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Inhalt AUFSÄTZE BUCHREZENSIONEN VARIA ... - ZIS

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<strong>Inhalt</strong><br />

<strong>AUFSÄTZE</strong><br />

Strafrecht<br />

Alternative Kausalität und notwendige Bedingung<br />

Zu der neuen logischen Konzeption der Mehrfachkausalität<br />

von Kindhäuser<br />

Von Prof. Dr. Ingeborg Puppe, Bonn 267<br />

Völkerstrafrecht<br />

Erfordern Menschlichkeitsverbrechen die Beteiligung eines<br />

Staates oder einer „staatsähnlichen“ Organisation?<br />

Von Prof. Dr. Gerhard Werle, Dr. Boris Burghardt, Berlin 271<br />

Europäisches Strafrecht<br />

Das deutsche Inzestverbot vor den Schranken des EGMR<br />

Die Entscheidung und ihre Folgen für die<br />

strafrechtswissenschaftliche Debatte<br />

Von Wiss. Assistent Dr. Michael Kubiciel, Regensburg 282<br />

<strong>BUCHREZENSIONEN</strong><br />

<strong>VARIA</strong><br />

Strafrecht<br />

Sebastian Wollschläger, Der Täterkreis des § 299 Abs. 1<br />

StGB und Umsatzprämien im Stufenwettbewerb, 2009<br />

(Rechtsanwalt Harald Wostry, Essen) 290<br />

Europäisches Strafrecht<br />

Markus Mavany, Die Europäische Beweisanordnung und<br />

das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, 2012<br />

(Referendar Patrick M. Pintaske, Dresden) 292<br />

Betäubungsmittelstrafrecht<br />

Klaus Weber, BtMG, Betäubungsmittelgesetz, Kommentar,<br />

3. Aufl. 2009<br />

(Wiss. Assistentin Dr. Nina Nestler, Würzburg) 295<br />

Internationales Strafrecht<br />

Kai Ambos, Internationales Strafrecht, 3. Aufl. 2012<br />

(RiLG Dr. Helmut Kreicker, Karlsruhe 296<br />

Strafrecht<br />

Standpunkte der deutschen Strafrechtslehrer zu den<br />

Zukunftsperspektiven der Rechtswissenschaft und der<br />

akademischen juristischen Ausbildung in Deutschland<br />

Von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Bernd Schünemann, München 302<br />

TAGUNGSBERICHTE<br />

Völkerstrafrecht<br />

Tagungsbericht: Sitzung des Arbeitskreises Völkerstrafrecht<br />

am 4. und 5.5.2012 in Nürnberg<br />

Von Dr. Lars Berster, Köln 312


Alternative Kausalität und notwendige Bedingung<br />

Zu der neuen logischen Konzeption der Mehrfachkausalität von Kindhäuser*<br />

Von Prof. Dr. Ingeborg Puppe, Bonn<br />

Der Bestimmung einer Einzelursache als notwendige Bedingung<br />

eines Erfolges (conditio sine qua non) wird seit jeher<br />

entgegengehalten, dass sie in den Fällen der sog. alternativen<br />

Kausalität, also bei Vorhandensein mehrerer wahrer<br />

Kausalerklärungen eines Erfolges, versagt. 1 Auch die sog.<br />

Alternativenformel, die diesen Mangel beheben soll, ist auf<br />

logische und methodische Kritik gestoßen, 2 vor allem weil<br />

man nicht weiß, wann man die Formel von der notwendigen<br />

Bedingung anwenden soll und wann die mit ihr im Widerspruch<br />

stehende Alternativenformel. 3 In seinem neuesten<br />

Beitrag „Zurechnung bei alternativer Kausalität“ zu diesem<br />

Problem verteidigt Kindhäuser die Conditio sine qua non-<br />

Formel gegen diese Kritik, indem er es unternimmt, ein logisches<br />

Verfahren zu entwickeln, mit dem man allein mit Hilfe<br />

dieser Formel, ohne jede Zusatzformel, zu dem Ergebnis<br />

kommt, dass alle konkurrierenden Teilbedingungen Ursachen<br />

sind. Es ist zu erwarten, dass dies in der wissenschaftlichen<br />

Diskussion viel Beifall finden wird. Denn nachdem es Anfang<br />

der neunziger Jahre den Anschein hatte, dass die Conditio<br />

sine qua non-Formel an den logischen Mängeln scheitern<br />

werde, die man ihr seit Engischs berühmter Abhandlung 4<br />

entgegenhielt, erfreut sie sich heute, vor allem um ihrer Bequemlichkeit<br />

in der praktischen Anwendung willen, wieder<br />

* Kindhäuser, GA 2012, 134. Es handelt sich um den Festvortrag,<br />

den Herr Kindhäuser am 6.5.2011 aus Anlass der<br />

Übergabe meiner Festschrift in Bonn gehalten hat. Es hätte<br />

also nahe gelegen, auch diese Entgegnung in GA zu veröffentlichen,<br />

aber das GA veröffentlicht grundsätzlich keine<br />

Repliken.<br />

1<br />

Statt vieler Kühl, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl.<br />

2008, § 4 Rn. 9; Wessels/Beulke, Strafrecht, Allgemeiner<br />

Teil, 41. Aufl. 2011, Rn. 157; Kindhäuser, Strafrecht, Allgemeiner<br />

Teil, 5. Aufl. 2011, § 10 Rn. 34; Weber, in:<br />

Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 11. Aufl.<br />

2003, § 14 Rn. 41; Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1,<br />

4. Aufl. 2006, § 11 Rn. 13.<br />

2<br />

Puppe, GA 2010, 551 (553 f.); dies., in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen<br />

(Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch,<br />

Bd. 1, 3. Aufl. 2010, Vor § 13 Rn. 93; dies., ZStW 92 (1980),<br />

863 (878); Neumann, GA 2008, 463 (464); Jescheck/Weigend,<br />

Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 28 II. 4.;<br />

Roxin (Fn. 1), § 11 Rn. 13; Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder,<br />

Strafgesetzbuch, Kommentar, 28. Aufl. 2010,<br />

Vor § 13 Rn. 74, 82; Freund, in: Joecks/Miebach (Hrsg.),<br />

Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, 2. Aufl.<br />

2011,Vor § 13 Rn. 338 ff.<br />

3<br />

Puppe, GA 2010, 551 (553 f.); dies. (Fn. 2), Vor § 13<br />

Rn. 93; dies., ZStW 92 (1980), 863 (878); Neumann, GA<br />

2008, 463 (464); Jescheck/Weigend (Fn. 2), § 28 II. 4.; Roxin<br />

(Fn. 1), § 11 Rn. 13; Lenckner/Eisele (Fn. 2), Vor § 13 Rn.<br />

74, 82; Freund (Fn. 2), Vor § 13 Rn. 311 ff.<br />

4<br />

Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen<br />

Tatbestände, 1931, S. 15 ff.<br />

großer Anerkennung und Wertschätzung. 5 Umso wichtiger<br />

erscheint es, Kindhäusers neuen Versuch der Rehabilitation<br />

der Conditio sine qua non-Formel als ausschließliche Methode,<br />

eine Einzelursache begrifflich zu bestimmen und praktisch<br />

zu ermitteln, auf den logischen Prüfstand zu stellen.<br />

I. Kindhäusers logische Widerlegung der These, dass bei<br />

alternativer Kausalität mehrere hinreichende Erfolgsbedingungen<br />

bestehen<br />

Die Lehre von der hinreichenden Mindestbedingung löst das<br />

logische Problem der Mehrfachkausalität dadurch, dass sie<br />

die verschiedenen konkurrierenden Ursachen in verschiedene<br />

hinreichende Bedingungen einstellt, in denen sie dann als<br />

notwendige Teilbedingungen erscheinen, d.h. als notwendig<br />

dafür, dass die Bedingung hinreichend ist. 6 Kindhäuser verwirft<br />

diese Lösung mit der Begründung, dass aus logischen<br />

Gründen nicht gleichzeitig mehrere hinreichende Bedingungen<br />

für ein und denselben Erfolg instanziiert sein können.<br />

Diese These ist grundlegend neu. 7 Kindhäuser begründet sie<br />

5<br />

Toepel, Kausalität und Pflichtwidrigkeitszusammenhang<br />

beim fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1992, S. 93; Schaal, Strafrechtliche<br />

Verantwortlichkeit bei Gremienentscheidungen in<br />

Unternehmen, 2001, S. 91; Samson, in: Rogall/Puppe/Stein<br />

(Hrsg.), Festschrift für Hans-Joachim Rudolphi zum 70. Geburtstag,<br />

2004, S. 257 (S. 262 f.); Greco, <strong>ZIS</strong> 2011, 674 (685);<br />

Walter, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.),<br />

Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 1, 12. Aufl.<br />

2007, Vor § 13 Rn. 74; Frisch, in: Dölling (Hrsg.), Festschrift<br />

für Karl Heinz Gössel zum 70. Geburtstag am 16.<br />

Oktober 2002, 2002, S. 51 (S. 67 f.); ders., in: Böse/Bloy/<br />

Hillenkamp/Momsen/Rackow (Hrsg.), Gerechte Strafe und<br />

legitimes Strafrecht, Festschrift für Manfred Maiwald zum<br />

75. Geburtstag, 2010, S. 239 (S. 253 ff.); Jäger, in: Böse/<br />

Bloy/Hillenkamp/Momsen/Rackow (a.a.O.), S. 345; Bung,<br />

Wissen und Wollen im Strafrecht, 2009, S. 82 ff. Zur Bequemlichkeit<br />

der Conditio sine qua non-Formel als nur<br />

scheinbarer Vorzug Puppe, GA 2010, 551 (569 f.).<br />

6<br />

Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (875 ff.) = dies., Strafrechtsdogmatische<br />

Analysen, 2006, S. 114; dies. (Fn. 2), Vor § 13<br />

Rn. 103, 108; Sofos, Mehrfachkausalität beim Tun und Unterlassen,<br />

1999, S. 110 ff.; Honoré, Responsibility and Fault,<br />

1999, S. 109 ff.; Wright, California Law Review 75 (1985),<br />

1735 (1792 f.); ders., in: Goldberg (Hrsg.), Perspectives on<br />

Causation, 2011, S. 285 (S. 292).<br />

7<br />

Kindhäuser, GA 2012, 134 (139 ff.). Nicht so neu ist freilich<br />

die These, dass es aus tatsächlichen Gründen unmöglich<br />

sei, dass mehrere hinreichende Bedingungen vollständig<br />

erfüllt sind, so zuletzt Rotsch, in: Heinrich u.a. (Hrsg.), Strafrecht<br />

als Scientia Universalis, Festschrift für Claus Roxin<br />

zum 80. Geburtstag am 15. Mai 2011, Bd. 1, 2011, S. 337<br />

(S. 382 ff.) im Anschluss an Samson, Strafrecht, Bd. 1, 3.<br />

Aufl. 1980 7. Aufl. 1988, S. 22 und Walter (Fn. 5), Vor § 13<br />

Rn. 77. Er erläutert das anhand des Standardfalles der doppel-<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

267


Ingeborg Puppe<br />

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mit einer logischen Formel, die er als „Symmetrie“ bezeichnet<br />

und die in der Aussagenlogik Kontraposition genannt<br />

wird. Sie besagt: Wenn eine Tatsache oder ein Komplex von<br />

Tatsachen hinreichende Bedingung für einen Erfolg E ist, so<br />

ist E notwendige Bedingung für diesen Komplex von Tatsachen.<br />

Etwas gewöhnungsbedürftig ist es, dass wir bei der<br />

Anwendung dieser Formel auf die kausale Erklärung als<br />

hinreichende Bedingung ein späteres Ereignis als notwendige<br />

Bedingung für einen Komplex von früheren Ereignissen<br />

bezeichnen. Logisch ist das aber völlig korrekt, denn logische<br />

Bedingungsbeziehungen haben keine zeitliche Richtung. Sie<br />

bezeichnen nur Abhängigkeiten der Wahrheit eines Satzes<br />

von der eines anderen. Kindhäuser wendet nun die Kontraposition<br />

auf das Beispiel der doppelten Giftdosis wie folgt an:<br />

„Auf das Beispiel mit zwei Tätern bezogen, besagt die<br />

Symmetrie, dass die folgenden beiden Sätze wahr sein müssen,<br />

wenn es zwei unabhängig voneinander bestehende hinreichende<br />

Bedingungen für den Tod des O geben soll: (1)<br />

Wenn die Vergiftung durch A ceteris paribus hinreicht, um O<br />

zu töten, dann hat A den O nur vergiftet, wenn dieser unabhängig<br />

davon tot ist, ob er auch von B vergiftet wurde. Und:<br />

(2) Wenn die Vergiftung durch B ceteris paribus hinreicht,<br />

um O zu töten, dann hat B den O nur vergiftet, wenn dieser<br />

unabhängig davon tot ist, ob er auch von A vergiftet wurde.“ 8<br />

All dies ist logisch richtig. Der Tod des O ist eine notwendige<br />

Bedingung sowohl dafür, dass die Giftgabe durch A<br />

wahr ist, als auch dafür, dass die Giftgabe durch B wahr ist.<br />

Wenn O nicht tot ist, so hat er von A keine tödliche Dosis<br />

Gift erhalten und wenn O nicht tot ist, so hat er von B keine<br />

tödliche Dosis Gift erhalten. Aber nach Kindhäuser können<br />

diese beiden Sätze nicht zugleich wahr sein. Er fährt nämlich<br />

wie folgt fort: „Doch diese beiden Sätze geben die Sachlage<br />

nicht zutreffend wieder: O kann nicht unabhängig davon tot<br />

sein, ob ihn A vergiftet hat, oder nicht und zugleich unabhängig<br />

davon tot sein, ob ihn B vergiftet hat oder nicht. Träfe<br />

dies zu, dann erforderte der Tod des O weder, dass ihn A,<br />

noch dass ihn B vergiftet hat. Doch es ist gewiss, dass O noch<br />

ten Giftdosis. Der Tod des Vergifteten trete tatsächlich stets<br />

durch Teilmengen beider inkorporierter Giftgaben auf Grund<br />

nur einer hinreichenden Bedingung ein, während die überschießenden<br />

Giftmoleküle aus beiden Giftgaben nicht mehr<br />

zur Wirkung kommen, weil das Opfer vorher stirbt. Das mag<br />

z.B. bei einem Gift, das die Magenwand verätzt und so zum<br />

inneren Verbluten führt so sein. Aber das Argument erledigt<br />

nicht alle Fälle überbedingter Kausalverläufe. Wirkt das Gift<br />

erst später, etwa im Darm oder im Blut, so sind alle Moleküle<br />

beider Gifte schon zur Stelle, wenn die Wirkung beginnt.<br />

Und andere Fälle der Überbedingung, z.B. die illegale Hinrichtung<br />

durch zwölf Schützen, das Gremienproblem oder ein<br />

Unfall, der durch den Fehler jedes Beteiligten allein hinreichend<br />

bedingt ist (vgl. BGHSt 11, 1; BGH VRS 25, 262),<br />

lassen sich erst recht nicht durch eine Feinanalyse des Kausalprozesses<br />

erledigen. Hinzu kommt, dass die Formel von<br />

der notwendigen Bedingung für eine solche Feinanalyse gar<br />

keinen Raum lässt, auch nicht ex post, vgl. Puppe (Fn. 2),<br />

Vor § 13 Rn. 107.<br />

8 Kindhäuser, GA 2012, 134 (139).<br />

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268<br />

<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />

leben würde, wenn ihn weder A noch B vergiftet hätten.“<br />

Und nun folgt, was Kindhäuser mit diesen letzten Sätzen<br />

beweisen wollte: „Unter Beachtung der Symmetrie von Bedingungsrelationen<br />

(Kontraposition) lässt sich also der Tod<br />

des O zum Zeitpunkt t nicht durch zwei unabhängig voneinander<br />

bestehende hinreichende Bedingungen erklären.“ 9<br />

Kindhäuser sieht ein Problem, wo keines ist. Dass O unabhängig<br />

davon tot ist, ob A ceteris paribus eine hinreichende<br />

Bedingung für seinen Tod gesetzt hat, gilt nur unter der Voraussetzung,<br />

dass B eine hinreichende Bedingung für seinen<br />

Tod gesetzt hat und dass O unabhängig davon tot ist, ob B<br />

eine hinreichende Bedingung für seinen Tod gesetzt hat, gilt<br />

nur unter der Voraussetzung, dass A eine hinreichende Bedingung<br />

für seinen Tod gesetzt hat. Damit ist vereinbar, dass<br />

der Tod des O nicht eintritt, wenn weder A noch B eine hinreichende<br />

Bedingung dafür gesetzt hat. Wir können also weiterhin<br />

von mehreren hinreichenden Bedingungen für ein und<br />

denselben Erfolg sprechen, wenn beispielsweise zwei Täter<br />

ein und demselben Opfer je eine tödliche Dosis Gift verabreicht<br />

haben, zwölf Schützen bei einer standrechtlichen Erschießung<br />

auf Kommando gleichzeitig auf das Herz des Opfers<br />

schießen, ein rechtswidriger Beschluss mit allen sechs<br />

Stimmen eines Gremiums angenommen wird, obwohl vier<br />

Stimmen für die Beschlussmehrheit ausgereicht hätten.<br />

Kindhäuser bringt nun ein zweites Argument dafür, dass<br />

es nicht mehrere hinreichende Bedingungen für ein und denselben<br />

Erfolg geben kann, das von den bisherigen Überlegungen<br />

unabhängig ist. Eine menschliche Handlung oder<br />

sonst eine Einzeltatsache ist für sich allein nie hinreichende<br />

Bedingung eines Erfolges, sondern nur in Verbindung mit<br />

anderen zahllosen Tatsachen, dem sogenannten kausalen<br />

Feld. Befinden sich im kausalen Feld mehrere Teilbedingungen,<br />

die sich gegenseitig ersetzen können, so nehmen sie sich<br />

gegenseitig, wie Kindhäuser es nennt, die „kausale Relevanz“.<br />

„Dabei kann man den Nachweis der kausalen Relevanz<br />

eines Umstandes nicht sachgemäß führen, indem man –<br />

wie Puppe – genau die Tatsache, die dem fraglichen Umstand<br />

die kausale Relevanz nimmt, aus der Kausalerklärung<br />

streicht“. 10<br />

Aber man kann das nicht nur tun, sondern muss es auch.<br />

Sind nämlich in einer hinreichenden Bedingung mehrere Teilbedingungen<br />

enthalten, die sich gegenseitig in der kausalen<br />

Erklärung ersetzen können, so würde keine von ihnen als<br />

Ursache erscheinen. Dies ist der Grund dafür, dass die hinreichende<br />

Bedingung nach allgemeinen Gesetzen eine Minimalbedingung<br />

sein muss, in der keine Teilbedingung doppelt<br />

vertreten ist. 11<br />

Wiederum unabhängig davon ist das dritte Argument, das<br />

Kindhäuser gegen die Möglichkeit mehrerer hinreichender<br />

9<br />

Kindhäuser, GA 2012, 134 (139 f.).<br />

10<br />

Kindhäuser, GA 2012, 134 (140); ähnlich Moore, Causation<br />

in Law, An Essay in Law, Morals, and Metaphysics, 2010,<br />

S. 486; Knauer, Die Kollegialentscheidung im Strafrecht,<br />

2001, S. 121; Koriath, Kausalität und objektive Zurechnung,<br />

2007, S. 110.<br />

11<br />

Puppe (Fn. 2), Vor § 13 Rn. 102 f.; dies., ZStW 92 (1980),<br />

863 (875 ff.); dies., Rechtswissenschaft 2011, 400 (430).


Alternative Kausalität und notwendige Bedingung<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Erfolgsbedingungen ins Feld führt. Verschiedene hinreichende<br />

Mindestbedingungen eines Erfolges können gemeinsame<br />

Elemente haben. Sie haben sogar stets gemeinsame Elemente,<br />

wenn man in der Kausalkette weit genug zurückgeht und sei<br />

es bis zum Urknall. Beispielsweise im Doppelgiftmordfall<br />

haben beide hinreichenden Bedingungen das gemeinsame<br />

Element, dass dem Opfer das später vergiftete Getränk bereitet<br />

wurde und dass dieses es auch getrunken hat, im Hinrichtungsfall<br />

das gemeinsame Element, dass der Offizier die<br />

standrechtliche Erschießung angeordnet und ein anderer Soldat<br />

die Gewehre geladen hat usw., im Gremienfall, dass außer<br />

dem zu prüfenden Gremiumsmitglied auch noch drei<br />

weitere für den rechtswidrigen Beschluss gestimmt haben.<br />

Würde man nun diese gemeinsamen Elemente in Verbindung<br />

mit jeweils verschiedenen anderen Elementen zu mehreren<br />

hinreichenden Erfolgsbedingungen verknüpfen, so würde<br />

man sie nach Kindhäuser „doppelt berücksichtigen“ 12 . Die<br />

doppelte Berücksichtigung einer Tatsache, die nur einmal<br />

gegeben ist, ist nicht nur ein Fehler der Strafzumessung, sondern<br />

ein logischer Fehler. Man zählt zweimal, was nur einmal<br />

vorhanden ist. Aber das gilt nur dann, wenn die Tatsachen in<br />

ein und demselben logischen Kontext, zum Beispiel in einer<br />

Rechnung, mehrfach verwertet werden, nicht wenn sie in<br />

verschiedenen logischen Kontexten verwertet werden. Die<br />

mehreren hinreichenden Erfolgsbedingungen sind aber verschiedene<br />

logische Kontexte. Diejenigen Logiker und Juristen,<br />

die das Problem der Überdetermination von Erfolgen<br />

durch die Akzeptanz mehrerer hinreichender Erfolgsbedingungen<br />

lösen, nehmen keinerlei Anstoß daran, dass diese<br />

gemeinsame Elemente haben, m.a.W. sich „überlappen“<br />

können. Sie erwähnen das allenfalls beiläufig. 13<br />

II. Kindhäusers Lösung des Problems der alternativen<br />

Kausalität mit Hilfe der Conditio sine qua non-Formel<br />

Kindhäuser will nun vor allem dartun, dass die Bestimmung<br />

der Ursache als notwendige Bedingung auch bei mehreren<br />

konkurrierenden Ursachen logisch richtig ist. Geht man von<br />

seiner These aus, dass es nur eine hinreichende Bedingung<br />

für den Erfolg geben kann, so befinden sich, sofern es mehrere<br />

konkurrierende Ursachen gibt, diese auch sämtlich in der<br />

hinreichenden Bedingung. Aber innerhalb dieser hinreichenden<br />

Bedingung ist keine von ihnen notwendig. Zur Lösung<br />

dieses logischen Problems macht Kindhäuser zwei Vorschläge,<br />

die, wie es nicht anders sein kann, logisch äquivalent<br />

sind. Der erste geht dahin, als notwendige Bedingung die<br />

alternative Verknüpfung der konkurrierenden Ursachen in die<br />

Conditio sine qua non-Formel einzusetzen. Die notwendige<br />

Bedingung für den Erfolg lautet also bei Doppelkausalität (a<br />

12<br />

Kindhäuser, GA 2012, 134 (140).<br />

13<br />

Statt vieler Broad, Mind 39 (1930), 302 (308); Wright,<br />

California Law Review 75 (1985), 1735 (1792 f.); Honoré<br />

(Fn. 6), S. 116 f., 1792 ff.; Stapleton, in: Beebee/Menzies/<br />

Hitchcock (Hrsg.), The Oxford Handbook of Causation, 2009,<br />

S. 744 (S. 747); dies., Missouri Law Review 73 (2008), 433<br />

(435 ff.); Sofos (Fn. 6), S. 160 f.; T. Rodriguez Montanés, in:<br />

Schünemann u.a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin zum<br />

70. Geburtstag am 15. Mai 2001, 2001, S. 307 (S. 313 f.).<br />

oder b). 14 Den gleichen Vorschlag hat schon Mackie gemacht,<br />

ebenfalls mit dem Ziel die Bestimmung der Ursache<br />

als notwendige Bedingung gegen den Einwand der Doppelkausalität<br />

zu verteidigen. 15<br />

Es ist im Fall von Doppelkausalität logisch richtig, dass (a<br />

oder b) eine notwendige Bedingung des Erfolges ist, denn<br />

dieser würde nicht eintreten, wenn weder a noch b wahr wäre.<br />

Es ist aber doch das Ziel, den Erfolg nicht mit einem Ausdruck<br />

„(a oder b)“ in Beziehung zu setzen, sondern sowohl<br />

mit a, als auch mit b, denn wir wollen ihn ja sowohl dem A<br />

zurechnen, der die Handlung a begangen hat, als auch dem B,<br />

der die Handlung b begangen hat. Wir müssen also die These<br />

aufstellen, dass sowohl die Handlung a, als auch die Handlung<br />

b, eine Ursache des Erfolges E ist, wenn gilt, dass (a<br />

oder b) eine notwendige Bedingung des Erfolges ist. So verfährt<br />

denn auch Kindhäuser:<br />

„Nichts hindert uns daran, die disjunktiven Teilbedingungen<br />

einer komplexen notwendigen Bedingung jeweils als<br />

Ursachen anzusehen.“ 16<br />

Aber es gibt doch etwas, was uns daran hindern sollte.<br />

Denn nach dieser Regel könnten wir jede beliebige Tatsache,<br />

insbesondere jede beliebige menschliche Handlung x, zur<br />

Ursache jedes Erfolges erklären, indem wir sie mit einer<br />

wirklichen Ursache, also einer notwendigen Bedingung a des<br />

Erfolges disjunktiv verknüpfen. Wenn nämlich a eine notwendige<br />

Bedingung des Erfolges ist, ist auch (a oder b) eine<br />

solche. Denn (a oder b) ist immer wahr, wenn a wahr ist, also<br />

logisch schwächer als a. Wenn die logisch stärkere Bedingung<br />

eine notwendige ist, dann ist es auch eine logisch<br />

schwächere. Das ist der Grund dafür, dass sich die klassische<br />

sogenannte Alternativenformel eben nicht mit der Feststellung<br />

begnügt hat, dass (a oder b) eine notwendige Bedingung<br />

des Erfolges ist, sodass a und b nicht „kumulativ“ hinweggedacht<br />

werden können, ohne dass der Erfolg entfiele. Sie hat<br />

vielmehr zusätzlich gefordert, dass weder a noch b eine notwendige<br />

Bedingung ist, dass sie also alternativ „hinweggedacht<br />

werden können ohne dass der Erfolg entfiele.“ Für die<br />

nach der Alternativenformel als Ursachen bestimmten Bedingungen<br />

gilt nicht nur, dass sie für den Erfolgseintritt nicht<br />

notwendig sein müssen, sie dürfen dafür nicht notwendig<br />

sein. Also steht die Alternativenformel im direkten Widerspruch<br />

zur Formel von der notwendigen Bedingung. 17<br />

Kindhäuser bietet nun aber noch eine zweite Formel zur<br />

Bestimmung der Ursache, die lautet: „Ursache ist ein Umstand,<br />

der allein oder in Verbindung mit bestimmten anderen<br />

Umständen ceteris paribus nicht hinweggedacht werden<br />

kann, ohne dass der Eintritt des Erfolges zum Zeitpunkt t<br />

nach Maßgabe der einschlägigen Kausalgesetze entfiele.“ 18<br />

14 Kindhäuser, GA 2012, 134 (141).<br />

15 Mackie, The Cement of the universe, 1974, S. 47. Krit. zu<br />

diesem Vorschlag Honoré (Fn. 6), S. 108; Wright, California<br />

Law Review 75 (1985), 1735 (1795); Puppe, Rechtswissenschaft<br />

2011, 400 (410).<br />

16 Kindhäuser, GA 2012, 134 (142).<br />

17 Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, 2. Aufl.<br />

2011, S. 175 ff.; vgl. auch Puppe (Fn. 2), Vor § 13 Rn. 93.<br />

18 Kindhäuser, GA 2012, 134 (142).<br />

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269


Ingeborg Puppe<br />

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Uns interessiert hier nur die zweite Alternative, eine Ursache<br />

ist ein Umstand, der in Verbindung mit bestimmten<br />

anderen Umständen nicht hinweggedacht werden kann, ohne<br />

dass der Erfolg […] nach Maßgabe der einschlägigen Kausalgesetzte<br />

entfiele. Diese Formel ist logisch äquivalent mit<br />

der soeben diskutierten. Wenn gilt (a oder b) ist eine notwendige<br />

Bedingung für E, so gilt auch (nicht a und nicht b) ist<br />

eine hinreichende Bedingung für nicht E. Das ist wiederum<br />

die Kontraposition. Aber die Behauptung, dass man auf diese<br />

Weise jede beliebige Tatsache zur Ursache jedes beliebigen<br />

Erfolges erklären kann lässt sich auch für diese logische<br />

Form der kindhäuserschen Formel direkt beweisen. Die Formel<br />

stellt ihrer Form nach eine hinreichende Bedingung für<br />

das Ausbleiben des Erfolges dar. Nun gilt für hinreichende<br />

Bedingungen: Wenn eine Bedingung für einen Erfolg hinreichend<br />

ist, so ist auch jede logisch stärkere Bedingung dafür<br />

hinreichend. Wenn also ein Komplex von Tatsachen (a und<br />

b) eine hinreichende Bedingung für E ist, so ist auch der<br />

Komplex (a und b und x) eine solche, wobei x eine beliebige<br />

Aussage ist.<br />

Kindhäuser meint, diesen Einwand mit dem Hinweis widerlegen<br />

zu können, dass die hinreichende Bedingung ja<br />

naturgesetzlich bestimmt sein muss. Der Einwand würde<br />

stechen, wenn Kindhäuser sich darauf einlassen würde, die<br />

hinreichende Bedingung als nach Kausalgesetzen gültige<br />

Minimalbedingung zu bestimmen. Das hat er aber schon<br />

dadurch abgelehnt, dass er die These aufstellt, es könne für<br />

ein und denselben Erfolg nur eine hinreichende Bedingung<br />

geben. Denn dann ist man gerade bei Mehrfachkausalität<br />

genötigt, alle Teilbedingungen, mit denen gemeinsam eine<br />

Ursache a eine hinreichende Bedingung begründet und alle<br />

Teilbedingungen, mit denen gemeinsam eine Ursache b eine<br />

hinreichende Bedingung begründet, zu einer einzigen hinreichenden<br />

Bedingung zusammenzufassen. 19 Das ist dann aber<br />

keine nach allgemeinen Gesetzen hinreichende Mindestbedingung.<br />

Die Bestimmung der Ursache als notwendige Bedingung<br />

versagt nicht nur in den Fällen der sogenannten Mehrfachkausalität,<br />

sondern auch bei der überholenden Kausalität,<br />

indem sie zu dem Ergebnis führt, dass weder die überholende,<br />

noch die überholte Bedingung eine Ursache ist. 20 Kindhäuser<br />

will diesen Einwand mit folgenden Ausführungen<br />

entkräften: „Bei sog. Reserveursachen im allgemeinen wie<br />

auch beim Sonderfall der überholenden Kausalität sind keine<br />

komplexen Bedingungen gegeben. Vielmehr besitzt allein die<br />

für die kausale Erfolgserklärung notwendige Bedingung kausale<br />

Relevanz. Ein Täter, der ein Seil durchschneidet, an dem<br />

ein abgestürzter Bergsteiger hängt hat die Ursache für dessen<br />

Tod unabhängig davon gesetzt, dass das Seil ohnehin wenig<br />

später gerissen wäre. Letzteres kann bei der Erklärung des<br />

konkreten Geschehens unberücksichtigt bleiben.“ 21<br />

19 Kindhäuser, GA 2012, 134 (141).<br />

20 Die sog. Alternativenformel versagt in diesen Fällen deshalb,<br />

weil sie zu dem Ergebnis führt, dass sowohl die überholende,<br />

als auch die überholte Bedingung eine Ursache ist.<br />

21 Kindhäuser, GA 2012, 134 (143).<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

270<br />

<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />

Das Ergebnis ist freilich richtig und kann mithilfe der<br />

Darstellung des Kausalprozesses als Kette hinreichender Mindestbedingungen<br />

begründet werden. 22 Aber mit Hilfe der<br />

Bestimmung einer Ursache als schlechthin notwendige Bedingung<br />

ist es nicht vereinbar, wenn das Seil zu dünn war,<br />

den Bergsteiger auf die Dauer zu halten. Diese Tatsache<br />

nimmt, mit den Worten Kindhäusers, der Durchtrennung des<br />

Seils die „kausale Relevanz“. Und an einer früheren Stelle<br />

sagt er ausdrücklich: „Dabei kann man den Nachweis der<br />

kausalen Relevanz eines Umstandes nicht sachgemäß führen,<br />

indem man – wie Puppe – genau die Tatsache, die dem fraglichen<br />

Umstand die kausale Relevanz nimmt aus der Kausalerklärung<br />

streicht.“ 23<br />

Solange wir also nicht bereit sind alle freizusprechen, die<br />

Bedingungen für einen Erfolgseintritt gesetzt haben, die sich<br />

gegenseitig ersetzen können, solange wir nicht bereit sind,<br />

alle Unfallbeteiligten freizusprechen, die je für sich eine so<br />

krasse Verkehrswidrigkeit begangen haben, dass sie ausreicht,<br />

auch ohne die Verkehrswidrigkeit des anderen Beteiligten<br />

den Unfall zu verursachen, 24 bleibt es dabei, dass die Conditio<br />

sine qua non-Formel die Beziehung, die wir Ursächlichkeit<br />

nennen, logisch falsch beschreibt. 25<br />

22 Puppe (Fn. 2), Vor § 13 Rn. 114; dies., ZStW 92 (1980),<br />

863 (869 ff.) = dies. (Fn. 6), S. 106 ff.<br />

23 Kindhäuser, GA 2012, 134 (140).<br />

24 Beispiele dafür aus der Rspr., in denen der Überlebende<br />

Unfallverursacher unter Anwendung der Conditio sine qua<br />

non-Formel freigesprochen worden ist, weil die Doppelkausalität<br />

nicht erkannt wurde, sind BGHST 11, 1, dazu Puppe,<br />

in: Schünemann u.a. (Fn. 13), S. 287 (S. 290 ff.); und BGH<br />

VRS 25, 262, dazu Puppe, Strafrecht, Allgemeiner Teil,<br />

Bd. 1, 2. Aufl. 2010, § 3 Rn. 13 ff.<br />

25 Puppe (Fn. 2), Vor § 13 Rn. 91.


Erfordern Menschlichkeitsverbrechen die Beteiligung eines Staates oder einer<br />

„staatsähnlichen“ Organisation?<br />

Von Prof. Dr. Gerhard Werle, Dr. Boris Burghardt, Berlin*<br />

Verbrechen gegen die Menschlichkeit setzen gem. Art. 7<br />

Abs. 2 lit. a IStGH-Statut voraus, dass der tatbestandliche<br />

Angriff auf eine Zivilbevölkerung „in Ausführung oder zur<br />

Unterstützung der Politik eines Staates oder einer Organisation“<br />

begangen wird. Umstritten ist insbesondere die Auslegung<br />

des Merkmals „Organisation“. Die Autoren vertreten<br />

die Auffassung, dass das Merkmal entsprechend der üblichen<br />

Begriffsbedeutung zu verstehen ist: Erfasst wird jeder Personenzusammenschluss<br />

mit gefestigten Strukturen. Gegen eine<br />

Auslegung, die das Merkmal auf „staatsähnliche“ Organisationen<br />

beschränkt, sprechen sowohl systematische als auch<br />

teleologische Gründe.<br />

I. Einleitung<br />

Am 23.1.2012 hat die Vorverfahrenskammer II des Internationalen<br />

Strafgerichtshofs (IStGH) zwei Entscheidungen über<br />

die Bestätigung der bislang ergangenen Anklagen in der<br />

Kenia-Situation gefällt. 1 Die Entscheidungen verdeutlichen<br />

erneut, dass zwischen den Richtern der Vorverfahrenskammer<br />

ein tiefgreifender Dissens darüber besteht, ob der IStGH<br />

Gerichtsbarkeit über diese Situation ausüben darf. Zentraler<br />

Streitpunkt ist dabei die Auslegung des sogenannten Politikelements<br />

bei den Verbrechen gegen die Menschlichkeit.<br />

Art. 7 Abs. 2 lit. a IStGH-Statut bestimmt, dass ein Angriff<br />

auf eine Zivilbevölkerung verübt werden muss „in Ausführung<br />

oder zur Unterstützung der Politik eines Staates oder<br />

einer Organisation, die einen solchen Angriff zum Ziel hat“. 2<br />

Nach Auffassung der Kammermehrheit, bestehend aus der<br />

Vorsitzenden Richterin Ekaterina Trendafilova und dem<br />

Richter Cuno Tarfusser, erfasst Art. 7 Abs. 2 lit. a IStGH-<br />

Statut jede Organisation, die in der Lage ist, einen ausgedehnten<br />

oder systematischen Angriff gegen eine Zivilbevöl-<br />

* Prof. Dr. Gerhard Werle ist Inhaber des Lehrstuhls für<br />

deutsches und internationales Strafrecht, Strafprozessrecht<br />

und Juristische Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität<br />

zu Berlin und Extraordinary Professor an der University of<br />

the Western Cape, Kapstadt. Dr. Boris Burghardt ist Wissenschaftlicher<br />

Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin.<br />

Die Autoren hatten dankenswerterweise Gelegenheit, den<br />

Text beim Treffen des Arbeitskreises Völkerstrafrecht in<br />

Nürnberg am 4./5.5.2012 vorzustellen und zu diskutieren.<br />

1<br />

IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 23.1.2012 – ICC-<br />

01/09-01/11-373 (The Prosecutor v. Ruto, Kosgey and Sang)<br />

und IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 23.1.2012 –<br />

ICC-01/09-02/11-382 (The Prosecutor v. Muthaura, Kenyatta<br />

and Ali).<br />

2<br />

Art. 7 Abs. 2 lit. a IStGH-Statut: pursuant to or in furtherance<br />

of a State or organizational policy to commit such attack/en<br />

application ou dans la poursuite de la politique d’un<br />

État ou d’une organisation ayant pour but une telle attaque/de<br />

conformidad con la política de un Estado o de una<br />

organización de cometer ese ataque o para promover esa<br />

política.<br />

kerung zu begehen. 3 Dagegen schränkt Richter Hans-Peter<br />

Kaul das Merkmal ein: Die den Angriff tragende Organisation<br />

müsse „staatsähnlich“ (state-like) sein. 4 Für die Kenia-<br />

Situation verneint er diese Voraussetzung und damit zugleich<br />

die Zuständigkeit des IStGH. 5<br />

3<br />

Vgl. IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 31.3.2010 –<br />

ICC-01/09-19 (Decision Pursuant to Article 15 of the Rome<br />

Statute on the Authorization of an Investigation into the Situation<br />

in the Republic of Kenya), para. 90. Bestätigt in IStGH<br />

(Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 8.3.2011 – ICC-01/09-<br />

01/11-1, para. 15; IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v.<br />

8.3.2011 – ICC-01/09-02/11-1, para. 16; IStGH (Pre-Trial<br />

Chamber II), Beschl. v. 23.1.2012 – ICC-01/09-01/11-373<br />

(The Prosecutor v. Ruto, Kosgey and Sang), paras. 184 f.;<br />

IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 23.1.2012 – ICC-<br />

01/09-02/11-382 (The Prosecutor v. Muthaura, Kenyatta and<br />

Ali), para. 112. Ebenso bereits IStGH (Pre-Trial Chamber I),<br />

Beschl. v. 30.9.2008 – ICC-01/04-01/07-717 (The Prosecutor<br />

v. Katanga and Chui), para. 396; IStGH (Pre-Trial Chamber<br />

II), Beschl. v. 15.6.2009 – ICC-01/05-01/08-424 (The Prosecutor<br />

v. Bemba Gombo), para. 81.<br />

4<br />

Vgl. IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 31.3.2010 –<br />

ICC-01/09-19 (Dissenting Opinion by Judge Hans-Peter Kaul<br />

to Pre-Trial Chamber II’s “Decision Pursuant to Article 15 of<br />

the Rome Statute on the Authorization of an Investigation<br />

into the Situation in the Republic of Kenya”), para. 67:<br />

„[T]he ‘organization’ must be state-like.“ Bestätigt in IStGH<br />

(Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 8.3.2011 – ICC-01/09-<br />

01/11-2 (Dissenting Opinion by Judge Hans-Peter Kaul to<br />

Pre-Trial Chamber II’s “Decision on the Prosecutor’s Application<br />

for Summons to Appear for William Samoei Ruto,<br />

Henry Kiprono Kosgey and Joshua Arap Sang”), para. 12;<br />

IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 15.3.2011 – ICC-<br />

01/09-02/11-3 (Dissenting Opinion by Judge Hans-Peter<br />

Kaul to Pre-Trial Chamber II’s “Decision on the Prosecutor’s<br />

Application for Summonses to Appear for Francis Kirimi<br />

Muthaura, Uhuru Muigai Kenyatta and Mohammed Hussein<br />

Ali”), para. 12; IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v.<br />

23.1.2012 – ICC-01/09-01/11-373 (Dissenting Opinion by<br />

Judge Hans-Peter Kaul to Pre-Trial Chamber II’s “Decision<br />

on the Confirmation of Charges Pursuant to Article 61(7)(a)<br />

and (b) of the Rome Statute”), para. 8; IStGH (Pre-Trial<br />

Chamber II), Beschl. v. 23.1.2012 – ICC-01/09-02/11-382<br />

(Dissenting Opinion by Judge Hans-Peter Kaul to Pre-Trial<br />

Chamber II’s “Decision on the Confirmation of Charges<br />

Pursuant to Article 61(7)(a) and (b) of the Rome Statute”),<br />

para. 7.<br />

5<br />

Vgl. IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 31.3.2010 –<br />

ICC-01/09-19 (Dissenting Opinion by Judge Hans-Peter Kaul<br />

to Pre-Trial Chamber II’s “Decision Pursuant to Article 15 of<br />

the Rome Statute on the Authorization of an Investigation<br />

into the Situation in the Republic of Kenya”), paras. 71 ff.,<br />

82, 93, 102, 112, 119, 127, 137, 146, 150; IStGH (Pre-Trial<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

271


Gerhard Werle/Boris Burghardt<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Der Beitrag lehnt den Versuch des Sondervotums ab, die<br />

Reichweite der Menschlichkeitsverbrechen durch eine restriktive<br />

Auslegung des Merkmals „Organisation“ zu begrenzen.<br />

Eine solche Auslegung verkürzt ohne methodisch tragfähige<br />

Begründung in bedenklicher Weise den völkerstrafrechtlichen<br />

Schutz von Zivilbevölkerungen.<br />

II. Methodische Vorüberlegungen zur Auslegung des<br />

Begriffs „Organisation“ gem. Art. 7 Abs. 2 lit. a IStGH-<br />

Statut<br />

Das IStGH-Statut bildet grundsätzlich, d.h. soweit es nicht<br />

selbst die Berücksichtigung anderer Rechtsquellen nach<br />

Art. 21 IStGH-Statut zulässt, ein geschlossenes Regelungssystem<br />

(self-contained regime). 6 Die Argumentation hat<br />

daher statutsimmanent zu erfolgen. Die Methodik zur Auslegung<br />

des Statuts ergibt sich über Art. 21 Abs. 1 lit. b IStGH-<br />

Statut aus Art. 31 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens über<br />

das Recht der Verträge (WVRÜ). 7 Ausgangspunkt der Auslegung<br />

ist danach der Wortlaut, d.h. die gewöhnliche Bedeutung<br />

(ordinary meaning). 8 Zu berücksichtigen sind zudem der<br />

Chamber II), Beschl. v. 15.3.2011 – ICC-01/09-01/11-2 (Dissenting<br />

Opinion by Judge Hans-Peter Kaul to Pre-Trial<br />

Chamber II’s “Decision on the Prosecutor’s Application for<br />

Summons to Appear for William Samoei Ruto, Henry<br />

Kiprono Kosgey and Joshua Arap Sang”), paras. 22, 32, 49<br />

f.; IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 15.3.2011 –<br />

ICC-01/09-02/11-3 (Dissenting Opinion by Judge Hans-Peter<br />

Kaul to Pre-Trial Chamber II’s “Decision on the Prosecutor’s<br />

Application for Summonses to Appear for Francis Kirimi<br />

Muthaura, Uhuru Muigai Kenyatta and Mohammed Hussein<br />

Ali”), paras. 26 ff., 32; IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl.<br />

v. 23.1.2012 – ICC-01/09-01/11-373 (Dissenting Opinion by<br />

Judge Hans-Peter Kaul to Pre-Trial Chamber II’s “Decision<br />

on the Confirmation of Charges Pursuant to Article 61(7)(a)<br />

and (b) of the Rome Statute”), paras. 12 f., 59; IStGH (Pre-<br />

Trial Chamber II), Beschl. v. 23.1.2012 – ICC-01/09-02/11-<br />

382 (Dissenting Opinion by Judge Hans-Peter Kaul to Pre-<br />

Trial Chamber II’s “Decision on the Confirmation of Charges<br />

Pursuant to Article 61(7)(a) and (b) of the Rome Statute”),<br />

paras. 15 f., 19 ff., 65.<br />

6<br />

Vgl. dazu Burghardt, in: Beck/Burchard/Fateh-Moghadam<br />

(Hrsg.), Strafrechtsvergleichung als Problem und Lösung,<br />

2011, S. 235 (S. 242); Jesse, Der Verbrechensbegriff des<br />

Römischen Statuts, 2009, S. 177 f.<br />

7<br />

Vgl. IStGH (Appeals Chamber), Urt. v. 13.7.2006 – ICC-<br />

01/04-168 (Situation in the Democratic Republic of the Congo),<br />

para. 33; IStGH (Appeals Chamber), Urt. v. 27.5.2008 –<br />

ICC-01/04-01/07-522 (The Prosecutor v. Katanga and<br />

Ngudjolo Chui), paras. 38 f.; IStGH (Appeals Chamber), Urt.<br />

v. 21.10.2008 – ICC-01/04-01/06-1486 (The Prosecutor v.<br />

Lubanga Dyilo), para. 40; IStGH (Appeals Chamber), Urt. v.<br />

19.11.2010 – ICC-01/05-01/08-1019 (The Prosecutor v.<br />

Bemba Gombo), para. 49.<br />

8<br />

Für das IStGH-Statut gelten die arabische, chinesische,<br />

englische, französische, russische und spanische Fassung als<br />

gleichermaßen autoritativ, vgl. Art. 128 IStGH-Statut. Im<br />

Folgenden werden für die Auslegung nach dem Wortlaut die<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

272<br />

<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />

systematische Zusammenhang (context) sowie Ziel und<br />

Zweck (object and purpose) der Vertragsregel und des Vertrages<br />

insgesamt. Als „ergänzende Auslegungsmittel“ (supplementary<br />

means of interpretation) können gem. Art. 32<br />

WVRÜ die travaux préparatoires und die „Umstände des<br />

Vertragsschlusses“ herangezogen werden (recourse may be<br />

had).<br />

III. Auslegung nach dem Wortlaut (ordinary meaning)<br />

Für die Auslegung nach dem Wortlaut ist zunächst die übliche<br />

Begriffsbedeutung zu klären. Zudem ist bereits an dieser<br />

Stelle der unmittelbare grammatische Kontext zu berücksichtigen,<br />

in dem sich der auslegungsbedürftige Begriff findet. 9<br />

1. „Organisation“<br />

Der englische Text des Statuts spricht von einer „State or<br />

organizational policy“. Dieser Wortlaut ist nach einhelliger<br />

Ansicht missverständlich. Gemeint ist nicht eine organisierte<br />

Politik, sondern die Politik einer Organisation (policy of an<br />

organisation). 10 Das ergibt sich insbesondere auch aus den<br />

anderen autoritativen Sprachfassungen des IStGH-Statuts.<br />

Der danach maßgebliche Begriff „Organisation“ (organisation/organisation/organización)<br />

kann in drei Bedeutungen<br />

verwendet werden: Er kann erstens die Tätigkeit, Dinge in<br />

eine Ordnung zu bringen, meinen. „Organisation“ kann zweitens<br />

die Ordnung oder Struktur selbst bezeichnen. Und drittens<br />

kann der Begriff sich auf einen Personenzusammenschluss<br />

beziehen. 11<br />

Aus dem Satzgefüge von Art. 7 Abs. 2 lit. a IStGH-Statut<br />

ergibt sich zweifelsfrei, dass der Begriff in seiner letztgenannten<br />

institutionellen Bedeutung verwendet wird. Eine<br />

den Verf. des Beitrags geläufige englische, französische und<br />

spanische Fassung berücksichtigt. Es wird unterstellt, dass<br />

sich hinsichtlich der gewöhnlichen Bedeutung der arabischen,<br />

chinesischen und russischen Begriffsäquivalente keine Besonderheiten<br />

ergeben.<br />

9<br />

Vgl. z.B. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 10. Aufl.<br />

2006, S. 45; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft,<br />

2. Aufl. 1992, S. 208.<br />

10<br />

Vgl. IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 31.3.2010 –<br />

ICC-01/09-19 (Dissenting Opinion by Judge Hans-Peter Kaul<br />

to Pre-Trial Chamber II’s “Decision Pursuant to Article 15 of<br />

the Rome Statute on the Authorization of an Investigation<br />

into the Situation in the Republic of Kenya”), paras. 37 ff.;<br />

Kreß, Leiden Journal of International Law 23 (2010), 855<br />

(862 Fn. 39). Vgl. auch v. Hebel/Robinson, in: Lee (Hrsg.),<br />

The International Criminal Court, The Making of the Rome<br />

Statute, 1999, S. 79 (S. 97 Fn. 53).<br />

11<br />

Vgl. Oxford Dictionaries, Online-Wörterbuch Englisch,<br />

Eintrag „organization“, abrufbar unter:<br />

http://oxforddictionaries.com/definition/organization?q=orga<br />

nization (2.4.2012); Larousse, Online-Wörterbuch Französisch,<br />

Eintrag „organisation“, abrufbar unter:<br />

http://www.larousse.com/de/worterbucher/franzosisch/Organi<br />

sation (2.4.2012); Real Academia Española (Hrsg.), Diccionario<br />

de la lengua española, 22. Aufl. 2001, S. 1107.


