Abstracts (pdf, 0.1 MB) - Lehrstuhl für Komparatistik
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Prof. Dr. Ulrich Ernst (Wuppertal)<br />
Schach und andere Spiele… Zu ludistischen Erzählkonzepten im experimentellen<br />
Roman<br />
In dem Vortrag ging es um literarische Werke, die produktionsästhetisch nach den Spielregeln<br />
des Schachspiels konzipiert sind, das zudem als poetisches Ordnungsprinzip fungiert und den<br />
Rezipienten durch das Angebot verschiedener Lektüren als Mitspieler aktiviert.<br />
In einem ersten Abschnitt wurden <strong>für</strong> die literarische Ästhetisierung des Schachspiels historische<br />
Vorbilder aus der Lyrik namhaft gemacht: z. B. ein lateinisches optisches Schachgedicht<br />
des Jacobus Nicholai de Dacia (1363) und ein niederländisches Figurengedicht in Schachform<br />
des Rederijkers Matthijs de Castelein (1555).<br />
In einem zweiten Abschnitt wurde der Transfer der Schachregeln auf eine erzählerische<br />
Makrostruktur in Lewis Carrolls Roman Through the Looking-Glass and What Alice Found<br />
There (1871) analysiert, dessen Handlung mit einigen Devianzen den Regeln eines Schachspiels<br />
folgt, wie ein vorangestelltes Diagramm programmatisch zeigt. Für Carroll konstitutiv<br />
ist eine artistisch höchst interessante Kombination von Narrativik, Ludistik und Mathematik.<br />
In einem dritten Abschnitt wurde die Carroll-Rezeption in den Neo-Avantgarden untersucht,<br />
z. B. in der Konkreten Poesie, in der Friedrich Achleitner in seinen quadratroman (1973) ein<br />
Oswald Wiener gewidmetes Schachdiagramm aufnimmt, oder in der Gruppe Oulipo, in der<br />
Georges Perec seinem Roman La Vie mode d’emploi (1978) den Grundriss eines Mietshauses<br />
unterlegt, das in der Erzählordnung im Rösselsprung durchmessen wird.<br />
Den Vortrag beschloss ein kurzer Ausblick auf affine ludistische Romankonzepte, z. B. nach<br />
dem Modell des Kartenspiels (Italo Calvino) und des Hüpfspiels (Julio Cortázar), die einen<br />
Wandel in der Spieltheorie von der Moderne zur Postmoderne indizieren.<br />
III. Spielfelder: Schach in politisch-ideologischen Diskursen<br />
Prof. Dr. Dietmar Peil (München)<br />
Das Schachspiel in der politischen Metaphorik<br />
Seit den Anfängen der Forschung über die mittelalterlichen Schachbücher gilt es als ausgemacht,<br />
dass die Figuren auf dem Schachbrett die ständisch-soziale Ordnung widerspiegeln.<br />
Nach Wackernagel war das Schach der Inder und Perser "nur das Abbild eines indischen,<br />
eines persischen Kriegsheeres gewesen, in welchem Alle, vom Könige bis zum Fusssoldaten,<br />
zu einer und derselben Kaste gehörten: das europäische nun stellte eher die Gliederung eines<br />
germanischen Staates dar, die ganze Abstufung von höheren zu niederen Ständen. Heinemann<br />
präzisiert Wackernagels Auffassung, kommt aber auch zu dem Schluss, dass durch die von<br />
Jacobus de Cessolis vorgenommene Differenzierung auch der dienenden Stände "das Schachspiel<br />
zum Abbild der gradualistisch abgestuften Feudalgesellschaft geworden" war. Nach<br />
Thomas Cramer ist "das soziale Bild der Schachzabelbücher als Ergebnis einer Allegorese bei<br />
aller Detailliertheit kein Abbild wirklicher Verhältnisse"; vielmehr "erfolgt der Griff nach<br />
dem Schachspiel als einem Bildkomplex, der in sich selbst über eine Ordnung verfügt, die der<br />
Wirklichkeit abhanden gekommen ist", als Versuch, Normen zu gewinnen. Zuletzt hat Volker<br />
Honemann das Schachspiel als "Metapher <strong>für</strong> die menschliche Gesellschaft in ihrer<br />
grundsätzlichen Gleichheit und ständischen Differenzierung" gesehen.<br />
Tatsächlich ist festzuhalten, dass das Schachspiel in seinen indisch-orientalischen Anfängen<br />
als Modell einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen zwei feindlichen Heeren zu<br />
werten ist. Sofern man das Heer als einen sozialen Verband versteht, kann man sagen, dass<br />
die Schachfiguren in ihrer Gesamtheit einer soziomorphen Interpretation unterzogen worden<br />
sind. In der weiteren Tradierung des Spiels erfährt die soziomorphe Interpretation eine Verschiebung,<br />
indem die Schachfiguren nunmehr teilweise auch als Spiegelung einer staatlichen<br />
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