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Abstracts (pdf, 0.1 MB) - Lehrstuhl für Komparatistik

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IV. Spielregeln: Schach und Diskursordnungen<br />

Barbara Holländer (Berlin)<br />

Das Schachspiel als Fokus einer enzyklopädischen Ordnung mittelalterlichen Wissens<br />

Nach dem Muster des Rosenromans entstand am Ende des 14. Jahrhunderts das Versgedicht<br />

Les Echez amoureux eines anonymen Dichters, das um 1404 dem Pariser Arzt, Gelehrten und<br />

Schriftsteller Evrard de Conty als Ausgangspunkt eines umfangreichen, enzyklopädischen<br />

Kommentars diente. Der gesamte Götterhimmel, die kosmischen Erscheinungen, Natura und<br />

Fortuna, antike Mythen und christliche Allegorien, die Bedeutungen des Gartens als Varianten<br />

der Weltbeschreibung sowie das in den Fächern der Artes liberales gespeicherte Wissen<br />

werden herangezogen, um einem Spiel seinen bedeutungsvollen und zentralen Ort zu geben,<br />

der es, umgekehrt, zur leitenden Metapher im Labyrinth des Wissens werden läßt.<br />

Eine besondere Rolle spielen Arithmetik, Geometrie und Astronomie. Das Schachbrett mit<br />

seinen 8x8 = 64 Feldern, den 4x8 oder 2x16 Figuren repräsentiert eine auffällige Zahlenkonstellation,<br />

denn 64 ist zugleich die erste Quadrat- und Kubikzahl und spielt in der anhaltenden<br />

Diskussion quadratischer Gleichungen eine Rolle. Auf diesem Verhältnis baut sich ein Geflecht<br />

von räumlichen, musikalischen (also kosmologischen) und damit kombinatorischen<br />

Interpretationsmustern auf. Sie repräsentieren die rationale Grundlage des menschlichen<br />

Erkenntnisvermögens. Neben den antiken Gewährsleuten <strong>für</strong> seine Darstellung – Aristoteles,<br />

Ptolemäus oder Boethius – zitiert Evrard eine Reihe von jüdischen und arabischen Gelehrten,<br />

deren Schriften er offensichtlich aus den Übersetzungen des 13. Jahrhunderts, zum Beispiel<br />

des Hermann von Carinthia, kannte.<br />

Die komplexe Wissensgrundlage, besonders die Kenntnisse der „Vorhersage“, müssten einem<br />

Kenner des Schachs erlauben, nach dem ersten Zug alle weiteren Züge und damit den Verlauf<br />

des Spiels bis zum Matt vorherzusagen. Al Kindi zitierend, erklärt Evrard jedoch: Alles ist<br />

geordnet und vorherbestimmt, aber der Mensch kennt nur einen Teil der möglichen Züge auf<br />

dem Schachbrett der Welt. Alles zu wissen, ist nur Gott gegeben. Daher ist das von Evrard als<br />

das „schönste Spiel“ bezeichnete Schach in seinem Ablauf zwar nie vollkommen vorhersehbar.<br />

Da es seinen Ort jedoch im Spannungsbogen zwischen menschlichem und göttlichem<br />

Wissen hat, ist seine herausragende Stellung unter den Beschäftigungen des menschlichen<br />

Geistes gesichert.<br />

Dr. Hanna Eglinger (München)<br />

Spieler oder Spielfigur? Schach als epistemologisches Modell bei Solvej Balle<br />

Die mit dem Schachspiel verknüpfte epistemologische Frage nach der Stellung des Menschen<br />

als Spieler oder Spielfigur umfasst nicht erst mit Kierkegaard Fragen nach Willens- und<br />

Handlungsfreiheit und Erkenntnismöglichkeit – sie bestimmt auch noch die schachthematische<br />

Modellierung von literarischen Subjekten in der skandinavischen Literatur des 20.<br />

Jahrhunderts und insbesondere bei der dänischen Autorin Solvej Balle, wobei es nicht mehr,<br />

wie noch bei Kierkegaard, um die Frage nach einer göttlichen, sondern vielmehr um die nach<br />

einer literarischen oder narrativen Transzendenz geht.<br />

Der Beitrag befasst sich mit der zweiten Erzählung aus Solvej Balles Erzählungsband Ifølge<br />

loven (1993, Nach dem Gesetz) und ihrem thematisch wie strukturell eingesetzten Schachmotiv.<br />

Im Text werden zwei verschiedene Weltbilder (aristotelisch vs. kopernikanisch) und<br />

Raumkonzepte (mittelalterlicher von Nachbarschaftsverhältnissen geprägter Raum vs. euklidisch<br />

und perspektivisch konstruierter Raum) gegeneinander ausgespielt. Über deren Verbindung<br />

mit den historisch verschiedenen Spielarten des Schach (Dynamisierung des Spiels<br />

durch die Umwandlung der ehemals kurzschrittigen Figuren zu langschrittigen) kann eine<br />

Überlagerung der unterschiedlichen Weltkonzepte aufgezeigt werden, die sowohl die Mängel<br />

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