Erfordern Menschlichkeitsverbrechen die Beteiligung eines Staates/einer „staatsähnlichen“ Organisation?<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Organisation in diesem Sinne setzt zweierlei voraus: Zum<br />

einen muss es sich um den Zusammenschluss mehrerer Personen<br />

handeln. Dabei legt der Wortsinn eine gewisse Größe<br />

des Personenzusammenschlusses nahe. Denn eine organisierte<br />

Personenmehrheit, die zu keinem Zeitpunkt mehr als eine<br />

Handvoll Beteiligte umfasst, mag als Gruppe oder Bande<br />

bezeichnet werden, nicht aber als Organisation. Freilich lässt<br />

sich aus der Bezeichnung als „Organisation“ keine feste<br />

Mindestzahl an Mitgliedern ableiten.<br />

Zum anderen impliziert der Begriff die Existenz von<br />

Strukturen, die es über eine konkrete Situation hinaus ermöglichen,<br />

den Zusammenschluss gegenüber der Umwelt abzugrenzen,<br />

Handeln zweckbezogen zu koordinieren und der<br />

Organisation zuzuschreiben. Personenzusammenschlüsse, die<br />

lediglich für die Dauer einer konkreten Handlungssituation<br />

bestehen, sind daher nach der üblichen Begriffsverwendung<br />

ebenso wenig eine „Organisation“ wie bloße Menschenansammlungen.<br />

Weitere Voraussetzungen, insbesondere zur Art der Organisationsstrukturen,<br />

lassen sich dem Begriff als solchem<br />

nicht entnehmen. Sie können sich allerdings aus dem grammatischen<br />

oder systematischen Kontext oder aus teleologischen<br />

Erwägungen ergeben. 12<br />

2. Grammatischer Kontext in Art. 7 Abs. 2 lit. a IStGH-Statut<br />

Die Legaldefinition des Angriffs in Art. 7 Abs. 2 lit. a IStGH-<br />

Statut stellt „Staat“ und „Organisation“ mit der Konjunktion<br />

„oder“ (or/ou/o) gleichrangig nebeneinander. Die Konjunktion<br />

weist darauf hin, dass „Staat“ und „Organisation“ eine<br />

Qualität teilen, die zum Anknüpfungspunkt einer normativen<br />

Gleichbehandlung in Art. 7 Abs. 2 lit. a IStGH-Statut erhoben<br />

wird. Welche Qualität das ist, ergibt sich nicht aus dem<br />

Begriff selbst oder einer systematischen Auslegung, sondern<br />

erfordert die Einbeziehung teleologischer Gesichtspunkte. Es<br />

widerspricht aber den Regeln der Sprache, der Konjunktion<br />

„oder“ zu entnehmen, der zweite der nebeneinander gestellten<br />

Begriffe (hier: Organisation) müsse Begriffsmerkmale<br />

des ersten (hier: Staat) teilen. 13<br />

12<br />

Dieses Ergebnis der Auslegung nach dem Wortlaut wird<br />

durch Art. 2 lit. a und lit. c der UN Convention against<br />

Transnational Organized Crime bestätigt. In Art. 2 lit. a wird<br />

„organized criminal group“ als „any structured group of three<br />

or more persons, existing for a period of time and acting in<br />

concert with the aim of committing one or more serious<br />

crimes“ definiert. In Art. 2 lit. c heißt es weiterhin: „‘Structured<br />

group’ shall mean a group that is not randomly formed<br />

for the immediate commission of an offence and that does not<br />

need to have formally defined roles for its members, continuity<br />

of its membership or a developed structure.“<br />

13<br />

Vgl. Werle, Völkerstrafrecht, 3. Aufl. 2012, Rn. 886. Diesem<br />

einfachen und klaren Befund widersprechen die weitreichenden<br />

Schlussfolgerungen, die das Sondervotum aus der<br />

Verbindung der Begriffe „Staat“ und „Organisation“ durch<br />

die Konjunktion „oder“ ziehen will, vgl. IStGH (Pre-Trial<br />

Chamber II), Beschl. v. 31.3.2010 – ICC-01/09-19 (Dissenting<br />

Opinion by Judge Hans-Peter Kaul to Pre-Trial Chamber<br />

II’s “Decision Pursuant to Article 15 of the Rome Statute on<br />

Keine Rückschlüsse für die Auslegung des Begriffs „Organisation“<br />

lassen sich überdies aus der Satzstellung als Genitivobjekt<br />

des Begriffs „Politik“ (policy/politique/política)<br />

ziehen. Von der „Politik“, also den handlungsleitenden Vorstellungen,<br />

Forderungen, Zielen und Programmen einer Organisation,<br />

lässt sich bei allen denkbaren Arten von Organisationen<br />

sprechen, nicht nur bei solchen, die staatsähnlich sind.<br />

3. Zwischenergebnis<br />

Als Zwischenergebnis ist festzuhalten: Nach der üblichen<br />

Begriffsverwendung bezeichnet „Organisation“ einen Personenzusammenschluss,<br />

der über Strukturen verfügt, die es<br />

über eine konkrete Situation hinaus ermöglichen, den Zusammenschluss<br />

gegenüber der Umwelt abzugrenzen, Handeln<br />

zielbezogen zu koordinieren und der Organisation zuzuschreiben.<br />

Eine Einzelperson oder Kleinstgruppe bildet begrifflich<br />

ebenso wenig eine Organisation wie ein bloß situationsbezogen<br />

bestehender Personenzusammenschluss oder eine<br />

Ansammlung von Personen ohne gemeinsames Ziel. Zu betonen<br />

ist, dass dies nicht das Ergebnis einer „weiten“ Auslegung<br />

ist, 14 sondern schlicht das Ergebnis der Auslegung nach<br />

dem Wortlaut.<br />

IV. Systematische Auslegung (context)<br />

Als auslegungsrelevanter Verwendungszusammenhang des<br />

Begriffs „Organisation“ sind zunächst die weiteren in Art. 7<br />

Abs. 1 IStGH-Statut geregelten Kontextelemente der Verbrechen<br />

gegen die Menschlichkeit zu berücksichtigen. In einem<br />

zweiten Schritt ist zu fragen, ob sich aus den Definitionen der<br />

anderen, der Gerichtsbarkeit des IStGH-Statuts unterfallenden<br />

Verbrechen Schlussfolgerungen für eine Auslegung des<br />

Begriffs „Organisation“ herleiten lassen. 15 Schließlich bedarf<br />

der Untersuchung, welche Konsequenzen sich aus dem Gebot<br />

der engen Auslegung ergeben, das in Art. 22 Abs. 2 IStGH-<br />

Statut und den Verbrechenselementen für Art. 7 IStGH-Statut<br />

geregelt ist. 16<br />

the Authorization of an Investigation into the Situation in the<br />

Republic of Kenya”), para. 51. Diesem vorsichtig zustimmend<br />

Kreß, Leiden Journal of International Law 23 (2010),<br />

855 (863).<br />

14<br />

So aber z.B. Kreß, Leiden Journal of International Law 23<br />

(2010), 855 (859): „a wide construction of the concept of<br />

organization“.<br />

15<br />

Vgl. dazu IStGH (Appeals Chamber), Urt. v. 13.7.2006 –<br />

ICC-01/04-168 (Situation in the Democratic Republic of<br />

Congo), para. 33: „The context of a given legislative provision<br />

is defined by the particular sub-section of the law read as<br />

a whole in conjunction with the section of an enactment in its<br />

entirety.“<br />

16<br />

Die Berücksichtigung des in Art. 22 Abs. 2 IStGH-Statut<br />

vorgesehenen Grundsatzes der engen Auslegung im Rahmen<br />

der systematischen Auslegung entspricht der im Sondervotum<br />

von Richter Kaul gewählten Argumentationsstruktur,<br />

vgl. Vgl. IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 31.3.2010<br />

– ICC-01/09-19 (Dissenting Opinion by Judge Hans-Peter<br />

Kaul to Pre-Trial Chamber II’s “Decision Pursuant to Article<br />

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273


Gerhard Werle/Boris Burghardt<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

1. Die weiteren Kontextmerkmale in Art. 7 Abs. 1 IStGH-<br />

Statut<br />

Aus den weiteren in Art. 7 Abs. 1 IStGH-Statut aufgeführten<br />

Kontextmerkmalen der Verbrechen gegen die Menschlichkeit<br />

lässt sich kein Argument für eine einschränkende Auslegung<br />

von „Organisation“ gewinnen. Insbesondere wird das Merkmal<br />

nicht überflüssig, wenn die übliche Begriffsbedeutung<br />

zugrunde gelegt wird. Fehlte es, könnte der erforderliche<br />

„ausgedehnte oder systematische Angriff auf eine Zivilbevölkerung“<br />

17 auch durch eine Einzelperson, eine Kleinstgruppe<br />

oder einen spontanen Zusammenschluss mehrerer<br />

Personen verübt werden.<br />

2. Die weiteren der Gerichtsbarkeit des IStGH unterliegenden<br />

Verbrechenstatbestände<br />

Auch aus den Definitionen der anderen Verbrechenstatbestände,<br />

die der Gerichtsbarkeit des IStGH unterliegen, ergibt<br />

sich kein systematisches Argument für eine vom Ergebnis der<br />

Wortlautinterpretation abweichende Auslegung des Merkmals<br />

„Organisation“. Im Gegenteil: Der Vergleich mit den<br />

Tatbeständen des Völkermordes und der Kriegsverbrechen<br />

zeigt, dass es der Systematik des IStGH-Statuts widerspricht,<br />

in das Merkmal „Organisation“ ein Erfordernis der Staatsähnlichkeit<br />

hinein zu lesen.<br />

Das Verbrechen des Völkermordes gem. Art. 6 IStGH-<br />

Statut setzt unstreitig nicht voraus, dass die Absicht zur Zerstörung<br />

einer geschützten Gruppe von einem Staat oder einer<br />

staatsähnlichen Organisation getragen wird. Selbst wenn im<br />

Einklang mit den Verbrechenselementen zu Art. 6 IStGH-<br />

Statut für den Völkermord verlangt wird, dass die mit Zerstörungsabsicht<br />

ausgeführte Einzeltat im Kontext einer entsprechenden<br />

Gesamttat begangen wird, ist nicht entscheidend,<br />

wer die Gesamttat begeht, sondern dass sie das Potential hat,<br />

die Existenz der angegriffenen Gruppe zu gefährden. 18<br />

Auch die Kriegsverbrechen gem. Art. 8 IStGH-Statut erfordern<br />

nicht, dass es sich bei den Konfliktparteien um Staaten<br />

oder staatsähnliche Gebilde handelt. Art. 8 Abs. 2 lit. f<br />

IStGH-Statut spricht insofern ausdrücklich nur von „organisierten<br />

bewaffneten Gruppen“. 19 Bei der näheren Bestimmung,<br />

wann die Existenz einer solchen „Gruppe“ anzuneh-<br />

15 of the Rome Statute on the Authorization of an Investigation<br />

into the Situation in the Republic of Kenya”), para. 55.<br />

Kritisch dazu Kreß, Leiden Journal of International Law 23<br />

(2010), 855 (863).<br />

17<br />

Art. 7 Abs. 1 IStGH-Statut: widespread or systematic attack<br />

against any civilian population/attaque généralisée ou<br />

systématique lancée contre toute population civile/ataque<br />

generalizado o sistemático contra una población civil.<br />

18<br />

Vgl. dazu IStGH (Pre-Trial Chamber I), Beschl. v. 4.3.<br />

2009 – ICC-02/05-01/09-1 (The Prosecutor v. Al Bashir),<br />

para. 124; Burghardt/Geneuss, <strong>ZIS</strong> 2009, 126 (132, 134 f.);<br />

Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar<br />

zum Strafgesetzbuch, Bd. 6/2, 2009, § 6 VStGB Rn. 15, 78;<br />

Werle (Fn. 13), Rn. 799 ff.<br />

19<br />

Art. 8 Abs. 2 lit. f IStGH-Statut: organized armed groups/<br />

groupes armés organisés/grupos armados organizados.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

274<br />

<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />

men ist, hat die Verfahrenskammer I des IStGH erst jüngst, in<br />

dem erstinstanzlichen Urteil des Lubanga-Verfahrens, einen<br />

ganz ähnlichen Ansatz gewählt wie die Vorverfahrenskammer<br />

II in der Kenia-Situation bei der Auslegung des Begriffs<br />

„Organisation“. 20 Nicht erforderlich sei, dass die Konfliktpartei<br />

Kontrolle über ein Gebiet ausübe 21 oder auch nur einer<br />

verantwortlichen Befehlsgewalt (responsible command) im<br />

Sinne von Art. 1 Abs. 1 ZP II unterstehe. 22 Sämtlichen Fragen<br />

der internen Organisationsstruktur komme lediglich indizieller<br />

Charakter zu. Entscheidend sei nicht, wie die Gruppe<br />

organisiert sei, sondern dass sie über ein Maß an Organisation<br />

verfüge, das es ihr ermögliche, ausgedehnte bewaffnete<br />

Gewalt auszuüben. 23<br />

3. Gebot der engen Auslegung<br />

Art. 22 Abs. 2 S. 1 IStGH-Statut verpflichtet zu einer engen<br />

Auslegung der „Begriffsbestimmung eines Verbrechens“. 24<br />

Die Verbrechenselemente zu Art. 7 IStGH-Statut formulieren<br />

dieses Gebot noch einmal spezifisch für den Tatbestand der<br />

Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Freilich ist dem Gerichtshof<br />

damit keineswegs aufgegeben, unter allen nur<br />

denkbaren Auslegungsmöglichkeiten stets die restriktivste zu<br />

wählen. Ein solches Verständnis von Art. 22 Abs. 2 IStGH-<br />

Statut führte zu unvernünftigen Ergebnissen, weil damit jede<br />

wertende Betrachtung der Auslegungsmöglichkeiten ausschiede.<br />

Richtigerweise setzt Art. 22 Abs. 2 IStGH-Statut<br />

voraus, dass ein wertender Auslegungsvorgang bereits stattgefunden<br />

hat. 25 Das Gebot der engen Auslegung greift erst,<br />

wenn nach Ausschöpfung der Auslegungsmethoden gem.<br />

Art. 31 WVRÜ zwei gleichermaßen gut begründbare Auslegungsergebnisse<br />

bestehen bleiben.<br />

Der materielle Bezugspunkt für die erforderliche wertende<br />

Betrachtung ergibt sich aus der Statutssystematik und den<br />

Verbrechenselementen: Sowohl die Präambel als auch Art. 1<br />

und Art. 5 Abs. 1 IStGH-Statut betonen, dass der Gerichtsbarkeit<br />

des IStGH nur „die schwersten Verbrechen“ unterfallen,<br />

„welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes<br />

20 Vgl. IStGH (Trial Chamber I), Urt. v. 14.3.2012 – ICC-<br />

01/04-01/06-2842 (The Prosecutor v. Lubanga Dyilo), para.<br />

536.<br />

21 Ebenso IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 15.6.2009<br />

– ICC-01/05-01/08-424 (The Prosecutor v. Bemba Gombo),<br />

para. 236.<br />

22 Insoweit anderer Ansicht IStGH (Pre-Trial Chamber II),<br />

Beschl. v. 15.6.2009 – ICC-01/05-01/08-424 (The Prosecutor<br />

v. Bemba Gombo), para. 234.<br />

23 Vgl. IStGH (Trial Chamber I), Urt. v. 14.3.2012 – ICC-<br />

01/04-01/06-2842 (The Prosecutor v. Lubanga Dyilo), para.<br />

536: „[T]he ‘organized armed groups’ must have a sufficient<br />

degree of organization, in order to enable them to carry<br />

out protracted armed violence.“ Ähnlich bereits IStGH (Pre-<br />

Trial Chamber II), Beschl. v. 27.1.2007 – ICC-01/04-01/06-<br />

803 (The Prosecutor v. Lubanga Dyilo), para. 233.<br />

24 Art. 22 Abs. 2 S. 1 IStGH-Statut: definition of a<br />

crime/définition d’un crime/definición de crimen.<br />

25 Vgl. Jesse (Fn. 6), S. 151 ff.; Werle (Fn. 13), Rn. 207.


Erfordern Menschlichkeitsverbrechen die Beteiligung eines Staates/einer „staatsähnlichen“ Organisation?<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

berühren“. 26 Die Verbrechenselemente zu Art. 7 IStGH-<br />

Statut nehmen diese Formulierung auf und stellen ausdrücklich<br />

klar, dass das Gebot der restriktiven Auslegung mit Blick<br />

auf die Bewertung als ein schwerstes Verbrechen, das die<br />

internationale Gemeinschaft als Ganzes berührt, umzusetzen<br />

ist. 27 Im Umkehrschluss bedeutet dies freilich auch: Eine<br />

enge Auslegung ist durch Art. 22 Abs. 2 IStGH-Statut dort<br />

nicht geboten, wo das Merkmal für eine solche Bewertung<br />

irrelevant ist. Vielmehr widerspricht in einem solchen Fall<br />

eine restriktive Auslegung der Statutssystematik und dem<br />

Telos der Norm.<br />

Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Setzte das Gebot der<br />

restriktiven Auslegung gem. Art. 22 Abs. 2 IStGH-Statut<br />

nicht voraus, dass bereits ein wertender Auslegungsvorgang<br />

stattgefunden hat, ließe sich argumentieren, dass „Organisation“<br />

im Sinne von Art. 7 Abs. 2 lit. a IStGH-Statut nur Nichtregierungsorganisationen<br />

meine oder nur afrikanische Organisationen.<br />

Die Restriktionswirkung wäre denkbar groß, die<br />

Regelung aber ausgesprochen unvernünftig. Das Gebot der<br />

restriktiven Auslegung verlangt nicht, dass der Begriff „Organisation“<br />

irgendwie eng ausgelegt wird. Das Gebot der<br />

engen Auslegung greift nur, wenn sich argumentieren lässt,<br />

das einschränkende Merkmal (Nichtregierungs-, afrikanisch)<br />

sei relevant für die Bewertung als schwerstes Verbrechen, das<br />

die internationale Gemeinschaft als Ganzes berührt. Das lässt<br />

sich für die genannten Attribute aber evident nicht begründen.<br />

V. Teleologische Auslegung (object and purpose)<br />

Mit den vorangegangenen Überlegungen zum materiellen<br />

Bezugspunkt der gebotenen restriktiven Auslegung ist zugleich<br />

die Grundlage für die teleologische Auslegung bereitet.<br />

Zu fragen ist, was die Einordnung der Verbrechen gegen<br />

die Menschlichkeit als eines der schwersten Verbrechen,<br />

welches die internationale Gemeinschaft als Ganzes berührt,<br />

rechtfertigt. Eine restriktive Auslegung des Begriffs „Organisation“<br />

ist geboten, wenn der Begriff normative Relevanz für<br />

diesen Bewertungsvorgang beanspruchen kann.<br />

26<br />

Präambel, Art. 5 Abs. 1 IStGH-Statut: the most serious<br />

crimes of concern to the international community as a<br />

whole/les crimes les plus graves qui touchent l’ensemble de<br />

la communauté internationale/los crímenes más graves de<br />

trascendencia para la comunidad internacional.<br />

27<br />

Vgl. die Verbrechenselemente zu Art. 7 IStGH-Statut,<br />

Einführung: „1. Since article 7 pertains to international criminal<br />

law, its provisions, consistent with article 22, must be<br />

strictly construed, taking into account that crimes against<br />

humanity as defined in article 7 are among the most serious<br />

crimes of concern to the international community as a whole,<br />

warrant and entail individual criminal responsibility, and<br />

require conduct which is impermissible under generally applicable<br />

international law, as recognized by the principal<br />

legal systems of the world.“<br />

1. Verbrechen gegen die Menschlichkeit als „Verbrechen, welche<br />

die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren“<br />

Erste Aussagen lassen sich erneut statutsimmanent gewinnen:<br />

Nach der Präambel des IStGH-Statuts charakterisieren sich<br />

die Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als<br />

Ganzes berühren, dadurch, dass sie „den Frieden, die Sicherheit<br />

und das Wohl der Welt bedrohen“. 28 Indem es die Verbrechen<br />

gegen die Menschlichkeit der Gerichtsbarkeit des<br />

IStGH unterstellt, erklärt das Statut zugleich, dass eine solche<br />

Bedrohung für den Frieden, die Sicherheit und das Wohl der<br />

Welt vorliegt, wenn die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1<br />

IStGH-Statut erfüllt sind, wenn also die näher umschriebenen<br />

Einzeltaten „im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen<br />

Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis<br />

des Angriffs“ 29 begangen werden. Gemeinsam ist allen Einzeltatbeständen<br />

gem. Art. 7 Abs. 1 lit. a-k IStGH-Statut, dass<br />

es sich um vorsätzliche Verletzungen grundlegender, menschenrechtlich<br />

anerkannter Individualrechtspositionen handelt.<br />

30 Die sich in ihrem Sinngehalt überschneidenden Kontextmerkmale<br />

„Angriff“, „systematisch“ und „ausgedehnt“<br />

implizieren im Wesentlichen dreierlei:<br />

� Es gibt eine Vielzahl von vorsätzlichen Verletzungen<br />

menschenrechtlich geschützter Rechtspositionen.<br />

� Zwischen den Einzeltaten besteht ein planmäßigintentionaler<br />

Zusammenhang, der es rechtfertigt, sie zu<br />

einer Gesamttat zusammenzufassen.<br />

� Die Gesamttat erreicht ein erhebliches Ausmaß.<br />

Ohne das Politikelement lautet die normative Grundaussage<br />

der Verbrechen gegen die Menschlichkeit demnach vereinfacht:<br />

Verletzungen grundlegender, menschenrechtlich anerkannter<br />

Individualrechtspositionen sind eine Bedrohung für<br />

den Frieden, die Sicherheit und das Wohl der Welt, wenn sie<br />

vorsätzlich-plangemäß geschehen und ein erhebliches Ausmaß<br />

erreichen. Eine Auslegung des Begriffs „Organisation“,<br />

die den üblichen Wortsinn beschränkt, kann nur dann überzeugen,<br />

wenn sie den genannten Parametern ein weiteres<br />

Moment hinzufügt, das bei einer normativen Betrachtung<br />

eine Unrechtssteigerung begründet.<br />

28<br />

Präambel des IStGH-Statuts: threaten the peace, security<br />

and well-being of the world/menacent la paix, la sécurité et le<br />

bien-être du monde/constituyen una amenaza para la paz, la<br />

seguridad y el bienestar de la humanidad.<br />

29<br />

Art. 7 Abs. 1 IStGH-Statut: as part of a widespread or<br />

systematic attack directed against any civilian population<br />

with knowledge of the attack/dans le cadre d’une attaque<br />

généralisée ou systématique lancée contre toute population<br />

civile/como parte de un ataque generalizado o sistemático<br />

contra una población civil.<br />

30<br />

Vgl. Ambos/Wirth, Criminal Law Forum 13 (2002), 1 (14);<br />

Ambos, Internationales Strafrecht, 3. Aufl. 2011, § 7 Rn. 173;<br />

Kreß, Leiden Journal of International Law 23 (2010), 855<br />

(859); Werle, in: Grundmann u.a. (Hrsg.), Festschrift 200<br />

Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin,<br />

Geschichte, Gegenwart und Zukunft, 2010, S. 1219<br />

(S. 1227).<br />

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275


Gerhard Werle/Boris Burghardt<br />

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Zur Verdeutlichung können die zuvor gewählten Beispiele<br />

aufgegriffen werden: Eine Beschränkung des Begriffs<br />

„Organisation“ auf Nichtregierungsorganisationen oder auf<br />

afrikanische Organisationen erweist sich als evident falsch.<br />

Die restringierenden Merkmale reichern die Grundaussage<br />

um jeweils ein neues Moment an, das sich bei einer normativen<br />

Betrachtung aber nicht als valide erweist. Es lässt sich<br />

einfach nicht begründen, warum es für die Bewertung von<br />

vorsätzlichen Individualrechtsverletzungen erheblichen Ausmaßes<br />

als Weltfriedensstörungen einen Unterschied machen<br />

soll, ob sie von einer Nichtregierungsorganisation oder einer<br />

afrikanischen Organisation begangen werden und nicht von<br />

einer Organisation, die diese Qualifikationen nicht aufweist.<br />

2. Die Begehung des Angriffs durch einen Staat oder eine<br />

staatsähnliche Organisation als unrechtserhöhender Umstand?<br />

Lässt sich nun begründen, dass es für die normative Bewertung<br />

eines Angriffs auf eine Zivilbevölkerung relevant ist, ob<br />

dieser Angriff durch einen Staat oder eine „staatsähnliche“<br />

Organisation begangen wird oder nicht? Die Befürworter<br />

einer restriktiven Auslegung des Politikelements nennen vier<br />

Argumente.<br />

a) Das historisch-phänomenologische Argument: Staatskriminalität<br />

als „Idealtypus“<br />

Erstens wird auf die Geschichte des Völkerstrafrechts verwiesen:<br />

Staatlich gesteuerte Verbrechen hätten nach dem<br />

Zweiten Weltkrieg den Anstoß für die Entwicklung des Völkerstrafrechts<br />

in Nürnberg und Tokio gegeben, nur solche<br />

Taten hätten erfasst werden sollen. 31<br />

Das Argument trägt nicht. Dass das Völkerstrafrecht historisch<br />

in Reaktion auf Staatsverbrechen entstanden ist und<br />

diese auch heute noch den Regelfall darstellen, lässt sich<br />

nicht bestreiten, impliziert aber nicht, dass es sich bei der<br />

Staatsbeteiligung um ein normativ gebotenes Merkmal der<br />

Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt. 32 Soweit die<br />

Befürworter der restriktiven Auslegung aus der Entstehungsgeschichte<br />

bzw. der Verbrechensphänomenologie umstandslos<br />

normative Folgerungen ableiten wollen, unterliegen sie<br />

einem naturalistischen Fehlschluss.<br />

b) Das materielle Argument: Staatsähnliches Bedrohungspotential<br />

Ein zweites Argument lautet, dass nur Verbrechen, die von<br />

der Politik eines Staates oder einer staatsähnlichen Organisation<br />

getragen würden, das „gewaltige Risiko und die enorme<br />

Bedrohung von Massenverbrechen mit massenhaften Opfern“<br />

31 Vgl. z.B. IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v.<br />

31.3.2010 – ICC-01/09-19 (Dissenting Opinion by Judge<br />

Hans-Peter Kaul to Pre-Trial Chamber II’s “Decision Pursuant<br />

to Article 15 of the Rome Statute on the Authorization of<br />

an Investigation into the Situation in the Republic of Kenya”),<br />

paras. 59 ff.<br />

32 Ähnlich Di Filippo, European Journal of International Law<br />

19 (2008), 533 (567).<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

276<br />

<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />

aufwiesen. 33 Dieses Risiko- und Bedrohungsmoment sei es<br />

aber, was die Bewertung als Weltfriedensstörung überhaupt<br />

erst rechtfertige. Daher könnten auch nur Staaten und staatsähnliche<br />

Organisationen Träger des Angriffs sein.<br />

Das Argument überzeugt nicht. Wenn tatsächlich das Bedrohungspotential<br />

entscheidend sein soll, müssen alle Organisationen<br />

einbezogen werden, die ein solches entfalten.<br />

Dann aber lässt sich gerade nicht rechtfertigen, warum Organisationen<br />

ausgeklammert werden sollen, die zwar nicht<br />

staatsähnlich, aber sehr wohl in der Lage sind, einen ausgedehnten<br />

und systematischen Angriff gegen eine Zivilbevölkerung<br />

zu verüben. Soll aber doch die „Staatsähnlichkeit“ als<br />

solche einen normativen Unterschied ausmachen, bedarf es<br />

einer Begründung, was das für die normative Bewertung<br />

entscheidende Charakteristikum der Staatsähnlichkeit ist.<br />

Indes bleibt bereits unklar, was mit dem Kriterium der<br />

Staatsähnlichkeit gemeint ist. Konsequent wäre eine Beschränkung<br />

auf Gebietskörperschaften, doch befürworten<br />

selbst jene, die sich für eine Restriktion stark machen, selten<br />

eine derart enge Lesart. 34 Im Sondervotum heißt es dazu<br />

lediglich, „staatsähnlich“ sei eine Organisation, wenn sie<br />

„einige Eigenschaften eines Staates teile“. 35 Eine Festlegung,<br />

welche Charakteristika dies im Einzelnen sein sollen, wird<br />

vermieden. Stattdessen wählt das Sondervotum ausdrücklich<br />

eine beispielhafte Konkretisierung. 36 Indizien für die Staats-<br />

33<br />

Vgl. IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 31.3.2010 –<br />

ICC-01/09-19 (Dissenting Opinion by Judge Hans-Peter Kaul<br />

to Pre-Trial Chamber II’s “Decision Pursuant to Article 15 of<br />

the Rome Statute on the Authorization of an Investigation<br />

into the Situation in the Republic of Kenya”), para. 61: „enormous<br />

risk and threat of mass crimes and mass victimization“.<br />

34<br />

Vgl. aber Bassiouni, The Legislative History of International<br />

Criminal Court: Introduction, Analysis and Integrated<br />

Text, Bd. 1, 2005, S. 151 f.<br />

35<br />

Vgl. IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 31.3.2010 –<br />

ICC-01/09-19 (Dissenting Opinion of Judge Hans-Peter Kaul<br />

to Pre-Trial Chamber II’s “Decision Pursuant to Article 15 of<br />

the Rome Statute on the Authorization of an Investigation<br />

into the Situation in the Republic of Kenya”), para. 51: „partake<br />

of some characteristics of a State“.<br />

36<br />

Vgl. IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 31.3.2010 –<br />

ICC-01/09-19 (Dissenting Opinion by Judge Hans-Peter Kaul<br />

to Pre-Trial Chamber II’s “Decision Pursuant to Article 15 of<br />

the Rome Statute on the Authorization of an Investigation<br />

into the Situation in the Republic of Kenya”), para. 51:<br />

„These characteristics could involve the following […].“<br />

(Hervorhebung der Verf.). Kreß meint den weiteren Ausführungen<br />

entnehmen zu können, dass Kaul die aufgezählten<br />

Gesichtspunkte nicht als beispielhafte Konkretisierungen,<br />

sondern im Sinne begriffsnotwendiger Definitionsmerkmale<br />

verstanden wissen wolle, vgl. Kreß, Leiden Journal of International<br />

Law 23 (2010), 855 (862). Dieser Lesart kann nicht<br />

zugestimmt werden. Vielmehr verdeutlichen die fallbezogenen<br />

Ausführungen von Kaul in diesem und den folgenden<br />

Sondervoten, dass die Staatsähnlichkeit im Wege einer offenen<br />

Gesamtbetrachtung festgestellt werden soll, nicht durch<br />

eine Subsumtion unter einzelne Begriffsmerkmale.


Erfordern Menschlichkeitsverbrechen die Beteiligung eines Staates/einer „staatsähnlichen“ Organisation?<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

ähnlichkeit seien insbesondere das Vorhandensein einer hierarchischen<br />

Struktur (hierarchical structure) oder einer verantwortlichen<br />

Befehlsgewalt (responsible command) sowie<br />

das Bestehen von Sanktionsgewalt über die Mitglieder der<br />

Organisation und die Möglichkeit, den Mitgliedern eine Politik<br />

zu oktroyieren. In eine ähnliche Richtung weisen Vorschläge,<br />

denen zu Folge nur solche Organisationen unter<br />

Art. 7 Abs. 2 lit. a IStGH-Statut fallen, die im Rahmen eines<br />

nicht-internationalen bewaffneten Konflikts Konfliktpartei<br />

gem. Art. 1 Abs. 1 ZP II sein können. 37<br />

Das Attribut „staatsähnlich“ wirkt angesichts dieser Konkretisierungsvorschläge<br />

irreführend. Treffender ließe sich die<br />

damit angedeutete Restriktion des Wortlauts als Beschränkung<br />

auf „hierarchisch strukturierte Organisationen“, eventuell<br />

ergänzt um das Erfordernis der Gebietskontrolle, beschreiben.<br />

Der Fehlschluss, der solchen Restriktionsvorschlägen<br />

zugrunde liegt, ist aber stets der nämliche: Es<br />

werden typische Indizien für die Handlungsmacht eines Personenzusammenschlusses<br />

zu normativ bindenden Voraussetzungen<br />

des Organisationsbegriffs erhoben. Die Handlungsmacht<br />

erweist sich aber hinreichend in der Begehung eines<br />

Angriffs auf eine Zivilbevölkerung gem. Art. 7 Abs. 1<br />

IStGH-Statut, welcher der Organisation zurechenbar ist. Alle<br />

weiteren Merkmale sind unter Berücksichtigung des Telos<br />

akzidentiell, nicht notwendig. Nicht näher reflektierte Prämisse<br />

der hier kritisierten Gegenauffassung könnte dabei die<br />

Vorstellung sein, die effektive Ausübung von Macht, Gewalt<br />

und Herrschaft erfordere stets gefestigte Organisationsstrukturen<br />

mit klar bestimmten Hierarchieebenen und Befehlsketten.<br />

Die Kenia-Situation führt beispielhaft vor Augen, dass<br />

diese Annahme, die für die in Europa begangenen Großverbrechen<br />

zutreffen mag, sich nicht ohne weiteres auf andere<br />

politische und kulturelle Kontexte übertragen lässt. 38<br />

c) Das funktionale Argument: erwartbares Defizit staatlicher<br />

Strafverfolgung<br />

Drittens wird geltend gemacht, dass nur bei Angriffen von<br />

Staaten oder staatsähnlichen Organisationen das Bedürfnis<br />

nach internationaler Strafjustiz bestehe. Nur in diesem Fall<br />

sei nämlich zu erwarten, dass eine (ernstzunehmende) Strafverfolgung<br />

auf staatlicher Ebene nicht stattfinde. 39<br />

Auch dieses Argument verfängt nicht. Zunächst ist es unplausibel,<br />

eine effektive Strafverfolgung auf staatlicher Ebene<br />

für Situationen zu vermuten, in denen der Staat offenbar nicht<br />

in der Lage war, einen tatbestandlichen Angriff auf eine Zi-<br />

37<br />

Vgl. Kreß, Journal of Conflict & Security Law 15 (2010),<br />

245 (271 f.).<br />

38<br />

Vgl. Werle (Fn. 13), Rn. 888. Zu parallelen Überlegungen<br />

im Kontext der mittelbaren Täterschaft kraft Organisationsherrschaft<br />

z.B. Ambos, in: Heinrich u.a. (Hrsg.), Strafrecht als<br />

Scientia Universalis, Festschrift für Claus Roxin zum 80.<br />

Geburtstag am 15. Mai 2011, 2011, Bd. 1, S. 837 (S. 848 f.);<br />

Osiel, Making Sense of Mass Atrocities, 2009, S. 99, 104,<br />

114.<br />

39<br />

Vgl. z.B. Kreß, Leiden Journal of International Law 23<br />

(2010), 855 (866); Schabas, Journal of Criminal Law &<br />

Criminology 98 (2008), 953 (974).<br />

vilbevölkerung auf seinem Staatgebiet zu verhindern. Naheliegend<br />

ist vielmehr der umgekehrte Schluss: Wenn es einem<br />

Personenzusammenschluss gelingt, das Gewaltmonopol des<br />

Staates in so grundlegender und schwerwiegender Weise zu<br />

durchbrechen, ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Verantwortlichen<br />

sich auch der staatlichen Strafverfolgung entziehen<br />

können. Das Fehlen einer angemessenen strafrechtlichen<br />

Aufarbeitung der nun vom IStGH untersuchten Verbrechen<br />

durch kenianische Gerichte verdeutlicht dies beispielhaft.<br />

Grundsätzlich ist aber ohnehin zu betonen, dass die<br />

Wahrscheinlichkeit strafrechtlicher Verfolgung auf staatlicher<br />

Ebene keine Relevanz für die normative Bewertung als<br />

Weltfriedensstörung hat. In der Sache betrifft die für das<br />

Erfordernis einer „staatsähnlichen“ Organisation geltend<br />

gemachte funktionale Überlegung nicht die Qualifikation als<br />

Völkerrechtsverbrechen, sondern die Aufgabenverteilung<br />

zwischen staatlicher und internationaler Strafjustiz. Diese<br />

Frage ist sachgerecht nicht über die Verbrechensdefinitionen,<br />

sondern über Kompetenzregelungen zu lösen. Im Regelungssystem<br />

des IStGH erfüllt diesen Zweck insbesondere der<br />

Grundsatz der Komplementarität.<br />

d) Das rechtstechnische Argument: Handeln nicht-staatlicher<br />

Akteure ist keine Menschenrechtsverletzung<br />

Schließlich wird darauf hingewiesen, dass es sich nicht um<br />

Menschenrechtsverletzungen handle, wenn der Angriff nicht<br />

einem Staat zugerechnet werden könne. 40 Auch dieses Argument<br />

ist zurückzuweisen. Die Frage, wer den Angriff auf die<br />

Zivilbevölkerung verübt, berührt nicht das Vorliegen von<br />

Individualrechtsverletzungen. Dass die Taten möglicherweise<br />

keine Menschenrechtsverletzungen darstellen, wenn sie nicht<br />

einem Staat zugerechnet werden können, weist allenfalls auf<br />

ein Konzeptualisierungsproblem des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes<br />

hin. 41 Für die normative Bewertung als<br />

völkerrechtlich strafbare Weltfriedensstörung ist die Verletzung<br />

menschenrechtlich geschützter Individualrechtspositionen<br />

ausschlaggebend, nicht die rechtstechnische Erfassung<br />

als Menschenrechtsverletzung. Ebenso wenig wie auf nationaler<br />

Ebene nur dem Staat zurechenbare Grundrechtsverletzungen<br />

strafbar sind, ist die völkerrechtliche Strafbarkeit auf<br />

Menschenrechtsverletzungen beschränkt.<br />

e) Ein denkbares fünftes Argument: Staatsbegehung als qualifizierter<br />

Pflichtenverstoß?<br />

Ein denkbares fünftes Argument wurde im Schrifttum bisher<br />

nicht diskutiert, soll hier aber im Sinne einer Einwandvorwegnahme<br />

erörtert werden. Vorstellbar ist nämlich, eine<br />

Unrechtssteigerung im Falle der staatlichen Begehung des<br />

40<br />

Vgl. z.B. Kreß, Journal of Conflict & Security Law 15<br />

(2010), 245 (271).<br />

41<br />

Vgl. in diesem Sinne Clapham, in: Odello/Beruto (Hrsg.),<br />

Non-State Actors and International Humanitarian Law, Organized<br />

Armed Groups: A Challenge for the 21st Century,<br />

2010, S. 102 (S. 103).<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

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277


Gerhard Werle/Boris Burghardt<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Angriffs auf die Zivilbevölkerung wie folgt zu begründen: 42<br />

