Boreout-Strategien - FinanzBuch Verlag
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Philippe Rothlin | Peter R. Werder<br />
Die <strong>Boreout</strong>-Falle<br />
Wie Unternehmen Langeweile<br />
und Leerlauf vermeiden<br />
© des Titels »Die <strong>Boreout</strong>-Falle« (ISBN 978-3-636-01593-8)<br />
2008 by Redline Wirtschaft, <strong>FinanzBuch</strong> <strong>Verlag</strong> GmbH, München<br />
Nähere Informationen unter: http://www.redline-wirtschaft.de
<strong>Boreout</strong>-<strong>Strategien</strong>:<br />
Bewährtes und Neues<br />
Wir haben in unserem ersten Buch einige <strong>Strategien</strong> präsentiert –<br />
Verhaltensmuster, mit welchen die <strong>Boreout</strong>-Betroffenen zu vertuschen<br />
versuchen, dass sie unterfordert sind. Als einige Beispiele<br />
seien hier die Komprimierungs-, die Pseudo-Burnout oder die<br />
Lärmstrategie genannt. Menschen erledigen – im ersten Fall – die<br />
wenige Arbeit, die sie haben, in kurzer Zeit, damit sie für ihre privaten<br />
Angelegenheiten – während der Arbeit, weil sie ja unterfordert<br />
sind – genug Zeit haben. Im zweiten Fall täuschen sie Stress vor, sind<br />
früh morgens bis spät in der Nacht am Arbeitsplatz und machen den<br />
Anschein, vor lauter Arbeit bald zusammenzubrechen. Sie verhalten<br />
sich genauso wie ein Burnout-Opfer. Und schließlich – im dritten<br />
Fall – sitzen die Arbeitnehmer so unterfordert vor ihren Computern,<br />
dass sie von Zeit zu Zeit einfach ein Geräusch machen müssen,<br />
um dem Verdacht der Untätigkeit nicht ausgesetzt zu sein. Sie tippen<br />
wahllos eine leere Mail voll oder kritzeln mit einem lauten Stift nutzlose<br />
Skizzen auf ein Papier. Das alles sind Beispiele von <strong>Strategien</strong>,<br />
die typisch für einen <strong>Boreout</strong> sind.<br />
Die Kollektiv-Zwang-Strategie<br />
Mit der Kollektiv-Zwang-Strategie möchten wir beginnen. Sie werden<br />
anhand dieser Ausführungen den Einstieg in den <strong>Boreout</strong>-Fokus<br />
schnell finden. Dann präsentieren wir Ihnen neue Formen solcher<br />
Verhaltensmuster. Damit ist es uns möglich, schnell in medias<br />
res zu gehen und Ihnen – sollten Sie mit dem Thema noch nicht so<br />
vertraut sein – einen guten Start in das Gebiet zu ermöglichen, etwas,<br />
was natürlich insbesondere Führungskräfte interessieren wird.<br />
© des Titels »Die <strong>Boreout</strong>-Falle« (ISBN 978-3-636-01593-8)<br />
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<strong>Boreout</strong>-<strong>Strategien</strong>: Bewährtes und Neues<br />
Dass es sich bei diesen <strong>Strategien</strong> um eine Form von Manipulation<br />
handelt, sei an späterer Stelle genauer erläutert. Worum geht es also<br />
bei der Kollektiv-Zwang-Strategie?<br />
Sie kennen das: Der Beginn einer neuen Arbeitsstelle bringt nicht<br />
nur neue Aufgaben, sondern auch das Lernen neuer Regeln mit<br />
sich. Dabei geht es sowohl um offizielle als auch um inoffizielle und<br />
informelle Regeln. Man lernt zum Beispiel, ob man für die morgendliche<br />
Kaffeepause ausstempeln muss oder nicht. Oder man<br />
wird darüber informiert, ob einem Freunde und Kollegen im Büro<br />
einen Besuch abstatten dürfen oder nicht. Das sind offizielle Regeln.<br />
Die inoffiziellen Gebräuche erfährt man nicht gerade am ersten<br />
Tag, sondern meist erst dann, wenn man gegen sie verstößt.<br />
Zum Beispiel, dass es dem Geschäftsleitungsmitglied X wichtig ist,<br />
