendenzahl zu erreichen sein, indem<br />
das Jurastudium nicht weiterhin, wie schon erwähnt, als<br />
Sammelbecken für Verlegenheitsentscheidungen bei der<br />
Studienwahl und nicht ausreichend qualifizierte Studenten<br />
missbraucht wird.<br />
14. Zur Funktion der juristischen Promotion und den von ihr<br />
an die Beteiligten gestellten Anforderungen<br />
Nicht nur wegen der spektakulären Fälle der jüngsten Zeit ist<br />
festzustellen, dass die juristische Promotion zu einer karrierenützlichen<br />
Äußerlichkeit zu degenerieren droht. Ihre legitime<br />
Funktion besteht dagegen zunächst einmal für die<br />
Rechtswissenschaft darin, durch eine ausreichende Zahl von<br />
Monographien zu kompakten Themen die Vielfalt der sonstigen<br />
juristischen Publikationen und der riesigen Zahl von<br />
Gerichtsentscheidungen zu ordnen und dadurch die wissenschaftliche<br />
Diskussion zu kanalisieren, quasi immer wieder<br />
die vielfältigen Rinnsale in einem Sammelbecken zu fassen<br />
und dann auf dieser Basis auch zu weiterführenden Urteilen<br />
zu kommen. Gleichzeitig stellt die Gruppe der Promovierenden<br />
das Reservoir dar, aus dem dann je nach dem Ergebnis<br />
dieser Arbeiten der akademische Nachwuchs rekrutiert werden<br />
kann. Es muss aber dafür gesorgt werden, dass die Zahl<br />
nicht inflationiert, indem zu viele ungeeignete Kandidaten in<br />
die Promotion hineinkommen und die betreuenden akademischen<br />
Lehrer dann weder ihre Betreuungsaufgabe noch ihre<br />
Kontrollaufgabe mit der notwendigen Gründlichkeit wahrnehmen<br />
können. Dies kann durch organisatorische Maßnahmen<br />
sichergestellt werden, indem die Mindestnoten heraufgesetzt<br />
werden, für Ausnahmeregelungen enge Voraussetzungen<br />
sowohl inhaltlicher als auch prozedualer Art gelten und<br />
die Betreuung bei einer Dissertation als eine intensive berufliche<br />
Leistung auf die Lehrbelastung angerechnet wird.<br />
15. Zu möglichen Differenzierungen zwischen dem wissenschaftlichen<br />
Nachwuchs im engeren Sinne und Promovierenden,<br />
die eine berufliche Laufbahn außerhalb der Wissenschaft<br />
anstreben<br />
Es wäre falsch, nur diejenigen Kandidaten zur Promotion<br />
zuzulassen, die eine akademische Laufbahn anstreben, vielmehr<br />
muss hier (wie schon erwähnt) auf ein entsprechend<br />
größeres Reservoir geachtet werden. Dadurch wird zugleich<br />
auch erreicht, dass sich in den beruflichen Laufbahnen der<br />
Praxis genügend Mitglieder finden, die selbst intensiv wissenschaftlich<br />
gearbeitet haben und dadurch die sonst auf allen<br />
Ebenen (namentlich auch in der Justiz selbst) drohende Orientierung<br />
an reinen Praktikabilitätserwägungen in Frage<br />
stellen können.<br />
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308<br />
<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />
16. Habilitation und Juniorprofessuren als Karrierewege und<br />
mögliche Tenure track-Optionen<br />
Wie oben schon dargelegt, besitzt die Habilitation in der<br />
Rechtswissenschaft allgemein und speziell auch in der Strafrechtswissenschaft<br />