Staaten sind völkerrechtlich verpflichtet, die Einhaltung fundamentaler<br />

menschenrechtlicher Standards auf ihrem Staatsgebiet<br />

zu gewährleisten (sog. Schutzverantwortung oder<br />

responsibility to protect). 43 Wenn ein Staat seine Organisationsmittel<br />

dazu nutzt, einen Angriff auf eine Zivilbevölkerung<br />

zu begehen, verletzt er nicht allein die Individualrechtspositionen<br />

der Einzelpersonen, sondern auch seine gegenüber der<br />

internationalen Gemeinschaft obliegenden Pflichten als Garant<br />

der Verwirklichung menschenrechtlicher Standards.<br />

Diese zusätzliche Pflichtverletzung, so ließe sich argumentieren,<br />

führt zu der entscheidenden Unrechtssteigerung. 44 Die<br />

Trennlinie wäre dann zu ziehen zwischen Staaten und anderen,<br />

ebenfalls der Schutzverantwortung unterliegenden Organisationen<br />

einerseits und Organisationen, die keine Schutzverantwortung<br />

trifft, andererseits.<br />

Auch diese Begründung hält näherer Betrachtung nicht<br />

stand. Sie führte zu untragbaren Wertungswidersprüchen.<br />

Sinn und Zweck der Schutzverantwortung ist es, ein lückenloses<br />

Netz der (gestuften) Verantwortlichkeit zur Sicherung<br />

fundamentaler Menschenrechte zu spannen. Die oben skizzierte<br />

Überlegung beruft sich dagegen auf das Konzept, um<br />

die Unzuständigkeit der internationalen Gemeinschaft für die<br />

Ahndung massenhafter und planmäßiger Verletzungen menschenrechtlich<br />

geschützter Individualrechtspositionen zu begründen.<br />

Die Idee der Schutzverantwortung wird damit geradewegs<br />

in ihr Gegenteil verkehrt und ad absurdum geführt.<br />

Der völkerstrafrechtliche Schutz darf nicht versagt werden,<br />

nur weil die Organisation, welcher der Angriff auf die Zivilbevölkerung<br />

zugerechnet werden kann, selbst nicht der<br />

Schutzverantwortung unterliegt. Die Bewertung eines Geschehens<br />

als Menschlichkeitsverbrechen ist unabhängig von<br />

der Pflichtensituation der angreifenden Organisation. Andernfalls<br />

könnte etwa der Angriff eines Staates auf eine Zivilbevölkerung<br />

eines anderen Staates nie das Kontextelement<br />

eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit erfüllen, weil<br />

den angreifenden Staat in diesem Fall gegenüber der ange-<br />

42<br />

Die folgenden Ausführungen greifen Überlegungen auf,<br />

die Stefan Kirsch im Rahmen einer Diskussion dieses den<br />

Teilnehmer/-innen vorliegenden Textes auf dem Treffen des<br />

Arbeitskreises Völkerstrafrecht am 4.5.2012 in Nürnberg<br />

geltend machte.<br />

43<br />

Vgl. dazu zusammenfassend Werle (Fn. 13), Rn. 138<br />

m.w.N.<br />

44<br />

Strukturanaloge Überlegungen finden sich im deutschen<br />

Strafrecht zur Begründung der als Qualifikationstatbestände<br />

ausgestalteten unechten Amtsdelikte. Vgl. z.B. Cramer/Sternberg-Lieben/Hecker,<br />

in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch,<br />

Kommentar, 28. Aufl. 2010, § 340 Rn. 1; Heine, in: Schönke/<br />

Schröder (a.a.O.), Vor §§ 331 ff. Rn. 1; Heinrich, Der Amtsträgerbegriff<br />

im Strafrecht, 2001, S. 275 ff., 310, 692; Lilie,<br />

in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch,<br />

Leipziger Kommentar, Bd. 13, 12. Aufl. 2009,<br />

§ 340 Rn. 1; Sowada, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann<br />

(a.a.O.), Vor § 331 Rn. 16; Walter, in: Laufhütte/Rissing-van<br />

Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger<br />

Kommentar, Bd. 8, 12. Aufl. 2010, § 258a Rn. 1 f.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

278<br />

<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />

griffenen Zivilbevölkerung ebenfalls keine Schutzverantwortung<br />

trifft.<br />

VI. Ergänzende Auslegungsmittel (supplementary means<br />

of interpretation) gem. Art. 32 WVRÜ<br />

Abschließend sollen, obgleich methodisch nicht geboten,<br />

auch die ergänzenden Auslegungsmittel gem. Art. 32 WVRÜ<br />

in die Überlegungen einbezogen werden. Aus der Verhandlungsgeschichte<br />

des IStGH-Statuts ergibt sich kein Hinweis<br />

darauf, dass die Vertragsstaaten den Begriff „Organisation“<br />

in Art. 7 Abs. 2 lit. a IStGH-Statut restriktiv verstanden wissen<br />

und auf staatsähnliche Organisationen beschränken wollten.<br />

Während der Verhandlungen herrschte Konsens, dass als<br />

Träger des Angriffs nicht allein ein Staat in Betracht kommen<br />

sollte. 45 Diskutiert wurde insoweit lediglich, ob der Statutstext<br />

über Staaten und Organisationen hinaus auch Gruppen<br />

(groups) als Träger eines tatbestandsmäßigen Angriffs nennen<br />

sollte. Dies wurde letztlich abgelehnt. Darryl Robinson,<br />

Verhandlungsteilnehmer in Rom, fasst die Gründe dafür wie<br />

folgt zusammen: „The solution reached in Rome was to refer<br />

only to a state or organization, as it was agreed that using the<br />

term ‘organization’ is fairly flexible, and to the extent that<br />

there might be a gap between the concept of ‘group’ and<br />

‘organization’, it was considered that the planning of an attack<br />

against a civilian population requires a higher degree of<br />

organization, which is consistent with the latter concept.“ 46<br />

Mit anderen Worten: In Frage stand nicht, dass alle Arten von<br />

Organisationen erfasst sein sollten, sondern ob auch Personenzusammenschlüsse<br />

als Träger eines Angriffs in Betracht<br />

kommen, die nicht einmal die begrifflichen Mindestanforderungen<br />

an eine Organisation erfüllen.<br />

Eine Untersuchung des Völkergewohnheitsrechts erlaubt<br />

keine anderen Schlussfolgerungen. Die Beteiligung eines<br />

Staates oder einer staatsähnlichen Organisationen wird in<br />

keiner einzigen völkerrechtlichen Regelung der Menschlichkeitsverbrechen<br />

vorausgesetzt. 47 Internationale oder internationalisierte<br />

Gerichte haben eine solche Beschränkung in den<br />

letzten 20 Jahren stets abgelehnt: Nach der seit der Entscheidung<br />

der Rechtsmittelkammer im Verfahren gegen Kunarac<br />

45<br />

Vgl. v. Hebel/Robinson (Fn. 10), S. 97 Fn. 53.<br />

46<br />

Robinson, American Journal of International Law 93<br />

(1999), 43 (50). Ähnlich v. Hebel/Robinson (Fn. 10), S. 97<br />

Fn. 53.<br />

47<br />

Vgl. nur Art. 6 lit. c IMG-Statut; Art. 5 lit. c IMGFO-<br />

Statut; Art. II lit. c KRG 10; Nuremberg Principle VI lit. c;<br />

Art. 5 JStGH-Statut; Art. 3 RStGH-Statut. Soweit Art. 6<br />

IMT-Statut bestimmt, der Militärgerichtshof habe „das Recht,<br />

alle Personen abzuurteilen, die im Interesse der der europäischen<br />

Achse angehörenden Staaten als Einzelpersonen oder<br />

als Mitglieder einer Organisation oder Gruppe eines der folgenden<br />

Verbrechen begangen haben […]“ (shall have the<br />

power to try and punish persons who, acting in the interests<br />

of the European Axis countries, whether as individuals or as<br />

members of organizations, committed any of the following<br />

crimes […]), handelt es sich offenkundig um eine Jurisdiktionsbeschränkung,<br />

nicht um ein Merkmal der dann folgenden<br />

Verbrechenstatbestände.


Erfordern Menschlichkeitsverbrechen die Beteiligung eines Staates/einer „staatsähnlichen“ Organisation?<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

u.a. die Rechtsprechung der Ad hoc-Strafgerichtshöfe bestimmenden<br />

Auffassung ist nach Völkergewohnheitsrecht<br />

sogar jedes Politik-Element verzichtbar. 48 In der Zeit davor<br />

war die Rechtsprechung davon ausgegangen, Träger einer<br />

Politik könnten auch kriminelle Organisationen und Terrorgruppen<br />

sein. 49 Diese Position vertrat bereits die Völkerrechtskommission<br />

der Vereinten Nationen in ihren Beratungen<br />

zu den Draft Codes of Crimes against Peace and the<br />

Security of Mankind von 1991 und 1996. 50 Soweit geltend<br />

gemacht wird, Ad hoc-Strafgerichtshöfe und Völkerrechtskommission<br />

hätten ihre Rechtsansicht nicht hinreichend begründet,<br />

51 wird außer Acht gelassen, dass etwaige Begründungsdefizite<br />

nichts an dem Bestehen der entsprechenden<br />

opinio iuris ändern. Das Völkergewohnheitsrecht spricht<br />

daher nicht für, sondern gegen eine restriktive Auslegung des<br />

Merkmals „Organisation“.<br />

VII. Ergebnis<br />

Nach der üblichen Begriffsverwendung bezeichnet „Organisation“<br />

einen Personenzusammenschluss, der über Strukturen<br />

48<br />

Vgl. JStGH (Appeals Chamber), Urt. v. 12.6.2002 – IT-96-<br />

23 & IT-96-23/1-A (Kunarac u.a.), paras 94, 98, 104.<br />

Bestätigt in JStGH (Appeals Chamber), Urt. v. 19.4.2004 –<br />

IT-98-33-A (Krstić), para. 225; JStGH (Appeals Chamber),<br />

Urt. v. 29.7.2004 – IT-95-14-A (Blaškić), paras. 100, 120;<br />

RStGH (Appeals Chamber), Urt. v. 20.5.2005 – ICTR-97-20-<br />

A (Semanza), para. 269; RStGH (Appeals Chamber), Urt. v.<br />

7.7.2006 – ICTR-2001-64-A (Gacumbitsi), para. 84; RStGH<br />

(Appeals Chamber), Urt. v. 28.11.2007 – ICTR-99-52-A<br />

(Nahimana u.a.), para. 922; RStGH (Appeals Chamber), Urt.<br />

v. 12.3.2008 – ICTR-2001-66-A (Seromba), para. 149.<br />

Ebenso SLSGH (Appeals Chamber), Urt. v. 28.5.2008 –<br />

SCSL-04-14-T (Fofana und Kondewa), para. 246; Report of<br />

the International Commission of Inquiry on Violations of<br />

International Humanitarian Law and Human Rights Law in<br />

Darfur, UN-Doc. S/2005/60 (2005), para. 179. Ob sich aus<br />

älteren Entscheidungen etwas anderes ergibt, ist zweifelhaft.<br />

Die Entscheidungen bezogen sich jedenfalls auf staatsgesteuerte<br />

Verbrechen. Die Frage, ob auch Angriffe nicht-staatlicher<br />

Akteure auf eine Zivilbevölkerung den Tatbestand der<br />

Menschlichkeitsverbrechen erfüllen können, stellte sich daher<br />

nicht.<br />

49<br />

Vgl. z.B. JStGH (Trial Chamber), Urt. v. 7.5.1997 – IT-94-<br />

12-T (Tadić), paras. 654 ff.; JStGH (Trial Chamber), Urt. v.<br />

3.3.2000 – IT-95-14-T (Blaškić), para. 205.<br />

50<br />

Vgl. Yearbook of the International Law Commission 1991,<br />

Bd. 2, Part 2 A/CN.4/SER.A/1991/Add.1 (Part 2) (1991),<br />

S. 103 f.; ILC Report on the work of its 48th session (6.5-26.<br />

7.1996), Doc. A/51/10, S. 47.<br />

51<br />

Vgl. z.B. van den Herik, in: Darcy/Powderly (Hrsg.): Judicial<br />

Creativity at the International Criminal Tribunals, 2010,<br />

S. 80 (S. 91 ff.); Kreß, in: Hankel (Hrsg.), Die Macht und das<br />

Recht, Beiträge zum Völkerrecht und Völkerstrafrecht am<br />

Beginn des 21. Jahrhunderts, 2008, S. 323 (S. 375); ders.,<br />

Leiden Journal of International Law 23 (2010), 855 (870);<br />

Schabas, Journal of Criminal Law & Criminology 98 (2008),<br />

953 (960 ff.).<br />

verfügt, die es über eine konkrete Situation hinaus ermöglichen,<br />

den Zusammenschluss gegenüber der Umwelt abzugrenzen,<br />

Handeln zielbezogen zu koordinieren und der Organisation<br />

zuzuschreiben. In diesem Sinne ist der Begriff auch<br />

in Art. 7 Abs. 2 lit. a IStGH-Statut zu verstehen. Eine Auslegung,<br />

die das Merkmal gegenüber der üblichen Begriffsbedeutung<br />

einschränkt, ist verfehlt. Insbesondere lässt sich nicht<br />

rechtfertigen, warum der Frage, wer den ausgedehnten und 52<br />

systematischen Angriff auf eine Zivilbevölkerung verübt, für<br />

die Bewertung dieses Angriffs als Weltfriedensstörung normative<br />

Relevanz zukommen soll. Unbestritten bilden staatliche<br />

Angriffe den Regelfall der Verbrechen gegen die Menschlichkeit.<br />

Gelingt es indes anderen Akteuren, einen solchen<br />

Angriff zu verüben, lässt sich kein normativ stichhaltiges<br />

Argument anführen, ein solches Geschehen nicht als ein den<br />

Weltfrieden gefährdendes Verbrechen gegen die Menschlichkeit<br />

zu behandeln. 53 Eine Argumentation nach Sinn und<br />

Zweck rechtfertigte daher sogar die Einbeziehung von Taten<br />

Einzelner oder solcher Gruppen, die nicht einmal die Minimalanforderungen<br />

des Organisationsbegriffes erfüllen. 54<br />

Insoweit setzt freilich der Wortlaut von Art. 7 Abs. 2 lit. c<br />

IStGH-Statut als verbindliche lex lata den teleologischen<br />

Erwägungen eine Grenze.<br />

VIII. Ausblick<br />

Gewalt in großem Ausmaß wird heute nicht nur von Staaten<br />

oder anderen territorial organisierten Entitäten ausgeübt. Auf<br />

den Plan treten Milizen und paramilitärische Verbände, Terrorgruppen<br />

und kriminelle Netzwerke, aber auch Parteien und<br />

private Sicherheitsfirmen. Dass diese Flexibilisierung der<br />

Gewalt ausübenden Akteure das traditionell staatszentrierte<br />

Völkerrecht vor Herausforderungen stellt, ist längst bekannt.<br />

55 Das Völkerstrafrecht zeigt sich diesen Herausforde-<br />

52 Die alternative Verknüpfung wird zumindest im IStGH-<br />

Statut durch die Formulierung des Politikelements in Art. 7<br />

Abs. 2 lit. a IStGH-Statut überholt. Vgl. dazu näher Werle<br />

(Fn. 13), Rn. 891.<br />

53 Vgl. im Ergebnis Di Filippo, EJIL 19 (2008), 533 (567);<br />

Werle (Fn. 13), Rn. 886 ff.<br />

54 Ebenso Ambos/Wirth, Criminal Law Forum 13 (2002), 1<br />

(17).<br />

55 Vgl. zur Diskussion um die erforderliche Anpassung des<br />

Rechts der bewaffneten Konflikte aus politikwissenschaftlicher<br />

Sicht z.B. Münkler, Der Wandel des Krieges, Von der<br />

Symmetrie zur Asymmetrie, 2006, passim; Münkler, in: Hankel<br />

(Fn. 51), S. 300. Aus völker(-straf-)rechtlicher Sicht z.B.<br />

Hobe, in: Heintze/Ipsen (Hrsg.), Heutige bewaffnete Konflikte<br />

als Herausforderungen an das humanitäre Völkerrecht,<br />

2011, S. 69; Kreß (Fn. 51), S. 323; Lehnardt, Private Militärfirmen<br />

und völkerrechtliche Verantwortlichkeit, 2011, S. 39<br />

ff., 67 ff.; Lubell, Extraterritorial Use of Force Against Non-<br />

State Actors, 2010, S. 85 ff.; Mammen, Völkerrechtliche Stellung<br />

von internationalen Terrororganisationen, 2008, S. 161<br />

ff. Inwieweit es sich dabei um ein neues Phänomen handelt<br />

oder nur um die nach dem Wegfall eines Wahrnehmungsde-<br />

fizits erfolgte Wiederentdeckung von Altbekanntem, mag<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

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279


Gerhard Werle/Boris Burghardt<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

rungen allerdings besser gewachsen als andere Teilbereiche<br />

des Völkerrechts. Sein Grundprinzip – individuelle strafrechtliche<br />

Verantwortlichkeit nach dem Völkerrecht ungeachtet<br />

der staatlichen Legalität – setzte stets die Relativierung des<br />

Staates und seiner Souveränität als normativen Ausgangspunkt<br />

für die Konstruktion der Völkerrechtsordnung voraus. 56<br />

Diese der Rechtsmaterie inhärente Progressivität spiegelt sich<br />

in den Tatbeständen des Völkermordes und der Verbrechen<br />

gegen die Menschlichkeit, die nach ihrem Wortlaut seit jeher<br />

keinen Staatsbezug verlangen. 57 Diese Position entspricht<br />

auch der heutigen völkerstrafrechtlichen Realität. Es ist kein<br />

Zufall, dass sämtliche bislang geführten Verfahren des IStGH<br />

in den Situationen Demokratische Republik Kongo, Uganda<br />

und Zentralafrikanische Republik sowie einige der Verfahren<br />

in der Darfur-Situation Verbrechen betreffen, die Entitäten<br />

zugerechnet werden, welche sich kaum als „staatsähnlich“<br />

bezeichnen lassen. 58<br />

Der Vorschlag, das eigentlich überholte staatszentrierte<br />

Denken quasi durch die Hintertür ins Völkerstrafrecht zurückzuholen<br />

und als normativ entscheidendes Abgrenzungskriterium<br />

einer Verbrechenskategorie zu etablieren, überrascht<br />

vor diesem Hintergrund. Sollte damit tatsächlich gemeint<br />

sein, das Handeln von Organisationen, die nicht<br />

„staatsähnlich“ sind, könne prinzipiell keine Bedrohung für<br />

Frieden, Sicherheit und Wohl der Welt darstellen? Oder soll<br />

lediglich nahe gelegt werden, nicht Verbrechen gegen die<br />

Menschlichkeit, sondern allenfalls ein anderer Verbrechenstatbestand<br />

wie ein neu geschaffenes Völkerrechtsverbrechen<br />

des Terrorismus sei die adäquate Kategorie, um solche Weltfriedensstörungen<br />

zu erfassen? Doch warum ließe sich über<br />

ein eigenständiges Verbrechen des Terrorismus überzeugender<br />

die Betroffenheit der internationalen Gemeinschaft be-<br />

dahinstehen. Vgl. dazu nur Schmitt, Der Begriff des Politischen,<br />

7. Aufl. 1996, S. 10.<br />

56<br />

Vgl. dazu zusammenfassend Werle (Fn. 30), S. 1219<br />

(S. 1220 ff.). Zu der Erforderlichkeit einer entsprechenden<br />

normativen Neuorientierung des Völkerrechts vgl. Peters,<br />

European Journal of International Law 20 (2009), 513.<br />

57<br />

Vgl. nur Art. 6 lit. c IMG-Statut; Art. 5 lit. c IMGFO-<br />

Statut; Art. II lit. c KRG 10; Nuremberg Principle VI lit. c;<br />

Art. 5 JStGH-Statut; Art. 3 RStGH-Statut. Soweit Art. 6<br />

IMT-Statut bestimmt, der Militärgerichtshof habe „das Recht,<br />

alle Personen abzuurteilen, die im Interesse der der europäischen<br />

Achse angehörenden Staaten als Einzelpersonen oder<br />

als Mitglieder einer Organisation oder Gruppe eines der folgenden<br />

Verbrechen begangen haben […]“ (shall have the<br />

power to try and punish persons who, acting in the interests<br />

of the European Axis countries, whether as individuals or as<br />

members of organizations, committed any of the following<br />

crimes […]), handelt es sich offenkundig um eine Jurisdiktionsbeschränkung,<br />

nicht um ein Merkmal der dann folgenden<br />

Verbrechenstatbestände.<br />

58<br />

Nicht nachvollziehbar ist daher der polemisch akzentuierte<br />

Vorwurf, die Begehung von tatbestandsmäßigen Angriffen<br />

durch nicht-staatsähnliche Organisationen sei eine wirklichkeitsfremde<br />

Hypothese. So aber z.B. Schabas, Leiden Journal<br />

of International Law 23 (2010), 847 (848 f.).<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

280<br />

<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />

gründen als mit dem Verweis auf die vorsätzlich-planmäßige<br />

Verletzung menschenrechtlich geschützter Individualrechtspositionen<br />

in großem Umfang?<br />

Wer hingegen eine Restriktion des Anwendungsbereichs<br />

der Verbrechen gegen die Menschlichkeit aus rechtsgrundsätzlichen<br />

Gründen für erforderlich hält, muss an einem anderen<br />

Punkt ansetzen: Bei der Bestimmung, wann ein Angriff<br />

gegen eine Zivilbevölkerung vorliegt bzw. wann ein solcher<br />

Angriff ausgedehnt und 59 systematisch ist. Gierhake hat insofern<br />

vorgeschlagen, nur solche Angriffe auf Individualrechtspositionen<br />

zu erfassen, die auf eine prinzipielle Entrechtung<br />

einer bestimmten Bevölkerungsgruppe abzielen. 60 Normativ<br />

ließe sich wohl begründen, dass die angemaßte prinzipielle<br />

Entrechtung zu einer Unrechtserhöhung gegenüber bloß situationsbezogenem<br />

Handeln führt. Fragwürdig ist aber, ob dieser<br />

Gesichtspunkt wirklich erforderlich ist, um im Zusammenhang<br />

mit massenhaften planmäßigen Verletzungen von<br />

Individualrechtspositionen von einer Weltfriedensstörung zu<br />

sprechen. Salopp formuliert: Welche Rolle spielt es für die<br />

internationale Gemeinschaft noch, ob die Gesamttat auf eine<br />

prinzipielle Entrechtung abzielt, wenn massenhaft planmäßig<br />

getötet wird? Zudem muss bezweifelt werden, dass die vorgeschlagene<br />

Beschränkung als Differenzierungskriterium in<br />

der Praxis präzisere Abgrenzungen erlaubt als der hier entwickelte<br />

Ansatz.<br />

Die nüchterne Erkenntnis lautet, dass die kategoriale Unterscheidung<br />

von völkerrechtlichem und nationalem Kriminalunrecht<br />

im Einzelfall eben doch im Wege einer nicht vollständig<br />

systematisierbaren Gesamtbetrachtung zu treffen ist,<br />

die qualitative wie quantitative Faktoren, insbesondere auch<br />

die Zahl der Opfer, einbeziehen muss. Eindeutigere Grenzen<br />

lassen sich nicht ziehen. Als Anhänger eines Ideals systematischer<br />

Rechtswissenschaft mag man dies bedauern. Die Konsequenz<br />

sollte aber nicht sein, aus vermeintlich rechtsprinzipiellen<br />

Gründen so hohe Voraussetzungen für das Vorliegen<br />

völkerrechtlichen Kriminalunrechts zu errichten, dass nur<br />

noch die ganz extremen Fälle erfasst sind. Denn anders als im<br />

nationalen Strafrecht geht es nicht um die Abgrenzung zwischen<br />

strafbarem und straflosem Verhalten, sondern lediglich<br />

um die Radizierung der Strafgewalt. Sachgerecht erscheint<br />

daher ein offener Ansatz, der dem Umstand Rechnung trägt,<br />

dass dem Völkerstrafrecht allgemein und dem Internationalen<br />

Strafgerichtshof im Besonderen mehrere Ebenen zur Verfügung<br />

stehen, um eine angemessene Kompetenz- und Aufgabenverteilung<br />

zwischen nationaler und internationaler Strafgewalt<br />

zu ermöglichen: nicht allein die materiell-rechtlichen<br />

Verbrechensdefinitionen, sondern auch der Grundsatz der<br />

Komplementarität und das Auswahlermessen der Anklagebehörde.<br />

Diese verschiedenen Ebenen sind auch bei der Bewertung<br />

der Strafverfolgungsaktivitäten des IStGH in der Kenia-<br />

Situation zu berücksichtigen. Hilfreich ist es, die gedankliche<br />

Nagelprobe zu unternehmen: Richten sich Skepsis und Vorbehalte<br />

tatsächlich gegen die Bewertung des Geschehens als<br />

Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder nicht doch eher<br />

59 Siehe zur kumulativen Verknüpfung bereits Fn. 52.<br />

60 Vgl. Gierhake, <strong>ZIS</strong> 2010, 676 (691 f.).


Erfordern Menschlichkeitsverbrechen die Beteiligung eines Staates/einer „staatsähnlichen“ Organisation?<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

dagegen, dass der IStGH sich mit dieser Situation befasst und<br />

nicht ein kenianisches Gericht oder ein hybrides Sondertribunal?<br />

61 Natürlich lässt sich angesichts der begrenzten Ressourcen<br />

des IStGH trefflich diskutieren, ob der Ankläger sein<br />

Auswahlermessen in der Kenia-Situation klug genutzt hat. 62<br />

Angesichts der verbreiteten Kritik ist indes dreierlei zu erinnern:<br />

Erstens steht eine „Banalisierung“ oder „Trivialisierung“ 63<br />

der Verbrechen gegen die Menschlichkeit derzeit nicht zu<br />

befürchten. Die den Ermittlungsgegenstand in der Kenia-<br />

Situation bildenden Gewalttätigkeiten haben insgesamt etwa<br />

1.200 Menschenleben gekostet, schätzungsweise 350.000<br />

Personen wurden zumindest zeitweise von ihrem Wohnort<br />

vertrieben. 64 Das sind kaum die Dimensionen „normaler“<br />

Schwerstkriminalität. Ausgedehnte Gewalttätigkeiten im<br />

Zusammenhang mit Wahlen sind zudem ein wiederkehrendes,<br />

strukturelles Problem, das nicht allein in Kenia, 65 son-<br />

61<br />

Vgl. insofern nur IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v.<br />

23.1.2012 – ICC-01/09-01/11-373 (Dissenting Opinion by<br />

Judge Hans-Peter Kaul to Pre-Trial Chamber II’s “Decision<br />

on the Confirmation of Charges Pursuant to Article 61(7)(a)<br />

and (b) of the Rome Statute”), para. 59; IStGH (Pre-Trial<br />

Chamber II), Beschl. v. 23.1.2012 – ICC-01/09-02/11-382<br />

(Dissenting Opinion by Judge Hans-Peter Kaul to Pre-Trial<br />

Chamber II’s “Decision on the Confirmation of Charges<br />

Pursuant to Article 61(7)(a) and (b) of the Rome Statute”),<br />

para. 65.<br />

62<br />

Vgl. z.B. Sadat, Emerging From the Shadow of Nuremberg:<br />

Crimes Against Humanity in the Modern Age, Legal<br />

Studies Research Paper Series, Paper No. 11-11-04, 6, unter:<br />

http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=2013254<br />

(7.5.2012).<br />

63<br />

So IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 31.3.2010 –<br />

ICC-01/09-19 (Dissenting Opinion of Judge Hans-Peter Kaul<br />

to Pre-Trial Chamber II’s “Decision Pursuant to Article 15 of<br />

the Rome Statute on the Authorization of an Investigation<br />

into the Situation in the Republic of Kenya”), para. 55.<br />

64<br />

Vgl. IStGH (Pre-Trial Chamber II), Beschl. v. 31.3.2010 –<br />

ICC-01/09-19 (Decision Pursuant to Article 15 of the Rome<br />

Statute on the Authorization of an Investigation into the Situation<br />

in the Republic of Kenya), para. 131 mit zahlreichen<br />

Nachweisen zu den unterschiedlichen Schätzungen. Human<br />

Rights Watch setzt die Zahl der Vertriebenen in einem aktuelleren<br />

Report mit 663.921 deutlich höher an. vgl. Human<br />

Rights Watch, “Turning Pebbles”, Evading Accountability<br />

for Post-Election Violence in Kenya, 2011, S. 13, abrufbar<br />

unter:<br />

http://www.hrw.org/news/2011/12/09/kenya-prosecuteperpetrators-post-election-violence<br />

(4.4.2012).<br />

65<br />

In Kenia kam es bereits im Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen<br />

1992 und 1997 zu Gewalttätigkeiten vergleichbaren<br />

Ausmaßes, vgl. z.B. Human Rights Watch World<br />

Report 1993 – Kenya, 1.1.1993 und Human Rights Watch<br />

World Report 1998 – Kenya, 1.1.1998, abrufbar unter<br />

http://www.unhcr.org/refworld/docid/467fca5d1e.html und<br />

http://www.unhcr.org/refworld/docid/3ae6a8b124.html<br />

(17.4.2012).<br />

dern auch in anderen afrikanischen Staaten wiederholt zu<br />

bürgerkriegsähnlichen Zuständen geführt hat 66 und daher<br />

bereits als Friedensgefährdung im engeren Sinne erscheint.<br />

Und ganz allgemein lässt sich konstatieren: Während eine<br />

Überkriminalisierung bislang allenfalls düstere Prophezeiung<br />

ist, bleibt das Verfolgungsdefizit bei Verbrechen gegen die<br />

Menschlichkeit realiter das größte Problem des Völkerstrafrechts.<br />

Zweitens hatten die kenianischen Entscheidungsträger alle<br />

Möglichkeiten, eine Intervention des IStGH durch eigene<br />

Strafverfolgungsmaßnahmen abzuwenden. Der Ankläger hat<br />

die Ermittlungen in der Kenia-Situation erst vorangetrieben,<br />

als sich immer deutlicher abzeichnete, dass die kenianischen<br />

Bemühungen um eine angemessene strafrechtliche Aufarbeitung<br />

der post-election violence an machtpolitischen Erwägungen<br />

scheitern würden. 67<br />

Drittens könnte die Aktivität des IStGH in der Kenia-<br />

Situation zum bislang größten Erfolg des Gerichtshofs werden,<br />

gerade weil Kenia trotz aller Probleme, die geschehenen<br />

Verbrechen selbst aufzuarbeiten, kein gescheiterter oder<br />

verbrecherischer Staat ist, der als Kooperationspartner des<br />

Gerichthofs von vornherein ausschiede. Und wer wollte bestreiten,<br />

dass ein friedlicher Ablauf der nächsten kenianischen<br />

Präsidentschaftswahlen am 4. März 2013 auch dem<br />

disziplinierenden Effekt der Intervention des IStGH zuzuschreiben<br />

wäre?<br />

66<br />

Zu denken ist in jüngerer Vergangenheit etwa an gewalttätige<br />

Unruhen im Kontext von Wahlen in Côte d’Ivoire, Nigeria,<br />

Uganda und Gabun.<br />

67<br />

Vgl. zu den kenianischen Bemühungen zusammenfassend<br />

Human Rights Watch, “Turning Pebbles”, Evading Accountability<br />

for Post-Election Violence in Kenya, 2011, unter:<br />

http://www.hrw.org/news/2011/12/09/kenya-prosecuteperpetrators-post-election-violence<br />

(4.4.2012).<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

281


Das deutsche Inzestverbot vor den Schranken des EGMR<br />

Die Entscheidung und ihre Folgen für die strafrechtswissenschaftliche Debatte<br />

Von Wiss. Assistent Dr. Michael Kubiciel, Regensburg<br />

Nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte<br />

(EGMR) ist das Verbot des Beischlafs zwischen<br />

Verwandten mit der Europäischen Menschenrechtskonvention<br />

(EMRK) vereinbar. Zwar fügen sich wesentliche Entscheidungserwägungen<br />

nicht in die Systematik des StGB ein; konventionsrechtlich<br />

ist die Entscheidung indes nicht zu kritisieren.<br />

Insbesondere ist es aus institutionellen und intrinsischen<br />

Gründen richtig, dass der EGMR den Vertragsstaaten in<br />

Kriminalisierungsfragen wie dieser einen Beurteilungsspielraum<br />

gewährt. Mit der Entscheidung des EGMR muss der<br />

Schwerpunkt der Debatte um § 173 StGB verlagert werden:<br />

Wichtiger als die kriminalpolitische Kritik wird die Suche<br />

nach einem Strafgrund, von dem aus der Tatbestand rational<br />

und restriktiv interpretiert werden kann. Anders als weithin<br />

angenommen, lässt sich ein solcher Grund benennen: Nach<br />

hiesiger Auffassung antwortet die Strafe des § 173 StGB auf<br />

die Verletzung einer positiven Pflicht zum Schutz der Institution<br />

Familie.<br />

The European Court of Human Rights (ECHR) has held that<br />

the criminalisation of sibling incest by the German criminal<br />

code (StGB) is in line with the European Convention on Human<br />

Rights. While important parts of the court’s reasoning<br />

are incompatible with the systematic order of the StGB, the<br />

application of the European (case) law cannot be criticised.<br />

In particular, for institutional and intrinsic reasons it is necessary<br />

for the ECHR to acknowledge a national margin of<br />

appreciation with regard to criminal policy issue like the<br />

incest. After the ECHR has approved the criminalisation of<br />

sibling incest, the focus of the debate must be shifted: Instead<br />

of criticising the prohibition of incest, law scholars must<br />

search for a basis, on which the criminal law statute can be<br />

founded and which may enable a reasonable and restrictive<br />

interpretation. Contrary to a widespread opinion, such a<br />

basis exists: The punishment of an incestuous relationship is<br />

a reaction for the violation of a (positive) duty, which protects<br />

the family as an institution.<br />

I. Das Strafgesetzbuch – ein „schicklicher Platz“ für ein<br />

Inzestverbot?<br />

Das Verbot des Beischlafs zwischen Verwandten zählt zu den<br />

am heftigsten kritisierten Tatbeständen des StGB. 1 Viele<br />

sehen in § 173 StGB gar eine Vorschrift, die sich nicht rational<br />

begründen lasse, 2 sondern lediglich ein gesellschaftliches<br />

1<br />

So mit weiteren Nachweisen Hörnle, Grob anstößiges Verhalten,<br />

2005, S. 452; Schramm, Ehe und Familie im Strafrecht,<br />

2011, S. 400.<br />

2<br />

Jung, in: Kerner u.a. (Hrsg.), Kriminologie – Psychiatrie –<br />

Strafrecht, Festschrift für Heinz Leferenz zum 70. Geburtstag,<br />

1983, S. 311 (S. 316); Roxin, Strafrecht, Allgemeiner<br />

Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 2 Rn. 43 ff. (S. 27 f.).<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

282<br />

<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />

Tabu schütze. 3 Wie wirkmächtig dieses Tabu ist, hat bereits<br />

Feuerbach erleben müssen: Der Gegner des „Blutschande“-<br />

Tatbestands sah sich gezwungen, das Inzestverbot im Bayerischen<br />

Strafgesetzbuch von 1813 im Abschnitt über die Delikte<br />

gegen die Person unterzubringen, obgleich ein einverständlicher<br />

Geschlechtsverkehr schwerlich eine „Beschädigung“<br />

oder „Mißhandlung“ der Person darstellen kann. 4 An die<br />

Stelle einer dogmatischen Begründung traten bei Feuerbach<br />

daher kriminalpolitische Argumente: Die öffentliche Meinung<br />

belege unsittliche Handlungen wie die Blutschande mit<br />

weit größerem Abscheu als manches „eigentliche“ Verbrechen.<br />

Wolle der Gesetzgeber nicht das allgemeine sittliche<br />

Gefühl empören, wolle er nicht vor dem Volk als Beschützer<br />

des „groben verworfenen Lasters“ erscheinen, müsse er Tatbeständen<br />

wie diesen ihren „schicklichen Platz“ im Kriminalgesetzbuch<br />

einräumen. 5 Auch in der Folgezeit scheiterten<br />

zahlreiche Versuche, das Inzestverbot aus der Sphäre des<br />

Rechts zu drängen. 6 Selbst aus der Großen Strafrechtsreform<br />

der langen 1960er Jahre 7 und der „revolutionären“ 8 Umgestaltung<br />

des Sexualstrafrechts in den 1990er Jahren ging der<br />

Tatbestand im Kern unverändert hervor.<br />

3 Roxin, StV 2009, 544 (548): „Die Strafbarkeit des Geschwisterinzests<br />

entspricht einer uralten Tabuvorstellung, die<br />

evolutionsgeschichtlich einen Sinn hatte, heute aber keine<br />

Funktion mehr hat.“ S. ferner Jäger, Strafgesetzgebung und<br />

Rechtsgüterschutz bei Sittlichkeitsdelikten, 1957, S. 66 ff.;<br />

Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 59.<br />

Aufl. 2012, § 179 Rn. 7; Hörnle (Fn. 1), S. 457; Ritscher, in:<br />

Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch,<br />

Bd. 3, 2. Aufl. 2012, § 173 Rn. 2; Wittig, in:<br />

Satzger/Schmitt/Wittmaier (Hrsg.), Strafgesetzbuch, 2009,<br />

§ 173 Rn. 2.<br />

4 S. die Überschrift der Delikte des 2. Kapitels des 1. Titels<br />

(„Privatverbrechen“) im 2. Buch des BayStGB von 1813<br />

sowie darin Art. 206 („Blutschande“) und Art. 207 („Unzucht<br />

mit Geschwistern und Abhängigen“), abgedruckt in Buschmann,<br />

Textbuch zur Strafrechtsgeschichte der Neuzeit, 1998,<br />

S. 447 ff. – Zu Feuerbachs Einstellung gegenüber dem Blutschande-Tatbestand<br />

Hull, in: Opitz/Weckel/Kleinau (Hrsg.),<br />

Tugend, Vernunft und Gefühl, 2000, S. 45 (S. 56 ff.); Rosenberg,<br />

Das Sexualstrafrecht in Bayern von 1813 bis 1871,<br />

1973, S. 180.<br />

5 Feuerbach, in: L. Feuerbach (Hrsg.), Paul Johann Anselm<br />

Ritter von Feuerbachs Leben und Wirken, 1976, S. 596.<br />

6 Zur rechtgeschichtlichen Entwicklung Löhnig, in: Kroppenberg/Löhnig<br />

(Hrsg.), Fragmentierte Familien, 2010, S. 207;<br />

Sieber, in: Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales<br />

Strafrecht (Hrsg.), Stellungnahme zu dem Fragenkatalog<br />

des Bundesverfassungsgerichts in dem Verfahren 2<br />

BvR 392/07 zu § 173 Abs. 2 S. 2 StGB – Beischlaf zwischen<br />

Geschwistern –, 2007, S. 4 ff.<br />

7 Schroeder, ZRP 1971, 14.<br />

8 So Schroeder, JZ 1999, 827.


Das deutsche Inzestverbot vor den Schranken des EGMR<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Angesichts der Fehlschläge legislativer Reformversuche<br />

richteten sich die Hoffnungen derer, die dem Inzestverbots<br />

seinen Platz im StGB streitig machen wollen, in den letzten<br />

Jahren auf das BVerfG und den EGMR – jedoch vergebens:<br />

Nach der Bestätigung der Verfassungskonformität im Jahr<br />

2008 9 hat vor wenigen Wochen auch der EGMR den deutschen<br />

Inzeststraftatbestand passieren lassen. Das Verbot des<br />

Beischlafs zwischen Verwandten greife zwar in das von<br />

Art. 8 EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Familien-<br />

und Privatlebens ein, doch sei dieser Eingriff gerechtfertigt.<br />

10 Auch wenn wesentliche Erwägungen des Straßburger<br />

Gerichts nicht mit der Systematik des deutschen Strafrechts<br />

vereinbar sind: Am für die Individualbeschwerde entscheidenden<br />

Konventionsrecht gemessen sind das Urteil und seine<br />

Begründung richtig (II.). Mit der Kriminalisierung des Beischlafs<br />

zwischen Geschwistern überschreitet der nationale<br />

Gesetzgeber nicht jenen „margin of appreciation“, der ihm<br />

bei der Austarierung kollidierender Interessen aus institutionellen<br />

und intrinsischen Gründen zuzubilligen ist. Weil sich<br />

an der Strafbarkeit des Beischlafs zwischen Verwandten auf<br />

absehbare Zeit nichts ändern wird, 11 muss die Diskussion um<br />

§ 173 StGB in eine neue Phase eintreten. Die Strafrechtswissenschaft<br />

kann sich nicht länger hinter ihrer kriminalpolitischen<br />

Kritik verschanzen, sondern muss sich auf die Suche<br />

nach einer Grundlage für den Tatbestand begeben, 12 von dem<br />

aus § 173 StGB (einschränkend) ausgelegt werden kann. Wie<br />

wir sehen werden, lässt sich ein solcher Grund benennen:<br />

Nach hiesiger Auffassung antwortet die Strafe des § 173<br />

StGB auf die Verletzung einer positiven Pflicht zum Schutz<br />

der Institution Familie (III.).<br />

II. Die Entscheidung des EGMR<br />

1. Gegenstand der Individualbeschwerde<br />

In seiner Entscheidung aus dem Jahr 2008 bestätigte das<br />

BVerfG die Verurteilung eines Mannes, der über Jahre hinweg<br />

eine sexuelle Beziehung zu seiner leiblichen Schwester<br />

9<br />

BVerfGE 120, 224. Dazu (krit.) Bottke, in: Hassemer u.a.<br />

(Hrsg.), In dubio pro libertate, Festschrift für Klaus Volk zum<br />

65. Geburtstag, 2009, S. 93; M. Cornils, ZJS 2009, 85 (87);<br />

Hassemer, in: BVerfGE 120, 224 (255 ff.); Hörnle, NJW<br />

2008, 2085 ff.; Greco, <strong>ZIS</strong> 2008, 234; Krauß, in: Herzog/Neumann<br />