die offiziellen Projektanträge auszufüllen, während das Geschäftsleitungsmitglied<br />
Y schon fast allergisch auf die Formulare reagiert.<br />
Oder dass erwartet wird, dass man am Geburtstag für das Team einen<br />
Kuchen mitbringt – allerdings auch nur fürs Team und nicht für<br />
die ganze Abteilung, da sonst Druck aufgebaut würde und andere<br />
Abteilungsmitglieder beim nächsten Mal auch einen Kuchen mitzubringen<br />
hätten, was die Tradition komplett über den Haufen werfen<br />
würde. Und so weiter.<br />
Eine solche informelle Regel ist die Kollektiv-Zwang-Strategie zum<br />
<strong>Boreout</strong>. Wir haben sie in einigen Unternehmen entdeckt. Das hat<br />
uns – ehrlich gesagt – überrascht. Denn es wurde uns bewusst, dass<br />
der <strong>Boreout</strong> damit eine Art interne Legitimation erfuhr, ohne dass<br />
offiziell über ihn gesprochen wurde. Und ohne dass es überhaupt ein<br />
Bewusstsein dafür gab. Diese Strategie ist vor allem in staatsnahen<br />
oder gar staatseigenen Betrieben zu beobachten. Das mag nun weniger<br />
überraschen, als dass es bekannte Klischees bekräftigt.<br />
Von kollektivem Zwang reden wir, wenn es einen internen inoffiziellen<br />
Druck gibt, nicht (zu) viel zu arbeiten und dies zugleich zu<br />
verheimlichen – es sogar vorzutäuschen. Womit wir mitten im <strong>Boreout</strong>-Schlamassel<br />
wären. Wenn Sie schon in der ersten Arbeitswoche<br />
ermahnt werden, nicht zu schnell zu arbeiten, wenn man Ihnen<br />
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Viel Papier – wenig Worte: Der Bluffer<br />
klar und natürlich inoffiziell zum Ausdruck bringt, dass ein zu rasches<br />
Erledigen der Aufgaben hier nicht gewünscht sei, weil damit<br />
die Messlatte für den Rest der Belegschaft zu hoch angesetzt werde,<br />
und wenn Sie früh damit konfrontiert werden, dass hoher Einsatz<br />
sowieso nicht honoriert würde, dann befinden Sie sich in einem Unternehmen,<br />
in dem ein kollektiver Zwang zum <strong>Boreout</strong> besteht. Das<br />
kann auf einzelne Abteilungen oder Vorgesetzte reduziert sein: Kern<br />
der Sache ist, dass es nicht gern gesehen wird, wenn schnell und proaktiv<br />
gearbeitet wird. Dass aber trotzdem so getan wird.<br />
Sie mögen an dieser Stelle einwenden, dass dies nun eher als Faulheit<br />
zu bezeichnen sei. Sie haben damit auch ein wenig Recht. Wir<br />
befinden uns mit der Kollektiv-Zwang-Strategie tatsächlich in einer<br />
Grauzone zwischen Faulheit und <strong>Boreout</strong>. Mit dieser Art von gesellschaftlichem<br />
Druck kommen die Faulen denn auch ganz gut zurecht.<br />
Es entspricht ihrem Wesen, nicht zu viel zu arbeiten – ganz im<br />
Gegensatz zu den eigentlich Motivierten und Fleißigen, die arbeiten<br />
wollen, die man aber nicht lässt.<br />
Aber: Die Kollektiv-Zwang-Strategie ist für alle Beteiligten Gift, egal,<br />
ob sie nun faul sind oder eigentlich arbeiten wollen. Am Schlimmsten<br />
ist ein solches Leistungskartell aber natürlich für das Unternehmen<br />
selbst. Sie ist für diejenigen, die arbeiten wollen, der kollektive,<br />
erzwungene Einstieg zum <strong>Boreout</strong>. Dieser Kollektive-Zwang ist somit<br />
insofern eine neue <strong>Boreout</strong>-Strategie, als dass er uns eine neue<br />
Sicht und einen neuen Einstieg in das Problem <strong>Boreout</strong> liefert.<br />
Viel Papier – wenig Worte: Der Bluffer<br />
Eine <strong>Boreout</strong>-Strategie ist eine Form von Manipulation. Dies weiß<br />