nach wie vor eine zentrale Bedeutung. Die<br />
Einrichtung von Juniorprofessuren ist ein durch und durch<br />
falscher Weg, weil dadurch der wissenschaftliche Nachwuchs<br />
zu früh in der Lehre quasi „verheizt“ wird. Im Strafrecht gibt<br />
es auch nur ganz wenige Juniorprofessuren, weil sich hier<br />
allgemein die Auffassung durchgesetzt hat, dass es verfehlt<br />
ist, den Nachwuchs von einer reifen und Rundum-Erfahrung<br />
in den für ihn wichtigen Wissenschaftsbereichen dadurch<br />
auszuschließen, dass er zu früh eine unzumutbar umfangreiche<br />
Lehraufgabe übernehmen muss. Die bisherige Tradition<br />
der akademischen Karriere, die von der Habilitation über eine<br />
gewisse Zeit als Lehrstuhlvertreter, sodann Extraordinarius<br />
und schließlich Ordinarius geführt hat, hatte sich uneingeschränkt<br />
bewährt, wobei, um es zu wiederholen, der Phase<br />
der Habilitation für das weltweit anerkannte, herausragende<br />
Niveau der deutschen Strafrechtswissenschaft eine Schlüsselstellung<br />
zukam und weiterhin zukommt. Tenure Track-<br />
Optionen stellen den falschen Weg dar, um diesen vom dogmatischen<br />
Paradigma eigentlich inhaltlich vorgegebenen<br />
Karriereweg vordergründig zu modernisieren. Sie funktionieren<br />
auch in der Praxis schon deshalb nicht, weil eine wissenschaftliche<br />
Karriere in einem späten Zeitpunkt überhaupt<br />
nicht mehr abgebrochen werden kann, so dass die Auswahl<br />
möglichst frühzeitig (eben bei der Habilitation) zu erfolgen<br />
hat, während spätere Berufungen erst auf Zeit unter angeblich<br />
dann erneuter Prüfung der Qualität das angemessene Verhältnis<br />
geradezu auf den Kopf stellen.<br />
17. Chancen und Fördermöglichkeiten des weiblichen Nachwuchses<br />
Im Strafrecht findet man, wie in vielen Bereichen der Rechtswissenschaft,<br />
für den weiblichen Nachwuchs eine Art Pyramidenstruktur,<br />
d.h. unter den Ordinarien gibt es nur wenige<br />
weibliche Vertreter, bei den Extraordinarien, den Privatdozenten<br />
und erst recht den Habilitanden und noch mehr den<br />
Doktoranden nimmt die Zahl entsprechend zu. Die Zunahme<br />
weiblicher Vertreter auf den höheren Positionen ist dementsprechend<br />
nur eine Frage der Zeit und läuft gegenwärtig auch<br />
bereits ab. Die Hemmungen, die im Hinblick auf eine völlige<br />
Parität weiterhin bestehen, sind außerhalb des strafrechtlichen<br />
Wissenschaftsbetriebes angesiedelt und können deshalb von<br />
diesem weder beseitigt noch verstärkt werden.<br />
18. Auswirkungen der Umstellung auf die W-Besoldung<br />
Die Umstellung auf die W-Besoldung hat die Karriere eines<br />
Universitätsprofessors deutlich unattraktiver gemacht. Namentlich<br />
hervorragende Absolventen, denen Traumangebote<br />
international operierender Großkanzleien gemacht werden,<br />
müssen schon eine erhebliche Entsagungsbereitschaft und<br />
Liebe zur Wissenschaft aufweisen, damit sie den Professorenberuf<br />
weiterhin anstreben wollen. In der Vergangenheit<br />
hatte sich die C-Besoldung bewährt, so dass ihre Ersetzung<br />
aus der Sicht der Strafrechtswissenschaft unverständlich war.