(Hrsg.), Festschrift für Winfried Hassemer,<br />

2010, S. 423; Roxin, StV 2009, 544; Noltenius, ZJS 2009, 15;<br />

Zabel, JR 2008, 453; Ziethen, NStZ 2008, 617.<br />

10<br />

EGMR, Urt. v. 12.4.2012 – 43547/08 (Stübing v. Deutschland).<br />

11<br />

Schramm (Fn. 1), S. 403, hegt die Hoffnung, dass der Tatbestand<br />

bei einer neuerlichen Verfassungsbeschwerde verworfen<br />

werden könne. Doch dürften – schon aus tatsächlichen<br />

und prozessualen Gründen – Jahre bis zu einer neuen<br />

Entscheidung vergehen. Realistischer daher die Einschätzung<br />

von M. Heinrich, in: M. Heinrich u.a. (Hrsg.), Strafrecht als<br />

Scientia Universalis Festschrift – Festschrift für Claus Roxin<br />

zum 80. Geburtstag am 15. Mai 2011, 2011, S. 131 (S. 140).<br />

12<br />

Dass diese Suche bislang von vielen Fehlschlägen begleitet<br />

ist, konstatiert Ritscher (Fn. 3), § 173 Rn. 2.<br />

unterhalten und mit dieser mehrere Kinder gezeugt hatte. 13<br />

Der Gesetzgeber verfolge mit dem Verbot des Beischlafs<br />

zwischen Verwandten verfassungsrechtlich zulässige Zwecke,<br />

die „jedenfalls in ihrer Gesamtheit“ den Tatbestand legitimierten:<br />

die Bewahrung der familiären Ordnung vor schädigenden<br />

Wirkungen des Inzests, den Schutz der in einer Inzestbeziehung<br />

unterlegenen Partner sowie ergänzend die Vermeidung<br />

schwerwiegender genetisch bedingter Erkrankungen<br />

bei Abkömmlingen aus Inzestbeziehungen. 14 Dem Rechtsgutsbegriff<br />

vermochte das BVerfG keine Anforderungen abzugewinnen,<br />

die der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit des<br />

§ 173 StGB im Wege gestanden hätten. 15 Dies mit Recht.<br />

Denn ganz unabhängig von der Vagheit des Rechtsgutsbegriffs,<br />

16 seinem ungeklärten Geltungsgrund 17 und der Tatsache,<br />

dass sich selbst Vertreter einer systemkritischen Rechtsgutskonzeption<br />

über deren Grenzen hinwegsetzen: 18 Das<br />

BVerfG begründet § 173 StGB (auch) mit dem Schutz der<br />

Familie sowie dem sexuellen Selbstbestimmungsrecht, kurz:<br />

mit anerkannten Rechtsgütern. 19 Die am BVerfG geübte<br />

13<br />

Zur Prozessgeschichte BVerfGE 120, 224 (234 f.); EGMR,<br />

Urt. v. 12.4.2012 – 43547/08 (Stübing v. Deutschland), Rn. 5<br />

ff.<br />

14<br />

BVerfGE 120, 224 (243).<br />

15<br />

BVerfGE 120, 224 (241 f.).<br />

16<br />

S. nur Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 357 ff.;<br />

Frisch, in: Hefendehl/v. Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie:<br />

Legitimationsbasis des Strafrechts oder dogmatisches<br />

Glasperlenspiel?, 2003, S. 215 (S. 217); Hörnle (Fn. 1),<br />

S. 17 f.; Kuhlen, in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung<br />

und Strafprozess im gesamten Strafrechtssystem,<br />

1996, S. 77 (S. 97); Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts,<br />

1993, S. 279; Rönnau, JuS 2009, 209 f.; Stuckenberg,<br />

GA 2011, 653 (657). Klassisch die Kritik v. Liszts,<br />

Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. 1, 1970, S. 224,<br />

aus dem Jahr 1873: Der Rechtsgutsbegriff (namentlich Bindings)<br />

sei ein „Proteus, der alle Gestalten annimmt; ein Wort,<br />

das heute das und morgen wieder etwas ganz anderes bedeutet,<br />

ein Blankett, dem jeder den <strong>Inhalt</strong> geben kann, der ihm<br />

gerade passt.“ Fast wortgleich 50 Jahre später Welzel, Abhandlungen<br />

zum Strafrecht und zur Rechtsphilosophie, 1975,<br />

S. 135 (zum Rechtsgutsbegriff insgesamt).<br />

17<br />

Dazu zuletzt Hilgendorf, NK 2010, 125 (128 f.); Stuckenberg,<br />

GA 2011, 653. S. auch Greco, <strong>ZIS</strong> 2008, 234 (237).<br />

18<br />

Zu „Erweiterungen des strafrechtlichen Regelungsbereichs<br />

über den Rechtsgüterschutz hinaus“ s. Roxin (Fn. 2), § 2<br />

Rn. 29 ff. Eine derart topisch begründete Aufsprengung von<br />

Systemgrenzen führt freilich unweigerlich zu der Frage, wie<br />

dem Gesetzgeber in anderen Fällen die begründete Erweiterung<br />

des strafrechtlichen Regelungsbereiches über den Rechtsgüterschutz<br />

hinaus untersagt werden kann (vgl. zu den Folgen<br />

einer solchen Verwendung der Topik Viehweg, Topik und<br />

Jurisprudenz, 5. Aufl. 1973, S. 31 ff.).<br />

19<br />

Der von Noltenius, ZJS 2009, 15 (17) und Roxin, StV<br />

2009, 544 (545) ausgemachte Widerspruch zwischen dem<br />

Hinweis des BVerfG auf den Rechtsgüterschutz als Aufgabe<br />

des Strafrechts einerseits und der Ablehnung des Rechtsgutsbegriffs<br />

als Prüfstein der Kriminalisierung andererseits lässt<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

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283


Michael Kubiciel<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Kritik, es bestätige einen irrational-tabuschützenden Tatbestand,<br />

ist in dieser Pauschalität daher unbegründet. 20<br />

2. Begründung der Beschwerde<br />

Mit der Zurückweisung der Verfassungsbeschwerde gegen<br />

die Verurteilung war der Weg zu einer Individualbeschwerde<br />

beim EGMR eröffnet. In dieser monierte der Beschwerdeführer<br />

eine Missachtung des von Art. 8 Abs. 1 EMRK gewährleisteten<br />

Privat- und Familienlebens. Ein Artikel, der bislang<br />

hauptsächlich als Rechtsschutznorm gegen strafprozessuale<br />

Eingriffe wie die Überwachung des Telefon- und Briefverkehrs<br />

genutzt wurde, 21 sollte also nun jenes kritische Potenzial<br />

entfalten, das dem Rechtsgutsbegriff und dem Grundgesetz<br />

fehlt. Zur Begründung machte der Beschwerdeführer zunächst<br />

geltend, die Verurteilung wegen Beischlafs unter Verwandten<br />

verletze sein Recht auf Achtung des Familienlebens,<br />

weil sie ihn davon abhalte, an der Erziehung seiner Kinder<br />

teilzuhaben. 22 Diese Wirkung kann jedoch den Anwendungsbereich<br />

des Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht eröffnen. Denn die<br />

Trennung von der Familie ist die Folge jeder Verurteilung zu<br />

einer Freiheitsstrafe, deren konventionsrechtlichen Anforderungen<br />

die Artt. 5, 6 und 7 EMRK statuieren. Soll Art. 8<br />

Abs. 1 EMRK nicht systemwidrig zu einem Türöffner für eine<br />

umfassende Prüfung des gesamten nationalen Strafrechtsregimes<br />

umgewandelt werden, kann der Eingriff in das Familien-<br />

und Privatleben nicht in der Straffolge, sondern nur in<br />

der Strafbegründung liegen: Der Grund der Strafe muss mit<br />

dem Recht auf Achtung des Familien- und Privatlebens konfligieren.<br />

Die inhaltlichen Argumente des Beschwerdeführers beziehen<br />

sich denn auch auf die Begründung der Strafe. Das<br />

Verbot des Beischlafs zwischen Verwandten greife in sein<br />

Sexualleben und damit in das von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte<br />

Privatleben ein, 23 ohne dass dieser Eingriff durch<br />

eine „drängende soziale Notwendigkeit“ i.S.d. Art. 8 Abs. 2<br />

EMRK gerechtfertigt werden könnte. 24 Erstens lasse sich<br />

§ 173 StGB nicht als Mittel zum Schutz vor Erbkrankheiten<br />

rechtfertigen, weil der Zusammenhang zwischen Inzest und<br />

derartigen Kindsschädigungen nicht hinreichend belegt sei<br />

und der Staat Risikopaaren die Zeugung von Kindern nicht<br />

verbieten dürfe. Zweitens diene das Inzestverbot nicht dem<br />

Schutz des Familienverbandes. Denn der Straftatbestand gelte<br />

sich daher auflösen: Das BVerfG bestätigt einen systemimmanenten<br />

Rechtsgutsbegriff, während es einen weitergehenden<br />

systemkritischen Rechtsgutsbegriff ablehnt. Wie hier<br />

Frommel, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos<br />

Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 2, 3. Aufl. 2010, § 173<br />

Rn. 2.<br />

20 Im Ergebnis wie hier Schramm (Fn. 1), S. 425.<br />

21 Ambos, Internationales Strafrecht, 3. Aufl. 2011, § 10<br />

Rn. 54 ff.<br />

22 EGMR, Urt. v. 12.4.2012 – 43547/08 (Stübing v. Deutsch-<br />

land), Rn. 34.<br />

23 EGMR, Urt. v. 12.4.2012 – 43547/08 (Stübing v. Deutsch-<br />

land), Rn. 34.<br />

24 Dazu und zum Folgenden EGMR, Urt. v. 12.4.2012 –<br />

43547/08 (Stübing v. Deutschland), Rn. 36 ff.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

284<br />

<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />

einerseits nur für erwachsene Kinder, die in der Regel die<br />

Familie alsbald verließen, andererseits erfasse er Stief- und<br />

Adoptivkinder nicht, obgleich auch diese zur Familie gehörten.<br />

Drittens sei § 173 StGB weder geeignet noch gedacht,<br />

die sexuelle Selbstbestimmung zu schützen: Diese Funktion<br />

erfüllten andere Tatbestände des StGB. Viertens lasse sich<br />

die Verurteilung nicht mit dem Schutz der Moral rechtfertigen,<br />

denn es sei nicht zu erwarten, dass ein Freispruch das<br />

gesellschaftliche Inzesttabu schwächte.<br />

3. Entscheidungsgründe<br />

Mit diesen Argumenten war der Beschwerdeführer bereits in<br />

Karlsruhe gescheitert und ein Blick auf das Prüfungsprogramm<br />

des EGMR dürfte bei ihm Zweifel daran ausgelöst<br />

haben, dass er mit ihnen in Straßburg durchdringt. Denn eine<br />

Individualbeschwerde ist keine „fourth instance“ oder Superrevision,<br />

25 in der zu erörtern wäre, ob sich die von einem nationalen<br />

Gesetzgeber oder Verfassungsgericht für eine Kriminalisierung<br />

bzw. Verurteilung angeführten Gründe passgenau<br />

in das nationale Straf- oder Verfassungsrecht einfügen<br />

lassen. 26 Im „europäischen Verfassungsgerichtsverbund“ 27<br />

kommt dem EGMR vielmehr die beschränkte Aufgabe zu,<br />

eine nationale Entscheidung auf ihre Vereinbarkeit mit den<br />

Standards der EMRK zu prüfen. Der Verfassungsgerichtsverbund<br />

zwischen BVerfG und EGMR bezweckt folglich nur<br />

einen komplementären Grundrechtsschutz. 28 Dies gebietet<br />

eine Rücksichtnahme des einen Gerichts auf den von dem<br />

jeweils anderen Gericht gewährleisteten Schutz. 29 Dem<br />

Rücksichtnahmegebot trägt der EGMR dadurch Rechnung,<br />

dass er den Institutionen der Konventionsstaaten einen Beurteilungsspielraum<br />

(„margin of appreciation“) hinsichtlich der<br />

Umsetzung der von der EMRK gewährleisteten Menschenrechte<br />

zubilligt. 30 Aus diesem Grund nimmt die Kontrolldich-<br />

25<br />

Zum subsidiären Charakter Grabenwarter/Pabel, Europäischen<br />

Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2010, § 18 Rn. 20.<br />

Zur „fourth instance formula“ Conde, A Handbook of International<br />

Human Rights Terminology, 2. Aufl. 2004, S. 52.<br />

26<br />

Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention,<br />

Handkommentar, 3. Aufl. 2011, Art. 8 Rn. 109, 118; Peukert,<br />

in: Frohwein/Peukert, EMRK-Kommentar, 3. Aufl. 2009,<br />

Art. 34 Rn. 6.<br />

27<br />

Voßkuhle, NVwZ 2010, 1 (3).<br />

28<br />

Di Fabio, FAZ v. 20.10.2011 (www.faz.net/aktuell/politik/<br />

staat-und-recht/gastbeitrag-friedliche-koexistenz-11057029);<br />

Oeter, VVDStRL 66 (2007), 361; Schumann, in: Bernreuther<br />

u.a. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Spellenberg zum 70. Geburtstag,<br />

2010, S. 729 (S. 733 f.); Steiner, in: Detterbeck<br />

(Hrsg.), Recht als Medium der Staatlichkeit, Festschrift für<br />

Herbert Bethge, 2009, S. 653 (S. 662 ff.).<br />

29<br />

Voßkuhle, NVwZ 2010, 1 (3).<br />

30<br />

Brems, ZaöRV 56 (1996), 240 (242 ff.); Delmas-Marty,<br />

Ordering Pluralism, 2009, S. 47 ff.; Kühling, in: v. Bogdandy/Bast<br />

(Hrsg.) Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009,<br />

S. 695; Letsas, Oxford Journal of Legal Studies 26 (2006),<br />

705 (709 ff.); Prepeluh, ZaöRV 61 (2001), 771 (772 ff.). Vgl.<br />

auch Nußberger, RW 2012, 197 (210 f.): „Wahrung von<br />

allgemein akzeptierten (Mindest)standards“.


Das deutsche Inzestverbot vor den Schranken des EGMR<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

te auf dem Weg von Karlsruhe nach Straßburg nicht zu, sondern<br />

ab. 31<br />

Dies bestätigt auch der vorliegende Fall. 32 Zwar müsse<br />

ein Staat, so der EGMR, besonders wichtige Gründe („particular<br />

serious reasons“) geltend machen können, wenn er –<br />

wie hier – in eine bedeutsame Facette der individuellen Existenz<br />

eingreife. Doch sei der nationale Beurteilungsspielraum<br />

weiter, wenn die streitgegenständliche Frage in den Mitgliedstaaten<br />

des Europarates nicht einheitlich beantwortet werde<br />

oder wenn sie ein sensibles moralisches oder ethisches Thema<br />

berühre. Beides sei hier der Fall. Daher hat sich der<br />

EGMR nicht näher mit den vom Beschwerdeführer vorgetragenen<br />

kriminalpolitischen, dogmatischen und systematischen<br />

Argumenten befasst, 33 sondern sich mit einer Vertretbarkeitsprüfung<br />

begnügt. Dementsprechend fallen die weiteren Erwägungen<br />

des EGMR aus. 34 Das BVerfG, so das Straßburger<br />

Gericht, habe eine sorgfältige Abwägung der Argumente für<br />

und gegen die Strafbarkeit sexueller Beziehungen zwischen<br />

Geschwistern vorgenommen und mehrere Strafzwecke genannt,<br />

auf die sich die Verurteilung des Beschwerdeführers<br />

stützen ließen. Besondere Beachtung schenkt der EGMR dem<br />

Schutz des sexuellen Selbstbestimmungsrechts. In diesem<br />

Zusammenhang betont das Gericht, dass die Schwester des<br />

Beschwerdeführers im Alter von sechzehn Jahren und nach<br />

dem Tod ihrer Mutter eine Beziehung mit ihrem sieben Jahre<br />

älteren Bruder eingegangen sei, dass sie an einer schweren<br />

Persönlichkeitsstörung leide und in hohem Maße von ihrem<br />

Bruder abhängig gewesen sei. 35<br />

„Unter diesen Umständen“, fand der EGMR, lasse sich<br />

die Verurteilung des Beschwerdeführers auf ein dringendes<br />

soziales Bedürfnis („pressing social need“) zurückführen. 36<br />

III. Bewertung der Entscheidung<br />

Die Entscheidung lässt sich aus einem strafrechtsdogmatischen<br />

und aus einem europarechtlichen Blickwinkel kommentieren.<br />

Kritisieren kann man sie aber nur aus der national-<br />

31<br />

Zur geringeren Kontrolldichte Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.),<br />

Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009,<br />

§ 2 Rn. 99 (S. 74); Letsas, Oxford Journal of Legal Studies<br />

26 (2006), 705 (721): „It is the idea that the Court’s power to<br />

review decisions taken by domestic authorities should be<br />

more limited than the powers of a national constitutional<br />

court [...].“<br />

32<br />

Dazu und zum Folgenden EGMR, Urt. v. 12.4.2012 –<br />

43547/08 (Stübing v. Deutschland), Rn. 58 f.<br />

33<br />

Dazu und zum Folgenden EGMR, Urt. v. 12.4.2012 –<br />

43547/08 (Stübing v. Deutschland), Rn. 55 ff.<br />

34<br />

Dazu und zum Folgenden EGMR, Urt. v. 12.4.2012 –<br />

43547/08 (Stübing v. Deutschland), Rn. 63 f.<br />

35<br />

EGMR, Urt. v. 12.4.2012 – 43547/08 (Stübing v. Deutschland),<br />

Rn. 64.<br />

36<br />

EGMR, Urt. v. 12.4.2012 – 43547/08 (Stübing v. Deutschland),<br />

Rn. 65. A.A. Klöpper, Das Verhältnis von § 173 StGB<br />

zu Art. 6 Abs. 1 GG, 1995, S. 136 ff., der mit ähnlichen Erwägungen<br />

wie jenen der Beschwerde den Eingriff für nicht<br />

gerechtfertigt erachtet.<br />

rechtlichen Perspektive (1.), die der EGMR gerade nicht<br />

einnehmen kann (2.).<br />

1. § 173 StGB als Tatbestand zum Schutz des sexuellen<br />

Selbstbestimmungsrechts?<br />

Die besondere Aufmerksamkeit, die der EGMR dem Schutz<br />

des sexuellen Selbstbestimmungsrechts schenkt, hat ihre Ursache<br />

in den entsprechenden Ausführungen des BVerfG. 37<br />

Dogmatisch ist sie jedoch unangebracht. Denn die sexuelle<br />

Selbstbestimmung wird im 13. Abschnitt des StGB geschützt,<br />

während § 173 StGB seinen Platz im 12. Abschnitt des StGB<br />

über die Straftaten gegen den Personenstand, die Ehe und die<br />

Familie hat. 38 Den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung<br />

vor Übergriffen in „spezifischen, durch die Nähe der Familie<br />

bedingten oder in der Verwandtschaft wurzelnden Abhängigkeiten“<br />

39 haben folglich die §§ 174 ff. StGB zu gewährleisten.<br />

Es hieße, die von ihnen aufgestellten, fein ziselierten<br />

Regeln systemwidrig zu umgehen, wenn § 173 StGB auf die<br />

pauschale Behauptung gestützt würde, bei einem Beischlaf<br />

zwischen Verwandten werde stets das sexuelle Selbstbestimmungsrecht<br />

eines Beteiligten verletzt. 40 Aus systematischen<br />

und dogmatischen Gründen kann § 173 StGB daher<br />

kein (weiteres) Delikt gegen die Person bzw. deren sexuelle<br />

Selbstbestimmung sein. Der Hinweis des EGMR auf die<br />

Unterlegenheit der Schwester des Beschwerdeführers, ihre<br />

Persönlichkeitsstörung und verminderte Schuldfähigkeit wäre<br />

folglich für die Erörterung der §§ 174 ff. StGB beachtlich; an<br />

der systematischen Stellung und dem Telos des § 173 StGB<br />

geht er hingegen vorbei.<br />

2. Der „margin of appreciation“ – Grundlage und Wirkung<br />

Wer den EGMR kritisieren will, kann daher nicht mit strafrechtssystematischen<br />

und -dogmatischen Argumenten operieren,<br />

sondern muss an dessen Interpretation der EMRK, insbesondere<br />

an der „Margin of appreciation“-Doktrin, ansetzen.<br />

Diese ist, wie gesehen, ein Instrument zur Flexibilisierung<br />

des Kontrollmaßstabs in Lebens- und Problembereichen, in<br />

denen sich kein europäischer Konsens herausgebildet hat. 41<br />

37<br />

BVerfGE 120, 224 (245 f.); s. auch Frommel (Fn. 19),<br />

§ 173 Rn. 1, 6.<br />

38<br />

So u.a. Jung (Fn. 2), S. 311 (S. 317); Lenckner/Bosch, in:<br />

Schönke/ Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 28. Aufl.<br />

2010, § 173 Rn. 1; Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht,<br />

Besonderer Teil, Bd. 2, 9. Aufl. 2005, § 63 Rn. 86 (S. 183);<br />

Ritscher (Fn. 3), § 173 Rn. 2, 4; Roxin, StV 2009, 544 (547);<br />

Zabel, JR 2008, 453 (455).<br />

39<br />

BVerfGE 120, 224 (246).<br />

40<br />

Zudem ließe sich diese Deutung nicht mit der Tatsache in<br />

Einklang bringen, dass § 173 StGB die Strafe auf den überlegenen<br />

und unterlegenen Verwandten erstreckt, so richtig<br />

Roxin, StV 2009, 544 (547).<br />

41<br />

Dazu Brems, ZaöRV 56 (1996), 240 f.; Grabenwarter/Pabel<br />

(Fn. 34), § 18 Rn. 20; Letsas, Oxford Journal of Legal<br />

Studies 26 (2006), 705 (724 ff.); Marauhn/Meljnik, in: Grote/<br />

Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Konkordanzkommentar, 2006,<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

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285


Michael Kubiciel<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Ein solcher normativer „Weichmacher“ 42 ist freilich kritischen<br />

Einwänden ausgesetzt: Führt er nicht zu einer kulturellen<br />

Relativierung der Menschenrechte anstatt den „Weg<br />

zu einer kollektiven Garantie“ der Menschenrechte zu ebnen,<br />

von dem in der Präambel der Konvention die Rede ist? 43<br />

Müsste der EGMR nicht gerade auf jene menschenrechtssensiblen<br />

moralisch-ethischen Fragen eine eigene Antwort formulieren,<br />

hinsichtlich derer er den Mitgliedstaaten einen<br />

Ermessensspielraum gewährt? Auf den vorliegenden Fall übertragen:<br />

Hätte er nicht die Auffassung vertreten können, das<br />

deutsche Inzestverbot verletze das Recht auf Achtung des<br />

Privatlebens in seinem Kernbereich 44 und zwinge den Betroffenen<br />

die herrschenden moralischen Standards einer Gesellschaft<br />

auf? 45<br />

Diese Fragen können nicht beantwortet werden, ohne sich<br />

Klarheit über den tragenden Grund der „Margin of appreciation“-Doktrin<br />

zu verschaffen. Der EGMR hat sich dazu in<br />

seiner Rechtsprechung bislang nur skizzenhaft geäußert: Er<br />

verweist darauf, dass es kein uniformes europäisches Verständnis<br />

von den Anforderungen gebe, unter denen Rechte<br />

anderer oder die öffentliche Ordnung geschützt werden dürften.<br />

46 Daher seien die Konventionsstaaten insbesondere bei<br />

Kap. 16 Rn. 92 (S. 811), jeweils mit zahlreichen Nachweisen<br />

aus der Rechtsprechung.<br />

42<br />

Treffende Bezeichnung für das Verhältnismäßigkeitsprinzip<br />

Voßkuhle, JuS 2004, 2 (4).<br />

43<br />

So Letsas, Oxford Journal of Legal Studies 26 (2006), 705<br />

(723).<br />

44<br />

So insbesondere Greco, <strong>ZIS</strong> 2008, 234 (238 f.). S. auch<br />

Roxin, StV 2009 544 (547 f.); Noltenius, ZJS 2008 15 (16).<br />

Unabhängig von ihrer konventionsrechtlichen Relevanz ist<br />

diese Kritik auch inhaltlich nicht stichhaltig. Denn die Annahme,<br />

es lasse sich rein faktisch, d.h. ohne abwägende Bewertung<br />

auch der Folgen eines Verhaltens, bestimmen, dass<br />

Lebensbereiche wie der Sexualverkehr zwischen Erwachsenen<br />

rechtlich unantastbar seien, geht fehl: Entscheidend ist<br />

nämlich nicht der lebensweltliche Kontext, in dem ein Verhalten<br />

angesiedelt ist, sondern dessen rechtlicher Sinngehalt.<br />

Für dessen Bestimmung sind aber die konkreten Folgen<br />

durchaus relevant: So kann, wie schon Kant (Metaphysik der<br />

Sitten, hrsgg. von Ebeling, 1990, S. 303) am Beispiel der<br />

(versuchten) Selbsttötung von Eltern gezeigt hat, ein Verhalten<br />

nicht nur eine Verletzung einer Pflicht gegen sich selbst<br />

darstellen, die nach heutigen Maßstäben rechtlich irrelevant<br />

ist. Das Verhalten kann zugleich Pflichten gegen andere<br />

verletzen (im Beispiel: Pflichten gegenüber den Kindern) und<br />

damit – obwohl im „Kernbereich“ der Persönlichkeit angesiedelt<br />

– rechtlich relevant sein. Auch das geltende Strafrecht<br />

berücksichtigt (etwa beim Verbot des Erwerbs oder des Besitzes<br />

kinderpornographischer Schriften) Folgen eines im<br />

Intimbereich angesiedelten Verhaltens.<br />

45<br />

So die generelle Kritik am „margin of appreciation“ von<br />

Letsas, Oxford Journal of Legal Studies 26 (2006), 705 (729<br />

f.).<br />

46<br />

EGMR, Urt. v. 25.11.1996 – 17419/90 (Wingrove v. United<br />

Kingdom), Rn. 58. S. ferner Delmas-Marty (Fn. 30),<br />

S. 50 f. m.w.N.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

286<br />

<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />

moralisch und ethisch heiklen Problemen, in denen es an<br />

einem europäischen Konsens fehle, in einer „besseren Position“,<br />

diese angemessen zu lösen. 47 Im Verhältnis zu den Konventionsstaaten<br />

nähmen EMRK und EGMR folglich nur eine<br />

subsidiäre Rolle ein; ihre Aufgabe bestünde nicht darin, den<br />

Konventionsstaaten „uniform solutions“ aufzuerlegen. 48<br />

Der EGMR lässt offen, welcher Maßstab seiner Einschätzung<br />

zugrunde liegt, die Mitgliedstaaten befänden sich in<br />

einer besseren Position als er selbst. Denkbar ist, dass der<br />

EGMR davon ausgeht, die Institutionen der Konventionsstaaten<br />

seien aufgrund ihrer sachlichen und örtlichen Nähe faktisch<br />

in einer besseren Position, um eine für ihre Gesellschaft<br />

angemessene Lösung zu finden. 49 Denkbar ist aber auch, dass<br />

die Konventionsstaaten aus institutionellen, völkerrechtlichen<br />

oder rechtsethischen, kurz: normativen Gründen vorrangig<br />

zuständig sein sollen.<br />

In der Literatur klingt häufig diese normative Deutung an.<br />

So wird darauf hingewiesen, dass der europäische Verfassungsgerichtsverbund<br />

von der freiwilligen Kooperationsbereitschaft<br />

der beteiligten Institutionen lebe. 50 Das Institutionengefüge<br />

drohe sich aufzulösen, wenn sich die Rechtsprechung<br />

des EGMR zu weit von den (Grund-)Rechtsstandards<br />

und Wertüberzeugungen der Staaten entferne. 51 Aus völkerrechtlicher<br />

Sicht wird argumentiert, dass eine weite Auslegung<br />

den Konventionsstaaten Verpflichtungen auferlege, die<br />

sie bei der Ratifikation der EMRK nicht voraussehen konnten<br />

und deren Folgen für die Souveränität die Staaten nicht hingenommen<br />

hätten. 52 Daher ließen sich die Souveränität der<br />

Konventionsstaaten einerseits und das Menschenrechtsversprechen<br />

der EMRK andererseits nur durch die Anerkennung<br />

weiter Ermessensspielräume der Staaten in Einklang<br />

bringen. 53 Über diese funktionalen und völkerrechtlichen<br />

Erwägungen darf der rechtsethische Wert der Subsidia-<br />

47 EGMR, Urt. v. 12.4.2012 – 43547/08 (Stübing v. Deutsch-<br />

land), Rn. 60 m.w.N.<br />

48 EGMR, Urt. v. 10.11.2005 – 44774/98 (Leyla Şahin v.<br />

Turkey), Rn. 2.<br />

49 Dies klingt an in EGMR, Urt. v. 16.12.2010 – 25579/2005<br />

(A, B und C v. Ireland), Rn. 223: „As noted above, by reason<br />

of their direct and continuous contact with the vital forces of<br />

their countries, the State authorities are, in principle, in a<br />

better position than the international judge to give an opinion.”<br />

– In diese Richtung auch Grimm, VVDStRL 66 (2007),<br />

427 (427 f.); Steiner (Fn. 28), S. 653 (S. 667): Die nationalen<br />

Gerichte befänden sich in einem steten Rechtsdiskurs, der sie<br />

in einem Maße mit der Rechtsgemeinschaft in Verbindung<br />

halte, das internationalen Gerichten wie dem EGMR fehle.<br />

50 Oeter, VVDStRL 66 (2007), 361 (187 f.); ähnlich Merli,<br />

VVDStRL 66 (2007), 392 (418 f.).<br />

51 Harris/O’Boyle/Warbrick, Law of the European Convention<br />

on Human Rights, 2. Aufl. 2009, S. 9.<br />

52 Jacobs/White, The European Convention on Human Rights,<br />

4. Aufl. 2006, S. 53.<br />

53 So etwa Helfer/Slaughter, Yale Law Journal 107 (1997),<br />

273 (316 f.). Die Kompetenzfrage betont Grabenwarter, in:<br />

Dupy u.a. (Hrsg.), Völkerrecht als Werteordnung, Festschrift<br />

für Christian Tomuschat, 2006, S. 193 (S. 199).


Das deutsche Inzestverbot vor den Schranken des EGMR<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

rität nicht in Vergessenheit geraten. Berücksichtigt man, dass<br />

Personen aufgrund ihrer Sozialisation in ihren jeweiligen<br />

Gesellschaften unterschiedliche Vorstellungen vom Gerechten<br />

und Guten entwickeln und dass diese Vorstellungen die<br />

Identität der Person wesentlich prägen, 54 können politische<br />

und rechtliche Entscheidungen nicht immer weiter von der<br />

staatlichen auf eine überstaatliche Ebene verschoben werden.<br />

55 Vielmehr muss das Recht an die Lebens- und Bezugswelt<br />

der Menschen rückgebunden bleiben, soll es nicht als<br />

Fremdkörper empfunden werden. Dies gilt insbesondere für<br />

das Strafrecht: Es ist kein Instrument, das einer Gesellschaft<br />

fremde Normen aufzwingt, sondern den Bürgern durch den<br />

Schutz ihrer grundlegenden Normen die Entfaltung personaler<br />

Freiheit ermöglicht. 56 So gesehen ist die „Margin of appreciation“-Doktrin<br />

nicht Ausdruck der Achtung der Souveränität<br />

der Staaten. Sie ist auch und vor allem ein Gebot der<br />

Achtung der Souveränität der Bürger, die ihre politische<br />

Selbstbestimmung wesentlich innerhalb ihrer jeweiligen nationalen<br />

Assoziationen entfalten. 57<br />

Dass sich der EGMR Zurückhaltung bei der kriminalpolitischen<br />

Bewertung eines Tatbestandes auferlegt hat, der von<br />

einer „kulturhistorisch begründeten, nach wie vor wirkmächtigen<br />

gesellschaftlichen Überzeugung von der Strafwürdigkeit<br />

des Inzests“ getragen wird, 58 ist daher wohlbegründet. 59<br />

Der Straßburger Gerichtshof hat damit keinen Tatbestand<br />

abgesegnet, der dem Einzelnen grundlos die Moralvorstellungen<br />

der Mehrheitsgesellschaft aufzwingt. Wie wir nun<br />

sehen werden, lässt sich aus der (wenig gelungenen) äußeren<br />

Form des § 173 StGB auch dann ein freiheitstheoretisch<br />

akzeptabler Kern schälen, wenn man – anders als der EGMR<br />

– nicht auf den Schutz des sexuellen Selbstbestimmungsrechts<br />

abstellt.<br />

54<br />

Zusammenfassend zu diesen, in jüngerer Vergangenheit<br />

von den Kommunitaristen in Erinnerung gerufenen vorrechtlich-moralischen<br />

Grundlagen liberaler Gesellschaften Honneth,<br />

in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 1993, S. 7<br />

(insb. S. 12 f.). S. ferner Burmeister, in: Friedrich/Jagodzinski<br />

(Hrsg.), Soziale Integration, 1999, S. 353 (S. 361); Dahrendorf,<br />

Homo Sociologicus, 16. Aufl. 2006, S. 61 ff.; Rawls,<br />

Political Liberalism, 1993, S. 142 f. Am Beispiel Kubiciel,<br />

ZStW 120 (2008), 429 (438 ff.).<br />

55<br />

In diesem Sinn Gutmann, in: Honneth (Fn. 54), S. 68<br />

(S. 82).<br />

56<br />

Näher dazu im Zusammenhang mit der Europäisierung des<br />

Strafrechts Kubiciel, GA 2010, 99 (110 ff.).<br />

57<br />

Dazu Mahlmann, Europarecht 2011, 469 (483).<br />

58<br />

BVerfGE 120, 224 (248 f.).<br />

59<br />

Dies unterscheidet die „margin of appreciation“ von der<br />

vom BVerfG konstatierten, nicht aber begründeten kriminalpolitische<br />

Einschätzungsprärogative (BVerfGE 120, 224 [240])<br />

des nationalen Gesetzgebers.<br />

IV. Der Strafgrund des § 173 StGB<br />

1. Schutz der Institution Familie<br />

Nach einer Bemerkung Feuerbachs hat jedes Verbrechen<br />

„ein ihm eigenthümliches Hauptmerkmal, welches den Gesichtspunkt<br />

bestimmt, aus welchem seine Strafbarkeit im<br />

Ganzen zu beurtheilen ist.“ 60 Hätte Feuerbach recht, müsste<br />

sich auch der Inzeststraftatbestand auf ein strafbarkeitsbestimmendes<br />

Hauptmerkmal zurückführen lassen. Dies ist tatsächlich<br />

möglich. Zwar verlieren sich die Gründe des Inzestverbots<br />

im Dunkel der frühchristlichen Zeit; doch lehrt die<br />

uns bekannte Geschichte, dass die Entwicklung des Inzestverbots<br />

und seiner Grenzen eng mit der sozialen, ökonomischen<br />

und soziokulturellen Bedeutung der Familie verflochten<br />

ist. 61 Während das Inzestverbot in der Geschichte nicht<br />

stets eine sexuelle Komponente enthielt, ist ein Element über<br />

die Zeiten erhalten geblieben: Das Inzestverbot normiert die<br />

Inkompatibilität verschiedener sozialer Rollen in Familienverbänden.<br />

62<br />

Auch nach dem Willen des Gesetzgebers liegt der Strafgrund<br />

des § 173 StGB in dem von Art. 6 GG geforderten<br />

besonderen Schutz von Ehe und Familie. 63 Der Tatbestand<br />

trägt damit dem Umstand Rechnung, dass der Familie auch in<br />

der heutigen Gesellschaft eine erhebliche soziale und personale<br />

Bedeutung zukommt: In ihr wächst der Einzelne nicht<br />

nur heran; auch als Jugendlicher und Erwachsener bleibt er in<br />

aller Regel Bestandteil einer sozialen Einheit, deren Mitglieder<br />

nicht den Regeln der Konkurrenzgesellschaft folgen, 64<br />

sondern einander Beistand leisten. 65 Die Familie ist mithin<br />

eine Institution, welche die Ausprägung einer personalen<br />

Identität des Einzelnen vorbereitet, ihm später als sozialer<br />

Schutzraum dient, seine begrenzten Möglichkeiten erweitert,<br />

kurz: ihm reale, personale Freiheit vermittelt.<br />

60<br />

Feuerbach, in: L. Feuerbach (Hrsg.), Anselm Ritter von<br />

Feuerbach’s Biographischer Nachlass, Bd. 1, 2. Aufl. 1853,<br />

S. 212 (S. 217).<br />

61<br />

Grundlegend Goody, Die Entwicklung von Ehe und Familie<br />

in Europa, 1989, S. 70 ff. Deutlich wird dies auch daran,<br />

dass Forderungen nach Abschaffung des Inzestverbots vor<br />

allem in Epochen erhoben wurden, welche der Familie die<br />

personale und gesellschaftliche Bedeutung absprachen. Dazu<br />

mit Beispiel Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung,<br />

2003, S. 124 f.<br />

62<br />

Löhnig (Fn. 6), S. 207 (S. 209).<br />

63<br />

So explizit BT-Drs. VI/1552, S. 14. Auf den Schutz der<br />

Familie durch § 173 StGB verweisen (mit unterschiedlicher<br />

Nuancierung) auch Bottke, in: Bottke u.a. (Hrsg.), Familie als<br />

zentraler Grundwert demokratischer Gesellschaften, 1994,<br />

S. 101 (S. 113 f.); Frommel (Fn. 19), § 173 Rn. 1, 7; Krauß<br />

(Fn. 9), S. 423 (430); Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar,<br />

27. Aufl. 2011, § 173 Rn. 1; Schramm (Fn. 1),<br />

S. 423.<br />

64<br />

Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2007, S. 338.<br />

65<br />

Vgl. zur Bedeutung der Familie nur Kroppenberg, in:<br />

Kroppenberg/Löhnig (Fn. 6), S. 89.<br />

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287


Michael Kubiciel<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Die Familie durch ein Inzestverbot zu schützen ist mithin<br />

kein „Ausdruck paternalistischer Ordnungsmacht“, 66 sondern<br />

eine freiheitstheoretisch akzeptable Zielsetzung. Denn unzweifelhaft<br />

stellen inzestuöse Beziehungen in der Regel eine<br />

schwere Belastung für die Familie dar: Sie wirken „familienzerstörend“,<br />

67 sie fragmentieren Familien. 68 Daher bedingt –<br />

mit Binding gesprochen – die „Gesundheit“ des Familienlebens<br />

die „strenge Lokalisierung des Geschlechtlebens in der<br />

Ehe bei voller Ungeschlechtlichkeit des ganzen übrigen Familienlebens.“<br />

69<br />

2. <strong>Inhalt</strong> und Geltungsdauer der Pflicht<br />

Gleichwohl werden Einwände gegen den Versuch erhoben,<br />

§ 173 StGB als Tatbestand zum Schutz der Familie zu konstruieren.<br />

So wird häufig darauf verwiesen, inzestuöse Beziehungen<br />

verursachten keine Störung von Familienbeziehungen,<br />

sondern seien deren Folge. 70 Dieser Einwand lässt sich<br />

indes entkräften, wenn man die Struktur der Pflichten innerhalb<br />

und gegenüber einer Institution näher betrachtet. Grundsätzlich<br />

lassen sich zwei Typen von Pflichten unterscheiden.<br />

71 Die (negative) Pflicht, andere Personen nicht zu schädigen,<br />

trennt Personen und ihren Rechtssphären voneinander.<br />

Die – aus der Garantenlehre bekannte – (positive) Förderungspflicht<br />

sorgt hingegen für eine echte Verbindung der<br />

Personen, von einem „Rechtsverhältnis in einem tieferen<br />

Sinne“. 72 Positive Pflichten bestehen nicht gegenüber jedermann,<br />

sondern nur innerhalb besonderer Institutionen, namentlich<br />

innerhalb einer Familie. In ihr sind die Einzelnen<br />

nicht nur zur Nicht-Schädigung verpflichtet, sie schulden<br />

einander auch Beistand und Förderung. Auf § 173 StGB<br />

übertragen heißt dies, dass die Pflicht, von inzestuösen Beziehungen<br />

abzusehen, nicht entfällt, sobald die Familienstruktur<br />

vorgeschädigt ist. Denn positive Pflichten verlangen,<br />

die Institution zu fördern, und das heißt in Bezug auf § 173<br />

StGB: den Erhalt oder die Wiederherstellung der familiären<br />

Beziehungen nicht durch die Aufnahme inzestuöser Beziehungen<br />

zu konterkarieren. Diese Pflicht entfällt erst dann,<br />

66<br />

So aber Zabel, JR 2008, 453 (455).<br />

67<br />

BT-Drs. VI/1552, S. 14. S. auch Frommel (Fn. 19), § 173<br />

Rn. 2.<br />

68<br />

Löhnig (Fn. 6), S. 207.<br />

69<br />

Binding, Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts,<br />

Besonderer Teil, Bd. 1, 1902, S. 228.<br />

70<br />

Statt vieler dazu Jung (Fn. 2), S. 311 (S. 315); Noltenius,<br />

ZJS 2009, 15 (19); Schramm (Fn. 1), S. 422; Zabel, JR 2008,<br />

453 (456).<br />

71<br />

Zur Unterscheidung von negativen und positiven Pflichten<br />

s. bereits Pufendorf, Über die Pflicht des Menschen und des<br />

Bürgers nach dem Gesetz der Natur, 1994, S. 72 ff., 82 ff.<br />

S. ferner Jakobs, System der Zurechnung, 2012, S. 83;<br />

Pawlik, in: M. Heinrich u.a. (Fn. 11), S. 931 (S. 938 ff.);<br />

Sánchez-Vera, Pflichtdelikt und Beteiligung, 1999, S. 60 f.;<br />

Vogel, Norm und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten,<br />

1993, S. 364.<br />

72<br />

Vgl. Braun (Fn. 64), S. 127.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

288<br />

<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />

wenn die Familie nicht nur vorgeschädigt ist, sondern tatsächlich<br />

und rechtlich nicht mehr besteht. 73<br />

Aus diesem Grund verfängt auch der Einwand nicht,<br />

§ 173 StGB diene nicht dem Schutz der Familie, weil der<br />

Geschwisterinzest erst ab dem 18. Lebensjahr (§ 173 Abs. 3<br />

StGB) und damit ab einer Entwicklungsphase strafbar sei, in<br />

der sich Familien regelmäßig auflösten. 74 Familiäre Bindungen<br />

erlöschen aber weder tatsächlich noch rechtlich mit dem<br />

Eintritt der Kinder in das Erwachsenenalter. 75 Kinder bleiben<br />

beispielsweise bis zum Tod ihrer Eltern für diese unterhaltspflichtig.<br />

76 Sind mehrere Kinder vorhanden, haften diese<br />

gleichrangig für den Unterhalt der Eltern je nach Leistungsfähigkeit.<br />

Folglich kann das Geschwisterverhältnis noch in<br />

weit fortgeschrittenem Alter (von Eltern und Kindern) tatsächlich<br />

und rechtlich wieder aufleben, indem familiäre Beistandspflichten<br />

aktualisiert werden. So gesehen stellt § 173<br />

Abs. 3 StGB zwar eine empfindliche Einschränkung des vom<br />

Inzestverbot gewährten Familienschutzes dar; die Vorschrift<br />

schließt den Schutz der Familie als teleologischen Bezugspunkt<br />

aber nicht aus.<br />

3. Grenzen des Tatbestands<br />

Auch ein dritter Einwand, der gegen die hier vorgenommene<br />

Konstruktion des § 173 StGB erhoben wird, schlägt nicht<br />

durch. Die Familie, heißt es, werde nicht (erst) durch den<br />

vom Tatbestand erfassten Vollzug des Beischlafs beschädigt,<br />

sondern (schon) durch die Vornahme anderer sexueller Handlungen.<br />

77 Weil der Gesetzgeber nicht alle familiengefährdenden<br />

Handlungen pönalisiert habe, so das Argument weiter,<br />

könne der Tatbestand auch insgesamt nicht den Zweck verfolgen,<br />

die Institution Familie zu schützen. Dieses Argument<br />

verkennt nicht nur, dass der kriminalpolitische Entscheidungsspielraum<br />

des Gesetzgebers wesentlich darin besteht,<br />

nicht jede potenzielle Gefährdung von Rechtsgütern kriminalisieren<br />

zu müssen. 78 Vor allem kann die Wissenschaft, die<br />

73 Im vorliegenden Fall war dem so, sind die Geschwister<br />

doch in früher Kindheit getrennt und in Pflege- und Adoptivfamilien<br />

erzogen wurden. Eine Familie, deren Erhalt § 173<br />

StGB dienen könnte, bestand daher nicht mehr. Folglich wäre<br />

eine teleologische Reduktion des Tatbestands und eine Einstellung<br />

des Verfahrens die angemessene Entscheidung deutscher<br />

Gerichte gewesen; eine „kleine Lösung“ zu Recht vermissend<br />

Hörnle, NJW 2008, 2085 (2087).<br />

74 Statt vieler Hassemer, in: BVerfGE 120, 224 (262 f.); Roxin,<br />

StV 2009, 544 (546); Zabel, JR 2008, 453 (456). S. auch<br />

Hörnle (Fn. 1), S. 454.<br />

75 Zur rechtlichen Dimension Gernhuber/Coester-Waltjen,<br />

Familienrecht, 6. Aufl. 2010, S. 560 ff. Dazu, dass die Solidarität<br />

zwischen Eltern und erwachsenen Kindern und die<br />

Akzeptanz von Unterhaltspflichten gegenüber Eltern recht<br />

hoch ist, Lüscher/Hoch, FPR 2003, 648.<br />

76 Dazu Gernhuber/Coester-Waltjen (Fn. 75), S. 563.<br />

77 Dazu und zum Folgenden Hassemer, in: BVerfGE 120,<br />

224 (262); Hörnle (Fn. 1), S. 454; Roxin, StV 2009, 544<br />

(546).<br />

78 Richtig Roxin, StV 2009, 544 (546); BVerfGE 120, 224<br />

(250).