auch Frau Dammann, die eine Abteilung mit 25 Mitarbeitern leitet.<br />
Seit einiger Zeit beobachtet sie Herrn Simmler und beginnt, seine<br />
Manipulationsversuche zu entlarven:<br />
„Es fällt mir bei meiner Abteilungsgröße natürlich schwer, jeden Mitarbeiter<br />
und jede Mitarbeiterin intensiv zu begleiten. Ich weiß auch<br />
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<strong>Boreout</strong>-<strong>Strategien</strong>: Bewährtes und Neues<br />
nicht, ob alle richtig belastet sind. Aber so ab und zu fällt mir Herr<br />
Simmler auf. Er kommt immer sehr knapp in die Meetings, schleppt<br />
immer stapelweise Papier mit, wirkt auch immer leicht gestresst und<br />
hört sehr aufmerksam zu. Meistens macht er sich Notizen. Das hat<br />
mich vor ein paar Tagen zum ersten Mal hellhörig gemacht: Er hat<br />
sich Dinge aufgeschrieben, die für ihn gar nicht von Bedeutung waren.<br />
Zudem sagte er kaum ein Wort in der Sitzung.“<br />
Herr Simmler leidet aller Wahrscheinlichkeit nach an einem <strong>Boreout</strong>.<br />
Frau Dammann hat folgende Indizien erkannt:<br />
� Knapp in die Sitzung: Wer früh vor Ort ist, macht den Eindruck,<br />
viel Zeit zu haben. Wer knapp kommt, muss gestresst sein. Ein<br />
einfacher Weg, Stress vorzutäuschen.<br />
�<br />
�<br />
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Viel Papier dabei: Das sieht nach Arbeit und Fachkenntnissen<br />
aus. Und ist ein einfaches Täuschungsmanöver.<br />
Wirkt leicht gestresst: Wie kann man Stress einfacher vortäuschen,<br />
als einfach gestresst zu tun?<br />
� Aufmerksam zuhören und Notizen machen: Meist sind das<br />
zwei Widersprüche. Wer aufmerksam zuhört, macht sich wohl<br />
eher am Schluss Notizen. Zumal sind solche Notizen meist<br />
nutzlos. Ganz nutzlos sind sie, wenn es vom Meeting ein Protokoll<br />
gibt.<br />
Frau Dammann ist auf Herrn Simmler aufmerksam geworden und<br />
hat seine Manipulationsversuche durchschaut. Sie stellt ihm heiße<br />
Fragen: „Herr Simmler, bei Ihnen ist scheinbar recht viel los. Was<br />
machen Sie denn gerade so?“ Oder „Herr Simmler, Sie haben sich<br />
doch in der letzten Sitzung Notizen gemacht. Würden Sie mir diese<br />
überlassen? Blöderweise gibt es kein Protokoll davon.“ Oder, während<br />
einer Sitzung „Herr Simmler, Sie haben in Ihren Unterlagen<br />
nicht zufällig das Protokoll der letzten Sitzung und das Konzeptpapier?<br />
Ich hab’s wieder mal im Büro liegen gelassen.“<br />
All diese Fragen können zur Entlarvung des Bluffs beitragen. Sie führen<br />
nie zu Beweisen, aber zu Indizien. Sollte sich der Verdacht von<br />
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Der kleine Müller – und der große Müller<br />
Frau Dammann durch solche Fragen erhärten, wird ein Gespräch<br />
nötig. Damit ist die Schuldfrage natürlich noch nicht beantwortet<br />
– vielleicht ist Frau Dammann ja ursächlich für die Unterforderung<br />
von Herrn Simmler verantwortlich?<br />
Der kleine Müller – und der große Müller<br />
Ein weiteres Indiz für einen <strong>Boreout</strong>: Ist Ihnen auch schon aufgefallen,<br />
dass man auswärtige Sitzungen so planen kann, dass sich eine<br />
Rückkehr ins Büro nicht mehr lohnt? Auch eine Form von Manipulation<br />
(man ist wichtig und im Stress) und gleichzeitig eine Möglichkeit,<br />
die Präsenz im Büro zu reduzieren. Zwei Beispiele.<br />
Sie wollen sich mit einem Kunden treffen. Er schlägt Ihnen 13.30<br />