Standpunkte der deutschen Strafrechtslehrer zu den Zukunftsperspektiven der Rechtswissenschaft<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Noch während der Habilitation ist immer wieder zu beobachten,<br />
dass gerade hervorragende Kandidaten durch verlockende<br />
Angebote aus der Rechtsanwaltschaft „abgeworben“ werden<br />
können. Die enormen Spielräume, die der Universitätspräsident<br />
bei der Erstberufung von Professoren besitzt, sind<br />
erst recht geeignet, wegen der daraus resultierenden Unsicherheit<br />
den Nachwuchs von der Universitätskarriere abzuhalten.<br />
19. Die Bedeutung der Internationalisierung und Europäisierung<br />
der Rechtswissenschaft und ihr Verhältnis zur Globalisierung<br />
und Entstaatlichung des Rechts<br />
a) Die These von der Globalisierung des Rechts setzt eine<br />
bestimmte Interpretation der damit angedeuteten Entwicklungen<br />
voraus, die hier nicht näher diskutiert werden kann. Dasselbe<br />
gilt für die These der Entstaatlichung, die eher einen<br />
sektoralen Vorgang und Phänomene der „Post-Demokratie“<br />
betrifft.<br />
b) Unbestreitbar als solche ist die Europäisierung des<br />
Rechts, deren Erfassung auf allen Ebenen der Rechtswissenschaft<br />
(beileibe nicht nur der Dogmatik), namentlich der<br />
Rechtstheorie und der Rechtssoziologie, enorme Forschungsaufgaben<br />
stellt, weil die Kulturbezogenheit und Sprachgebundenheit<br />
des Rechts in einer vielsprachigen Gemeinschaft<br />
Geltungs- und Anwendungsprobleme bereitet, die durch die<br />
bloße Übersetzung eines Normtextes von der einen Sprache<br />
in die andere auch nicht annäherungsweise gelöst werden.<br />
Die deutschen Strafrechtswissenschaftler haben sich dieser<br />
Aufgabe bisher auf zwei Ebenen gestellt, die Mehrzahl in<br />
einer deskriptiv-neopositivistischen und die Minderzahl in<br />
einer dezidiert kritischen Richtung. Die intensiven Kontakte<br />
der deutschen Strafrechtswissenschaftler in die anderen Mitgliedstaaten<br />
der EU haben dabei immer wieder gezeigt, dass<br />
die dortige Strafrechtswissenschaft im Wesentlichen noch um<br />
ein Verständnis der Norminhalts-Oberfläche ringt und eine<br />
kritische Analyse so gut wie unbekannt ist. Hier liegt also<br />
eine große Aufgabe der deutschen Strafrechtswissenschaft,<br />
bei deren Erfüllung jedoch abermals das Problem der Vielsprachlichkeit<br />
auf den Plan tritt. Die deutsche Kritik wird in<br />
den anderen EU-Staaten (ebenso wie in den EU-Organen)<br />
bisher kaum zur Kenntnis genommen, so dass sich die eingangs<br />
schon angesprochene Frage stellt, ob die deutsche<br />
Strafrechtsdogmatik nunmehr eine englischsprachige Gestalt<br />
entwickeln sollte, was (wie schon bemerkt) durch eine bloße<br />
lexikalische Übersetzung auch nicht ansatzweise getan wäre.<br />
Man kann deshalb ohne Übertreibung sagen, dass der Strafrechtswissenschaft<br />
heute abermals eine neue Grundaufgabe<br />
gestellt wird, etwa vergleichbar mit der Ablösung des Vergeltungsstrafrechts<br />
durch das Präventionsstrafrecht, des Inquisitionsverfahrens<br />
durch den reformierten Strafprozess o.Ä. Und<br />
weil das Recht nicht durch einige wenige Publikationen einiger<br />
weniger Strafrechtsprofessoren, sondern letztlich wiederum<br />
nur über eine neue Juristengeneration als Transmissionsriemen<br />
für die Gesellschaft beeinflusst werden kann, liefert<br />
auch dieser Gesichtspunkt ein starkes Argument für die Notwendigkeit<br />
der Beibehaltung der gegenwärtigen Juristenausbildung<br />