Das deutsche Inzestverbot vor den Schranken des EGMR<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

heute einmütig verlangt, der Schutz des Strafrechts müsse<br />

fragmentarisch bleiben, 79 einem Tatbestand kaum jeglichen<br />

Sinn absprechen, nur weil dieser die (sonst postulierten)<br />

Schutzlücken lässt. Zudem lassen sich für die in Rede stehende<br />

Fragmentarität des § 173 StGB Gründe nennen. Der<br />

Gesetzgeber hatte seinerzeit die Beschränkung des tatbestandlichen<br />

Handelns mit eugenischen Gesichtspunkten erklärt.<br />

80 Dieser Erwägung wird entgegen gehalten, der Tatbestand<br />

könne keine eugenischen Zwecke verfolgen, weil es<br />

absurd sei, ein Kind vor seiner eigenen inzestuösen Zeugung<br />

bewahren zu wollen. Außerdem dürften kollektive eugenische<br />

Ziele nicht mit den Mitteln des Strafrechts durchgesetzt<br />

werden. 81 Die Argumente sind zwar für sich richtig, treffen<br />

aber auf § 173 StGB nicht zu: Der Tatbestand verfolgt keine<br />

eugenischen Zwecke. Vielmehr dienen die eugenischen Erwägungen<br />

lediglich als Differenzierungskriterien, mit denen<br />

die Weite des Schutzes der Familie bemessen wird. In diesen<br />

familienbezogenen teleologischen Rahmen lässt sich die<br />

Einschränkung auf Beischlafhandlungen aber gut einfügen:<br />

Schwerer und nachhaltiger noch als durch eine inzestuöse<br />

Beziehung wird eine Familie geschädigt, wenn aus dieser<br />

Beziehung Kinder hervorgehen. Sind diese Kinder gar erbgeschädigt,<br />

treten zu den ohnehin schon vorhandenen Belastungen<br />

noch jene hinzu, die stets mit der Erziehung eines behinderten<br />

Kindes einhergehen. So gesehen, ist die tatbestandliche<br />

Beschränkung auf den Beischlaf nachvollziehbar.<br />

Auch eine letzte Lücke – die Beschränkung auf leibliche<br />

Kinder unter Aussparung von Adoptivkindern – lässt sich<br />

damit erklären. Zudem dürfte für diesen Schritt des Gesetzgebers<br />

die Tatsache mitentscheidend gewesen sein, dass in<br />

den späten 1960er Jahren Familien mit Adoptivkindern wesentlich<br />

weniger weit verbreitet gewesen sind als heute. In<br />

einer Gesellschaft mit einer wachsenden Zahl von „Patchwork“-Familien<br />

dürfte sich die Begrenzung des Tatbestands<br />

stärker bemerkbar machen. Der Zweck des § 173 StGB, Familien<br />

zu schützen, wird durch diese gesellschaftliche Entwicklung<br />

aber (noch) nicht in Frage gestellt.<br />

V. Schluss<br />

Die Entscheidung des EGMR wirft nicht nur spezifische<br />

Fragen zur Auslegung des § 173 StGB und zur Interpretation<br />

des Art. 8 EMRK auf. Sie verweist darüber hinaus auf zwei<br />

Aspekte von übergeordneter Bedeutung: Bis zu welcher<br />

Grenze darf sich der EGMR mit kriminalpolitischen Entscheidungen<br />

von Staaten auseinandersetzen? Wie weit muss<br />

sich die Strafrechtswissenschaft auf eine dogmatische Analyse<br />

eines Tatbestandes einlassen, den sie kriminalpolitisch für<br />

verfehlt hält?<br />

Wie wir gesehen haben, tut der EGMR gut daran, in Bereichen<br />

wie diesem Distanz zur nationalen Kriminalpolitik zu<br />

halten. Die Strafrechtswissenschaft aber muss sich – trotz<br />

79<br />

Umfassend dazu Vormbaum, ZStW 123 (2011), 660.<br />

80<br />

BT-Drs. VI/1552, S. 14.<br />

81<br />

Umfassend dazu Duttge, in: Heinrich u.a. (Fn. 11), S. 227;<br />

Hörnle (Fn. 1), S. 456 f.; Schramm (Fn. 1), S. 439 ff. S. ferner<br />

Hassemer, in: BVerfGE 120, 224 (258 f.); Hörnle, NJW<br />

2008, 2085 (2087).<br />

ihrer kriminalpolitischen Funktion – fortan § 173 StGB dogmatisch<br />

annähern: Nachdem feststeht, dass sich an der Strafbarkeit<br />

des Beischlafs zwischen Verwandten auf absehbare<br />

Zeit nichts ändern wird, hat sie sich um eine Deutung des<br />

§ 173 StGB zu bemühen, die mit den Wertüberzeugungen der<br />

Gesellschaft und den Plausibilitätsstandards der Strafrechtswissenschaft<br />

vereinbar ist. 82 Diese Behauptungen könnten<br />

sichtbar machen, dass das Verbot des Beischlafs zwischen<br />

Verwandten zwar einem soziokulturell tief verwurzelten<br />

Tabu entspricht, dass aber das Tabu und seine strafrechtliche<br />

Überformung weniger irrational sind als gemeinhin angenommen<br />

wird.<br />

82<br />

Zu dieser Aufgabe der Rechtswissenschaft Henkel, Einführung<br />

in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1977, S. 183 ff.;<br />

Neumann, in: Kaufmann/Hassemer/Neumann, Rechtsphilosophie<br />

und Rechtstheorie der Gegenwart, 7. Aufl. 2007,<br />

S. 333 (S. 341, 346 f.); Ryffel, Grundprobleme der Rechtsund<br />

Staatsphilosophie, 1969, S. 379 ff. Am Beispiel Kubiciel,<br />

JZ 2009, 600 (601 ff.).<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

289


Wollschläger, Der Täterkreis des § 299 Abs. 1 StGB und Umsatzprämien im Stufenwettbewerb Wostry<br />

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_____________________________________________________________________________________<br />

290<br />

B u c h r e z e n s i o n<br />

Sebastian Wollschläger, Der Täterkreis des § 299 Abs. 1<br />

StGB und Umsatzprämien im Stufenwettbewerb, C.F. Müller<br />

Verlag, Heidelberg 2009, 180 S., € 52,-<br />

Der Täterkreis des § 299 Abs. 1 StGB ist ein strafrechtliches<br />

Dauerthema – sowohl in der Praxis als auch in der Wissenschaft.<br />

Dabei umschreibt der Titel der zu besprechenden Dissertation<br />

ein Feld, auf dem teilweise mit grob kalibrierten<br />

Seismographen nach „mittleren Erdbeben“ 1 gesucht wird, wo<br />

doch juristisches Handwerkszeug und eine der Ultima Ratio-<br />

Funktion des Strafrechts Rechnung tragende Auslegung gefragt<br />

sind. 2 In diese Lücke stößt die vorliegende Kölner Dissertation<br />

von Wollschläger. Der Autor ist mit dem Anspruch<br />

angetreten, „den geltenden Anwendungsbereich der Vorschrift<br />

einzugrenzen und rechtspolitische Forderungen nach einer<br />

Ausweitung desselben kritisch zu hinterfragen“ (S. 2). Die<br />

Dissertation teilt sich in zwei Abschnitte: Im ersten Teil beschäftigt<br />

sich der Verf. – dem Titel der Arbeit entsprechend –<br />

mit dem Täterkreis des § 299 Abs. 1 StGB, den das Gesetz<br />

mit „Angestellten“ oder „Beauftragten“ umschreibt. Der<br />

zweite Teil der Arbeit ist der Frage nach der Reformbedürftigkeit<br />

des Bestechlichkeitstatbestandes gewidmet.<br />

Im ersten Teil seiner Dissertation untersucht Wollschläger<br />

zunächst das durch § 299 StGB geschützte Rechtsgut. Dieses<br />

sieht er – nach intensiver Auseinandersetzung mit divergierenden<br />

Auffassungen – allein im Schutze des lauteren Wettbewerbs<br />

(S. 13 ff.). Hier findet der Leser eine willkommen<br />

klare Stellungnahme dazu, an welchem Maßstab der Tatbestand<br />

des § 299 StGB abzumessen ist. Auch wenn die bislang<br />

wohl h.M. ein darüber hinausgehendes Konglomerat von<br />

Schutzgütern ausmacht, so ist diesem Teil der Untersuchung<br />

uneingeschränkt zuzustimmen. 3 Das gefundene Ergebnis nutzt<br />

Wollschläger sogleich dazu, das UWG für die weitere Tatbestandsauslegung<br />

fruchtbar zu machen (S. 26). 4 So legt er seiner<br />

Ausarbeitung die Maxime zugrunde, wonach ein nach<br />

dem UWG zulässiges Verhalten nicht zu einer strafrechtlichen<br />

Sanktion unter § 299 StGB führen dürfe, was methodisch<br />

als Eingangshürde der Strafbarkeitsprüfung anzusehen<br />

sei (S. 28 f.).<br />

Der methodischen Grundlegung folgt eine Betrachtung<br />

der lauterkeitsrechtlichen Rechtsprechung zu Fällen sog.<br />

„Umsatzprämien“, mithin solcher Prämien, die etwa ein Lie-<br />

1<br />

Pragal, NStZ 2005, 133 (136).<br />

2<br />

Vgl. dazu auch Wollschläger, Der Täterkreis des § 299<br />

Abs. 1 StGB und Umsatzprämien im Stufenwettbewerb,<br />

2009, S. 164 ff.<br />

3<br />

Vgl. in dieser Richtung auch Brand/T. Wostry, ZInsO 2008,<br />

64; dies., WRP 2008, 637 sowie T. Wostry, JR 2011, 165,<br />

jeweils m.w.N. zu anderen Auffassungen.<br />

4<br />

Ein weiteres überzeugendes Beispiel für diese Vorgehensweise<br />

(mit eingehender Erörterung des sog. „Korkengeld-<br />

Falles“) findet sich bei Rengier, in: Sieber u.a. (Hrsg.), Strafrecht<br />

und Wirtschaftsstrafrecht, Dogmatik, Rechtsvergleich,<br />

Rechtstatsachen, Festschrift für Klaus Tiedemann zum 70.<br />

Geburtstag, 2008, S. 837.<br />

<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />

ferant an Angestellte oder den Inhaber eines geschäftlichen<br />

Betriebs zur Absatzförderung auslobt oder gewährt (S. 29 ff.).<br />

Den Umstand, dass die Rechtsprechung herkömmlich auch<br />

die Prämiengewährung an den Betriebsinhaber für wettbewerbswidrig<br />

halte, kontrastiert Wollschläger mit zahlreichen<br />

Stellungnahmen aus der Literatur (S. 36 ff.) und gelangt<br />

schließlich zu dem Ergebnis, dass gerade die Gewährung von<br />

Prämien an den Betriebsinhaber wettbewerbsrechtlich unbedenklich<br />

sei. 5 Nichts anderes dürfe sodann für den Fall gelten,<br />

dass mit Einverständnis des Prinzipals die Prämien an die<br />

Angestellten oder Beauftragten geleistet werden (S. 54). Eine<br />

Ausnahme macht Wollschläger allerdings für Fälle der sog.<br />

„Drittverantwortlichkeit“ des Prinzipals: habe der Geschäftsherr<br />

rein rechtlich für die sachliche Beratung des Kunden einzustehen,<br />

so ziele die Erwartung des Verbrauchers auf dessen<br />

unbeeinflusstes Vorgehen; mithin trage auch das Einverständnis<br />

des selbst wettbewerbswidrig handelnden Geschäftsherren<br />

die Prämienannahme seiner Angestellten oder Beauftragten<br />

nicht (ebd.).<br />

Nunmehr widmet sich Wollschläger dem eigentlichen<br />

Kernthema seiner Arbeit – dem Täterkreis des § 299 Abs. 1<br />

StGB. Vorgeschaltet ist an dieser Stelle zunächst ein recht<br />

detaillierter Abschnitt über das Merkmal „geschäftlicher Betrieb“.<br />

Zustimmungswürdig ist hier insbesondere die Feststellung,<br />

dass mit dem Eintritt in wettbewerbliche Verhältnisse<br />

der Staat nicht ohne Weiteres den Schutz der §§ 331 ff. StGB<br />

in Anspruch nehmen darf (S. 62), sondern ggf. in das Regime<br />

des § 299 StGB fällt. 6 Im Anschluss daran werden die Anforderungen<br />

an die Merkmale des Angestellten und des Beauftragten<br />

skizziert (S. 70 ff.). Dass auch an dieser Stelle die eingangs<br />

vorgestellte Methode der abgestuften Auslegung durchgehalten<br />

wird, exemplifiziert der Autor etwa daran, dass er<br />

die Einbeziehung von „Noch-Nicht-Angestellten“ (S. 72) unter<br />

dem Aspekt der Wettbewerbsgefährdung für wünschenswert<br />

erachtet, de lege lata zumindest mit dem Wortlautargument<br />

ablehnt. Uneingeschränkt zustimmungsfähig ist auch<br />

die nachfolgende Position Wollschlägers, für das Tatbestandsmerkmal<br />

des Beauftragten nach § 299 Abs. 1 StGB sei<br />

eine Bestellung durch den Geschäftsherren erforderlich. Damit<br />

kommt etwa der Insolvenzverwalter nicht als Täter des<br />

§ 299 Abs. 1 StGB in Betracht. 7 Diese Position ist u.a. auch<br />

Gegenstand der aktuellen Vertragsarztdebatte 8 . Des Weiteren<br />

schließt sich Wollschläger – wieder zum Kern seiner Arbeit<br />

gewendet – der Auffassung an, dass bereits die Kenntnis des<br />

Prinzipals von der Prämienforderung oder -gewährung die<br />

Strafbarkeit der Angestellten und Beauftragten entfalle. Methodisch<br />

wählt der Autor den Weg einer teleologischen Reduktion<br />

des Tatbestandes, die sich stets an der Frage nach der<br />

Wettbewerbswidrigkeit der Prämienleistung orientiert (S. 80).<br />

Im Anschluss an einen Abriss zu Fragen mit Auslandsbezug<br />

wendet sich Wollschläger sodann unter der Überschrift<br />

5<br />

Kritik auch bei Rengier (Fn. 4), S. 837, 842 ff.<br />

6<br />

Vgl. weiterführend zu Kassenvorständen Rust/T.Wostry,<br />

MedR 2009, 319.<br />

7<br />

Vgl. Brand/T. Wostry, ZInsO, 2008, 64; Brand, DZWIR<br />

2008, 318.<br />

8<br />

Vgl. T. Wostry, JR 2011, 165.


Wollschläger, Der Täterkreis des § 299 Abs. 1 StGB und Umsatzprämien im Stufenwettbewerb Wostry<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

„Der Betriebsinhaber als Beauftragter“ (S. 92 ff.) dem derzeit<br />

besonders lebhaft umstrittenen Themenfeld des vertragsärztlich<br />

tätigen Arztes zu, dessen Bedeutung sich insbesondere<br />

daraus speist, dass bekanntlich der Große Senat in Strafsachen<br />

noch in diesem Jahr über die Frage entscheiden könnte,<br />

ob der Vertragsarzt in den Täterkreis des § 299 Abs. 1 StGB<br />

fällt. 9 Auch hier bleibt Wollschläger seiner Linie treu und<br />

verweist den Vertragsarzt aus den Reihen der tauglichen<br />

Täter. Dafür führt er einerseits aus dem Wettbewerbsrecht<br />

entnommene unternehmerische Freiheitsrechte ins Feld (S. 93),<br />

andererseits das Erfordernis einer rechtsgeschäftlichen Befugniseinräumung<br />

durch den Geschäftsherren (S. 95). Gegen<br />

beide Argumente ist wenig zu erinnern; 10 selbstredend hätte<br />

es einen systematischen Vorzug gehabt, den Topos von der<br />

unternehmerischen Freiheit selbstständig zu entwickeln, ohne<br />

allein hilfsweise auf das Erfordernis einer Bestellung durch<br />

den Prinzipal zurückgreifen zu müssen (vgl. S. 95).<br />

Nachdem Wollschläger damit die weitere Marschroute<br />

abgesteckt hat, widmet er sich der Strafbarkeit nach § 299<br />

Abs. 1 StGB im Umfeld von Kapital- und Personengesellschaften<br />

(S. 96 ff.). Hier lehnt der Autor insbesondere eine<br />

„rechtsformunabhängige Pönalisierung“ (S. 109) ab. Mit dieser<br />

Positionierung nur bedingt in Einklang zu bringen ist es<br />

indes, wenn zwar einerseits festgestellt wird, dass die „Gesamtheit<br />

der Gesellschafter einer Kapitalgesellschaft“ und die<br />

„Gesellschafterversammlung einer Personengesellschaft“<br />

(S. 109) als Betriebsinhaber anzusehen seien und dies die<br />

maßgebliche faktische Betrachtungsweise auch gebiete (ebd.),<br />

andererseits im Zuge der Strafbarkeitsbeurteilung des AG-<br />

Vorstandes allerdings angenommen wird, dieser erfülle das<br />

Merkmal des Beauftragten (S. 107). Konsequent weitergeführt<br />

wäre der Ansatz einer faktischen Betrachtung nur dann,<br />

wenn man den AG-Vorstand aufgrund seiner weitgehenden<br />

Befugnisse aus § 76 Abs. 1 AG aus dem Täterkreis des § 299<br />

Abs. 1 StGB herausnähme. 11<br />

Im zweiten Teil der Dissertation erörtert Wollschläger einen<br />

möglichen Reformbedarf des § 299 StGB. Hier kommt er<br />

zu dem Ergebnis, dass die derzeitige Tatbestandsfassung<br />

weitgehend konsistent sei (S. 125) und erteilt damit insbesondere<br />

der Forderung nach der Einbeziehung des Betriebsinhabers<br />

– auch für Fälle der Drittverantwortlichkeit (S. 128)<br />

– eine Absage. Sodann stellt der Autor über die aktuelle Gesetzesfassung<br />

hinausgehende Reformmodelle vor (S. 132 ff.).<br />

Im Fazit liegt mit der Dissertation Wollschlägers eine die<br />

jüngere Diskussion rund um den Tatbestand des § 299 Abs. 1<br />

StGB aufgreifende Untersuchung vor, die neben klaren Posi-<br />

9 Vgl. die Vorlagebeschlüsse des 5. Senats (5 StR 115/11)<br />

und des 3. Senats (3 StR 458/10) des BGH. Zu Fällen der<br />

„Kopfprämien“ in diesem Zusammenhang vgl. Lindemann,<br />

in: Lindemann/Ratzel (Hrsg.), Brennpunkte des Wirtschaftsstrafrechts<br />

im Gesundheitswesen, 2010, S. 9, 27 ff., 33 f.<br />

m.w.N.<br />

10 In Bezug auf die Befugniseinräumung vgl. eingehend Rönnau,<br />

in: Achenbach/Ransiek (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht,<br />

3. Aufl. 2012, 3. Teil 2. Kap. Rn. 16; Brand/T.<br />

Wostry, ZInsO, 2008, 64; T. Wostry, JR 2011, 165.<br />

11 So Brand/T. Wostry, WRP 2008, 637.<br />

tionen einige erhellende Aspekte aufzuzeigen vermag und<br />

daher zur Lektüre unbedingt empfohlen wird.<br />

RA Harald Wostry, Fachanwalt für Strafrecht, Fachanwalt<br />

für Medizinrecht, Essen<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

291


Mavany, Die Europäische Beweisanordnung und das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung Pintaske<br />

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292<br />

B u c h r e z e n s i o n<br />

Markus Mavany, Die Europäische Beweisanordnung und das<br />

Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, Verlag C.F. Müller,<br />

Heidelberg u.a. 2012, 204 S., € 54,95<br />

Der Vertrag über die Europäische Union in der Fassung des<br />

am 1.12.2009 in Kraft getretenen Vertrages von Lissabon<br />

stellt in Art. 3 Abs. 2 fest, dass die Union ihren Bürgern „einen<br />

Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ bietet.<br />

Gerade die Ausgestaltung des einen Raumes des Rechts steht<br />

auf dem Gebiet des Strafrechts in einem Spannungsfeld, da<br />

einerseits das Strafrecht als „letzte Bastion“ der nationalen<br />

Gesetzgebung angesehen wird, andererseits gerade die Strafverfolgung<br />

bei grenzüberschreitenden Aktivitäten darauf<br />

angewiesen ist, die Zusammenarbeit mit anderen Staaten zu<br />

verbessern, um ihre Aufgaben effektiv zu erfüllen. Vor diesem<br />

Hintergrund legt Markus Mavany seine – von Prof. Dr.<br />

Mark Zöller (Universität Trier) betreute – Untersuchung vor,<br />

in der er sich mit dem Rahmenbeschluss 2008/978/JI über die<br />

europäische Beweisanordnung und dem ihm zugrunde liegenden<br />

Prinzip der gegenseitigen Anerkennung tiefgehend<br />

auseinandersetzt. Im ersten Teil seiner Arbeit stellt der Autor,<br />

ohne den strafrechtlichen Bezug aus den Augen zu verlieren,<br />

allgemein die Grundlagen des Prinzips der gegenseitigen<br />

Anerkennung vor, wozu die historische Entwicklung, der <strong>Inhalt</strong><br />

sowie dessen dogmatische Herleitung zählen. Anschließend<br />

analysiert Mavany die Übertragung des Prinzips auf das<br />

Strafrecht. Im zweiten Teil der Untersuchung widmet sich der<br />

Autor konkret dem Rahmenbeschluss über die europäische<br />

Beweisanordnung im Hinblick auf die Umsetzungsanforderungen<br />

und die Folgen für das deutsche Beweisrecht und für<br />

die deutschen Justizbehörden. Abschließend wird im dritten<br />

Teil der Untersuchung auf Grundlage der bisherigen Forschungsergebnisse<br />

ein Vorschlag für ein Umsetzungsgesetz<br />

der Kernregelungen des Rahmenbeschlusses unterbreitet.<br />

Letzteres zeigt die nicht nur wissenschaftliche sondern – aus<br />

Sicht der Strafverfolgung – auch praxisorientierte Bedeutung<br />

der Untersuchung, die bereits während ihrer Ausarbeitung auf<br />

Interesse des Ministerialdirigenten a.D. Hans Hilger gestoßen<br />

ist, wie das Vorwort der Untersuchung zeigt.<br />

Zu den Abschnitten der Untersuchung im Einzelnen: Der<br />

erste Teil (S. 1 bis 76) beinhaltet das Prinzip der gegenseitigen<br />

Anerkennung. Mavany zeigt bei der historischen Entwicklung<br />

des Prinzips in Europa zunächst auf, dass Ansätze<br />

eines Prinzips der gegenseitigen Anerkennung zwar bereits<br />

im 19. Jahrhundert zu finden sind, sich aber daraus Rückschlüsse<br />

für die heutige Auseinandersetzung mit dem Prinzip<br />

aufgrund der unterschiedlichen rechtlichen Ausgangslagen<br />

nur sehr bedingt ziehen lassen. Vielmehr seien die Vorläufer<br />

eines Prinzips der gegenseitigen Anerkennung, aber eben<br />

auch nicht mehr, in den Übereinkommen des Europarates auf<br />

dem Gebiet der Rechtshilfe sowie dem Schengen-Besitzstand<br />

zu sehen. Die Grundlagen des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung<br />

im Rechtsrahmen der EU wurden nach Ansicht<br />

von Mavany erst durch die Rechtsprechung des EuGH in den<br />

siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts konkretisiert. Der<br />

Autor stellt diese Rechtsprechung zur Warenverkehrsfreiheit<br />

<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />

dar und zeigt, wie sie sich auf andere Grundfreiheiten übertragen<br />

lässt. Dieser prägnanten Darstellung folgt die Darstellung<br />

der Übertragung des Prinzips auf das Strafrecht durch<br />

den Tampere-Prozess und das Haager Programm. Mavany<br />

arbeitet abschließend im historischen Teil heraus, dass das<br />

Prinzip der gegenseitigen Anerkennung durch den Vertrag<br />

von Lissabon im Primärrecht der Europäischen Union als leitendes<br />

Prinzip verankert und daher von einer wachsenden Bedeutung<br />

des Prinzips auszugehen ist.<br />

Nach der historischen Entwicklung widmet sich der Autor<br />

weiterhin im ersten Teil der Untersuchung dem Regelungsgehalt<br />

und den Grundlagen des Prinzips der gegenseitigen<br />

Anerkennung. In der Konzeption der Europäischen Union<br />

führe das Prinzip zu einer unmittelbaren und automatischen<br />

unionsweiten Geltung strafrechtlicher Entscheidungen in allen<br />

Deliktsbereichen. Der Schwerpunkt liege im Bereich der<br />

Internationalen Rechtshilfe in Strafsachen. Der Autor arbeitet<br />

heraus, dass die Grundlage des Prinzips der gegenseitigen<br />

Anerkennung das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten<br />

in die jeweils ausländische justizielle Entscheidung ist. Der<br />

Schutz des Einzelnen durch die Rechtsordnung des Vollstreckungsstaates<br />

werde durch die Vollstreckung einer ausländischen<br />

Maßnahme nicht unterlaufen, da innerhalb der EU gemeinsame<br />

Grundrechtsstandards bestünden und so zwar nicht<br />

die gleichen, aber gleichwertige Vorschriften vorhanden seien,<br />

so die von Mavany dargestellte herrschende Argumentationslinie.<br />

Ausgehend hiervon diskutiert Mavany bereits hervorgebrachte<br />

Bedenken gegen die Übertragung des Prinzips<br />

der gegenseitigen Anerkennung auf das Strafrecht. Die Gebotenheit<br />

der Übertragung bejaht er überzeugenderweise, denn<br />

das mit der Übertragung verfolgte Ziel liege nicht in der Verwirklichung<br />

des Binnenmarktzieles und der Gewährung von<br />

Grundfreiheiten, sondern in der Verwirklichung eines Raumes<br />

der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Er lehnt<br />

ebenfalls die Bedenken gegen die Übertragung des Prinzips<br />

als Erweiterung von Rechten auf das eingriffsintensive Strafrecht<br />

ab, denn bei dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung<br />

handle es sich um ein neutrales Rechtsinstrument. Der<br />

<strong>Inhalt</strong> der konkreten Maßnahme müsse vom Regelungsgehalt<br />

abstrahiert werden. Sämtliche vom Autor dargestellten Bedenken<br />

wegen eines möglichen Verstoßes gegen das Demokratieprinzip<br />

sowie der Gefahr des sog. „forum shoppings“<br />

werden argumentativ nachvollziehbar und überzeugend abgelehnt.<br />

Dabei legt der Autor zu Recht Wert darauf, dass zwischen<br />

der generellen Geeignetheit des Prinzips der gegenseitigen<br />

Anerkennung als rechtstechnisches Instrument und seiner<br />

konkreten Umsetzung bei der Strafverfolgung, wo der<br />

Gefahr des „forum shoppings“ und der Entstehung eines hybridisierten<br />

Verfahrensrechts entgegenzutreten ist, differenziert<br />

werde.<br />

Zum Abschluss des ersten Teils erarbeitet Mavany erstmals<br />

drei Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Prinzips<br />

der gegenseitigen Anerkennung: das Bestehen des gegenseitigen<br />

Vertrauens in die Rechtsordnungen der EU-Mitgliedstaaten,<br />

verbindliche Zuständigkeitsregelungen der Union<br />

für die Durchführung des Strafverfahrens und das Erfordernis<br />

eines effektiven Rechtsschutzsystems gegen die auf<br />

dem Prinzip beruhenden Maßnahmen. Der Autor stellt her-


Mavany, Die Europäische Beweisanordnung und das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung Pintaske<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

aus, dass nur die erstere auf dem Gebiet des Strafrechts existiert<br />

und dass die Konsequenz des derzeitigen Fehlens der<br />

letzten beiden Voraussetzungen wäre, sämtliche Maßnahmen<br />

zur Umsetzung des Prinzips nicht anzuwenden und bereits<br />

angeordnete Maßnahmen auszusetzen. Dieser Konsequenz<br />

vermag er selbst aber nicht folgen zu wollen – jedoch allein<br />

aus tatsächlichen und politischen Gründen. An dieser Stelle<br />

zeigt der Autor, dass die politische Rechtstatsächlichkeit –<br />

zumindest vorübergehend – zu akzeptieren sei statt die Umsetzung<br />

der eigenen rechtlich und dogmatisch fundiert hergeleiteten<br />

Voraussetzungen mit Nachdruck zu fordern.<br />

Im zweiten Teil der Untersuchung (S. 77 bis 170) stellt<br />

der Autor den Rahmenbeschluss 2008/978/JI des Rates über<br />

die Europäische Beweisanordnung (RB-EBA) zur Erlangung<br />

von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in<br />

Strafsachen vor. Der Abschnitt beginnt mit der Entwicklung<br />

des Rahmenbeschlusses im Jahre 1999. Es folgt ein Vergleich<br />

mit dem Grünbuch zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen<br />

Interessen der Europäischen Gemeinschaften und zur<br />

Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft, bevor dann<br />

der Vorschlag des Rahmenbeschlusses dargestellt und analysiert<br />

wird. In der Untersuchung folgt die Darstellung und<br />

Erläuterung des Regelungsgehaltes des Rahmenbeschlusses.<br />

Ohne auf jedes Detail eingehen zu können, seien hier nur die<br />

interessantesten Punkte hervorgehoben. Der Autor stellt heraus,<br />

dass der Rahmenbeschluss nur die Beweiserhebung und<br />

-übermittlung, nicht aber die Beweisverwertung geregelt hat.<br />

Die europäische Beweisanordnung beruhe auf dem Prinzip<br />

der gegenseitigen Anerkennung, so dass von dem tradierten<br />

Rechtshilfesystem auf Basis des Ersuchen-Prinzips abgewichen<br />

werde und kein Zulässigkeits- und Bewilligungsverfahren<br />

mehr existiere.<br />

Bei der Erläuterung der Erlassvoraussetzungen und des<br />

Erlassverfahrens kritisiert Mavany die Möglichkeit der Errichtung<br />

von Zwischenbehörden (Art. 8 Abs. 2 RB-EBA), da<br />

dies die Vorteile der direkten Übermittlung abschwächen und<br />

den Dienstweg verlängern würde. Dabei differenziert er jedoch<br />

zwischen dem Anordnungsstaat, wo von der Möglichkeit<br />

der Benennung einer Behörde kein Gebrauch gemacht<br />

werden sollte, und dem Vollstreckungsstaat, wo die Benennung<br />

einer Behörde jedenfalls als Verteilungs- und Auskunftsstelle<br />

ratsam sei. Der bereits in der Literatur erhobenen<br />

Kritik an der Einschränkung des Erfordernisses der beiderseitigen<br />

Strafbarkeit durch Art. 14 Abs. 2 RB-EBA und der ihm<br />

zugrunde liegenden Deliktsgruppenkonstruktion schließt sich<br />

Mavany an. Es mangele derzeit an der ausreichenden Gesetzesbestimmtheit,<br />

wobei Alternativen denkbar wären.<br />

Bei der Vollstreckung von europäischen Beweisanordnungen<br />

(EBA) seien zwei Besonderheiten zu beachten, wonach<br />

einerseits die EBA selbst rechtliche Wirkung im Vollstreckungsstaat<br />

entfaltet, andererseits die Vollstreckungsbehörde<br />

die Verfahrens- und Formvorschriften des Anordnungsstaates<br />

anzuwenden hat. Mavany stellt heraus, dass beides für<br />

die deutschen Vollstreckungsbehörden neue rechtliche und<br />

tatsächliche Herausforderungen mit sich bringt, die er am<br />

Beispiel einer Durchsuchung und des Zeugnisverweigerungsrechts<br />

darstellt. Im Ergebnis lehnt der Autor es ab, die Einhaltung<br />

deutscher Verfahrensvorschriften bei der Anordnung der<br />

Vollstreckung einer EBA zu fordern, begrüßt jedoch die Forderung<br />

nach einer unionsrechtlichen Verbürgung und Ausgestaltung<br />

von Verfahrensrechten für die Betroffenen. Der<br />

Schutz der Rechte des Betroffenen soll durch das Recht des<br />

Anordnungsstaates gewährleistet werden. Abschließend zum<br />

RB-EBA werden das Rechtschutzsystem und die Rechtsbehelfe<br />

analysiert. Dabei stellt Mavany heraus, dass der Rechtsschutz<br />

nicht auf Unionsebene, sondern auf mitgliedstaatlicher<br />

Ebene erfolgt. Eine Besonderheit ist hierbei, dass der Rechtsweg<br />

danach gespalten wird, ob das „Ob“ oder das „Wie“<br />

einer EBA betroffen ist. Ersteres wird anhand der Regeln des<br />

Anordnungsstaates, letzteres anhand der des Vollstreckungsstaates<br />

überprüft. Diese Trennung ist Kritik ausgesetzt, die<br />

der Autor im Folgenden darstellt, sich aber im Ergebnis für<br />

die separierte Betrachtung entschließt, nicht ohne die Folgeprobleme<br />

der Rechtswegspaltung aufzuzeigen. Im Ergebnis<br />

sprechen aus Sicht Mavanys die „besseren Argumente für eine<br />

solche Spaltung“.<br />

Den zweiten Teil der Untersuchung schließt Mavany mit<br />

der Analyse der Verwertbarkeit erhobener Beweise ab. Dabei<br />

stellt er drei denkbare Fallkonstellationen auf, bei denen im<br />

Rahmen der Beweiserhebung die Vorschriften einer oder beider<br />

beteiligter Rechtsordnungen nicht eingehalten wurden.<br />

Während keine Besonderheiten bei der Missachtung beider<br />

beteiligter Rechtsordnungen auftreten, die ein unselbstständiges<br />

Beweisverwertungsverbot nach sich ziehen kann, gebe es<br />

bei den gekreuzten Beweisverwertungsverboten (rechtswidrige<br />

Maßnahme im Anordnungsstaat, die im Vollstreckungsstaat<br />

rechtmäßig ist und andersherum) ergeben sich erhebliche<br />

Differenzen. Mavany plädiert dafür, dass auch im Falle<br />

der Rechtswidrigkeit der Beweiserhebung nach deutschem<br />

Recht selbst bei rechtmäßiger Beweiserhebung im Erhebungsstaat<br />

die deutschen Grundsätze über die unselbstständigen<br />

Beweisverwertungsverbote zur Anwendung gelangen. Er hält<br />

eine Gesamtbetrachtung des Verfahrens auch für Beweismittel,<br />

die aus einem Rechtshilfeverfahren stammen, für vorzugswürdig.<br />

Mavany fordert bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses<br />

den Erlass einer entsprechenden Regelung, selbst<br />

wenn es der Rechtslage nach dem EuRhÜbk weitestgehend<br />

entspricht. Bei der umgekehrten Konstellation (Rechtmäßigkeit<br />

der Erhebung nach deutschem Recht – rechtswidrig im<br />

Erhebungsstaat) untermauere der Rahmenbeschluss die bisherige<br />

Rechtsprechungspraxis zur traditionellen Rechtshilfe,<br />

wonach die Beweismittel verwertbar sind. Mavany fordert für<br />

die Umsetzung des Rahmenbeschlusses eine dem § 369 ZPO<br />

entsprechende Regelung.<br />

Der dritte und letzte Teil der Untersuchung Mavanys<br />

(S. 171 bis 191) beginnt mit einer Zusammenfassung der<br />

wichtigsten Arbeitsergebnisse. Dieser folgt ein praktischer<br />

Vorschlag für ein Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses<br />

mit einigen Erläuterungen. Der Vorschlag beinhaltet<br />

die zentralen Regelungen des Rahmenbeschlusses und<br />

kann dem deutschen Gesetzgeber als (Diskussions-)Vorlage<br />

dienen. Bevor die Untersuchung mit der Gesamtzusammenfassung<br />

schließt, widmet sich der Autor noch der aktuellen<br />

Diskussion um den Entwurf für eine Richtlinie des Europäischen<br />

Parlamentes und des Rates über die Europäische Ermittlungsanordnung<br />

in Strafsachen (RL-EEA-E) und stellt<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

293


Mavany, Die Europäische Beweisanordnung und das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung Pintaske<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

diesen im gebotenen Umfang dar. Dabei räumt der Autor<br />

ehrlicherweise ein, dass durch diese Richtlinie die Umsetzung<br />

des Rahmenbeschlusses 2008/978/JI über die europäische<br />

Beweisanordnung von der weiteren Entwicklung überholt<br />

werden könnte. Jedoch zeigt der Autor auch auf, dass<br />

sich einige Regelungen des RB-EAB auch in dem RL-EEA-E<br />

wiederfinden, so dass eine Übertragung der Argumentation<br />

ohne weiteres möglich sei. Hinzu komme, dass die Umsetzung<br />

des RB-EAB bereits überfällig ist, die Diskussion um<br />

die Europäische Ermittlungsanordnung hingegen noch in der<br />

Anfangsphase stecke. Dank des Vorschlages von Mavany<br />

scheint eine schnelle Umsetzung des RB-EAB jedoch möglich,<br />

wodurch gleichzeitig ein Teil einer europäischen Ermittlungsanordnung<br />

bereits umgesetzt wäre.<br />

Fazit: Die Untersuchung Mavanys überzeugt durch ihre<br />

klare Struktur und den übersichtlichen aufbautechnischen<br />

Dreischritt – Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, Rahmenbeschluss<br />

über die Europäische Beweisanordnung und<br />

Ausblick auf die weitere Entwicklung samt Gesetzesvorschlag<br />

zur Umsetzung. Die Darstellung des Rahmenbeschlusses<br />

zur europäischen Beweisanordnung ist verständlich und<br />

mit zahlreichen kritischen Reflexionen versehen. Die Ausführungen<br />

zur Verwertbarkeit der Beweise zeigen auch dem<br />

Praktiker, welche Auswirkungen der Rahmenbeschluss in den<br />

denkbaren Fallkonstellationen hat. Die Auseinandersetzung<br />

des Autors mit dem Rahmenbeschluss über die europäische<br />

Beweisanordnung wird selbst eine möglicherweise in Zukunft<br />

anstehende europäische Ermittlungsanordnung überdauern<br />

und die hier aufgezeigten Gedanken und Ideen für<br />

eine solche fruchtbar machen können. Die Darstellung des<br />

Gesetzesvorschlages ist ein besonders wertvolles Kernstück<br />

bei der Diskussion zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses.<br />

Mavany ist eine Dissertationsschrift gelungen, die in Zukunft<br />

bei der Auseinandersetzung mit der europäischen Beweisanordnung<br />

und Ermittlungsanordnung eine wertvolle Grundlage<br />

bilden wird.<br />

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294<br />

Referendar Patrick M. Pintaske, Dresden<br />

<strong>ZIS</strong> 6/2012


Weber, Betäubungsmittelgesetz Nestler<br />

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B u c h r e z e n s i o n<br />