Uhr vor. Die Sitzung wird zwei Stunden dauern und beim Kunden<br />
stattfinden. Die Anfahrt wird eine gute halbe Stunde in Anspruch<br />
nehmen. Wenn Sie sich tatsächlich um 13.30 Uhr treffen, dann fällt<br />
Ihre Mittagspause eher dürftig aus. Sie werden um 16 Uhr im Büro<br />
zurück sein. Für Leute, die viel zu tun haben, optimal. Für Leute, die<br />
an einem <strong>Boreout</strong> leiden, eine sehr unglückliche Planung. Die Alternative:<br />
Das Meeting beginnt um 14 Uhr oder um 14.30 Uhr. Sie<br />
können so den Mittag besser genießen und nach der Sitzung wird<br />
es sich nicht mehr lohnen, ins Büro zurückzufahren. Kontrollieren<br />
wird dies niemand mehr, weil es völlig plausibel ist.<br />
Zweites Beispiel: Sie planen ein etwas längeres Meeting um 10 Uhr<br />
morgens. So können Sie einen „kreativen Unterbruch“ über Mittag<br />
einplanen, mit den Kunden ausgiebig plaudern, am Nachmittag<br />
um 14.30 Uhr weiterfahren und anschließend ebenfalls direkt nach<br />
Hause fahren. Die Alternative wäre ein Beginn um 8.30 Uhr gewesen,<br />
dann hätten Sie unter Garantie kurz vor Mittag alles unter Dach<br />
und Fach gehabt.<br />
Sie sehen: Mit einer solchen Sitzungsplanung können Sie Unterforderung<br />
bestens verstecken. Wir haben eine Führungsverantwortliche<br />
kennengelernt, die in ihrem Team einen Herrn Müller hatte.<br />
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<strong>Boreout</strong>-<strong>Strategien</strong>: Bewährtes und Neues<br />
Herr Müller hatte genau diese Angewohnheit, Sitzungen so abzumachen,<br />
dass es sich nicht mehr lohnte, ins Büro zurückzukommen. In<br />
seinem Team waren solche „Ausflüge“ als kleiner Müller (erstes Beispiel<br />
am Nachmittag) und als großer Müller (zweites Beispiel während<br />
des ganzen Tages) bekannt. Die Chefin hat davon natürlich<br />
lange nichts mitbekommen, bis sie zufällig im Kalender von Herrn<br />
Müller nach einem freien Termin suchte. Die Tage waren oft so breit<br />
blockiert, dass sie misstrauisch wurde. Ein paar klärende Gespräche<br />
im Team brachten es dann zutage: Es waren des Müllers kleine und<br />
große Müllers. Und: Herr Müller litt natürlich an einem <strong>Boreout</strong>.<br />
Die Spam-Strategie<br />
Zudecken mit Quantität, um von Leere abzulenken: Das ist der Kern<br />
der Spam-Strategie, die wir im ersten Buch noch nicht beschrieben<br />
haben. <strong>Boreout</strong>-Betroffene erstellen sinnlos lange Konzepte, um sich<br />
damit auszulasten. Und um damit zu signalisieren, dass sie ausgelastet<br />
seien. Interessanterweise kommt bei der Spam-Strategie oft auch<br />
hinzu, dass die Betroffenen für ihre Elaborate unglaublich lange Verteiler<br />
erstellen. Die Verteiler werden schon auf den ersten Seiten des<br />
Konzeptes breitgetreten, und solche Konzepte werden an sehr viele<br />
Leute per E-Mail verschickt. Nicht nur direkt, sondern auch per CC<br />
werden Mitarbeitende über die Tätigkeiten informiert. Es ist ein regelrechter<br />
Fluch geworden: Und in diesem Sinne haben wir auch die<br />
Bezeichnung für den normalen Mail-Spam als Synonym gewählt,<br />
weil im Büroalltag viele Leute mit vielen Informationen bedient werden,<br />
die sie nicht brauchen. Eine Mail wird an einen möglichst großen<br />
Verteiler verschickt, obwohl die meisten Leute überhaupt nicht<br />
an den Inhalten interessiert sind. Die Idee dahinter ist denn auch<br />