innerhalb des Wissenschaftsparadigmas der Rechtsdogmatik.<br />
20. Auswirkungen auf Forschung, Lehre und Nachwuchsförderung<br />
Die Europäisierung des Strafrechts wird in der Regel im<br />
Rahmen eines entsprechenden Schwerpunktbereiches gelehrt,<br />
weil sie im Rahmen der Säulen-Ausbildung nicht mehr untergebracht<br />
werden kann. Dass die Nachwuchsförderung<br />
internationale Forschungsaufenthalte einschließt, ist inzwischen<br />
weithin erkannt und realisiert worden, sind doch heute<br />
schon Auslandssemester von Jurastudenten fast ein alltäglicher<br />
Vorgang geworden. Da die deutsche Sprache, die wegen<br />
der Sprachgebundenheit des Rechts keine bloße äußere Form<br />
ist, als lingua franca der Strafrechtswissenschaft heute auf<br />
europäischer Ebene zunehmend durch das Englische ersetzt<br />
wird, ist eine vorzügliche Beherrschung dieser Sprache durch<br />
den Nachwuchs selbstverständlich, berührt aber nicht das<br />
eigentliche wissenschaftliche Problem, das aus der Multikulturalität<br />
der in der EU aufeinander treffenden Strafrechtsordnungen<br />
und ihres weit unterschiedlichen Entwicklungsstandes<br />
resultiert. Die endgültige Lösung kann nur in der Herausbildung<br />
einer allgemeinen europäischen Strafrechtskultur<br />
bestehen, die im Bereich des Verfahrens bezüglich der Eingriffsmodalitäten<br />
und der allgemeinen Fairness (nicht aber<br />
bezüglich der Struktur) durch die Europäische Menschenrechtskonvention<br />
und die einschlägige Rechtsprechung des<br />
EGMR weitgehend geleistet wird. Schwieriger ist es im Bereich<br />
des materiellen Strafrechts, jedoch weniger wegen der<br />
unterschiedlichen Begrifflichkeiten, die auf dem Kontinent<br />
ohnehin nicht wesentlich differieren, als wegen der schon<br />
erwähnten Dominanz polizeilich-operativer Denkweise in<br />
den Organen der EU als Folge der sowohl bei der Kommission<br />
als auch und erst recht beim Rat vorherrschenden gubernativen<br />
Perspektive. Die sich hieraus ergebende Aufgabe ist<br />
von der deutschen Strafrechtswissenschaft erkannt und angenommen,<br />
aber natürlich längst noch nicht erfüllt worden. Auf<br />
jeden Fall ergibt sich hieraus für die meisten juristischen<br />
Fakultäten ein zusätzlicher Ausstattungsbedarf auf allen Ebenen.<br />
21. Zur Anschlussfähigkeit der deutschen Rechtswissenschaft<br />
an die internationale Forschung und einem etwaigen Veränderungsbedarf<br />
mit Blick auf die Forschung und/oder die<br />
Ausbildung<br />
Im Strafrecht stellt sich diese Frage unter wissenschaftstheoretischen<br />
Aspekten anders herum, nämlich inwieweit die<br />
teilweise auf einem vorwissenschaftlichen Stand verharrende<br />
Juristenkultur anderer Länder die Anschlussfähigkeit besitzt.<br />
Die erste Phase einer Weltgeltung der deutschen Strafrechtswissenschaft<br />
kann man in die Zeit Franz von Liszts legen, sie<br />
ist 1933 abrupt abgebrochen. Nach 1945 ist für Ostasien,<br />
Süd- und mit Einschränkungen Ost-Europa sowie Lateinamerika<br />
eine Wiederanknüpfung gelungen. Diese Spitzenstellung<br />
ist im materiellen Recht bisher verteidigt worden, was sich an<br />
der großen Zahl ausländischer Gastwissenschaftler, Doktoranden<br />
und (als Forschungsteil) Habilitanden an den deutschen<br />
strafrechtlichen Lehrstühlen zeigt, beispielsweise auch<br />
an der Teilnahme einer großen Zahl ausländischer Strafrechtswissenschaftler<br />
an der deutschsprachigen Strafrechtslehrertagung<br />
(letztes Jahr in Leipzig etwa über 20 Professo-<br />
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Bernd Schünemann<br />