Klaus Weber, BtMG, Betäubungsmittelgesetz, Kommentar,<br />

3. Aufl., Verlag C.H. Beck, München 2009, 1489 S., € 76,-<br />

Nach den Vorauflagen aus den Jahren 1999 und 2003 erschien<br />

bereits 2009 die dritte Auflage des BtMG-Kommentars<br />

von Klaus Weber. Im Zeitraum zwischen Mitte 2002 und<br />

Dezember 2008 – so der Stand laut dem Vorwort des Autors<br />

– hat sich eine Reihe von Änderungen im Bereich des Betäubungsmittelstrafrechts<br />

ereignet, welche es in diese Auflage<br />

einzuarbeiten galt:<br />

Neben einigen Anpassungen der Anlagen zum BtMG<br />

wurden mit der Achten Zuständigkeitsanpassungs-Verordnung<br />

die §§ 1, 12, 20, 21, 25, 26 BtMG modifiziert, durch Art. 1<br />

des Zweiten Justizmodernisierungsgesetzes die Anrechnungsregelung<br />

des § 36 BtMG. Darüber hinaus betrafen das Betäubungsmittel(-straf-)recht<br />

Modifikationen im Recht der Europäischen<br />

Union, so etwa durch den Rahmenbeschluss vom<br />

25.10.2004 zur Festlegung von Mindestvorschriften über die<br />

Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen<br />

im Bereich des illegalen Drogenhandels. Zudem ergingen innerhalb<br />

dieses Zeitraums etliche relevante höchstrichterliche<br />

Judikate. Besondere Beachtung findet dabei insbesondere die<br />

Entscheidung des Großen Senats vom 26.10.2005 1 , die den<br />

regelmäßig gegen die (weite) Auslegung des Merkmals des<br />

Handeltreibens vorgebrachten Bedenken eine Absage erteilte.<br />

Die Berücksichtigung dieser Neuerungen führte zwar zu<br />

nicht unerheblichen Veränderungen im Umfang des Werks,<br />

das von ca. 1077 Seiten in der ersten, 1716 Seiten in der<br />

zweiten auf nunmehr 1489 aufgrund der neuen Formatierung<br />

deutlich umfangreicheren Seiten in der dritten Auflage gewachsen<br />

ist. Dennoch hat der Kommentar – wie vom Autor<br />

beabsichtigt – seine Konzeption als übersichtliches Arbeitsmittel<br />

für die Praxis beibehalten. Dies belegen die zahlreichen<br />

Aufzählungen und Einteilungen, mit denen Weber diese<br />

von Einzelfallrechtsprechung gekennzeichnete Materie zu<br />

strukturieren versucht. So enthält die Kommentierung bspw.<br />

vor §§ 29 ff. Rn. 603 ff. Darlegungen zur Strafzumessung, in<br />

die Weber die relevanten Probleme des Betäubungsmittelstrafrechts<br />

einbindet. Die Konzeption zeigt sich aber auch<br />

und vor allem in der Kommentierung der betäubungsmittelrechtlichen<br />

Strafvorschriften, die der Verf. wie schon in der<br />

Vorauflage in mehrere Kapitel, Abschnitte und Teile untergliedert.<br />

Weber gibt den einzelnen Teilen hierbei jeweils<br />

einen in der Struktur identischen Aufbau, was dem Benutzer<br />

das Auffinden der einschlägigen Ausführungen erheblich erleichtert.<br />

Die Kommentierung des § 29 BtMG hat der Autor<br />

in der dritten Auflage um 353 Randnummern gegenüber der<br />

Vorauflage erweitert. Ein wesentlicher Teil dieser Erweiterung<br />

entfällt dabei auf das praxisrelevante Merkmal des Handeltreibens<br />

(Rn. 147 bis 757) und die diesbezügliche Rechtsprechung<br />

des BGH vom 26.10.2005. Der besondere Wert<br />

der Kommentierung dieses Abschnitts erwächst dabei nicht<br />

nur aus den Ausführungen zur Auslegung des Begriffs sowie<br />

dem diesbezüglichen europäischen Rechtsakt v. 25.10.2004.<br />

1 BGHSt 50, 252.<br />

Weber bindet vielmehr auch kriminalpolitische Überlegungen<br />

in die Kommentierung ein (Rn. 172 bis 177), die er in Bezug<br />

zu den rechtlichen Darlegungen bringt.<br />

Solche Inbezugnahmen ergänzen an vielen Stellen die<br />

Ausführungen zur Drogenpolitik, die der Verf. in seiner Einleitung<br />

(Rn. 103 bis 224) macht; diese liefert im Übrigen einen<br />

Überblick über die Rechtslage, die zum Zeitpunkt des<br />

Erscheinens aktuellsten gesetzlichen Änderungen sowie die<br />

Einflüsse der internationalen Entwicklung auf das deutsche<br />

Betäubungsmittel(-straf-)recht. Dabei bildet gerade die Inbezugnahme<br />

unionsrechtlicher Rechtsquellen und deren Auswirkungen<br />

im deutschen Recht ein weiteres Charakteristikum<br />

des Kommentars. Auch dem erheblichen Gewicht, das im<br />

Bereich des Betäubungsmittelrechts mittlerweile das SDÜ<br />

sowie die Rechtsprechung des EuGH zum Doppelbestrafungsverbot<br />

erlangt haben, widmet Weber vor §§ 29 ff. in<br />

Rn. 24 ff. (insb. Rn. 28 bis 40) angemessenen Raum.<br />

Eine kleine Schwachstelle, die der Kommentar allerdings<br />

mit vielen Werken im Bereich des Nebenstrafrechts teilt und<br />

die partiell dem Umfang des vorhandenen Literaturbestands<br />

geschuldet ist, bleiben die zum Teil fehlenden Hinweise auf<br />

weiterführende Literatur.<br />

Einziges echtes Manko ist aber die mangelnde Aktualität<br />

des Kommentars: Da nach 1999, 2003 und 2009 nun wohl<br />

alsbald auf eine Neuauflage des BtMG-Kommentars von Weber<br />

zu hoffen ist, dürfen die vorstehenden Ausführungen als<br />

Anregung verstanden werden, diese Charakteristika weiter<br />

auszubauen, die den Kommentar von seinen Konkurrenzprodukten<br />

durchaus abgrenzen. Denn das Betäubungsmittel(straf-)recht<br />

prägen neben seinen besonderen kriminologischen<br />

Grundlagen vor allem die diese Materie betreffende Kriminalpolitik<br />

sowie seine internationalen Bezüge. Deren – noch<br />

weitergehende – Einbeziehung in die Kommentierung würde<br />

die Qualität des Werks ohne Zweifel noch weiter heben.<br />

Wiss. Assistentin Dr. Nina Nestler, Würzburg<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

295


Ambos, Internationales Strafrecht Kreicker<br />

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296<br />

B u c h r e z e n s i o n<br />

Kai Ambos, Internationales Strafrecht: Strafanwendungsrecht<br />

– Völkerstrafrecht – Europäisches Strafrecht – Rechtshilfe, 3.<br />

Auflage, Verlag C.H. Beck, München 2011, 586 S., € 39,90<br />

Das in der renommierten Reihe „Juristische Kurz-Lehrbücher“<br />

des Beck-Verlages veröffentlichte Lehrbuch von RiLG<br />

Prof. Dr. Kai Ambos zum internationalen Strafrecht, erstmals<br />

erschienen im Jahr 2006, liegt nach nur fünf Jahren bereits in<br />

der dritten Auflage vor. Schon dies zeigt, dass Ambos, der als<br />

Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsvergleichung<br />

und internationales Strafrecht an der Georg-August-<br />

Universität Göttingen tätig und ein weit über die deutschen<br />

Grenzen hinweg anerkannter Völkerstrafrechtler ist, ein großes<br />

Werk gelungen ist, das sich bereits nach kürzester Zeit als<br />

„das“ deutschsprachige Standardwerk zum internationalen<br />

Strafrecht etabliert hat. Für die hier zu besprechende Neuauflage,<br />

deren Bearbeitung im Mai 2011 abgeschlossen wurde,<br />

hat der Verf. – tatkräftig unterstützt von den namentlich in der<br />

Titelei beziehungsweise im Vorwort genannten Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeitern seines Lehrstuhls – das Buch nicht<br />

nur gründlich aktualisiert, sondern in Teilen vollständig überarbeitet,<br />

um der nach wie vor dynamischen Entwicklung im<br />

Bereich des Völkerstrafrechts und Europarechts gerecht zu<br />

werden. Damit spiegelt das Lehrbuch den ganz aktuellen<br />

Stand des internationalen Strafrechts wider; unter anderem<br />

sind im Teil zum Völkerstrafrecht das Ergebnis der Staatenkonferenz<br />

von Kampala zum Aggressionsverbrechen berücksichtigt<br />

und der Teil zum Europäischen Strafrecht aus Anlass<br />

des Inkrafttretens des Vertrages von Lissabon neu strukturiert<br />

worden. Wie schon die Vorauflagen, so deckt auch die Neuauflage<br />

das gesamte internationale Strafrecht im weiten Sinne<br />

ab, also nicht nur das Völkerstrafrecht, sondern auch das<br />

Strafanwendungsrecht und das Europäische Strafrecht einschließlich<br />

des europäischen Rechtshilferechts und der strafrechtlichen<br />

Garantien der EMRK, wenngleich der Schwerpunkt<br />

der Darstellung dem Völkerstrafrecht gewidmet ist.<br />

Der Reihentitel „Juristische Kurz-Lehrbücher“ wird dem<br />

Buch allerdings bei weitem nicht gerecht. Wie auch das<br />

Lehrbuch von Ipsen zum Völkerrecht, das demnächst in derselben<br />

Reihe in sechster Auflage erscheinen wird, handelt es<br />

sich weniger um ein Lernbuch für Studierende als vielmehr<br />

um ein in jeder Hinsicht großes Lehr- und Studienbuch. Insbesondere<br />

im völkerstrafrechtlichen Teil genügt es auch<br />

höchsten Ansprüchen an ein wissenschaftlich fundiertes Handbuch.<br />

Es ist damit auch dem erfahrenen Strafrechtspraktiker<br />

eine große Hilfe, der sich vertieft mit Fragen des internationalen<br />

Strafrechts zu befassen hat.<br />

Das Buch gliedert sich in insgesamt drei Teile. Im ersten<br />

Teil wird das Strafanwendungsrecht dargestellt, der zweite<br />

Teil befasst sich ausführlich mit dem Völkerstrafrecht und<br />

der dritte Teil mit dem Europäischen Strafrecht im weiten<br />

Sinne. Die Teile sind in insgesamt dreizehn klar strukturierte<br />

Kapitel unterteilt, wodurch das Werk auch als „Nachschlagewerk“<br />

zur schnellen Klärung spezieller Rechtsfragen geeignet<br />

ist. Den einzelnen Kapiteln sind jeweils ausführliche<br />

Angaben zur einschlägigen neueren Literatur vorangestellt;<br />

<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />

ältere relevante Literatur, die in den Vorauflagen aufgeführt<br />

war, ist über die Internetseite des Lehrstuhls des Verf. 1 leicht<br />

abrufbar, so dass das Werk in Verbindung mit den ergänzenden<br />

Angaben auf der zugehörigen Internetseite eine hervorragende<br />

Basis für eine weitere wissenschaftliche Durchdringung<br />

einzelner Rechtsprobleme darstellt. Im Hinblick auf die<br />

Funktion des Buches als Lehrbuch hat der Rezensent allerdings<br />

gewisse Zweifel, ob es wirklich sachgerecht ist, die<br />

Auswahl der im Druckwerk angeführten Literatur nach dem<br />

Erscheinungsdatum vorzunehmen, also lediglich neuere einschlägige<br />

Literatur in den Literaturverzeichnissen im Buch<br />

anzuführen, hinsichtlich älterer Fundstellen dagegen auf die<br />

Vorauflagen beziehungsweise die Internetseite Bezug zu nehmen,<br />

zumal insbesondere dem studentischen Leser, der sich<br />

das Buch als Lernbuch zulegt, die Vorauflagen nur schwer<br />

verfügbar sein dürften. Möglicherweise wäre jedenfalls dem<br />

Studierenden mit einer allein nach inhaltlichen Kriterien vorgenommenen<br />

Literaturauswahl, die durch Hinweise auf weniger<br />

relevante Literatur auf der dem Buch zugeordneten<br />

Internetseite ergänzt werden könnte, mehr geholfen.<br />

Den Detailerörterungen hat der Autor kleinere didaktisch<br />

aufgearbeitete Fälle vorangestellt, die denjenigen, der das<br />

Buch als Lernbuch verwendet, für die rechtliche Problematik<br />

sensibilisieren und Neugier auf das Kennenlernen des für die<br />

Falllösung erforderlichen normativen Rüstzeugs wecken. Dabei<br />

handelt es sich keinesfalls nur um rein fiktive Sachverhalte,<br />

sondern regelmäßig um interessante reale Fälle aus der<br />

Strafrechtspraxis. Die Falllösungen, die den Textpassagen<br />

nachfolgen, in denen die betreffenden Rechtsfragen erörtert<br />

werden, animieren zum nochmaligen Durchdringen des<br />

Rechtsstoffes und verfestigen das gewonnene Fachwissen<br />

durch dessen Verbindung mit eingängigen Lebenssachverhalten.<br />

Hinzu kommen insgesamt 28 Schaubilder, die komplexe<br />

rechtliche Strukturen grafisch aufarbeiten und durch deren<br />

Visualisierung zu einem besseren Verständnis beitragen.<br />

Der erste Teil des Buches (S. 1-90) befasst sich – wie<br />

auch schon in den Vorauflagen – mit der Frage der Anwendbarkeit<br />

des deutschen materiellen Strafrechts auf Sachverhalte<br />

mit Auslandsbezug; primär geht es hier um die §§ 3-7<br />

StGB und den § 1 VStGB sowie deren völkerrechtliche Fundierung.<br />

Dabei beschränkt sich Ambos nicht darauf, im Sinne<br />

einer bloßen Vermittlung des für die richtige Rechtsanwendung<br />

in einer studentischen Klausur oder in der Strafrechtspraxis<br />

erforderlichen Normwissens die einschlägigen gesetzlichen<br />

Regelungen zu erläutern, sondern er bettet die deutschen<br />

Vorschriften ausführlich in ihren völkerrechtlichen<br />

Kontext ein und diskutiert kritisch, inwieweit der deutsche<br />

Gesetzgeber im Bereich des völkerrechtlich Erlaubten geblieben<br />

ist beziehungsweise die Regelungen des deutschen<br />

Strafrechtwendungsrechts völkerrechtliche Schranken überschreiten.<br />

Nach einer einleitenden Einordnung der Bestimmungen<br />

des so genannten Strafanwendungsrechts, bei der es unter<br />

anderem um den Standort der einschlägigen Normen im deutschen<br />

Verbrechenssystem geht (§ 1), erörtert Ambos zunächst<br />

1 Abrufbar: http://www.department-ambos.uni-goettingen.de/<br />

lehrbuch.html.


Ambos, Internationales Strafrecht Kreicker<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

die völkerrechtlichen Grundlagen, auf denen die deutschen<br />

Regelungen beruhen und die ihre Reichweite zugleich legitimieren<br />

und begrenzen. Überzeugend legt er dar, dass sich<br />

jede extraterritoriale Strafgewalterstreckung am völkerrechtlichen<br />

Nichteinmischungsgrundsatz zu messen hat und potentiell<br />

Gefahr läuft, fremdstaatliche Souveränitätsrechte zu verletzen<br />

(§ 2). Dem Leser wird insofern ein breites völkerrechtliches<br />

Hintergrundwissen vermittelt, das ihn zu einer kritischen<br />

Rechtsanwendung befähigt, die sich nicht auf das deutsche<br />

Straf- und Verfassungsrecht beschränkt, sondern auch<br />

die internationalen Bezüge in den Blick nimmt.<br />

Anschließend werden die verschiedenen völkerrechtlichen<br />

Anknüpfungsprinzipien im Detail vorgestellt und wird dargelegt,<br />

inwieweit sie Eingang in das deutsche Recht gefunden<br />

haben (§ 3), wobei Ambos – wie auch in anderen Abschnitten<br />

seines Lehrbuches – das dargestellte deutsche Recht regelmäßig<br />

in Bezug setzt zu entsprechenden Regelungen in anderen<br />

Rechtsordnungen. Bereits hier fällt auf: Es ist geradezu<br />

ein Charakteristikum des zu besprechenden Werkes, dass<br />

nicht nur Rechtsprechung und Literatur aus dem deutschen<br />

Sprachraum ausgewertet worden sind, sondern (neben der<br />

internationalen) auch ausländische Rechtsprechung sowie<br />

fremdsprachige, insbesondere englischsprachige Literatur in<br />

großem Umfang Eingang in die Darstellung, namentlich in<br />

den außerordentlich differenzierten Fußnotenapparat gefunden<br />

haben. Dies ist ausdrücklich zu begrüßen, geht es doch<br />

um eine wahrhaft internationale Materie, weshalb derjenige,<br />

der sich intensiver mit ihr beschäftigen will, um die mittlerweile<br />

überwiegend in englischer Sprache geführte Diskussion<br />

nicht herumkommt.<br />

<strong>Inhalt</strong>lich ist dem Autor uneingeschränkt beizupflichten,<br />

wenn er vor dem Hintergrund des völkerrechtlichen Nichteinmischungsgrundsatzes<br />

eine Strafgewalterstreckung auf Auslandstaten<br />

nach einem absoluten aktiven beziehungsweise<br />

passiven Personalitätsprinzip, also ohne eine entsprechende<br />

Tatortstrafbarkeit, für völkerrechtswidrig erachtet (§ 3<br />

Rn. 40, 55 ff., 71 f.), wenn er eine Strafverfolgung nach dem<br />

Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege, wie sie in § 7<br />

Abs. 2 Nr. 2 StGB normiert ist, nicht nur von einer Tatortstrafbarkeit,<br />

sondern zudem einer Verfolgbarkeit der Tat am<br />

Tatort abhängig macht (§ 3 Rn. 52, 122), wenn er die gegenwärtige<br />

Ausdehnung deutscher Strafgewalt nach dem so genannten<br />

Schutzprinzip (Realprinzip) für allzu weitgehend hält<br />

(§ 3 Rn. 79 ff.) und wenn er bei den völkerrechtlichen Kernverbrechen<br />

– hier gewissermaßen eine gegenläufige Position<br />

zu seiner ansonsten zu verzeichnenden Zurückhaltung bei der<br />

Bejahung extraterritorialer Strafgewalt einnehmend – eine<br />

Strafgewalterstreckung nach dem uneingeschränkten Weltrechtsprinzip<br />

für statthaft erachtet (§ 3 Rn. 93).<br />

Hervorzuheben ist, dass Ambos auch neue Rechtsfragen<br />

meinungsfreudig diskutiert, so etwa die von der Rechtsprechung<br />

noch nicht abschließend geklärte Frage des Tatortes<br />

bei Straftaten im Internet (§ 1 Rn. 19 ff.), wobei er die unterschiedlichen<br />

in der Rechtswissenschaft vertretenen Positionen<br />

jeweils klar herausarbeitet und kritisch hinterfragt. Aufgrund<br />

des umfangreichen Fußnotenapparats, der von einer<br />

beeindruckend gründlichen Erfassung und Durchdringung der<br />

Rechtsprechung und wissenschaftlichen Literatur zeugt, bleibt<br />

dabei für den Leser leicht erkennbar, wo die Darstellung der<br />

in der Rechtsprechung vertretenen Auffassung beziehungsweise<br />

der vorherrschenden Meinung in der Literatur folgt und<br />

wo Ambos hiervon abweichende eigene Positionen vertritt.<br />

Positiv fällt bei der Lektüre weiter auf, dass Ambos neben<br />

den deutschen Normen des Strafanwendungsrechts auch die<br />

sie flankierenden prozessualen Bestimmungen aufgreift (§ 3<br />

Rn. 45, 99 ff.), die bei Auslandstaten die grundsätzlich nach<br />

dem Legalitätsprinzip geltende Verfolgungspflicht (§ 152<br />

Abs. 2 StPO) aufheben (§ 153c StPO) beziehungsweise modifizieren<br />

(§ 153f StPO für Taten nach dem VStGB, die nach<br />

§ 1 VStGB nahezu alle dem uneingeschränkten Weltrechtsprinzip<br />

unterliegen). Der in diesem Zusammenhang von Ambos<br />

geäußerten Kritik an der restriktiven deutschen Verfolgungspraxis<br />

bei Taten nach dem VStGB (§ 3 Rn. 100 f.)<br />

vermag der Rezensent allerdings nicht beizupflichten. Denn<br />

die Ahndung völkerrechtlicher Verbrechen, die im fremdsprachigen<br />

Ausland, vielfach sogar in einem anderen Kulturkreis<br />

und zumeist als staatsverstärkte Kriminalität beziehungsweise<br />

in Gebieten mit fehlender oder sehr eingeschränkter<br />

staatlicher Infrastruktur verübt worden sind, ist mit ganz erheblichen<br />

Schwierigkeiten behaftet. Diesen Schwierigkeiten<br />

kann auch mit mehr Personal nur bedingt begegnet werden,<br />

was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass der personell sehr<br />

großzügig ausgestattete Internationale Strafgerichtshof (ISt-<br />

GH) erst kürzlich, zehn Jahre nach Aufnahme seiner Tätigkeit,<br />

ein erstes Urteil fällen konnte. Insofern erscheint es<br />

sinnvoll (und ist es von § 153f StPO gedeckt), aufwändige<br />

Verfahren nur bei einem klaren Inlandsbezug einer Tat durch<br />

einen (tatsächlichen oder zumindest sicher erwartbaren) Aufenthalt<br />

eines Beschuldigten in Deutschland und bei einer<br />

reellen Chance auf Erzielung eines nennenswerten Ermittlungserfolges<br />

zu betreiben.<br />

Abschließend geht Ambos im ersten Teil seines Lehrbuches<br />

der Frage nach, ob sich die verschiedenen völkerrechtlichen<br />

Anknüpfungspunkte des Strafanwendungsrechts in eine<br />

Rangfolge bringen lassen, die bei völkerrechtlichen Jurisdiktionskonflikten<br />

fruchtbar gemacht werden kann (§ 4) – eine<br />

innovative Überlegung, die sich so in anderen wissenschaftlichen<br />

Publikationen zum Strafanwendungsrecht nicht findet.<br />

Diese von der Rechtsprechung bislang nicht aufgegriffenen<br />

Überlegungen vermögen zwar die Reichweite einer extraterritorialen<br />

Strafgewalterstreckung, wie sie sich aus den §§ 3-7<br />

StGB ergibt, nicht zu beeinflussen, haben aber für die Strafrechtspraxis<br />

insofern durchaus Bedeutung, als sie ermessensleitend<br />

bei einer Entscheidung nach § 153c StPO über die<br />

Verfolgung einer Auslandstat herangezogen werden können<br />

(§ 4 Rn. 23).<br />

Der zweite Teil des Buches (S. 91-379) befasst sich auch<br />

in der Neuauflage ausführlich mit dem Völkerstrafrecht. Gerade<br />

für diesen klaren Schwerpunktteil des Werkes gilt, dass<br />

Ambos die nationale, ausländische und internationale (völkerstrafrechtliche)<br />

Rechtsprechung und Literatur in beeindruckendem<br />

Umfang, ja in geradezu sisyphosartiger Manier zur<br />

Kenntnis genommen, ausgewertet und im Fußnotenapparat<br />

verarbeitet hat, womit eine wahre Fundgrube weiterführender<br />

Quellen entstanden ist, die für denjenigen, der sich vertieft<br />

mit speziellen Fragestellungen befassen will, von unschätzba-<br />

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Ambos, Internationales Strafrecht Kreicker<br />

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rem Wert ist. Ambos kann (gemeinsam mit dem Team seiner<br />

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter) zu Recht für sich in Anspruch<br />

nehmen, mit dieser „Serviceleistung“ dem deutschsprachigen<br />

Leser überhaupt erst den Zugang zur immensen,<br />

für eine Einzelperson schon lange nicht mehr überschaubaren<br />

Menge der fremdsprachigen völkerstrafrechtlichen Literatur<br />

zu öffnen und mit dieser „Vorarbeit“ wesentlich zur weiteren<br />

wissenschaftlichen Durchdringung der Materie beizutragen.<br />

Dass deswegen manche Fußnoten fast eine ganze Druckseite<br />

ausfüllen (§ 5 Fn. 23), hin und wieder vielleicht auch „über<br />

das Ziel hinausgeschossen“ wurde (etwa § 7 Fn. 1209) und –<br />

was angesichts des Umfanges der Nachweise und der Dynamik<br />

der völkerstrafrechtlichen Entwicklung gar nicht vermeidbar<br />

ist – vereinzelt auch Aktualisierungslücken zu entdecken<br />

sind (vgl. etwa § 6 Fn. 78 und 80), nimmt man als<br />

Leser gerne in Kauf. Der studentische Nutzer, der das Buch<br />

als reines Lernbuch nutzt, sollte allerdings, will er angesichts<br />

der Fülle von Detailinformationen nicht verzweifeln, den Mut<br />

aufbringen, sich (zunächst) auf die Wahrnehmung des Haupttextes<br />

zu beschränken.<br />

Im einleitenden Kapitel des zweiten Teils (§ 5) erläutert<br />

Ambos zunächst den Begriff und Gegenstand des Völkerstrafrechts<br />

und stellt die Quellen des völkerrechtlichen Strafrechts<br />

vor. Anschließend folgt ein – insbesondere im Vergleich zu<br />

älteren Darstellungen des Völkerstrafrechts – sehr knapp gehaltenes<br />

Kapitel zu den historischen Grundlagen und zur<br />

Entwicklungsgeschichte des Völkerstrafrechts und supranationaler<br />

Durchsetzungsinstanzen (§ 6). Den Nürnberger Prozessen<br />

ist gerade mal ein Absatz gewidmet (§ 6 Rn. 2), nur<br />

wenig mehr Raum nimmt die Vorstellung der UN-Strafgerichtshöfe<br />

für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda ein<br />

(§ 6 Rn. 15 ff.). Beides allerdings verdient Zustimmung und<br />

ist eine sinnvolle Konsequenz aus der Konsolidierung des<br />

Völkerstrafrechts und der Etablierung des IStGH. Das Völkerstrafrecht<br />

hat sich mittlerweile – insbesondere durch die<br />

Arbeit des ICTY und ICTR – soweit entfaltet und verfestigt,<br />

dass es zur Rechtsfindung keines Rückgriffes auf das „Nürnberger<br />

Recht“ mehr bedarf, weshalb dieses im Wesentlichen<br />

„nur“ noch von rechtshistorischer Bedeutung ist und damit in<br />

einem Lehr- und Studienbuch zum aktuellen Völkerstrafrecht<br />

bloß noch gestreift zu werden braucht. Und auch die temporären<br />

UN-Strafgerichtshöfe werden, wie Ambos darlegt (§ 6<br />

Rn. 15), schon in Kürze Rechtsgeschichte sein.<br />

Ganz zu Recht geht die nachfolgende, knapp 170 Druckseiten<br />

starke Darstellung des gegenwärtigen materiellen Völkerstrafrechts<br />

(§ 7), die bereits für sich genommen als eigenständiges<br />

Lehrbuch durchgehen würde, deshalb konsequent<br />

von den Bestimmungen des Römischen Statuts des IStGH<br />

aus, dessen Struktur Ambos dem Leser zuvor zur Kenntnis<br />

bringt (§ 6 Rn. 21 ff.). Dabei unterschlägt er nicht, dass nach<br />

der Grundkonzeption des IStGH (vgl. Art. 17 IStGH-Statut)<br />

dieser nur nachrangig gegenüber nationalen Strafgerichten<br />

tätig werden soll, weshalb – wie Ambos unter Strukturierung<br />

der entsprechenden Gesetzgebungen aufzeigt (§ 6 Rn. 34 ff.)<br />

– viele Länder, darunter Deutschland mit dem VStGB, das<br />

Völkerstrafrecht des Römischen Statuts in ihr nationales<br />

Recht implementiert haben. In § 7 stellt Ambos zunächst die<br />

Regelungen des „Allgemeinen Teils“ des Völkerstrafrechts<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

298<br />

<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />

vor, wobei – zu Recht, da die diesbezüglichen völkerstrafrechtlichen<br />

Regelungen für den mit dem deutschen Strafrecht<br />

vertrauten Leser am schwersten verständlich sein dürften –<br />

die Bestimmungen über die strafrechtliche Zurechnung im<br />

Sinne einer individuellen Haftung für bestimmte Ereignisse<br />

als Täter, Teilnehmer oder Vorgesetzter (Art. 25, 28 IStGH-<br />

Statut) verhältnismäßig breiten Raum einnehmen (§ 7 Rn. 10-<br />

62). Ausführlich erläutert Ambos auch die spezifisch völkerstrafrechtliche<br />

Zurechnungsfigur der „Joint Criminal Enterprise“<br />

(§ 7 Fn. 30 ff.), wobei ihm beizupflichten ist, wenn er<br />

diese Rechtsfigur wegen der Gefahr, eine mit dem Schuldgrundsatz<br />

nicht zu vereinbarende Erfolgshaftung zu begründen,<br />

sehr kritisch sieht (§ 7 Rn. 33). Weiter befasst sich Ambos<br />

in diesem Kapitel in einer auch für den studentischen<br />

Leser gut verständlichen Sprache mit dem Vorsatzbegriff des<br />

Völkerstrafrechts, der Versuchsstrafbarkeit sowie den sogenannten<br />

Straffreistellungsgründen (defences). Hier folgt Ambos<br />

in seiner Darstellung dem Verbrechensbegriff des angloamerikanischen<br />

Strafrechts, das – ohne zwischen den Wertungsebenen<br />

der Rechtswidrigkeit und Schuld sowie einer<br />

Zugehörigkeit zum materiellen Recht oder zum Prozessrecht<br />

zu differenzieren – den strafbarkeitsbegründenden Umständen<br />

(offences) pauschal die zum Ausschluss einer strafrechtlichen<br />

Verantwortlichkeit führenden Umstände (defences) gegenüberstellt.<br />

Ambos erläutert die Regelungen des Römischen<br />

Statuts zur Schuldfähigkeit, zur Notwehr, zum Handeln auf<br />

Befehl, zum (Nötigungs-)Notstand sowie zu möglichen Irrtümern<br />

eines Täters. Ferner befasst er sich ausführlich mit der<br />

Frage, inwieweit Amnestien, Begnadigungen und Immunitäten<br />

einer Strafverfolgung wegen völkerrechtlicher Verbrechen<br />

entgegenstehen können.<br />

Es folgt eine Darstellung des „Besonderen Teils“ des Völkerstrafrechts,<br />

also der völkerstrafrechtlichen Verbrechenstatbestände<br />

(Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit,<br />

Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression). Insofern<br />

ist hervorzuheben, dass die einzelnen Tatbestandsmerkmale<br />

in intensiver Auseinandersetzung mit der – im Fußnotenapparat<br />

ausführlich berücksichtigten – Rechtsprechung des<br />

ICTY und ICTR sowie – soweit bereits vorhanden – des<br />

IStGH entfaltet werden, was die Erläuterungen auch für den<br />

Strafrechtspraktiker interessant macht. Auch in diesem Abschnitt<br />

seines Lehr- und Studienbuches beschränkt sich Ambos<br />

nicht auf eine wissensvermittelnde deskriptive Darstellung,<br />

sondern scheut er sich nicht, (konstruktive und juristisch<br />

wohl begründete) Kritik zu üben, wobei er diese stets<br />

mit eigenen Lösungsvorschlägen verbindet. Beispielhaft sei<br />

insofern seine sehr differenzierte Kritik an Tendenzen vor<br />

allem in der wissenschaftlichen Literatur genannt, das Erfordernis<br />

einer spezifischen Vernichtungsabsicht beim Genozid,<br />

die elementar für das Unrechtsgepräge dieses Tatbestands ist,<br />

zu missachten und eine bloße Kenntnis von einem – eigentlich<br />

vom Tatbestand gar nicht verlangten (vgl. § 7 Rn. 140) –<br />

besonderen Begehungszusammenhang im Sinne eines makrokriminellen<br />

Kontextes ähnlicher Verhaltensweisen ausreichen<br />

zu lassen (§ 7 Rn. 146 ff.). Zutreffend weist Ambos darauf<br />

hin, dass hier Beweisschwierigkeiten durch eine Tatbestandsmodifizierung<br />

überwunden werden sollen (§ 7 Rn. 148).<br />

Dies aber kann nicht Aufgabe der Justiz sein, zumal es zur


Ambos, Internationales Strafrecht Kreicker<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Überzeugung des in der Strafrechtspraxis tätigen Rezensenten<br />

zur wenn auch nicht immer einfachen, so aber doch zu bewältigenden<br />

und alltäglichen Aufgabe der Strafjustiz gehört, aus<br />

äußeren Tatumständen auf Intentionen eines Angeklagten zu<br />

schlussfolgern – man denke nur an die auf besondere Beweggründe<br />

abstellenden Mordmerkmale des § 211 StGB, die in<br />

der Justizpraxis kaum ein Angeklagter einzuräumen bereit ist.<br />

Besonders herauszustellen ist in der vorliegenden, speziell<br />

die dritte Auflage betreffenden Rezension, dass Ambos in der<br />

Neuauflage bereits detailliert auf die Staatenkonferenz zum<br />

Aggressionsverbrechen eingeht, die 2010 in Kampala (Uganda)<br />

stattfand (§ 7 Rn. 261 ff.). Es ist zu begrüßen, dass er<br />

nicht nur die verabschiedeten Ergänzungen des Römischen<br />

Statuts beschreibt und kommentiert, sondern auch im Wortlaut<br />

wiedergibt, weil noch geraume Zeit bis zu ihrem Inkrafttreten<br />

verstreichen dürfte. Die ausführliche Schilderung des<br />

Prozesses bis zur Verabschiedung der Änderungen des Statuts<br />

macht zudem exemplarisch deutlich, wie schwierig es ist,<br />

bei einer Fortentwicklung der Zuständigkeit des IStGH die<br />

unterschiedlichsten Interessen der Staaten zu vereinen, weswegen<br />

Ambos zuzustimmen ist, wenn er den in Kampala<br />

letztlich gefundenen Kompromiss als Erfolg bezeichnet (§ 7<br />

Rn. 274).<br />

Abschließend befasst sich Ambos im zweiten Teil seines<br />

Lehrbuches mit dem Völkerstrafprozessrecht, also den verfahrensrechtlichen<br />

Regelungen zur Durchsetzung einer völkerrechtlichen<br />

Strafbarkeit (§ 8). Dabei geht es ihm – wie<br />

auch schon bei der Darstellung des materiellen Völkerstrafrechts<br />

– im Wesentlichen um die einschlägigen Bestimmungen<br />

des Römischen Statuts, das (erstmals) ein umfassendes<br />

völkerrechtliches Strafprozessrecht (für Verfahren vor dem<br />

IStGH) normiert.<br />

Gegenstand des dritten Teils des Lehrbuchs (S. 381-562)<br />

ist das Europäische Strafrecht im weiten Sinne, das, wie<br />

Ambos zu Recht besonders herausstellt, kein supranationales<br />

Strafrecht wie das Völkerstrafrecht ist und auch nicht nur<br />

strafrechtliche Regelungen der Europäischen Union umfasst.<br />

Vielmehr handelt es sich um einen Sammelbegriff für alle<br />

strafrechtlich relevanten Regelungen im Rahmen des Europarates<br />

und der Europäischen Union, die primär eine Harmonisierung<br />

der nationalen Strafrechtsordnungen der jeweiligen<br />

Mitgliedsstaaten bezwecken, also – wie Ambos es formuliert<br />

– auf ein „europäisiertes Strafrecht“ abzielen (§ 9 Rn. 4).<br />

Diesen Teil seines Lehrbuches hat Ambos für die Neuauflage<br />

vollkommen neu strukturiert, wobei die Gliederung nun anders<br />

als in den Vorauflagen nicht mehr institutionenorientiert<br />

(einerseits das Recht des Europarates, andererseits EU-Recht)<br />

ist, sondern thematischen Kriterien folgt (Grundrechtsschutz,<br />

Angleichung des materiellen Strafrechts, Rechtshilfe). Dabei<br />

hat Ambos seine Darstellung zur Rechtshilfe, dem für die<br />

Strafrechtspraxis wohl wichtigsten Bereich des Europäischen<br />

Strafrechts, in der hier besprochenen dritten Auflage deutlich<br />

ausgebaut (§ 12), was sich auch darin widerspiegelt, dass der<br />

Begriff „Rechtshilfe“ nunmehr in den Untertitel des Buches<br />

aufgenommen wurde.<br />

Ambos zeigt zunächst auf, auf welchen Rechtsquellen die<br />

relevanten Vorschriften beruhen können, und macht deutlich,<br />

dass der Europäischen Union eine echte supranationale Recht-<br />

setzungsgewalt im Bereich des Strafrechts allenfalls in sehr<br />

engen Grenzen zukommt (§ 9 Rn. 5 ff.), wobei seine Darstellung,<br />

die beim Leser europarechtliche Grundkenntnisse voraussetzt<br />

und damit für einen mit dem Europarecht noch gar<br />

nicht vertrauten Studierenden wohl nur mit gewissen Schwierigkeiten<br />

zu erfassen sein dürfte, durchgängig vom aktuellen<br />

Rechtszustand nach Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages<br />

ausgeht.<br />

Schwerpunktmäßig befasst sich Ambos anschließend mit<br />

den Grundrechtsgewährleistungen auf europäischer Ebene,<br />

insbesondere mit den Garantien der EMRK (§ 10 Rn. 5 ff.).<br />

Diese Gewichtung ist ausdrücklich zu begrüßen, denn die<br />

strafrechtlich relevanten Gewährleistungen der EMRK spielen<br />

– als unmittelbar anwendbares Recht – in der deutschen<br />

Strafrechtspraxis eine immer größere Rolle, so dass es für<br />

Studierende und Referendare heutzutage nicht mehr genügt,<br />

sich im Rahmen ihrer strafprozessualen Ausbildung mit der<br />

deutschen Strafprozessordnung vertraut zu machen, sondern<br />

sie auch die EMRK mit in den Blick nehmen müssen. Ambos<br />

erläutert unter gründlicher Auswertung der – in einem wiederum<br />

umfassenden Fußnotenapparat nachgewiesenen – Rechtsprechung<br />

des EGMR die einschlägigen Normen der EMRK.<br />

Auch wenn seine Darstellung – selbstredend – nicht den<br />

Tiefgang haben kann wie diejenige in dem speziellen Lehrbuch<br />

zur EMRK von Grabenwarter/Pabel 2 , das in derselben<br />

Reihe wie das hier besprochene Werk erschienen ist, so bietet<br />

Ambos doch weitaus mehr als nur einen Überblick. Auch in<br />

diesem Abschnitt seines Buches setzt er sich kritisch mit<br />

unterschiedlichen Ansichten in der Rechtsprechung und Literatur<br />

auseinander und bezieht er eigene Positionen, wobei er<br />

im Grundsatz und im Zweifel die Beschuldigtenrechte sehr<br />

weitreichend verstanden wissen will. Der Rezensent hat allerdings<br />

gewisse Zweifel, ob eine extensive Auslegung der<br />

strafverfahrensrechtlichen Beschuldigtenrechte den Opferbelangen<br />

– und damit deren Menschenrechten! – immer hinreichend<br />

Rechnung trägt. Wenn der Rezensent sich an Vernehmungen<br />

traumatisierter Opfer von Sexualdelikten im Rahmen<br />

seiner eigenen ermittlungsrichterlichen Tätigkeit erinnert, so<br />

vermag er jedenfalls ein Anwesenheitsrecht eines Beschuldigten<br />

(neben seinem Verteidiger!) bei ermittlungsrichterlichen<br />

Zeugenvernehmungen und eine Befugnis eines Beschuldigten,<br />

Zeugen selbst „auf Herz und Nieren zu prüfen“<br />

(§ 10 Rn. 36), nicht vorbehaltlos gutzuheißen.<br />

Bei der Lektüre dieses Abschnitts des Lehrbuches zeigt<br />

sich erneut, dass sich die Neuauflage auf einem ganz aktuellen<br />

Stand befindet, denn auch die jüngste europäische und<br />

deutsche Rechtsprechung zur Sicherungsverwahrung wird<br />

von Ambos aufgegriffen (§ 10 Rn. 88). Dieses weitere Beispiel<br />

für die Dynamik der Rechtsentwicklung in den vom<br />

Buch abgedeckten Bereichen macht einmal mehr deutlich,<br />

dass es eine wirklich große und vor allem auch dauerhafte<br />

Herausforderung darstellt, ein Lehrbuch zum internationalen<br />

Strafrecht aktuell zu halten; eine Herausforderung, der Ambos<br />

– wie die hier besprochene Neuauflage zeigt – hervorragend<br />

gerecht wird.<br />

2 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonven-<br />

tion, 5. Aufl. 2012.<br />

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299


Ambos, Internationales Strafrecht Kreicker<br />

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Größeren Raum nimmt auch die Erörterung der – im Zuge<br />

einer Ausweitung der grenzüberschreitenden Kriminalität für<br />

die Strafrechtspraxis immer wichtiger werdenden – Regelung<br />

des transnationalen Doppelverfolgungsverbots in Art. 54<br />

SDÜ ein (§ 10 Rn. 104 ff.). Die von Ambos breit dargestellte<br />

und von ihm durch differenzierte eigene Positionen bereicherte<br />

Diskussion, inwieweit verfahrensbeendenden Entscheidungen<br />

der Staatsanwaltschaft mit Sanktionscharakter<br />

(etwa Einstellungen nach § 153a StPO) Strafklageverbrauch<br />

zukommt (§ 10 Rn. 108 ff.) und wann von einer Tat, auf die<br />

sich der Strafklageverbrauch erstreckt, gesprochen werden<br />

kann (§ 10 Rn. 115 ff.), zeigt exemplarisch auf, dass es angesichts<br />

der vielen in Europa gesprochenen Sprachen, der sehr<br />

unterschiedlichen Strafrechtsordnungen und der damit verbundenen<br />

verschiedenen Vorverständnisse ein sehr schwieriges<br />

Unterfangen ist, durch unmittelbar anwendbare europarechtliche<br />

Vorschriften eine Harmonisierung der Strafverfolgungspraxis<br />

in Europa zu erreichen.<br />

Sodann erläutert Ambos die Mechanismen zur Europäisierung<br />

des materiellen Strafrechts (§ 11), wobei er verschiedene<br />

völkerrechtliche Verträge auf der Ebene des Europarats<br />

vorstellt, welche die Staaten zur Schaffung materieller Strafnormen<br />

verpflichten (§ 11 Rn. 2), und ausführlich auf die<br />

Verzahnung des EU-Rechts mit dem materiellen Strafrecht<br />

der EU-Mitgliedsstaaten eingeht. Er beleuchtet die Aufladung<br />

von nationalen Strafnormen – etwa solchen zur Strafbarkeit<br />

von Falschaussagen vor Gericht – durch EU-Recht im Sinne<br />

einer Geltungserweiterung auf Handlungen gegenüber EU-<br />

Institutionen beziehungsweise gegen EU-Rechtsgüter (§ 11<br />

Rn. 20 ff.) und die vielfältigen Bezugnahmen auf EU-Rechtsvorschriften<br />

in nationalen Strafnormen (§ 11 Rn. 26 ff.). Insbesondere<br />

aber stellt Ambos in der hier besprochenen dritten<br />

Auflage die mit der EU-Reform von Lissabon neu geregelten<br />

Kompetenzen der EU zur Verabschiedung von Richtlinien<br />

vor, die – im Sinne einer Harmonisierung der nationalen<br />

Strafrechtsordnungen der EU-Staaten – die einzelnen Mitgliedsstaaten<br />

dazu verpflichten, ein Mindestmaß an Strafbarkeit<br />

für bestimmte Arten besonders schwerer Kriminalität,<br />

die von grenzüberschreitender Relevanz sind, im nationalen<br />

Recht festzulegen beziehungsweise nicht zu unterschreiten<br />

(§ 11 Rn. 5 ff., 32 ff.). Diese in Art. 83 AEUV normierten<br />

Richtlinienkompetenzen der EU sieht Ambos – ganz zu Recht<br />

– kritisch. Er weist darauf hin, dass solche EU-Richtlinien in<br />

der Tendenz zu einer Ausweitung der Strafbarkeit führen und<br />

damit die ultima ratio-Funktion des Strafrechts gefährden<br />

(§ 11 Rn. 7), dass das Strafrecht auf EU-Ebene opferzentriert<br />

auf die Funktion reduziert wird, Sicherheit durch repressive<br />

Maßnahmen zu gewährleisten (§ 11 Rn. 8), und dass die<br />

Kompetenznorm des Art. 83 AEUV in ihrer Weite mit dem<br />

Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung der EU-Organe<br />

durch das Primärrecht und der fehlenden Kompetenz-Kompetenz<br />

der EU zu kollidieren droht (§ 11 Rn. 6, 9).<br />

Im nächsten Abschnitt seines Lehrbuches befasst sich<br />

Ambos mit den verfahrensrechtlichen Regelungen zur Zusammenarbeit<br />

der Strafverfolgungsbehörden der Staaten Europas<br />

(§ 12). Seine Darstellung macht deutlich, dass die zunehmende<br />

Zahl von Straftaten mit transnationalem Bezug<br />

zwar eine Kooperation der Staaten bei der Strafverfolgung<br />

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300<br />

<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />

immer wichtiger werden lässt, das hierfür vorhandene rechtliche<br />

Instrumentarium aber ganz erhebliche Defizite aufweist.<br />

Ambos, der auch diesen Rechtsbereich souverän beherrscht<br />

und dem Leser durch eine klare Strukturierung sowie detaillierte<br />

Hinweise auf Rechtsprechung und weiterführende Literatur<br />

zugänglich macht, stellt das außerordentlich differenzierte<br />

Regelungsgefüge vor, das sich durch ein Ineinandergreifen<br />

von völkerrechtlichen Verträgen des Europarats, hierauf<br />

aufbauenden Normen des EU-Rechts und nationalem<br />

Recht auszeichnet. Zutreffend weist Ambos darauf hin, dass<br />

die einschlägigen Regelungen für den Studierenden, aber<br />

auch für den Strafrechtspraktiker sehr unübersichtlich sind<br />

(§ 12 Rn. 61). Ein schönes Beispiel für die Regelungskomplexität<br />

ist der Europäische Haftbefehl: Den eigentlich zur<br />

Vereinfachung der Rechtshilfe gedachten Rahmenbeschluss<br />

über den Europäischen Haftbefehl, auf den Ambos ausführlich<br />

eingeht (§ 12 Rn. 35 ff.), hat der deutsche Gesetzgeber<br />

nach dem Urteil des BVerfG von 2005 so umgesetzt, dass –<br />

wie Ambos darlegt – statt des klassischen zweistufigen Auslieferungsverfahrens<br />

nun sogar ein dreistufiges Verfahren zu<br />

verzeichnen ist (§ 12 Rn. 46, 54, 57). Den im Rahmen der EU<br />

eingeschlagenen Weg zur Verbesserung der Zusammenarbeit<br />

– der auf der Grundidee beruht, dass die Justiz des Staates, in<br />

dem ein Strafverfahren betrieben wird, die in einem anderen<br />

Staat durchzuführenden Maßnahmen (etwa Verhaftungen,<br />

Durchsuchungen) nach ihrem nationalen Recht anordnen und<br />

der andere Staat die Maßnahmen dann ohne eigene Prüfung<br />

und ohne Rücksicht auf das eigene nationale Recht ergreifen<br />

soll (Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, Art. 82 Abs. 1<br />