nicht der eigentliche Inhalt des Projektes, sondern die Tatsache, den<br />
Leuten zu zeigen, dass möglichst viel gearbeitet wird. Eine klassische<br />
<strong>Boreout</strong>-Strategie.<br />
Schauen wir uns im folgenden Beispiel an, wie Alex versucht, eine<br />
eigentlich simple Aufgabe dermaßen aufzublasen, dass das Projekt<br />
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Die Spam-Strategie<br />
bald nicht nur eine lange Projektnummer bekommt und braucht,<br />
sondern auch ein eigenes Budget, weitere Sitzungen, an denen natürlich<br />
möglichst viele Delegierte aus dem ganzen Unternehmen teilnehmen:<br />
Alles völlig unnötig, denn Alex könnte die Aufgabe ebenso<br />
gut in einem Tag allein lösen.<br />
Das aufgeblasene Projekt<br />
Der Chef von Alex gilt im Unternehmen als innovativ. Er weiß,<br />
dass die Bindung an Lieferanten, an ehemalige Mitarbeiter,<br />
an Nachbarn und vielleicht sogar an weitere Personen der Öffentlichkeit<br />
nicht ganz unwichtig ist. Der Fachbegriff „Stakeholder-Management“<br />
ist ihm nicht unbekannt. Da er keine eigene<br />
Abteilung für Medienarbeit hat, entschließt er sich, Alex<br />
damit zu beauftragen, ein Tool zu entwickeln, das es ermöglicht,<br />
den Kontakt zu diesen Leuten geregelt zu pflegen. Viele<br />
Adressen sind bereits gesammelt und liegen in Excel-Files ordentlich<br />
bereit. Der Chef von Alex möchte nun einiges klären:<br />
Es soll geregelt werden, wie Kontakte erfasst werden, wer die<br />
Adressen bereinigt, welche Informationen zu einem Kontakt<br />
gehören, welche die wichtigen und vielleicht auch welche die<br />
weniger wichtigen Kontakte sind. Alex bekommt die Aufgabe<br />
mit einem Zeithorizont von sechs Monaten.<br />
Alex ist froh, wieder einmal eine Aufgabe zu haben. Er ist in<br />
letzter Zeit etwas nachlässig geworden mit dem Verstecken<br />
seiner Langeweile. Deswegen packt er diese Gelegenheit<br />
beim Schopf, fasst erste Projektideen in einem Formular, das<br />
er bisher noch nie gebraucht hat, zusammen. Zufällig hatte<br />
er am Morgen im Intranet – beim Surfen natürlich und nicht<br />
beim zielgerichteten Arbeiten – Formulare gefunden, die die<br />
Abläufe für große Projekte regeln sollen. Auf diese Formulare<br />
greift er nun zu. Er füllt sie aus und versendet sie, sobald<br />
er damit fertig geworden ist, mit ersten Ideen und Ansätzen<br />
an sein Team. Somit beschäftigen sich mit dem Projekt als di-<br />
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rekte Empfänger einer E-Mail nicht nur sein Chef, sondern sieben<br />
weitere Personen in und außerhalb seines Teams und als<br />
indirekte, sogenannte CC-Empfänger, weitere zehn Personen.<br />
Alex signalisiert damit, ausgelastet zu sein.<br />
In diesem ersten Projektwurf stehen nebst einer ausführlichen<br />
Einleitung und Zielbeschreibung viele weitere „nützliche“<br />
Informationen. Es ist allerlei über die bestehende Situation<br />
und über die bestehenden Kontakte zu finden. Niemand<br />
wird diese langweiligen Texte jemals lesen, außer Alex selbst.<br />
Der gähnt am andern Tage bereits wieder unterfordert in seinen<br />
Bildschirm und freut sich über seine eigenen Texte. Die direkten<br />
und indirekten Empfänger des immerhin neun Seiten<br />
umfassenden Dokuments sind teilweise erstaunt, teilweise erfreut,<br />
teils sogar erbost über die Informationen. Erbost sind<br />
die Gestressten im Unternehmen, die Erfreuten sind seine Leidensgenossen,<br />