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ren und Dozenten allein aus Japan). In dem Bereich des<br />
Common Law gibt es immer wieder einzelne Kontakte, aber<br />
noch keinen institutionalisierten Austausch. Zurückgefallen<br />
ist international die deutsche Strafprozessforschung, was<br />
eigentlich unberechtigt ist, weil die wissenschaftliche Durchdringung<br />
des Strafverfahrensrechts gerade in den letzten<br />
Jahren und Jahrzehnten in Deutschland eine Hochblüte erlebt.<br />
Grund dafür mag das im internationalen Vergleich ausgesprochen<br />
niedrig anzusiedelnde Niveau der deutschen Gesetzgebung<br />
sein, die beispielsweise bei der Einführung der<br />
strafprozessualen Absprachen selbst hinter dem Differenzierungswillen<br />
zentralamerikanischer Staaten weit zurückgeblieben<br />
ist. Ferner wirkt sich hier auch besonders das<br />
enorme Handicap aus, das die Finanzierungsstruktur internationaler<br />
Tagungen durch die deutsche akademische Strafrechtswissenschaft<br />
kennzeichnet. Weil auf Universitätsebene<br />
keine ausreichenden Mittel für derartige Veranstaltungen<br />
„mittleren Kalibers“ vorhanden sind, müssen stets umfangreiche<br />
Drittmittelförderungsanträge geschrieben werden,<br />
deren Aufwand bei ungewissem Ausgang prohibitiv wirkt.<br />
Die durchaus vorhandenen Ressourcen des Freiburger Max-<br />
Planck-Instituts können eine gewisse Abhilfe bieten, wenn<br />
sie weniger im Rahmen stratigraphischer Normtextvergleichung<br />
und mehr im Interesse der Profilierung der deutschen<br />
Strafprozessrechtswissenschaft eingesetzt würden.<br />
22. Vorbildcharakter des deutschen Rechts oder umgekehrt<br />
unzulängliche Berücksichtigung ausländischer Rechtsentwicklungen<br />
in Deutschland<br />
a) Der Vorbildcharakter des deutschen positiven Rechts, der<br />
sich im Strafrecht beispielsweise durch die weitgehende<br />
Übernahme des deutschen StGB in Japan vor einem Jahrhundert<br />
ausgeprägt hatte, besteht derzeit bei einzelnen Materien<br />
wie etwa dem deutschen Wirtschafts- und Computerstrafrecht,<br />
ist dagegen im Strafprozess letztlich wegen des Versagens<br />
des deutschen Gesetzgebers vollständig verloren gegangen.<br />
Auch bei internationalen Vertragswerken wie dem Rom-<br />
Statut oder dem UN-Übereinkommen zur Korruptionsbekämpfung<br />
hat die deutsche Gesetzgebung weder inhaltlich<br />
noch vom System her eine wesentliche Rolle zu spielen vermocht.<br />
In der weltweiten Reform des Strafverfahrens ist etwa<br />
das amerikanische Modell trotz seiner gravierenden theoretischen<br />
und praktischen Schwächen überall auf dem Vormarsch,<br />
wofür außer dem politischen Übergewicht der USA<br />
auch der zentral gesteuerte Einsatz entsprechender Beratungsmannschaften<br />
ausschlaggebend ist (nicht zu vergessen<br />
die schon erwähnten inhaltlichen Defizite der neueren deutschen<br />
Gesetzgebung). Dem stehen freilich zahlreiche individuelle<br />
Initiativen deutschen Strafrechtslehrer gegenüber, die<br />
im Ausland als Regierungsberater für die Rechtsreform im<br />
Strafrecht und im Bereich des Strafverfahrens mitwirken, in<br />
so unterschiedlichen Staaten wie Mexiko und Chile, Georgien<br />
und Kasachstan, der Mongolei und China. Die starke<br />
Diversifizierung der deutschen Entwicklungshilfe durch<br />
zahlreiche unterschiedliche Institutionen bildet aber auch hier<br />
einen starken organisatorischen Hemmschuh.<br />
b) Die Berücksichtigung ausländischer Rechtsentwicklungen<br />
erfolgt im Bereich des Strafrechts und des Strafver-<br />