AEUV) – sieht Ambos mit guten Gründen außerordentlich<br />

kritisch (§ 12 Rn. 21, 41 f., 47, 61, 67). Ganz zu Recht betont<br />

er, dass eine solche bedingungslose Anerkennung ausländischer<br />

Festnahme- beziehungsweise Ermittlungsanordnungen<br />

im Grunde eine – nicht erstrebenswerte – weitgehende Vereinheitlichung<br />

der nationalen Strafrechtsordnungen voraussetzte<br />

und die Verteidigungsrechte der betroffenen Bürger<br />

gefährdet. Im Normalfall der Alltagskriminalität mit grenzüberschreitendem<br />

Bezug dürfte eine Durchführung erbetener<br />

Ermittlungsmaßnahmen nach Maßgabe und in den Grenzen<br />

des Rechts des ersuchten Staates im Übrigen wohl nicht als<br />

Hemmschuh wirken; die für die Strafrechtspraxis relevanten<br />

Defizite liegen vielmehr im Wesentlichen im organisatorischen<br />

Bereich der grenzüberschreitenden Kooperation. Auf<br />

die diesbezüglichen Bemühungen auf europarechtlicher Ebene<br />

durch Schaffung und Ausbau von Institutionen zur polizeilichen<br />

und justiziellen Zusammenarbeit wie Europol und<br />

Eurojust geht Ambos in einem abschließenden Kapitel des<br />

europarechtlichen Teils seines Lehrbuches ein (§ 13).<br />

Abgerundet wird das Werk durch ausführliche Verzeichnisse,<br />

und zwar ein dem Text vorgeschaltetes umfangreiches<br />

Literatur- und Quellenverzeichnis, in dem vor allem die kapitelübergreifend<br />

relevante Literatur aufgeführt ist, aber auch<br />

einschlägige nationale Gesetze und internationale Verträge<br />

gelistet sind (S. XXXV-LII), eine Aufstellung wichtiger Urteile<br />

und weiterer zentraler Dokumente internationaler Gerichte,<br />

unter anderem des IGH, des ICTY und des IStGH<br />

(S. 563-578) sowie ein umfangreiches Sachverzeichnis<br />

(S. 579-586). Letzteres könnte allerdings, auch wenn, viel-


Ambos, Internationales Strafrecht Kreicker<br />

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leicht aber auch gerade weil das Werk bereits sehr umfangreich<br />

ist, durchaus noch ausgebaut werden, um das Buch für<br />

die Strafrechtspraxis noch besser als handbuchartiges Nachschlagewerk<br />

nutzbar zu machen. Beispielhaft sei insofern<br />

darauf hingewiesen, dass die Verjährung im Stichwortverzeichnis<br />

nicht aufgegriffen wird, obgleich Ambos auch auf<br />

diesen eher randständigen Straffreistellungsgrund differenziert<br />

eingeht (§ 7 Rn. 79 mit Fn. 376).<br />

Ergänzt wird das Buch zudem durch ein speziell auf die<br />

universitäre Ausbildung zugeschnittenes Fallbuch 3 sowie –<br />

wie bereits erwähnt – eine Sammlung von Nachweisen zu<br />

älterer Literatur und Rechtsprechung, die aus Platzgründen in<br />

der Neuauflage keine Berücksichtigung mehr finden konnte,<br />

auf der Homepage des Lehrstuhls des Autors.<br />

Als Fazit kann festgehalten werden, dass das Lehr- und<br />

Studienbuch zum internationalen Strafrecht von Ambos auch<br />

in der dritten Auflage wieder beeindruckt und überzeugt.<br />

Aufgrund der hohen Aktualität der Darstellung, der großen<br />

Bearbeitungstiefe und der umfassenden Literatur- und Rechtsprechungsnachweise<br />

bleibt das Werk auch in der Neuauflage<br />

das bedeutendste Lehr- und Studienbuch zum internationalen<br />

Strafrecht im deutschsprachigen Raum. Studierende, die sich<br />

ohne Vorkenntnisse erstmals mit dem Völkerstrafrecht und<br />

anderen Bereichen des internationalen Strafrechts befassen<br />

wollen, dürften zwar – insbesondere, wenn es ihnen lediglich<br />

darum geht, im Rahmen eines engen Zeitbudgets Grundkenntnisse<br />

zu erwerben – aufgrund des Tiefganges und hohen<br />

wissenschaftlichen Niveaus der Darstellung, die nicht nur<br />

strafrechtliche, sondern auch völker- und europarechtliche<br />

Grundkenntnisse voraussetzt, mit dem Buch ihre Schwierigkeiten<br />

haben. Sie werden wahrscheinlich gut beraten sein,<br />

(zunächst einmal) das Anfängerlehrbuch von Satzger 4 , das<br />

rein didaktisch orientiert ist und sich auf die Vermittlung von<br />

Basiswissen konzentriert, zur Hand zu nehmen. Studierenden<br />

dagegen, die sich – etwa im Rahmen eines universitären Seminars<br />

oder Schwerpunktstudiums – vertieft mit der Materie<br />

befassen wollen, ist das Buch von Ambos wärmstens zu empfehlen.<br />

Auch auf dem Schreibtisch eines jeden Wissenschaftlers<br />

und Strafrechtspraktikers, der Fragen des internationalen<br />

Strafrechts zu klären hat, ist das Werk, das im Übrigen zu<br />

einem Preis im Handel angeboten wird, der einen Erwerb für<br />

die eigene Bibliothek erschwinglich macht, ein Muss.<br />

RiLG Dr. Helmut Kreicker, GBA, Karlsruhe<br />

3 Ambos, Fälle zum internationalen Strafrecht, 2010.<br />

4 Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht,<br />

5. Aufl. 2011.<br />

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301


Standpunkte der deutschen Strafrechtslehrer zu den Zukunftsperspektiven der<br />

Rechtswissenschaft und der akademischen juristischen Ausbildung in Deutschland<br />

Von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Bernd Schünemann, München<br />

I. Kritisch-salvatorische Vorbemerkungen<br />

1. Wer wie der Verf. die jetzt gut vier Jahrzehnte währende<br />

Diskussion über die Rolle der Rechtswissenschaft und der<br />

Rechtsausbildung in Deutschland als teilnahmsvoller Beobachter<br />

verfolgt hat, schwankt zwischen zwei Empfindungen:<br />

einer „unendlichen Geschichte“ (Michael Ende) oder<br />

eines „rasenden Stillstandes“ (Paul Virilio). Zeitweise mochte<br />

die in alle interessierten Kreise hineingetragene und von<br />

diesen argumentativ befeuerte Auseinandersetzung wie die<br />

Annäherung an eine „ideale Sprechsituation“ (Jürgen Habermas)<br />

und geradezu als Exempel einer „deliberativen Demokratie“<br />

(Joseph Bessette) erscheinen. Seit nicht einmal<br />

vier Jahren könnte man allerdings auch geneigt sein, darin ein<br />

systemisch geschaffenes Exempel der „Postdemokratie“<br />

(Colin Crouch) zu erblicken, durch das unverhältnismäßig<br />

große Teile des politischen Engagements der Zivilgesellschaft<br />

absorbiert werden, während die weitaus gewichtigen<br />

Entscheidungen unter Vorgabe ihrer Alternativlosigkeit von<br />

kleinen Zirkeln des politischen Systems sei es an einem Tage,<br />

sei es über Nacht lanciert werden können. 1<br />

2. Als sich der Wissenschaftsrat im Jahr 2011 erneut den<br />

Perspektiven der Rechtswissenschaft zuwandte 2 , standen die<br />

1<br />

So ist das sog. Finanzmarktstabilisierungsgesetz am 17.10.<br />

2008 an ein und demselben Tage von Bundestag und Bundesrat<br />

verabschiedet und vom Bundespräsidenten unterzeichnet<br />

worden, während der EFSF in der Nacht vom 9. auf den<br />

10.5.2010 beschlossen worden ist. Die jeweils damit verbundenen<br />

Haftungsrisiken beliefen sich auf viele hundert Milliarden<br />

Euro, die Absegnung der Regierungsmaßnahmen im<br />

Parlament waren jeweils nur Formsache, eine deliberative<br />

Einbeziehung der Zivilgesellschaft fand in keinem Falle statt.<br />

Das am Wenigsten verbrämte Exempel für die in der EU ihr<br />

Aktionszentrum findende Paralyse klassischer demokratischer<br />

Prinzipien bildet die im ESM-Vertrag vorgesehene<br />

Etablierung einer lebenslangen Immunität der ESM-Organe,<br />

das die von der Demokratiebewegung des 19. Jahrhunderts<br />

erkämpfte Ministerverantwortlichkeit abschaffen und damit<br />

im Finanzwesen spätabsolutistische Herrschaftsformen wiederherstellen<br />

würde. Zu einem anderen Beispiel der Ersetzung<br />

deliberativ-demokratischer Entscheidungsformen durch<br />

(vermöge eines einzigen Exekutivbeschlusses ausgelöste)<br />

Automatismen in Gestalt der Umfunktionierung des Euro-<br />

Verrechnungssystems TARGET 2 in einen von keinem Parlament<br />

gebilligten Rettungsschirm Schünemann, <strong>ZIS</strong> 2012,<br />

84.<br />

2<br />

Nachdem in den früheren „Empfehlungen zur Reform der<br />

staatlichen Abschlüsse“ des Wissenschaftsrats v. 15.11.2002<br />

(online unter: http://www.hrk.de/bologna/de/home/3160.php<br />

[zuletzt abgerufen am 31.5.2012]) eine Reform der Juristenausbildung<br />

weitgehend nach dem Bologna-Model befürwortet<br />

worden war (S. 13 ff.), sollen nunmehr die „Perspektiven<br />

in der Rechtswissenschaft“ in einer Arbeitsgruppe unter dem<br />

Vorsitz von Peter Strohschneider im Juli 2012 beraten und<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

302<br />

<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />

deutschen Strafrechtslehrer vor dem Dilemma, dass sie mangels<br />

einer korporativen Organisation als solche keine verbindliche<br />

Stellungnahme abgeben und das Thema überhaupt<br />

erst am 25.6.2011 auf ihrer Tagung in Leipzig erörtern konnten,<br />

und auch das nur in Umrissen. Die nachfolgenden Thesen<br />

mussten deshalb vom Verf. unter größtem Zeitdruck<br />

formuliert werden (was eine starke Konzentration und damit<br />

auch Verkürzung der angesprochenen Gesichtspunkte und<br />

Argumente unvermeidbar machte), wobei die Leipziger Meinungsbildung<br />

auch nur die allgemeine Richtung vorgeben<br />

konnte. Für die nachfolgend gewählten Formulierungen trägt<br />

deshalb der Verf. die alleinige Verantwortung. Dabei konnte<br />

von vornherein nicht mehr als eine thesenhafte Zuspitzung<br />

angestrebt werden, weshalb auch (um nicht das äußere Erscheinungsbild<br />

einer wissenschaftlichen Behandlung zu malen)<br />

auf Fußnoten verzichtet und lediglich für den Hintergrund<br />

auf drei tieferdringende Analysen exemplarisch hingewiesen<br />

werden soll. 3<br />

II. Thesen<br />

1. Perspektiven und zentrale Herausforderungen der Rechtswissenschaft<br />

in Deutschland<br />

a) Die wichtigste Perspektive der (Straf-)Rechtswissenschaft<br />

in Deutschland besteht in der Einflussnahme auf die Rechtskultur<br />

der EU bei der Europäisierung des Rechts, speziell des<br />

Straf- und Strafprozessrechts. Die hierfür zentrale, auch im<br />

internationalen Vergleich führende Leistung der Strafrechtswissenschaft<br />

der BRD besteht in der Verbindung des bis<br />

1933 entwickelten, die Rationalität und Intersubjektivität der<br />

Rechtsfindung garantierenden formalen Strafrechtssystems<br />

mit den im Grundgesetz niedergelegten inhaltlichen Werten<br />

des liberalen Rechtsstaats. In der seit Ende des vergangenen<br />

Jahrhunderts einsetzenden Europäisierung des Strafrechts<br />

dominiert dagegen bis heute eine eher polizeilich-operative<br />

Sichtweise, deren Zähmung und Ergänzung durch die in der<br />

deutschen Strafrechtswissenschaft entwickelte und perfektionierte<br />

Methode der systematischen Verarbeitung des fundamentalen<br />

Strafrechtszwecks „ultima ratio zum Rechtsgüterschutz<br />

durch Androhungsgeneralprävention“ sowie des strafrechtsbegrenzenden<br />

und zugleich in der Idee der Androhungsgeneralprävention<br />

vorausgesetzten Schuldprinzips geleistet<br />

werden kann und zur Herstellung eines wahrhaften „Raumes<br />

mit Empfehlungen versehen werden (Arbeitsprogramm Januar-Juni<br />

2012 des Wissenschaftsrates vom 27.1.2012, online:<br />

http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/Arbeitsprog<br />

ramm.pdf [zuletzt abgerufen am 31.5.2012]).<br />

3<br />

Siehe das Gutachten für den Juristen-Fakultätstag von Hirte/Mock,<br />

Reform der Juristenausbildung vor dem Hintergrund<br />

des Bologna-Prozesses (http://www.djft.de/Hirte_Mock.pdf<br />

[zuletzt abgerufen am 31.5.2012]); Schöbel, JA 2011, 161;<br />

Hilgendorf, in: Hilgendorf/Eckert (Hrsg.), Subsidiarität –<br />

Sicherheit – Solidarität, Festgabe für Franz-Ludwig Knemeyer<br />

zum 75. Geburtstag, 2012, S. 559 f.


Standpunkte der deutschen Strafrechtslehrer zu den Zukunftsperspektiven der Rechtswissenschaft<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

der Freiheit und des Rechts“ auch geleistet werden muss. Um<br />

die bisher schon in dem deutschen strafrechtswissenschaftlichen<br />

Diskussionsraum entfalteten Ansätze EU-weit zu kommunizieren,<br />

wird möglicherweise eine in englischer Sprache<br />

entfaltete (nicht mit der lexikalischen Übersetzung deutscher<br />

Texte zu verwechselnde) systematische Strafrechtsdogmatik<br />

zu entwickeln sein, was man ohne Übertreibung als eine<br />

ebenso grandiose wie herausfordernde Perspektive bezeichnen<br />

kann.<br />

b) Auch im globalen Maßstab müssen gegenüber dem<br />

derzeitigen internationalen Trend einer (in der Aushandlung<br />

des Strafurteils gipfelnden) Ent-Formalisierung und Ent-<br />

Rechtsstaatlichung der Strafrechtspflege die in der deutschen<br />

Strafrechtswissenschaft in einem Gesamtsystem verarbeiteten<br />

Werte des freiheitlichen demokratischen Rechtsstaats behauptet<br />

werden. Aufgrund des aus dem 19. Jahrhundert<br />

stammenden, aber bis heute bewahrten „Nimbus“ der deutschen<br />

Strafrechtswissenschaft erscheint diese Aufgabe im<br />

Grundsatz lösbar, wobei beispielsweise der Einflussnahme<br />

auf die in einem rasanten Aufbruch befindliche chinesische<br />

Rechtskultur eine Schlüsselstellung zukommen dürfte.<br />

Selbstverständlich gilt dies auch für die deutsche Rechtskultur<br />

selbst, die sich in den letzten Jahren dem „pragmatistischen“<br />

Trend, der in letzter Konsequenz zur Eröffnung immer<br />

größerer Willkürspielräume der Rechtspflege führt, nicht<br />

entziehen konnte. Die Aufgabe der Strafrechtswissenschaft<br />

gewissermaßen als „intellektueller Zuchtmeister“ der Rechtsprechung<br />

muss hier offensiv verteidigt werden, indem gezeigt<br />

wird, dass die durch gesellschaftliche Veränderungen<br />

naturgemäß notwendig werdenden Modernisierungen des<br />

Rechts nicht zu einer letztlich nur noch von bürokratischen<br />

Grundsätzen regierten Unkontrollierbarkeit der Strafjustiz<br />

führen dürfen. Dies gilt insbesondere auch angesichts einer<br />

auf dem Gebiet der Strafrechtspflege seit Jahren zunehmend<br />

von polizeilich-operativen Zielen beherrschten Gesetzgebung.<br />

c) Eine nicht weniger große und anspruchsvolle Perspektive<br />

besteht in der Fortentwicklung der dem geltenden Recht<br />

gewidmeten Rechtsdogmatik (Strafrechtsdogmatik) zu einer<br />

Gesetzgebungswissenschaft (Strafgesetzgebungswissenschaft).<br />

Wissenschaftstheoretisch gesehen geht es um keine neue<br />

Disziplin, sondern um die Verbindung des auf die Verfassung<br />

bezogenen und deshalb zweifellos weitaus größere Entscheidungsspielräume<br />

übrig lassenden interpretativen Paradigmas<br />

mit dem metaethisch-konsequentialistischen Paradigma bei<br />

der Konkretisierung der erwähnten, in der Strafrechtswissenschaft<br />

weithin unstrittigen Strafrechtsfunktion „Androhungsgeneralprävention<br />

als ultima ratio zum Schutz der von der<br />

Verfassung für schutzwürdig erklärten Güter“.<br />

d) Die Erfüllung dieser Aufgaben der Strafrechtswissenschaft<br />

muss durch eine Verteidigung der wissenschaftlich<br />

fundierten Lehre an den deutschen Universitäten flankiert<br />

werden, weil die auf die Dauer größte Gefahr einer Ersetzung<br />

rechtswissenschaftlich fundierter durch rein pragmatisch<br />

orientierte Rechtsfindung in der Praxis darin besteht, dass<br />

durch eine Verflachung der juristischen Ausbildung die neue<br />

Juristengeneration den Wert der spezifisch von der Wissen-<br />

schaft geleiteten Strafrechtspflege nicht mehr begreift und<br />

dann naturgemäß auch nicht mehr zu realisieren vermag.<br />

2. Zum Wissenschaftsbegriff der Strafrechtswissenschaft und<br />

dem Verhältnis von Dogmatik und Grundlagenfächern sowie<br />

den sich daraus für Forschung und Lehr ergebenden Konsequenzen<br />

a) Die Gesamtheit der akademischen Rechtswissenschaft<br />

besteht einerseits aus der Rechtsdogmatik, andererseits aus<br />

den sog. Grundlagendisziplinen; dies gilt auch für die Strafrechts-<br />

und Strafprozessrechtswissenschaft. Die Verknüpfung<br />

der Dogmatik mit den Grundlagenfächern ist im Bereich des<br />

Strafrechts traditionell dadurch besonders eng, dass die Kriminologie<br />

als Schnittmenge von Kriminalsoziologie, -psychologie,<br />

-psychiatrie u.ä. regelmäßig durch einen Lehrstuhl in<br />

der juristischen Fakultät vertreten wird.<br />

b) Der Wissenschaftsbegriff der Grundlagenfächer entspricht<br />

naturgemäß denjenigen Disziplinen, von denen sie<br />

einen Teil darstellen.<br />

c) Der Wissenschaftsbegriff der Strafrechtsdogmatik kann<br />

natürlich nicht verstanden werden, wenn man von einem<br />

empiristischen Wissenschaftsbegriff ausgeht. Im vorliegenden<br />

Zusammenhang kommt es nicht auf die in der Metaethik<br />

wie in der Diskurstheorie viel behandelte und bis heute umstrittene<br />

Frage der Wahrheitsfähigkeit normativer Sätze an,<br />

vielmehr dürften die drei Richtigkeitsgarantien genügen,<br />

deren Institutionalisierung der dogmatischen Rechtswissenschaft<br />

als Leistung von niemandem abgesprochen werden<br />

kann: (1) Für die Behauptung, eine Handlung sei gesollt oder<br />

verboten, darf nicht nur auf die eigene Willkür verwiesen (sic<br />

volo, sic iubeo, sit pro ratione voluntas), sondern es müssen<br />

rationale Gründe angegeben werden, die bis hin zu einer<br />

allgemein akzeptierten Prämisse („Evidenzkonsens“) weiterverfolgt<br />

werden können; (2) das daraus entstehende Begriffs-<br />

und Argumentationssystem muss widerspruchsfrei sein („deduktive<br />

Logik als Organon der Kritik“); (3) durch den freien<br />

Diskurs wird eine ständige Überprüfung der einzuhaltenden<br />

Standards etabliert. Wer das anerkennt, es aber für die Bezeichnung<br />

„Wissenschaft“ zu gering findet, muss sich entgegenhalten<br />

lassen, dass der Streit dann nur noch um Worte<br />

geht.<br />

d) Die hierbei die Rationalität, Intersubjektivität und Kontrollierbarkeit<br />

der dogmatischen Aussagen steigernde Besonderheit<br />

der Rechtswissenschaft gegenüber allen anderen<br />

„Geisteswissenschaften“ liegt darin, dass bei ihr das interpretative<br />

Paradigma mit dem (wie man es nennen könnte) metaethischen<br />

Paradigma kombiniert auftritt, indem einerseits<br />

im Unterscheid zur allgemeinen Moralphilosophie eine riesige<br />

Anzahl an als Axiom wirkenden legislatorischen Vorentscheidungen<br />

und damit Fixpunkten gegeben ist, während<br />

andererseits im Unterschied zu anderen interpretatorischen<br />

Disziplinen ein von der Metaethik bereitgestelltes Organon<br />

der Kritik existiert. In der Strafrechtswissenschaft sind die<br />

hierdurch möglichen „Gewissheitsgewinne“ dadurch sogar<br />

noch einmal vermehrt und intensiviert, dass das erwähnte<br />

Fundamentalprinzip „Strafrechtsschutz durch Androhungsgeneralprävention<br />

als ultima ratio“ eine stringente konsequentialistische<br />

Ableitung zahlreicher Systemelemente und damit<br />

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303


Bernd Schünemann<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

eine manchmal sogar formallogisch zwingende Kritik des<br />

positiven Rechts und/oder der Rechtsprechung ermöglicht.<br />

Ein konkretes Beispiel: Dass im Unterschied zu dem insoweit<br />

auf einer vormodernen Entwicklungsstufe stehen gebliebenen<br />

Common Law eine im die Hemmungsfähigkeit ausschließenden<br />

Rausch begangene Tat nicht als solche bestraft werden,<br />

sondern dass nur das Sichberauschen Gegenstand einer präventiv<br />

wirkenden Verbotsnorm sein kann, ist eine ebenso<br />

zwingende wie triviale Folgerung, die für zahllose Strafrechtsordnungen<br />

in Europa wie in der Welt dennoch ein Novum<br />

darstellt.<br />

e) Wegen dieser spezifischen Folgenorientierung des Strafrechts<br />

ist die enge Verzahnung der Strafrechtsdogmatik mit<br />

den Grundlagenfächern zwingend vorgegeben und auch in<br />

der akademischen Realität realisiert. Diese Vernetzung darf<br />

deshalb weder im juristischen Diskurs noch in der akademischen<br />

Lehre aufgehoben werden, ohne den Wissenschaftscharakter<br />

und eine daraufhin orientierte Ausbildung anzutasten.<br />

In Abwandlung des bekannten Dictums von Immanuel Kant<br />

könnte man deshalb sagen, empirische Wissenschaft vom<br />

Verbrechen ist blind, Strafrechtsdogmatik ohne empirischen<br />

Bezug ist leer. Und dies gilt ganz genauso für die noch auszubauende<br />

Strafgesetzgebungswissenschaft.<br />

3. Zur gesellschaftlichen Bedeutung der Rechtswissenschaft<br />

und ihrer gesellschaftlichen Verantwortung<br />

a) Es darf vorausgesetzt werden, dass das Rechtssystem das<br />

wichtigste und für jede denkbare Gesellschaft unverzichtbare<br />

normative Subsystem ist. Man kann sich eine Gesellschaft<br />

ohne Religion vorstellen (die im Grunde durch Art. 4 GG<br />

sogar garantiert wäre), aber nicht eine Gesellschaft ohne<br />

Recht, jedenfalls keine moderne Gesellschaft. Als notfalls mit<br />

Zwang durchsetzbare Ordnung kann ein Recht im eigentlichen,<br />

d.h. auf Gerechtigkeit angelegten Sinn aber ohne Rechtswissenschaft<br />

nicht existieren, weil der staatliche Zwang, über<br />

dessen Anwendung in einer modernen Gesellschaft letztlich<br />

die Gerichte entscheiden, sonst nichts anderes als Willkür<br />

wäre.<br />

b) Diese Anleitung und intellektuelle Kontrolle der Rechtsprechung<br />

(als Form der staatlichen Zwangsausübung!) durch<br />

die Rechtswissenschaft ist im Strafrecht gewissermaßen naturnotwendig,<br />

denn das Strafrecht trennt den Bürger vom<br />

Verbrecher, den freien Menschen von der wie in einem Käfig<br />

gehaltenen Kreatur. Allein die Rechtswissenschaft kann hier<br />

eine Antwort auf die Frage geben „quis custodiet ipsos custodientes?“,<br />

indem sie kontrolliert, aber nicht herrscht und den<br />

sonst unvermeidbaren unendlichen Regress beendet. Es ist<br />

ein erst durch die weiter voranschreitende Informalisierung<br />

der Strafjustiz ins Wanken geratenes Spezifikum der modernen<br />

deutschen (und insoweit vorbildlichen) Rechtskultur,<br />

dass die Gerichte ihre Entscheidungen (also Zwangsanordnungen)<br />

in Form abgekürzter rechtswissenschaftlicher Diskurse<br />

legitimieren und sich dadurch der analytischen Kontrolle<br />

der Rechtswissenschaft aussetzen, wodurch diese wiederum<br />

mit dem lebensnahen Fallmaterial versorgt wird, durch<br />

das erst eine die gesellschaftliche Wirklichkeit wie ein Netz<br />

überspannende Rechtsdogmatik möglich wird.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

304<br />

<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />

c) Die gesellschaftliche Verantwortung der Rechtswissenschaft<br />

kann also speziell bei der Strafrechtswissenschaft gar<br />

nicht überschätzt werden, woraus zugleich folgt, dass jede<br />

Einbuße auf dem akademischen Sektor (der über die Ausbildung<br />

des Nachwuchses die Perpetuierbarkeit der rechtswissenschaftlichen<br />

Leistungen zu garantieren hat) direkt an die<br />

Fähigkeit zur Wahrnehmung dieser Verantwortung rühren<br />

und damit eo ipso in der staatlichen Zwangsausübung den<br />

Anteil der Willkür auf Kosten ihrer Rückführbarkeit auf allgemein<br />

konsentierte Gerechtigkeitsprinzipien steigern würde.<br />

4. Zur Rolle der Grundlagenforschung und der interdisziplinären<br />

Forschung in der Strafrechtswissenschaft<br />

Speziell in der Strafrechtswissenschaft ist die Grundlagenforschung<br />

immer zugleich interdisziplinäre Forschung, deren<br />

Vermittlung in Gestalt der akademischen Kriminologie institutionalisiert<br />

worden ist. Ein Beispiel: Durch informationspsychologische<br />

und strafjustizsoziologische empirische Forschungen<br />

kann nicht nur die weltweite Rivalität zwischen<br />

dem sog. adversatorischen und dem inquisitorischen Modell<br />

des Strafverfahrens auf eine wissenschaftliche Argumentationsebene<br />

gehoben werden, sondern es kann auch die aktuelle<br />

Rechtsprechung etwa zur Einschränkung von Verteidigerrechten<br />

oder die legislatorische Sanktionierung ursprünglich<br />

gesetzeswidriger informeller Verfahrenspraktiken von ihren<br />

unausgesprochenen empirischen Prämissen her analysiert und<br />

kritisiert werden. Dass eine adäquate Einstellung zur prekären<br />

Funktion der Strafjustiz, die sich wiederum bis in den<br />

einzelnen Akt der richterlichen Straffestsetzung auswirkt,<br />

ohne eine Kenntnis der Strafrechtsgeschichte nicht gewonnen<br />

kann, liegt ebenso auf der Hand.<br />

5. Qualitätskriterien in der Rechtswissenschaft zur Bewertung<br />

von Forschungs- und Lehrleistungen<br />

a) Die Qualität von Forschungsleistungen wird in der Strafrechtswissenschaft<br />

durch eine ungeheuer dichte Vernetzung<br />

der wissenschaftlichen Diskussion garantiert, indem es so gut<br />

wie keine Publikation gibt, die nicht in einer anderen Publikation<br />

analysiert und gegebenenfalls kritisiert wird. Durch<br />

das im üblichen Weg der Berufsqualifikation beibehaltene<br />

Erfordernis der Habilitationsschrift wird der Nachweis der<br />

Fähigkeit, eine nicht zu enge rechtswissenschaftliche Fragestellung<br />

nach allen Richtungen hin zu analysieren und eine<br />

umfassend begründete Antwort auszuarbeiten, zur Grundvoraussetzung<br />

für die Übernahme eines verantwortlichen Amtes<br />

in der akademischen Rechtswissenschaft gemacht. Für die<br />

Rechtswissenschaft, jedenfalls aber für die Strafrechtswissenschaft<br />

ergibt sich die Richtigkeit dieser Praxis (möglicherweise<br />

im Unterschied zu anderen Geisteswissenschaften oder<br />

den empirischen Wissenschaften) daraus, dass die rechtswissenschaftlichen<br />

Begründungsnetze notwendig darauf angelegt<br />

sind, die normativen und (für die Folgenorientierung) empirischen<br />

Gesichtspunkte vollständig zu verknüpfen und bis hin<br />

zu allgemein akzeptierten Prämissen fortzuführen und dort zu<br />

verankern. Weil diese Vollständigkeit naturgemäß in kleineren<br />

Abhandlungen nicht erreicht werden kann, sondern hier<br />

immer wieder gewisse offene Flanken gelassen werden müssen,<br />

die erst in dem gesamten strafrechtswissenschaftlichen


Standpunkte der deutschen Strafrechtslehrer zu den Zukunftsperspektiven der Rechtswissenschaft<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Diskurs nach und nach geschlossen werden, bilden die in der<br />

Habilitationsschrift vor sich gehende Entwicklung und der<br />

durch sie zu leistende Nachweis der Fähigkeit, zu einer derart<br />

umfassenden Argumentation in der Lage zu sein, eine sachlogische<br />

Grundbedingung akademischer Rechtswissenschaft.<br />

b) Die Qualität der Lehre wird mit den heute üblichen<br />

Evaluationsmethoden überprüft. Probleme können hier von<br />

einer Abflachung der Examensanforderungen und einer entsprechenden<br />

Niveauabsenkung der studentischen Klientel<br />

entstehen, beispielsweise wenn sich das Missverständnis<br />

weiter erhärten sollte, das Studium der Rechtswissenschaft<br />

sei als billiges Massenfach und damit als Auffangbecken für<br />

alle mäßig qualifizierten Studienanfänger einsetzbar. Scharen<br />

mäßig begabter und unzulänglich ausgebildeter Juristen bedeuten<br />

aber nicht nur eine Ressourcenverschwendung für die<br />

Gesellschaft und vertane Lebenszeit für den Einzelnen, sondern<br />

auch eine Beeinträchtigung der Rechtspraxis und der<br />

von ihr herzustellenden sozialen Gerechtigkeit und Befriedung.<br />

Das bloße Auswendiglernen von Gesetzen und Gerichtsentscheidungen,<br />

die dann als bloße Schemata auf in den<br />

entscheidenden Punkten anders liegende Fälle angewendet<br />

werden, führt nicht nur (beim Eindringen in den Staatsapparat)<br />

zu unbewusst willkürlicher Rechtsanwendung, sondern<br />

auch (wenn dieser Personenkreis auf nicht-staatliche juristische<br />

Berufe beschränkt werden kann) zu einem Niveauverfall<br />

der Rechtsberatung, die etwa im Zivilrecht bei der Vorsortierung<br />

sozialer Konflikte eine quantitativ um mehrere Zehnerpotenzen<br />

höhere soziale Effektivität als die Rechtsprechung<br />

besitzt und im Strafrecht als Gegengewicht zu den Strafverfolgungsinstanzen<br />

keine geringere qualitative Bedeutung hat.<br />

6. Die spezifischen Publikationsformen der Rechtswissenschaft,<br />

ihre zukünftige Entwicklung und die dadurch ausgelösten<br />

Wechselwirkungen<br />

Als Publikationsformen der Rechtswissenschaft sind Monografien<br />

(vor allem in Form von Habilitationsschriften und<br />

Dissertationen), Kommentare zu Gesetzen (die in den Großkommentaren<br />

durchweg wissenschaftliche Ziele verfolgen<br />

und dabei insbesondere die Systematik und Kritik der Rechtsprechung<br />

betreiben), Lehrbücher (die in Form der großen<br />

Lehrbücher eine zentrale Bedeutung für den Aufbau des<br />

strafrechtlichen Gesamtsystems haben), Zeitschriftenaufsätze<br />

und Urteilsanmerkungen als spezifisches Instrument der Rechtsprechungskritik<br />

zu nennen. Die Zahl der Verlage ist so groß,<br />

dass letztlich jede juristische Arbeit auch publiziert werden<br />

kann. Die daraus resultierende Gefahr einer Qualitätseinbuße<br />

wird durch die schon erwähnte umfassende kritische Auseinandersetzung<br />

innerhalb des Diskussionskreises gebannt. Seit<br />

einiger Zeit wird das Internet ebenfalls intensiv als Publikationsorgan<br />

benutzt, wodurch nicht nur die Kapazität nochmals<br />

erhöht, sondern vor allem auch der bei Printmedien unvermeidliche<br />

zeitliche Abstand zwischen Problementstehung<br />

und Problemanalyse ausgeschaltet werden kann. Wichtige<br />

Entscheidungen der obersten Gerichte können so innerhalb<br />

kürzester Zeit von der Wissenschaft bereits analysiert und<br />

kritisiert werden. Auch für das internationale Auftreten der<br />

deutschen Rechtswissenschaft, speziell der Strafrechtswissenschaft,<br />

hat das geradezu einen Quantensprung gebracht.<br />

Zwar erfreuen sich die strafrechtswissenschaftlichen Zeitschriften<br />

einer bemerkenswert großen Zahl ausländischer<br />

Abonnenten und Leser (beispielsweise findet die Zeitschrift<br />

für die Gesamte Strafrechtswissenschaft, obwohl sie nur in<br />

deutscher Sprache erscheint, im Ausland noch mehr Abonnenten<br />

als im Inland), aber durch neue Strafrechtszeitschriften<br />

im Internet sind die Zeit- wie die Kostenbarrieren für eine<br />

Verarbeitung deutscher Publikationen im Ausland beseitigt<br />

worden, wodurch wiederum ausländische Strafrechtswissenschaftler<br />

auch in die deutsche Diskussion eingreifen können.<br />

Das alles führt, nicht zuletzt auch wegen des Fortfalls starrer<br />

Umfangsbegrenzungen, zu einer intensiveren Ausbildung des<br />

bereits erwähnten juristischen Argumentationsnetzes auch in<br />

der kleineren Publikationsform des Aufsatzes und der Entscheidungsrezension.<br />

7. Zum Austausch zwischen dem Wissenschafts- und dem<br />

Rechtssystem bzw. der Rechtspraxis, seinem Potential und<br />

seinen Problemen<br />

Wie schon erwähnt, bemüht sich die Rechtsprechung der<br />

Obergerichte jedenfalls im Bereich des Straf- und Strafprozessrechts<br />

um eine wissenschaftliche Begründung ihrer Entscheidungen<br />

und setzt sich dabei auch manchmal knapper,<br />

manchmal ausführlicher mit dem wissenschaftlichen Schrifttum<br />

auseinander, während dieses wiederum, wie ebenfalls<br />

schon erwähnt, die Rechtsprechung auf Schritt und Tritt mit<br />

Analyse und Kritik begleitet, von der kleinsten Form der<br />

Urteilsanmerkung bis zu einer eingehenden Behandlung in<br />

den Großkommentaren und Monografien. Nicht wenige Richter<br />

der Strafsenate des Bundesgerichtshofes wirken auch als<br />

Honorarprofessoren an juristischen Fakultäten. Der Austausch<br />

der Rechtswissenschaft mit anderen gesellschaftlichen Teilsystemen<br />

ist im Bereich des Strafrechts eng, auch wenn er<br />

teilweise nur auf der Oberfläche praktiziert wird (namentlich<br />

bei der Hinzuziehung von Strafrechtswissenschaftlern bei<br />

Expertenanhörungen im Bereich der Politik, mittlerweile ja<br />

auch intensiv auf der Ebene der EU, wobei aber meist erkennbar<br />

ist, dass die Politik nicht wirklich beraten werden<br />

möchte, sondern die Strafrechtsexperten vorwiegend als<br />

Alibi-Instrument heranzieht und auch dementsprechend auswählt).<br />

Mehrere Strafrechtslehrer sind auch im Nebenamt an<br />

einem Strafsenat eines Oberlandesgerichts tätig, wofür aber<br />

jeglicher finanzieller Anreiz fehlt. Umgekehrt verhält es sich<br />

bei der immer noch zunehmenden Tätigkeit von Strafrechtsprofessoren<br />

als Strafverteidiger, deren prozessual unbeschränkte<br />

Zulässigkeit sich aus § 138 Abs. 1 StPO ergibt,<br />

deren Ausmaß inzwischen aber Rückwirkungen auf die Strafrechtswissenschaft<br />

besitzt, die nicht ohne Bedenken sind.<br />

Denn während der Gesetzgeber der StPO naturgemäß davon<br />

ausgegangen war, dass das gelegentliche Auftreten eines<br />

Hochschullehrers als Strafverteidiger in rechtlich komplizierten<br />

Fällen das Niveau der Verteidigung und damit des ganzen<br />

Verfahrens hebt, woraus wiederum befruchtende Auswirkungen<br />

auf eine praxisnahe Rechtsdogmatik zu erwarten seien,<br />

kann eine zu starke Verankerung des Wissenschaftlers in der<br />

Lebenswelt der Strafverteidigung auch umgekehrt zu einer<br />

einseitigen Ausrichtung seiner wissenschaftlichen Tätigkeit<br />

und der von ihm vertretenen Auffassungen führen.<br />

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Bernd Schünemann<br />

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8. Die Auswirkungen der institutionellen und strukturellen<br />

Wandlungsprozesse im Hochschulsystem auf die Rechtswissenschaft<br />

Die Auswirkungen sind überwiegend als neutral zu bezeichnen,<br />

weil die mit den Wandlungsprozessen verfolgten Ziele<br />

im Bereich der Rechtswissenschaft schon vorher im Wesentlichen<br />

verwirklicht waren; im Punkt der Bedeutung der<br />

Drittmitteleinwerbung sind sie aber auch teilweise negativ zu<br />

bewerten.<br />

a) Aus dem „umfassenden Begründungsnetz“ als Wissenschaftsparadigma<br />

der Rechtsdogmatik folgt, dass die Profilbildung<br />

einer Universität oder Fakultät in der Rechtswissenschaft<br />

nicht in der Weise vor sich gehen darf, dass einzelne<br />

Gebiete vernachlässigt werden dürfen; am Beispiel der Strafrechtswissenschaft:<br />

wenn eine Fakultät auf das Strafprozessrecht<br />

oder die Kriminologie verzichten wollte. Auch die sog.<br />

Grundlagenfächer müssen angemessen vertreten sein, doch<br />

könnte man hier am ehesten eine unterschiedliche Profilbildung<br />

sinnvoll finden (am Beispiel der LMU München der<br />

starke Schwerpunkt in der Rechtsgeschichte, anderer Fakultäten<br />

etwa bei der Soziologie oder der Rechtsphilosophie). Eine<br />

Autonomie der Universität, die gleichzeitig mit der Entmachtung<br />

der Fakultäten einhergeht, wie sie etwa für das neue<br />

bayerische Hochschulrecht kennzeichnend ist, bringt dagegen<br />

für die Wissenschaft keinen Gewinn, gleichgültig für welches<br />

Fach.<br />

b) Die leistungsbezogene Mittelverteilung hat zweifellos<br />

insoweit einen positiven Effekt, wie sie wissenschaftliche<br />

Leistungen durch verbesserte Mittelzuteilung prämiiert, doch<br />

ist dieser Effekt angesichts der begrenzten zur Verteilung<br />

stehenden Mittel selbst äußerst begrenzt und das Anreizsystem<br />

bleibt hinter den früher existierenden Systemen erkennbar<br />

zurück. Es verkennt auch in elementarer Weise das intrinsische<br />

Motivationssystem eines Rechtswissenschaftlers, der<br />

die ihm nach einem Spitzenexamen winkenden, horrenden<br />

Verdienstmöglichkeiten in den heutigen Anwalts-Großkanzleien<br />

ausgeschlagen hat und ein eher an McDonalds’ „Mitarbeiter<br />

des Monats“ erinnerndes Prämiensystem eher als Herabsetzung<br />

empfindet.<br />

c) Problematisch ist die Abhängigkeit der Mittelzuweisung<br />

von der Drittmitteleinwerbung, weil es für die schlichte<br />

dogmatische Arbeit selbst dann keine Drittmittel gibt, wenn<br />

sie in exzeptioneller und vorzüglicher Form geleistet wird,<br />

weshalb nicht selten krampfhaft nach drittmittelfähigen, aber<br />

nicht eigentlich wissenschaftlich zentralen Projekten gefahndet<br />

wird. Dagegen ist die sonst manifeste Gefahr der interessenabhängigen<br />

Forschung bei der (Straf-) Rechtswissenschaft<br />

eher gering, abgesehen natürlich von der erwähnten Verquickung<br />

mit intensiver Strafverteidiger-Tätigkeit.<br />

9. Zur Struktur einer „rechtswissenschaftlichen Fakultät der<br />

Zukunft“, der Wünschbarkeit spezifischer Profile und der<br />

(Un-)Verzichtbarkeit von Teilfächern<br />

a) Die Idee einer stark unterschiedlichen Profilbildung juristischer<br />

Fakultäten ist, wie schon bemerkt, mit dem Wissenschaftsparadigma<br />

der Rechtsdogmatik nicht zu vereinbaren<br />

und muss deshalb entschieden abgelehnt werden. So wie nur<br />

der klassische „Einheitsjurist“ im Grundsatz zu einer Erfül-<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