die ebenfalls von <strong>Boreout</strong> Betroffenen, und die<br />
Erstaunten wundern sich, dass man für ein so kleines Projekt<br />
so viel Papier verbrauchen kann. Alex hat ganze Arbeit geleistet<br />
und auf den neun Seiten von A bis Z alles geregelt, was es<br />
zu tun gibt, bis dieses neue Programm funktioniert. Er möchte<br />
alle und jeden miteinbeziehen. Es ist ihm mindestens vordergründig<br />
wichtig, dass in dieser ersten Evaluation fast alle ihre<br />
Meinung äußern können.<br />
Natürlich, das haben Sie als aufmerksamer Leser und als aufmerksame<br />
Leserin längst gemerkt, wird sich niemand mit dieser Aufgabe<br />
intensiver beschäftigen. Aber Alex freut sich, so viel zu diesem Thema<br />
sagen zu können. Er denkt in dieser Situation nicht an die Menschen,<br />
die seine Ergüsse lesen müssen. Am Schluss des Dokuments<br />
befinden sich Zeitachsen und Verantwortlichkeiten sowie ein nächster<br />
offizieller Schritt: die Sitzung. An dieser Sitzung sollen sage und<br />
schreibe sieben Personen teilnehmen, wer verhindert sei, solle, so<br />
Alex, sich einen Stellvertreter oder eine Stellvertreterin suchen. Die<br />
Sitzung ist groß angelegt und geplant, Alex verwendet Stunden für<br />
die Tagesordnung, um aus der zuerst einfachen Sitzung einen Work-<br />
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Die „I don’t give a shit“-Strategie<br />
shop zu machen. Von den sieben eingeladenen Personen erscheinen<br />
drei zur Sitzung, zwei von diesen dreien haben das Dokument annähernd<br />
gelesen. Die Sitzung verläuft entsprechend. Niemand interessiert<br />
sich für das Thema, alle erwarten die Vorbereitung und die<br />
Inputs von Alex, der sich selber aber sehr auf die Meinungen und<br />
Fachkenntnisse seiner neuen Teammitglieder gestützt hatte. Der<br />
Workshop wird kein Erfolg für Alex, allerdings ist das kein Problem,<br />
denn somit kann er nun weiter an der Idee werkeln und wirkt nach<br />
außen hin beschäftigt.<br />
Wir machen einen Zeitsprung: Alex wird das Projekt innerhalb der<br />
geforderten Zeit selbstverständlich zur absoluten, oder wie es in den<br />
Arbeitszeugnissen jeweils heißt: vollsten Zufriedenheit (nur in Arbeitszeugnissen<br />
kann mit dieser sprachlichen Dummheit voller gemacht<br />
werden, was schon voll ist) seines Chefs zu Ende bringen und<br />
dies sogar noch schneller als gefordert. Das neue Tool zur Bewirtschaftung<br />
der Kontakte funktioniert tadellos. Eines hat sein Chef jedoch<br />
nicht gemerkt: Alex hat nicht nur mit einem neun Seiten umfassenden<br />
Projektdokument am Anfang, sondern mit weiteren fünf<br />
Dokumenten insgesamt 15 Personen während fünf Monate gelangweilt<br />
und mit Informationen belästigt, die sie nicht brauchen. Immerhin:<br />
Er wirkte ausgelastet.<br />
Die „I don’t give a shit“-Strategie<br />
Die „I don’t give a shit“-Strategie ist im Grunde genommen keine<br />
richtige <strong>Boreout</strong>-Strategie, denn eine solche zeichnet sich ja dadurch<br />
aus, dass man seinem Vorgesetzten gegenüber Arbeit und Beschäftigung<br />
vortäuscht. Man unternimmt alles, um vor neuer Arbeit, die<br />
sowieso wieder nur langweilig wäre, zu flüchten – oft versucht man<br />
sogar zu verhindern, dass man überhaupt im Büro hocken muss. Wir<br />
wollen die Quintessenz dieser eigentlichen „Anti-<strong>Boreout</strong>-Strategie“<br />
anhand eines konkreten Beispiels erläutern.<br />
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