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<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />
fahrens im akademischen Bereich in nachdrücklicher Weise.<br />
Im Bereich der Gesetzgebung wurden bei größeren Projekten<br />
regelmäßig Untersuchungen zur Rechtsvergleichung in Auftrag<br />
gegeben, wenngleich in neuerer Zeit überhaupt ein nachlassender<br />
Einfluss der Wissenschaft zu beobachten ist.<br />
23. Die europäische und internationale Mobilität der Forschenden<br />
und der Studierenden<br />
Diese ist in den letzten Jahren enorm angewachsen. Die große<br />
Zahl weltweit veranstalteter Tagungen zum Bereich Strafrecht,<br />
Strafverfahren und Kriminologie hat fast zu einem<br />
permanenten Wissenschaftstourismus geführt. Hinzu kommt,<br />
dass in denjenigen Ländern, die vom deutschen Strafrechtsdenken<br />
beeinflusst sind, zahlreiche Vortragsreisen deutscher<br />
Strafrechtslehrer veranstaltet werden. Auch die Mobilität der<br />
Studierenden ist durch die hier vorhandenen Austauschprogramme<br />
enorm gesteigert worden. Gegenwärtig werden an<br />
vielen Fakultäten Doppelmagister- und Doppelpromotionsmöglichkeiten<br />
geschaffen, die aber aufgrund der Natur der<br />
Sache vor allem mit denjenigen Ländern etabliert werden, die<br />
vom deutschen Strafrecht geprägt worden sind und deshalb<br />
eine große Nachfrage ausländischer Studierender nach<br />
Deutschland auslösen und befriedigen, während das umgekehrte<br />
Programm eher selten in Anspruch genommen wird.<br />
Richtigerweise wird man aber auch sagen müssen, dass die<br />
Anforderungen des deutschen rechtswissenschaftlichen Studiums<br />
so enorm sind, dass es problematisch ist, dieses Studium<br />
zusätzlich mit einer über ein Austauschsemester hinausgehenden,<br />
ernsthaften Beschäftigung mit dem ausländischen<br />
Recht zu kombinieren. Die bessere Lösung besteht deshalb<br />
zweifellos in einem an das deutsche Studium anschließenden<br />
Magisterstudium im Ausland für diejenigen, die nunmehr<br />
konkret an eine Tätigkeit im grenzüberschreitenden Bereich<br />
denken.<br />
24. Leistungen des European Law Institute<br />
Das European Law Institute stellt sich würdig in eine Reihe<br />
ähnlicher Organisationen mit wohlklingenden Namen. Über<br />
seine Leistungen lässt sich bis heute nichts sagen, weil es<br />
noch keine gibt. Da die zugelassenen Sprachen Englisch und<br />
Französisch sind, die oben angesprochene Entwicklung einer<br />
genuin englischen Fassung der deutschen Strafrechtswissenschaft<br />
aber bis heute nicht existiert und die bloß lexikalische<br />
Übertragung das nicht leisten kann, ist es absehbar, dass in<br />
diesem Institut englisches und französisches Rechtsdenken<br />
dominieren wird, so wie überhaupt in der bisherigen Rechtsetzung<br />
der Europäischen Union. Natürlich lässt sich fragen,<br />
ob das Insistieren auf einer wichtigen Rolle der deutschen<br />
Rechtskultur auf der Ebene der EU Ausdruck eines reaktionären<br />
Nationalismus wäre, auch wenn diese Frage in Großbritannien<br />
oder Frankreich gewöhnlich nicht in analoger Weise<br />
gestellt wird. Jedenfalls im Strafrecht bedeutet der Verlust an<br />
deutscher strafrechtswissenschaftlicher Kultur aber einen Verlust<br />
an kritischer Analyse und damit einen Verlust an Rechtskultur<br />
überhaupt, was in einem wahrhaften Raum „der Freiheit<br />
und des Rechts“ zu einem rechtsstaatlichen Debakel<br />
führen kann. Zu verweisen ist auf die obige Bemerkung, dass<br />