306<br />

<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />

lung dieses Paradigmas in der Lage ist, muss in jeder Fakultät<br />

die Ausbildung in den drei Säulen Zivilrecht, öffentliches<br />

Recht und Strafrecht und die Verbindung mit den zugehörigen<br />

„Grundlagenfächern“ präsentiert werden. Auf dieser<br />

gemeinsamen Basis ist es freilich nicht ausgeschlossen, dass<br />

eine Fakultät etwa die Spezialitäten des Zivilrechts, eine<br />

andere diejenigen des internationalen Rechts oder eine dritte<br />

diejenige des Strafrechts im Lehrkörper und -betrieb stärker<br />

ausbildet und in den Vordergrund stellt. Den organisatorischen<br />

Rahmen liefert die gegenwärtige Unterscheidung einer<br />

auf den genannten Säulen ruhenden Staatsprüfung und einer<br />

mehr spezialisierten Schwerpunktbereichsprüfung.<br />

b) Dabei ist freilich eine examenstechnisch stärkere Einbindung<br />

der Grundlagenfächer zu vermissen, deren heutiger<br />

Mangel übrigens in einem auffälligen Gegensatz zur traditionellen<br />

Stärke der deutschen Rechtswissenschaft gerade in<br />

diesen Feldern, zu ihrer internationalen Ausstrahlung und zu<br />

der Prüfungsorganisation anderer Länder steht. Andererseits<br />

muss darauf geachtet werden, die Ausbildung nicht durch<br />

Spezialgebiete zu überfrachten und dadurch eine Verflachung<br />

der Ausbildung in den drei Säulen zu provozieren. Keinesfalls<br />

sollten die rechtswissenschaftlichen Fakultäten in der<br />

Zukunft zu spezialisierten Abteilungen für einzelne juristische<br />

Sparten degenerieren, weil dadurch eine am Ideal des<br />

Wissenschaftsparadigmas der Rechtsdogmatik orientierte Ausbildung<br />

zerstört und das später zu einem Einsatz in allen<br />

Sparten befähigende Studium der Rechtswissenschaft in ein<br />

Anlernen einzelner Techniken verwandelt würde.<br />

10. Zur (Un-)Abdingbarkeit von Grundlagenfächern, ihrer<br />

Kooperation mit den dogmatischen Fächern und der interdisziplinären<br />

Vernetzung mit anderen Wissenschaftsdisziplinen<br />

Rechtsphilosophie unter Einschluss der einzelnen rechtstheoretischen<br />

Disziplinen, Rechtsgeschichte mit ihren verschiedenen<br />

Fächern (wobei hier Raum für eine Schwerpunktbildung<br />

der einzelnen Fakultäten besteht), Rechtssoziologie und<br />

Kriminologie müssen in jeder rechtswissenschaftlichen Fakultät<br />

vertreten sein und gelehrt werden. Die Kooperation<br />

ergibt sich theoretisch aus den obigen Bemerkungen zum<br />

Wissenschaftsbegriff der Jurisprudenz, die praktische Kooperation<br />

folgt regelmäßig daraus, dass die Vertreter der Grundlagenfächer<br />

normalerweise auch bestimmte dogmatische<br />

Gebiete beherrschen und vertreten. Über diese Grundlagenfächer<br />

ergibt sich auch unproblematisch die Vernetzung mit<br />

anderen Wissenschaftsdisziplinen, beispielsweise der Geschichte,<br />

der Soziologie und Psychologie sowie der Psychiatrie.<br />

Im Bereich der Strafrechtswissenschaft ist dies bereits<br />

heute an den meisten Fakultäten intensiv ausgeprägt.<br />

11. Zur Frage eines institutionellen Entwicklungsbedarfs in<br />

der Rechtswissenschaft, namentlich im Hinblick auf Fachhochschulen<br />

und den demographischen Wandel<br />

Hierzu lohnt sich ein Blick nach Japan und Taiwan, wo kürzlich<br />

juristische Fakultäten nach deutschem Muster mit Law<br />

Schools nach amerikanischem Muster kombiniert worden<br />

sind. Die Erfahrungen sind, soweit ersichtlich, auf beiden<br />

Seiten negativ, es ist auch irgendwie kein rechtes Ziel dahinter<br />

ersichtlich. Wenn das Studium am Wissenschaftsparadig-


Standpunkte der deutschen Strafrechtslehrer zu den Zukunftsperspektiven der Rechtswissenschaft<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

ma der Rechtsdogmatik orientiert bleiben soll, ist ein Entwicklungsbedarf<br />

jenseits der vorstehend skizzierten Möglichkeiten<br />

weder erkennbar noch realisierbar. Stattdessen sollten<br />

die (eine an diesem Paradigma orientierte Ausbildung gegenwärtig<br />

und schon seit geraumer Zeit stark einschränkenden)<br />

äußeren Bedingungen in den Blick genommen und optimiert<br />

werden, weil hier das eigentliche Problem der Juristenausbildung<br />

liegt. Die Überfüllung der juristischen Fakultäten<br />

mit Studierenden, die hier mehr aus Verlegenheit landen<br />

und die spezifische Begabung für eine rechtswissenschaftliche<br />

Ausbildung nicht mitbringen, beeinträchtigt das Ausbildungsniveau<br />

insgesamt. Auch die seit geraumer Zeit intensiven<br />

Anstrengungen der Fakultäten zur didaktischen Verbesserung<br />

der Lehre im Sinne eines „Studiums ohne Repetitor“<br />

stoßen dadurch an vorgegebene Grenzen. Andererseits würde<br />

es keinen Sinn machen, den Gegenstand der Repetitorkurse,<br />

also die juristische Technik der Subsumtion unter schon bekannte<br />

Obersätze, etwa unter Mitnahme eines Großteils der<br />

heutigen Jurastudenten an Fachhochschulen auszugliedern.<br />

Denn wie schon bemerkt, besteht für reine Techniker der<br />

Rechtsanwendung außerhalb der bereits heute existierenden<br />

und im Fachhochschulbereich verankerten Berufsbilder kein<br />

echter gesellschaftlicher Bedarf. Daran ändert auch der demographische<br />

Wandel nichts, weil die sog. Juristenschwemme,<br />

also das seit längerer Zeit zu beobachtende Überangebot<br />

fertiger Juristen auch außerhalb des engen Bereichs staatlicher<br />

Berufe, den Bedarf noch für lange Zeit befriedigt bzw.<br />

übersteigt. Speziell für das Strafrecht lässt sich sagen, dass<br />

dieser Bereich der problematischsten staatlichen Machtausübung<br />

schlechthin nur durch am Wissenschaftsparadigma der<br />

Rechtsdogmatik ausgebildete und zugleich durch die Vernetzung<br />

mit Grundlagenfächern zu vertieftem Verständnis und<br />

zu eigener Reflexion befähigte Juristen versehen werden darf,<br />

wenn die skizzierte rechtswissenschaftliche Kontrolle über<br />

staatliche Machtausübung ernsthaft angestrebt und beibehalten<br />

werden soll.<br />

12. Zur Frage standortübergreifender Infrastrukturen (z.B.<br />

Datenbanken oder auch Institutes for Advanced Study)<br />

Standortübergreifende Infrastrukturen im Sinne von Datenbanken<br />

gibt es bereits heute in einem ausreichenden Umfange,<br />

überdies werden sie ständig weiterentwickelt und perfektioniert.<br />

Ein „Institute for Advanced Studies“ ist weder notwendig<br />

noch als seriöse Institution vorstellbar. Rechtswissenschaft<br />

kann entweder seriös betrieben werden und ist dann<br />

„advanced“ oder überhaupt nicht, es gibt keine zwei Stufen<br />

quasi einer Rechtswissenschaft für Biedermänner und einer<br />

anderen für Intellektuelle. Soweit es um den Einbau der<br />

Rechtsvergleichung in die Rechtswissenschaft geht, der gerade<br />

im Strafrecht und Strafprozessrecht eine lange Tradition<br />

besitzt, existiert hierfür in Gestalt des Freiburger Max Planck-<br />

Instituts seit langem eine Einrichtung, die in der Welt jedenfalls<br />

von ihren Ressourcen her allgemein als vorbildlich gilt.<br />

Auch ist gerade im Strafrecht die Vernetzung mit aus anderen<br />

Ländern stammenden Strafrechtswissenschaftlern optimal,<br />

weil die deutsche Strafrechtsdogmatik noch immer weltweit<br />

als vorbildlich gilt und deshalb jedes Jahr eine enorme Zahl<br />

von Gastwissenschaftlern in Deutschland arbeitet. In man-<br />

chen Ländern wie etwa früher Korea und Japan und heute<br />

Spanien ist sogar ein hinreichender Forschungsaufenthalt in<br />

Deutschland wenn nicht formell erforderlich, so doch materiell<br />

die entscheidende Voraussetzung für eine erfolgreiche strafrechtswissenschaftliche<br />

Karriere. Zahlreiche deutsche Strafrechtswissenschaftler<br />

sind als Berater für die Strafrechts- und<br />

Strafprozessreformen in Lateinamerika, Ostasien und den<br />

GUS-Nachfolgestaaten tätig und besorgen dadurch einen<br />

ständigen, über eine bloß lineare Rechtsvergleichung weit<br />

hinausgehenden Erfahrungsaustausch.<br />

13. Zur Wünschbarkeit differenzierter Ausbildungsangebote<br />

etwa einer anwaltsbezogenen Juristen- oder Bachelor-<br />

Ausbildung<br />

a) Die Antwort ergibt sich aus den bisherigen Ausführungen<br />

zur Struktur der Rechtswissenschaft. Entscheidend für das<br />

Profil eines zu selbständigen kritischen und wissenschaftlich<br />

fundierten Urteilen befähigten Juristen ist nach wie vor eine<br />

die Grundlagen einbeziehende Ausbildung in den drei traditionellen<br />

Säulen. Durch die bereits erfolgte Hinzufügung des<br />

Schwerpunktbereichsstudiums ist die Ausbildung schon heute<br />

mit Spezialisierungsangeboten versehen worden, die die<br />

nicht zu Lasten der „Gesamtausbildung“ gehenden Möglichkeiten<br />

ausgeschöpft haben. Bei der anwaltsbezogenen Juristenausbildung<br />

darf nicht vergessen werden, dass der Anwalt<br />

als der Justiz vorgeschalteter Filter tatsächlich den größten<br />

Teil der rechtlichen Konfliktlösung besorgt, hierbei aber<br />

immer im Hinblick auf die mögliche gerichtliche Entscheidung<br />

agieren muss, entsprechend der soziologischen Figur<br />

des „bargaining in the shadow of the Law“. Eine isolierte<br />

anwaltsbezogene Ausbildung kann es deshalb gar nicht geben.<br />

Speziell im Bereich des Strafrechts geht es deshalb dabei<br />

um die Erlernung zusätzlicher „Soft Skills“, die in der<br />

Schwerpunktbereichsausbildung erfolgen kann.<br />

b) Die Fähigkeit zur Generierung des „Rechtsfalles“ aus<br />

der mehr oder weniger amorphen Lebenswirklichkeit und zu<br />

dessen Analyse und Subsumtion nach dem angesprochenen<br />

rechtsdogmatischen Paradigma ist die Grundvoraussetzung<br />

für jede sozial relevante Tätigkeit des Juristen. Sie wird in der<br />

traditionellen deutschen Juristenausbildung durch die Kombination<br />

des Studiums und des juristischen Vorbereitungsdienstes<br />

seit langem in einer Weise beigebracht, die zugegebenermaßen<br />

aufwendig, aber in ihrem Ergebnis auch im<br />

internationalen Vergleich optimal ist. Wie erwähnt muss auch<br />

im Bereich der Rechtsberatung die etwaige Behandlung in<br />

den formellen staatlichen Verfahren komplett antizipiert<br />

werden können, wenn die Beratung sachgemäß erfolgen soll.<br />

Die universelle Einsetzbarkeit des deutschen Volljuristen auf<br />

allen sozialen Gebieten ist gerade bei dem heutigen permanenten<br />

sozialen Wandel und der beruflichen Mobilität noch<br />

weitaus wichtiger geworden als früher und international allgemein<br />

anerkannt. Speziell im Strafrecht wäre es unverantwortlich,<br />

einen juristischen „Bachelor“ als unterqualifizierten<br />

Verteidiger gegenüber einer höher qualifizierten Justiz auftreten<br />

zu lassen. Auch für sonstige Ausbildungsgänge an Fachhochschulen<br />

ist deshalb im Bereich der Strafjustiz kein vernünftiges<br />

Berufsfeld zu erkennen, abgesehen natürlich vom<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

307


Bernd Schünemann<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Bereich der sozialen Arbeit (Bewährungshelfer etc.), der aber<br />

noch niemals für Juristen reserviert worden war.<br />

c) Die juristische Ausbildung ist in den letzten Jahrzehnten<br />

vielfach verändert worden. Die permanente Veränderung<br />

ist aber nicht etwa ein Wert an sich, sondern beeinträchtigt<br />

die Herausbildung bewährter Strukturen, die wie alles menschliche<br />

Handeln wesentlich auch auf Erfahrung beruhen, und<br />

untergräbt sich dadurch selbst. Eine durchgreifende Verbesserung<br />

der Ausbildungsbedingungen dürfte nur durch eine<br />

Verringerung der Studierendenzahl zu erreichen sein, indem<br />

das Jurastudium nicht weiterhin, wie schon erwähnt, als<br />

Sammelbecken für Verlegenheitsentscheidungen bei der<br />

Studienwahl und nicht ausreichend qualifizierte Studenten<br />

missbraucht wird.<br />

14. Zur Funktion der juristischen Promotion und den von ihr<br />

an die Beteiligten gestellten Anforderungen<br />

Nicht nur wegen der spektakulären Fälle der jüngsten Zeit ist<br />

festzustellen, dass die juristische Promotion zu einer karrierenützlichen<br />

Äußerlichkeit zu degenerieren droht. Ihre legitime<br />

Funktion besteht dagegen zunächst einmal für die<br />

Rechtswissenschaft darin, durch eine ausreichende Zahl von<br />

Monographien zu kompakten Themen die Vielfalt der sonstigen<br />

juristischen Publikationen und der riesigen Zahl von<br />

Gerichtsentscheidungen zu ordnen und dadurch die wissenschaftliche<br />

Diskussion zu kanalisieren, quasi immer wieder<br />

die vielfältigen Rinnsale in einem Sammelbecken zu fassen<br />

und dann auf dieser Basis auch zu weiterführenden Urteilen<br />

zu kommen. Gleichzeitig stellt die Gruppe der Promovierenden<br />

das Reservoir dar, aus dem dann je nach dem Ergebnis<br />

dieser Arbeiten der akademische Nachwuchs rekrutiert werden<br />

kann. Es muss aber dafür gesorgt werden, dass die Zahl<br />

nicht inflationiert, indem zu viele ungeeignete Kandidaten in<br />

die Promotion hineinkommen und die betreuenden akademischen<br />

Lehrer dann weder ihre Betreuungsaufgabe noch ihre<br />

Kontrollaufgabe mit der notwendigen Gründlichkeit wahrnehmen<br />

können. Dies kann durch organisatorische Maßnahmen<br />

sichergestellt werden, indem die Mindestnoten heraufgesetzt<br />

werden, für Ausnahmeregelungen enge Voraussetzungen<br />

sowohl inhaltlicher als auch prozedualer Art gelten und<br />

die Betreuung bei einer Dissertation als eine intensive berufliche<br />

Leistung auf die Lehrbelastung angerechnet wird.<br />

15. Zu möglichen Differenzierungen zwischen dem wissenschaftlichen<br />

Nachwuchs im engeren Sinne und Promovierenden,<br />

die eine berufliche Laufbahn außerhalb der Wissenschaft<br />

anstreben<br />

Es wäre falsch, nur diejenigen Kandidaten zur Promotion<br />

zuzulassen, die eine akademische Laufbahn anstreben, vielmehr<br />

muss hier (wie schon erwähnt) auf ein entsprechend<br />

größeres Reservoir geachtet werden. Dadurch wird zugleich<br />

auch erreicht, dass sich in den beruflichen Laufbahnen der<br />

Praxis genügend Mitglieder finden, die selbst intensiv wissenschaftlich<br />

gearbeitet haben und dadurch die sonst auf allen<br />

Ebenen (namentlich auch in der Justiz selbst) drohende Orientierung<br />

an reinen Praktikabilitätserwägungen in Frage<br />

stellen können.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

308<br />

<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />

16. Habilitation und Juniorprofessuren als Karrierewege und<br />

mögliche Tenure track-Optionen<br />

Wie oben schon dargelegt, besitzt die Habilitation in der<br />

Rechtswissenschaft allgemein und speziell auch in der Strafrechtswissenschaft<br />

nach wie vor eine zentrale Bedeutung. Die<br />

Einrichtung von Juniorprofessuren ist ein durch und durch<br />

falscher Weg, weil dadurch der wissenschaftliche Nachwuchs<br />

zu früh in der Lehre quasi „verheizt“ wird. Im Strafrecht gibt<br />

es auch nur ganz wenige Juniorprofessuren, weil sich hier<br />

allgemein die Auffassung durchgesetzt hat, dass es verfehlt<br />

ist, den Nachwuchs von einer reifen und Rundum-Erfahrung<br />

in den für ihn wichtigen Wissenschaftsbereichen dadurch<br />

auszuschließen, dass er zu früh eine unzumutbar umfangreiche<br />

Lehraufgabe übernehmen muss. Die bisherige Tradition<br />

der akademischen Karriere, die von der Habilitation über eine<br />

gewisse Zeit als Lehrstuhlvertreter, sodann Extraordinarius<br />

und schließlich Ordinarius geführt hat, hatte sich uneingeschränkt<br />

bewährt, wobei, um es zu wiederholen, der Phase<br />

der Habilitation für das weltweit anerkannte, herausragende<br />

Niveau der deutschen Strafrechtswissenschaft eine Schlüsselstellung<br />

zukam und weiterhin zukommt. Tenure Track-<br />

Optionen stellen den falschen Weg dar, um diesen vom dogmatischen<br />

Paradigma eigentlich inhaltlich vorgegebenen<br />

Karriereweg vordergründig zu modernisieren. Sie funktionieren<br />

auch in der Praxis schon deshalb nicht, weil eine wissenschaftliche<br />

Karriere in einem späten Zeitpunkt überhaupt<br />

nicht mehr abgebrochen werden kann, so dass die Auswahl<br />

möglichst frühzeitig (eben bei der Habilitation) zu erfolgen<br />

hat, während spätere Berufungen erst auf Zeit unter angeblich<br />

dann erneuter Prüfung der Qualität das angemessene Verhältnis<br />

geradezu auf den Kopf stellen.<br />

17. Chancen und Fördermöglichkeiten des weiblichen Nachwuchses<br />

Im Strafrecht findet man, wie in vielen Bereichen der Rechtswissenschaft,<br />

für den weiblichen Nachwuchs eine Art Pyramidenstruktur,<br />

d.h. unter den Ordinarien gibt es nur wenige<br />

weibliche Vertreter, bei den Extraordinarien, den Privatdozenten<br />

und erst recht den Habilitanden und noch mehr den<br />

Doktoranden nimmt die Zahl entsprechend zu. Die Zunahme<br />

weiblicher Vertreter auf den höheren Positionen ist dementsprechend<br />

nur eine Frage der Zeit und läuft gegenwärtig auch<br />

bereits ab. Die Hemmungen, die im Hinblick auf eine völlige<br />

Parität weiterhin bestehen, sind außerhalb des strafrechtlichen<br />

Wissenschaftsbetriebes angesiedelt und können deshalb von<br />

diesem weder beseitigt noch verstärkt werden.<br />

18. Auswirkungen der Umstellung auf die W-Besoldung<br />

Die Umstellung auf die W-Besoldung hat die Karriere eines<br />

Universitätsprofessors deutlich unattraktiver gemacht. Namentlich<br />

hervorragende Absolventen, denen Traumangebote<br />

international operierender Großkanzleien gemacht werden,<br />

müssen schon eine erhebliche Entsagungsbereitschaft und<br />

Liebe zur Wissenschaft aufweisen, damit sie den Professorenberuf<br />

weiterhin anstreben wollen. In der Vergangenheit<br />

hatte sich die C-Besoldung bewährt, so dass ihre Ersetzung<br />

aus der Sicht der Strafrechtswissenschaft unverständlich war.


Standpunkte der deutschen Strafrechtslehrer zu den Zukunftsperspektiven der Rechtswissenschaft<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Noch während der Habilitation ist immer wieder zu beobachten,<br />

dass gerade hervorragende Kandidaten durch verlockende<br />

Angebote aus der Rechtsanwaltschaft „abgeworben“ werden<br />

können. Die enormen Spielräume, die der Universitätspräsident<br />

bei der Erstberufung von Professoren besitzt, sind<br />

erst recht geeignet, wegen der daraus resultierenden Unsicherheit<br />

den Nachwuchs von der Universitätskarriere abzuhalten.<br />

19. Die Bedeutung der Internationalisierung und Europäisierung<br />

der Rechtswissenschaft und ihr Verhältnis zur Globalisierung<br />

und Entstaatlichung des Rechts<br />

a) Die These von der Globalisierung des Rechts setzt eine<br />

bestimmte Interpretation der damit angedeuteten Entwicklungen<br />

voraus, die hier nicht näher diskutiert werden kann. Dasselbe<br />

gilt für die These der Entstaatlichung, die eher einen<br />

sektoralen Vorgang und Phänomene der „Post-Demokratie“<br />

betrifft.<br />

b) Unbestreitbar als solche ist die Europäisierung des<br />

Rechts, deren Erfassung auf allen Ebenen der Rechtswissenschaft<br />

(beileibe nicht nur der Dogmatik), namentlich der<br />

Rechtstheorie und der Rechtssoziologie, enorme Forschungsaufgaben<br />

stellt, weil die Kulturbezogenheit und Sprachgebundenheit<br />

des Rechts in einer vielsprachigen Gemeinschaft<br />

Geltungs- und Anwendungsprobleme bereitet, die durch die<br />

bloße Übersetzung eines Normtextes von der einen Sprache<br />

in die andere auch nicht annäherungsweise gelöst werden.<br />

Die deutschen Strafrechtswissenschaftler haben sich dieser<br />

Aufgabe bisher auf zwei Ebenen gestellt, die Mehrzahl in<br />

einer deskriptiv-neopositivistischen und die Minderzahl in<br />

einer dezidiert kritischen Richtung. Die intensiven Kontakte<br />

der deutschen Strafrechtswissenschaftler in die anderen Mitgliedstaaten<br />

der EU haben dabei immer wieder gezeigt, dass<br />

die dortige Strafrechtswissenschaft im Wesentlichen noch um<br />

ein Verständnis der Norminhalts-Oberfläche ringt und eine<br />

kritische Analyse so gut wie unbekannt ist. Hier liegt also<br />

eine große Aufgabe der deutschen Strafrechtswissenschaft,<br />

bei deren Erfüllung jedoch abermals das Problem der Vielsprachlichkeit<br />

auf den Plan tritt. Die deutsche Kritik wird in<br />

den anderen EU-Staaten (ebenso wie in den EU-Organen)<br />

bisher kaum zur Kenntnis genommen, so dass sich die eingangs<br />

schon angesprochene Frage stellt, ob die deutsche<br />

Strafrechtsdogmatik nunmehr eine englischsprachige Gestalt<br />

entwickeln sollte, was (wie schon bemerkt) durch eine bloße<br />

lexikalische Übersetzung auch nicht ansatzweise getan wäre.<br />

Man kann deshalb ohne Übertreibung sagen, dass der Strafrechtswissenschaft<br />

heute abermals eine neue Grundaufgabe<br />

gestellt wird, etwa vergleichbar mit der Ablösung des Vergeltungsstrafrechts<br />

durch das Präventionsstrafrecht, des Inquisitionsverfahrens<br />

durch den reformierten Strafprozess o.Ä. Und<br />

weil das Recht nicht durch einige wenige Publikationen einiger<br />

weniger Strafrechtsprofessoren, sondern letztlich wiederum<br />

nur über eine neue Juristengeneration als Transmissionsriemen<br />

für die Gesellschaft beeinflusst werden kann, liefert<br />

auch dieser Gesichtspunkt ein starkes Argument für die Notwendigkeit<br />

der Beibehaltung der gegenwärtigen Juristenausbildung<br />

innerhalb des Wissenschaftsparadigmas der Rechtsdogmatik.<br />

20. Auswirkungen auf Forschung, Lehre und Nachwuchsförderung<br />

Die Europäisierung des Strafrechts wird in der Regel im<br />

Rahmen eines entsprechenden Schwerpunktbereiches gelehrt,<br />

weil sie im Rahmen der Säulen-Ausbildung nicht mehr untergebracht<br />

werden kann. Dass die Nachwuchsförderung<br />

internationale Forschungsaufenthalte einschließt, ist inzwischen<br />

weithin erkannt und realisiert worden, sind doch heute<br />

schon Auslandssemester von Jurastudenten fast ein alltäglicher<br />

Vorgang geworden. Da die deutsche Sprache, die wegen<br />

der Sprachgebundenheit des Rechts keine bloße äußere Form<br />

ist, als lingua franca der Strafrechtswissenschaft heute auf<br />

europäischer Ebene zunehmend durch das Englische ersetzt<br />

wird, ist eine vorzügliche Beherrschung dieser Sprache durch<br />

den Nachwuchs selbstverständlich, berührt aber nicht das<br />

eigentliche wissenschaftliche Problem, das aus der Multikulturalität<br />

der in der EU aufeinander treffenden Strafrechtsordnungen<br />

und ihres weit unterschiedlichen Entwicklungsstandes<br />

resultiert. Die endgültige Lösung kann nur in der Herausbildung<br />

einer allgemeinen europäischen Strafrechtskultur<br />

bestehen, die im Bereich des Verfahrens bezüglich der Eingriffsmodalitäten<br />

und der allgemeinen Fairness (nicht aber<br />

bezüglich der Struktur) durch die Europäische Menschenrechtskonvention<br />

und die einschlägige Rechtsprechung des<br />

EGMR weitgehend geleistet wird. Schwieriger ist es im Bereich<br />

des materiellen Strafrechts, jedoch weniger wegen der<br />

unterschiedlichen Begrifflichkeiten, die auf dem Kontinent<br />

ohnehin nicht wesentlich differieren, als wegen der schon<br />

erwähnten Dominanz polizeilich-operativer Denkweise in<br />

den Organen der EU als Folge der sowohl bei der Kommission<br />

als auch und erst recht beim Rat vorherrschenden gubernativen<br />

Perspektive. Die sich hieraus ergebende Aufgabe ist<br />

von der deutschen Strafrechtswissenschaft erkannt und angenommen,<br />

aber natürlich längst noch nicht erfüllt worden. Auf<br />

jeden Fall ergibt sich hieraus für die meisten juristischen<br />

Fakultäten ein zusätzlicher Ausstattungsbedarf auf allen Ebenen.<br />

21. Zur Anschlussfähigkeit der deutschen Rechtswissenschaft<br />

an die internationale Forschung und einem etwaigen Veränderungsbedarf<br />

mit Blick auf die Forschung und/oder die<br />

Ausbildung<br />

Im Strafrecht stellt sich diese Frage unter wissenschaftstheoretischen<br />

Aspekten anders herum, nämlich inwieweit die<br />

teilweise auf einem vorwissenschaftlichen Stand verharrende<br />

Juristenkultur anderer Länder die Anschlussfähigkeit besitzt.<br />

Die erste Phase einer Weltgeltung der deutschen Strafrechtswissenschaft<br />

kann man in die Zeit Franz von Liszts legen, sie<br />

ist 1933 abrupt abgebrochen. Nach 1945 ist für Ostasien,<br />

Süd- und mit Einschränkungen Ost-Europa sowie Lateinamerika<br />

eine Wiederanknüpfung gelungen. Diese Spitzenstellung<br />

ist im materiellen Recht bisher verteidigt worden, was sich an<br />

der großen Zahl ausländischer Gastwissenschaftler, Doktoranden<br />

und (als Forschungsteil) Habilitanden an den deutschen<br />

strafrechtlichen Lehrstühlen zeigt, beispielsweise auch<br />

an der Teilnahme einer großen Zahl ausländischer Strafrechtswissenschaftler<br />

an der deutschsprachigen Strafrechtslehrertagung<br />

(letztes Jahr in Leipzig etwa über 20 Professo-<br />

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Bernd Schünemann<br />

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ren und Dozenten allein aus Japan). In dem Bereich des<br />

Common Law gibt es immer wieder einzelne Kontakte, aber<br />

noch keinen institutionalisierten Austausch. Zurückgefallen<br />

ist international die deutsche Strafprozessforschung, was<br />

eigentlich unberechtigt ist, weil die wissenschaftliche Durchdringung<br />

des Strafverfahrensrechts gerade in den letzten<br />

Jahren und Jahrzehnten in Deutschland eine Hochblüte erlebt.<br />

Grund dafür mag das im internationalen Vergleich ausgesprochen<br />

niedrig anzusiedelnde Niveau der deutschen Gesetzgebung<br />

sein, die beispielsweise bei der Einführung der<br />

strafprozessualen Absprachen selbst hinter dem Differenzierungswillen<br />

zentralamerikanischer Staaten weit zurückgeblieben<br />

ist. Ferner wirkt sich hier auch besonders das<br />

enorme Handicap aus, das die Finanzierungsstruktur internationaler<br />

Tagungen durch die deutsche akademische Strafrechtswissenschaft<br />

kennzeichnet. Weil auf Universitätsebene<br />

keine ausreichenden Mittel für derartige Veranstaltungen<br />

„mittleren Kalibers“ vorhanden sind, müssen stets umfangreiche<br />

Drittmittelförderungsanträge geschrieben werden,<br />

deren Aufwand bei ungewissem Ausgang prohibitiv wirkt.<br />

Die durchaus vorhandenen Ressourcen des Freiburger Max-<br />

Planck-Instituts können eine gewisse Abhilfe bieten, wenn<br />

sie weniger im Rahmen stratigraphischer Normtextvergleichung<br />

und mehr im Interesse der Profilierung der deutschen<br />

Strafprozessrechtswissenschaft eingesetzt würden.<br />

22. Vorbildcharakter des deutschen Rechts oder umgekehrt<br />

unzulängliche Berücksichtigung ausländischer Rechtsentwicklungen<br />

in Deutschland<br />

a) Der Vorbildcharakter des deutschen positiven Rechts, der<br />

sich im Strafrecht beispielsweise durch die weitgehende<br />

Übernahme des deutschen StGB in Japan vor einem Jahrhundert<br />

ausgeprägt hatte, besteht derzeit bei einzelnen Materien<br />

wie etwa dem deutschen Wirtschafts- und Computerstrafrecht,<br />

ist dagegen im Strafprozess letztlich wegen des Versagens<br />

des deutschen Gesetzgebers vollständig verloren gegangen.<br />

Auch bei internationalen Vertragswerken wie dem Rom-<br />

Statut oder dem UN-Übereinkommen zur Korruptionsbekämpfung<br />

hat die deutsche Gesetzgebung weder inhaltlich<br />

noch vom System her eine wesentliche Rolle zu spielen vermocht.<br />

In der weltweiten Reform des Strafverfahrens ist etwa<br />

das amerikanische Modell trotz seiner gravierenden theoretischen<br />

und praktischen Schwächen überall auf dem Vormarsch,<br />

wofür außer dem politischen Übergewicht der USA<br />

auch der zentral gesteuerte Einsatz entsprechender Beratungsmannschaften<br />

ausschlaggebend ist (nicht zu vergessen<br />

die schon erwähnten inhaltlichen Defizite der neueren deutschen<br />

Gesetzgebung). Dem stehen freilich zahlreiche individuelle<br />

Initiativen deutschen Strafrechtslehrer gegenüber, die<br />

im Ausland als Regierungsberater für die Rechtsreform im<br />

Strafrecht und im Bereich des Strafverfahrens mitwirken, in<br />

so unterschiedlichen Staaten wie Mexiko und Chile, Georgien<br />

und Kasachstan, der Mongolei und China. Die starke<br />

Diversifizierung der deutschen Entwicklungshilfe durch<br />

zahlreiche unterschiedliche Institutionen bildet aber auch hier<br />

einen starken organisatorischen Hemmschuh.<br />

b) Die Berücksichtigung ausländischer Rechtsentwicklungen<br />

erfolgt im Bereich des Strafrechts und des Strafver-<br />

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310<br />

<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />

fahrens im akademischen Bereich in nachdrücklicher Weise.<br />

Im Bereich der Gesetzgebung wurden bei größeren Projekten<br />

regelmäßig Untersuchungen zur Rechtsvergleichung in Auftrag<br />

gegeben, wenngleich in neuerer Zeit überhaupt ein nachlassender<br />

Einfluss der Wissenschaft zu beobachten ist.<br />

23. Die europäische und internationale Mobilität der Forschenden<br />

und der Studierenden<br />

Diese ist in den letzten Jahren enorm angewachsen. Die große<br />

Zahl weltweit veranstalteter Tagungen zum Bereich Strafrecht,<br />

Strafverfahren und Kriminologie hat fast zu einem<br />

permanenten Wissenschaftstourismus geführt. Hinzu kommt,<br />

dass in denjenigen Ländern, die vom deutschen Strafrechtsdenken<br />

beeinflusst sind, zahlreiche Vortragsreisen deutscher<br />

Strafrechtslehrer veranstaltet werden. Auch die Mobilität der<br />

Studierenden ist durch die hier vorhandenen Austauschprogramme<br />

enorm gesteigert worden. Gegenwärtig werden an<br />

vielen Fakultäten Doppelmagister- und Doppelpromotionsmöglichkeiten<br />

geschaffen, die aber aufgrund der Natur der<br />

Sache vor allem mit denjenigen Ländern etabliert werden, die<br />

vom deutschen Strafrecht geprägt worden sind und deshalb<br />

eine große Nachfrage ausländischer Studierender nach<br />

Deutschland auslösen und befriedigen, während das umgekehrte<br />

Programm eher selten in Anspruch genommen wird.<br />

Richtigerweise wird man aber auch sagen müssen, dass die<br />

Anforderungen des deutschen rechtswissenschaftlichen Studiums<br />

so enorm sind, dass es problematisch ist, dieses Studium<br />

zusätzlich mit einer über ein Austauschsemester hinausgehenden,<br />

ernsthaften Beschäftigung mit dem ausländischen<br />

Recht zu kombinieren. Die bessere Lösung besteht deshalb<br />

zweifellos in einem an das deutsche Studium anschließenden<br />

Magisterstudium im Ausland für diejenigen, die nunmehr<br />

konkret an eine Tätigkeit im grenzüberschreitenden Bereich<br />

denken.<br />

24. Leistungen des European Law Institute<br />

Das European Law Institute stellt sich würdig in eine Reihe<br />

ähnlicher Organisationen mit wohlklingenden Namen. Über<br />

seine Leistungen lässt sich bis heute nichts sagen, weil es<br />

noch keine gibt. Da die zugelassenen Sprachen Englisch und<br />

Französisch sind, die oben angesprochene Entwicklung einer<br />

genuin englischen Fassung der deutschen Strafrechtswissenschaft<br />

aber bis heute nicht existiert und die bloß lexikalische<br />

Übertragung das nicht leisten kann, ist es absehbar, dass in<br />

diesem Institut englisches und französisches Rechtsdenken<br />

dominieren wird, so wie überhaupt in der bisherigen Rechtsetzung<br />

der Europäischen Union. Natürlich lässt sich fragen,<br />

ob das Insistieren auf einer wichtigen Rolle der deutschen<br />

Rechtskultur auf der Ebene der EU Ausdruck eines reaktionären<br />

Nationalismus wäre, auch wenn diese Frage in Großbritannien<br />

oder Frankreich gewöhnlich nicht in analoger Weise<br />

gestellt wird. Jedenfalls im Strafrecht bedeutet der Verlust an<br />

deutscher strafrechtswissenschaftlicher Kultur aber einen Verlust<br />

an kritischer Analyse und damit einen Verlust an Rechtskultur<br />

überhaupt, was in einem wahrhaften Raum „der Freiheit<br />

und des Rechts“ zu einem rechtsstaatlichen Debakel<br />

führen kann. Zu verweisen ist auf die obige Bemerkung, dass<br />

in den meisten Staaten der EU die in den letzten Jahren von


Standpunkte der deutschen Strafrechtslehrer zu den Zukunftsperspektiven der Rechtswissenschaft<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

der deutschen Strafrechtswissenschaft entwickelte kritischanalytische<br />

Linie zur Brüsseler Rechtsetzung unbekannt,<br />

geschweige denn selbst erwogen worden ist. Dass sich hieran<br />

durch das European Law Institute etwas ändern wird, ist<br />

jedenfalls derzeit nicht erkennbar.<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

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Tagungsbericht: Sitzung des Arbeitskreises Völkerstrafrecht am 4. und 5.5.2012 in<br />

Nürnberg<br />

Von Dr. Lars Berster, Köln<br />

Anfang Mai 2012 fanden sich die im Arbeitskreis Völkerstrafrecht<br />

1 vereinigten deutschsprachigen Völkerstrafrechtler<br />

aus Wissenschaft und Praxis der Anregung Christoph Safferlings<br />

folgend zu ihrer achten Jahrestagung in Nürnberg zusammen.<br />

Der Unterstützung des Oberlandesgerichts und der<br />

Stadt Nürnberg ist es zu danken, dass die Tagung im Sitzungssaal<br />

600 im Nürnberger Justizgebäude und somit an<br />

jener Stätte stattfinden konnte, die als Ort des Nürnberger<br />

Hauptkriegsverbrecherprozesses und der Nachfolgeverfahren<br />

wie keine zweite die Geburtsstunde des Völkerstrafrechts<br />

symbolisiert. Und so mag über brillante Referate, engagierte<br />

Debattenbeiträge und die gewandte Moderation durch Claus<br />

Kreß hinaus auch die geschichtsträchtige Kulisse einen Beitrag<br />

dazu geleistet haben, dass auch von der diesjährigen<br />

Zusammenkunft wieder vernehmliche Impulse ausgegangen<br />

sein dürften.<br />

Nach der freundlichen Begrüßung durch den Präsidenten<br />

des Oberlandesgerichts Nürnberg Peter Küspert führte der<br />

Sprecher des Kuratoriums Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände,<br />

Bundesminister a.D. Dr. Oscar Schneider<br />

ins Thema ein, indem er die Bedeutung des Ortes und Erbes<br />

Nürnbergs für das Völkerstrafrecht unterstrich. Diesen Faden<br />

nahmen Anne Rübesame und Christoph Safferling im unmittelbaren<br />

Anschluss wieder auf und berichteten vom Gründungsprozess<br />

der „Internationalen Akademie Nürnberger Prinzipien“<br />

(IANP), die durch interdisziplinäre Forschung und<br />

zielgruppenspezifisches Training zu völkerstrafrechtlichen<br />

und menschenrechtlichen Themen zur Friedenssicherung mit<br />

rechtlichen Mitteln beitragen soll. 2 Der Forderung nach Interdisziplinarität<br />

trug sogleich der nachfolgende Beitrag<br />

Rechnung, in welchem der Ordinarius für Neuere Geschichte<br />

der Universität Potsdam, Manfred Görtemaker, eine historische<br />

Analyse von Hintergrund und Bedeutung der Nürnberger<br />

Prozesse beisteuerte. Den Höhepunkt des Tages leitete<br />

sodann Gerhard Werle ein, indem er mit Blick auf die anstehende<br />

„Kenia-Entscheidung“ des IStGH seine gemeinsam<br />

mit Boris Burghardt in mustergültiger Klarheit entwickelten<br />

Thesen 3 zur Auslegung des Organisationsbegriffs im Kontextmerkmal<br />

der Menschlichkeitsverbrechen gemäß Art. 7<br />

Abs. 1 und 2 lit. a IStGH-Statut zur Diskussion stellte. Den<br />

Wesensgehalt des Kernverbrechens und die künftige Rolle<br />

des IStGH unmittelbar berührend 4 löste diese Frage sogleich<br />

eine facettenreiche und leidenschaftliche Debatte aus, wobei<br />

Methodenaspekte ebenso zur Sprache kamen wie das Spannungsverhältnis<br />

zwischen humanitärem Schutzbedürfnis<br />

einerseits und den Gefahren der Überdehnung und des<br />

1<br />

Im Internet abrufbar unter<br />

http://www.uni-koeln.de/jur-fak/kress/index_akvoe.html<br />

(3.6.2012).<br />

2<br />

Vgl. http://www.museen.nuernberg.de/akademie/index.html<br />

(3.6.2012).<br />

3<br />

Vgl. hierzu Werle/Burghardt, <strong>ZIS</strong> 2012, 271.<br />

4<br />

Chaitidou, <strong>ZIS</strong> 2010, 726 (734).<br />

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312<br />

<strong>ZIS</strong> 6/2012<br />

Akzeptanzverlusts des Völkerstrafrechts andererseits. Anschließend<br />

fand nach einer Führung durch das Memorium<br />

Nürnberger Prozesse der erste Teil der Tagung bei einem<br />

geselligen Abendessen mit fränkischen Spezialitäten auch in<br />

kulinarischer Hinsicht einen würdigen Ausklang.<br />

Den Folgetag eröffnete der leitende Direktor der Museen<br />

der Stadt Nürnberg Matthias Henkel mit einem Grußwort, in<br />

welchem er die Einzigartigkeit der Ambivalenz Nürnbergs als<br />

Stützpunkt von Diktatur und Nukleus des Völkerstrafrechts<br />

hervorhob. Dergestalt eingestimmt wandte sich der Arbeitskreis<br />

sodann den aktuellen Entwicklungen des Völkerstrafrechts<br />

zu und erhielt dank des überaus pointierten und konzisen<br />

Referats Eleni Chaitidous einen Überblick über den aktuellen<br />

Stand der IStGH-Rechtsprechung. Im Anschluss ging<br />

Philipp Ambach auf die Praxis der Opferentschädigung beim<br />

IStGH ein und rief nachhaltig die zahlreichen noch ungelösten<br />

Fragen dieser Materie ins Bewusstsein. Es folgten die<br />

erhellenden Ausführungen Volker Nerlichs zur aktuellen<br />

Problematik von IStGH-Zeugen, die in den Niederlanden<br />

Asyl begehren, gefolgt von lebhaften Stellungnahmen der<br />

deutschen Bundesanwaltschaft und ihren Schweizer Kollegen<br />

zu der in beiden Ländern geübten Zeugenpraxis.<br />

Weiter ging es mit einem hochinteressanten Vortrag von<br />

Thomas Rauter und Kirsten Schmalenbach zur Methodenvielfalt<br />

und Methodenferne der gerichtlichen Feststellung<br />

völkergewohnheitsrechtlicher Strafnormen, gestützt auf die<br />

systematische Durchdringung des Gesamtbestandes der internationalen<br />

Strafrechtsprechung. Die anschließende Diskussion,<br />

die sich zwischen dem Bedürfnis nach Methodenstrenge<br />

und der Notwendigkeit gerichtlicher Rechtsfortbildung hin<br />

und her bewegte, schloss mit dem salomonischen Vorschlag,<br />

eine praktische Aufwertung der allgemeinen Rechtsgrundsätze<br />

zu erwägen.<br />

Anschließend referierte Jan Nemitz zum „Residual Mechanism“<br />

der ad hoc-Tribunale und den hiermit verbundenen<br />

Herausforderungen, gefolgt von einem bemerkenswerten<br />

Avant-Propos Simon Meisenbergs zu der mit Spannung erwarteten<br />

schriftlichen Begründung des am 26.4.2012 vom<br />

Sierra Leone-Tribunal gegen Charles Taylor ergangenen<br />

Urteils. Den abschließenden Tagungsbeitrag lieferte Franziska<br />

Eckelmans mit ihrem Überblick über die Entwicklung der<br />

Tätigkeit der ECCC in den letzten Jahren. Eindringlich zeigte<br />

sie dabei die Herausforderungen auf, die sich angesichts der<br />

Verschmelzung internationaler und nationaler Strukturen bei<br />

einem hybriden Tribunal ergeben.<br />

Resümierend darf festgehalten werden, dass der Arbeitskreis<br />

mit der diesjährigen Rückkehr zu den geographischen<br />

Wurzeln des Völkerstrafrechts der Experimentalphase endgültig<br />

entwachsen und zu einem gewichtigen Forum des<br />

Austausches gereift ist. Die wiederum gestiegene Teilnehmerzahl<br />

von über 80 Mitgliedern legt hiervon beredtes Zeugnis<br />

ab.

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