in den meisten Staaten der EU die in den letzten Jahren von
Standpunkte der deutschen Strafrechtslehrer zu den Zukunftsperspektiven der Rechtswissenschaft<br />
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der deutschen Strafrechtswissenschaft entwickelte kritischanalytische<br />
Linie zur Brüsseler Rechtsetzung unbekannt,<br />
geschweige denn selbst erwogen worden ist. Dass sich hieran<br />
durch das European Law Institute etwas ändern wird, ist<br />
jedenfalls derzeit nicht erkennbar.<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
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Tagungsbericht: Sitzung des Arbeitskreises Völkerstrafrecht am 4. und 5.5.2012 in<br />
Nürnberg<br />
Von Dr. Lars Berster, Köln<br />
Anfang Mai 2012 fanden sich die im Arbeitskreis Völkerstrafrecht<br />
1 vereinigten deutschsprachigen Völkerstrafrechtler<br />
aus Wissenschaft und Praxis der Anregung Christoph Safferlings<br />
folgend zu ihrer achten Jahrestagung in Nürnberg zusammen.<br />
Der Unterstützung des Oberlandesgerichts und der<br />
Stadt Nürnberg ist es zu danken, dass die Tagung im Sitzungssaal<br />
600 im Nürnberger Justizgebäude und somit an<br />
jener Stätte stattfinden konnte, die als Ort des Nürnberger<br />
Hauptkriegsverbrecherprozesses und der Nachfolgeverfahren<br />
wie keine zweite die Geburtsstunde des Völkerstrafrechts<br />
symbolisiert. Und so mag über brillante Referate, engagierte<br />
Debattenbeiträge und die gewandte Moderation durch Claus<br />
Kreß hinaus auch die geschichtsträchtige Kulisse einen Beitrag<br />
dazu geleistet haben, dass auch von der diesjährigen<br />
Zusammenkunft wieder vernehmliche Impulse ausgegangen<br />
sein dürften.<br />
Nach der freundlichen Begrüßung durch den Präsidenten<br />
des Oberlandesgerichts Nürnberg Peter Küspert führte der<br />
Sprecher des Kuratoriums Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände,<br />
Bundesminister a.D. Dr. Oscar Schneider<br />
ins Thema ein, indem er die Bedeutung des Ortes und Erbes<br />
Nürnbergs für das Völkerstrafrecht unterstrich. Diesen Faden<br />
nahmen Anne Rübesame und Christoph Safferling im unmittelbaren<br />
Anschluss wieder auf und berichteten vom Gründungsprozess<br />
der „Internationalen Akademie Nürnberger Prinzipien“<br />
(IANP), die durch interdisziplinäre Forschung und<br />
zielgruppenspezifisches Training zu völkerstrafrechtlichen<br />
und menschenrechtlichen Themen zur Friedenssicherung mit<br />
rechtlichen Mitteln beitragen soll. 2 Der Forderung nach Interdisziplinarität<br />
trug sogleich der nachfolgende Beitrag<br />
Rechnung, in welchem der Ordinarius für Neuere Geschichte<br />
der Universität Potsdam, Manfred Görtemaker, eine historische<br />
Analyse von Hintergrund und Bedeutung der Nürnberger<br />
Prozesse beisteuerte. Den Höhepunkt des Tages leitete<br />
sodann Gerhard Werle ein, indem er mit Blick auf die anstehende<br />
„Kenia-Entscheidung“ des IStGH seine gemeinsam<br />
mit Boris Burghardt in mustergültiger Klarheit entwickelten<br />
Thesen 3 zur Auslegung des Organisationsbegriffs im Kontextmerkmal<br />
der Menschlichkeitsverbrechen gemäß Art. 7<br />
Abs. 1 und 2 lit. a IStGH-Statut zur Diskussion stellte. Den<br />
Wesensgehalt des Kernverbrechens und die künftige Rolle<br />
des IStGH unmittelbar berührend 4 löste diese Frage sogleich<br />
eine facettenreiche und leidenschaftliche Debatte aus, wobei<br />
Methodenaspekte ebenso zur Sprache kamen wie das Spannungsverhältnis<br />
zwischen humanitärem Schutzbedürfnis<br />
einerseits und den Gefahren der Überdehnung und des<br />
1<br />
Im Internet abrufbar unter<br />
http://www.uni-koeln.de/jur-fak/kress/index_akvoe.html<br />
(3.6.2012).<br />
2<br />
Vgl. http://www.museen.nuernberg.de/akademie/index.html<br />
(3.6.2012).<br />
3<br />
Vgl. hierzu Werle/Burghardt, <strong>ZIS</strong> 2012, 271.<br />
4<br />
Chaitidou, <strong>ZIS</strong> 2010, 726 (734).<br />
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<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />
Akzeptanzverlusts des Völkerstrafrechts andererseits. Anschließend<br />
fand nach einer Führung durch das Memorium<br />
Nürnberger Prozesse der erste Teil der Tagung bei einem<br />
geselligen Abendessen mit fränkischen Spezialitäten auch in<br />
kulinarischer Hinsicht einen würdigen Ausklang.<br />
Den Folgetag eröffnete der leitende Direktor der Museen<br />
der Stadt Nürnberg Matthias Henkel mit einem Grußwort, in<br />
welchem er die Einzigartigkeit der Ambivalenz Nürnbergs als<br />
Stützpunkt von Diktatur und Nukleus des Völkerstrafrechts<br />
hervorhob. Dergestalt eingestimmt wandte sich der Arbeitskreis<br />
sodann den aktuellen Entwicklungen des Völkerstrafrechts<br />
zu und erhielt dank des überaus pointierten und konzisen<br />
Referats Eleni Chaitidous einen Überblick über den aktuellen<br />
Stand der IStGH-Rechtsprechung. Im Anschluss ging<br />
Philipp Ambach auf die Praxis der Opferentschädigung beim<br />
IStGH ein und rief nachhaltig die zahlreichen noch ungelösten<br />
Fragen dieser Materie ins Bewusstsein. Es folgten die<br />
erhellenden Ausführungen Volker Nerlichs zur aktuellen<br />
Problematik von IStGH-Zeugen, die in den Niederlanden<br />
Asyl begehren, gefolgt von lebhaften Stellungnahmen der<br />
deutschen Bundesanwaltschaft und ihren Schweizer Kollegen<br />
zu der in beiden Ländern geübten Zeugenpraxis.<br />
Weiter ging es mit einem hochinteressanten Vortrag von<br />
Thomas Rauter und Kirsten Schmalenbach zur Methodenvielfalt<br />
und Methodenferne der gerichtlichen Feststellung<br />
völkergewohnheitsrechtlicher Strafnormen, gestützt auf die<br />
systematische Durchdringung des Gesamtbestandes der internationalen<br />
Strafrechtsprechung. Die anschließende Diskussion,<br />
die sich zwischen dem Bedürfnis nach Methodenstrenge<br />
und der Notwendigkeit gerichtlicher Rechtsfortbildung hin<br />
und her bewegte, schloss mit dem salomonischen Vorschlag,<br />
eine praktische Aufwertung der allgemeinen Rechtsgrundsätze<br />
zu erwägen.<br />
Anschließend referierte Jan Nemitz zum „Residual Mechanism“<br />
der ad hoc-Tribunale und den hiermit verbundenen<br />
Herausforderungen, gefolgt von einem bemerkenswerten<br />
Avant-Propos Simon Meisenbergs zu der mit Spannung erwarteten<br />
schriftlichen Begründung des am 26.4.2012 vom<br />
Sierra Leone-Tribunal gegen Charles Taylor ergangenen<br />
Urteils. Den abschließenden Tagungsbeitrag lieferte Franziska<br />
Eckelmans mit ihrem Überblick über die Entwicklung der<br />
Tätigkeit der ECCC in den letzten Jahren. Eindringlich zeigte<br />
sie dabei die Herausforderungen auf, die sich angesichts der<br />
Verschmelzung internationaler und nationaler Strukturen bei<br />
einem hybriden Tribunal ergeben.<br />
Resümierend darf festgehalten werden, dass der Arbeitskreis<br />
mit der diesjährigen Rückkehr zu den geographischen<br />
Wurzeln des Völkerstrafrechts der Experimentalphase endgültig<br />
entwachsen und zu einem gewichtigen Forum des<br />
Austausches gereift ist. Die wiederum gestiegene Teilnehmerzahl<br />
von über 80 Mitgliedern legt hiervon beredtes Zeugnis<br />
ab.