November 2011 - Deutsch-Polnische Gesellschaft der BRD eV
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TOURISMUS BÜCHER<br />
Premiere im grenzüberschreitenden Bahnverkehr:<br />
Reisen ohne Lokwechsel<br />
Lokführer erlernen die polnische Sprache<br />
Von Ulrike Höck<br />
Europa rückt stetig näher zusammen,<br />
aber die Fahrt mit <strong>der</strong> Bahn zum Nachbarn<br />
Polen ist noch immer beschwerlich. Zeitraubende<br />
Lokwechsel, Unterbrechungen<br />
<strong>der</strong> Elektrifizierung o<strong>der</strong> eingleisige Bahnstrecken<br />
schmälern das Reisevergnügen.<br />
Umso erfreulicher ist, dass nun eine entscheidende<br />
Hürde genommen wurde: Die<br />
Bahntöchter DB Regio und Arriva Polen haben<br />
die Zulassung für die Triebwagen <strong>der</strong><br />
Baureihe VT646 für den Einsatz in ganz Polen<br />
und <strong>Deutsch</strong>land erhalten. Damit wird<br />
hier erstmals auch im Regionalverkehr <strong>der</strong><br />
grenzüberschreitende Schienenverkehr<br />
ohne Lokwechsel, <strong>der</strong> vor kurzem beim<br />
Warschau-Berlin-Express realisiert wurde,<br />
möglich.<br />
Erster Ausflug<br />
Am 26. August <strong>2011</strong> war es endlich soweit:<br />
DB-Regio Nordost und Arriva RP starteten<br />
den ersten Ausflug mit dem neuen<br />
Triebwagen ins Nachbarland Polen, begleitet<br />
von führenden Vertretern <strong>der</strong> Wojewodschaft<br />
Lubuskie, des Landes Brandenburg<br />
und <strong>der</strong> beiden DB-Konzerntöchter. Der<br />
Premierenzug nahm auch 90 Touristen aus<br />
Berlin mit auf die Reise ins nahegelegene<br />
polnische Międzyrzecz.<br />
Während die Touristen die Fahrt durch<br />
Brandenburg und die Wojewodschaft Lubuskie<br />
genossen, erläuterten Vertreter aus<br />
Polen und <strong>Deutsch</strong>land <strong>der</strong> mitreisenden<br />
Presse die Bedeutung <strong>der</strong> Neuerung. „Wir<br />
brauchen gute Verbindungen zwischen<br />
Brandenburg und Polen“ so <strong>der</strong> brandenburgische<br />
Verkehrsminister Jörg Vogelsänger.<br />
„Die Zulassung <strong>der</strong> Triebwagen<br />
für beide Län<strong>der</strong> ist ein wichtiger Schritt.“<br />
Der Zug verfügt nun über die <strong>Polnische</strong><br />
Zugsicherung SHP und die Sicherungseinrichtung<br />
Funkstopp, die Displays wurden<br />
angepasst und sind komplett zweisprachig<br />
gestaltet. Die technischen Voraussetzungen<br />
für den grenzüberschreitenden Verkehr<br />
sind nun erfüllt. Der früher notwendige<br />
Lokwechsel kann entfallen und die<br />
gewonnene Zeitersparnis macht Bahnfahren<br />
zwischen <strong>Deutsch</strong>land und Polen beson<strong>der</strong>s<br />
im Nahverkehr attraktiver.<br />
Der Bahnbevollmächtigte Dr. Joachim<br />
Trettin ist erfreut über den überwältigen<br />
Zuspruch <strong>der</strong> Ausflügler für diese erste angebotene<br />
Tagestour zum polnischen Nachbarn<br />
und sieht darin das Interesse an einer<br />
Verbesserung des grenzüberschreitenden<br />
Verkehrs bestätigt. Dies gilt auch für polnische<br />
Fahrgäste, für die Berlin und Umgebung<br />
attraktive Reiseziele darstellen, so<br />
<strong>der</strong> Marschall <strong>der</strong> Wojewodschaft Lubuskie<br />
Maciej Szykuła. Und „unsere polnischen<br />
Städte und Gemeinden freuen sich, wenn<br />
die Gäste aus Berlin künftig mit <strong>der</strong> Bahn<br />
anreisen können“<br />
Besuch in Gorzów<br />
Hiervon konnten sich auch die Berliner<br />
Ausflügler überzeugen. Eine Stadtvisite in<br />
Gorzów führte sie an die Westuferprome-<br />
nade <strong>der</strong> Warta, wo Bahnbögen ähnlich den<br />
Berliner S-Bahnbögen umgestaltet werden<br />
und Cafés zum Verweilen einladen. Neue<br />
Spielplätze und Wasserspiele begeistern<br />
die Kin<strong>der</strong>, Sonnenkollektoren zeugen von<br />
umweltfreundlicher Planung. Beim Besuch<br />
auf dem Marktplatz boten sich kurze Einblicke<br />
in die neuere Geschichte. Mit Bahn und<br />
Bus ging es weiter nach Międzyrzecz und<br />
zur Burg an <strong>der</strong> Obra. Gut gestärkt von traditioneller<br />
polnischer Küche, erkundeten<br />
die Reisenden die Burganlage. Sie wurden<br />
von Rittern in glänzen<strong>der</strong> Rüstung empfangen<br />
und durften sich im Bogenschießen<br />
üben o<strong>der</strong> im Folterkeller gruseln. Beim<br />
Museumsbesuch faszinierte beson<strong>der</strong>s<br />
die hervorragende Sammlung wertvoller<br />
Sargporträts, von denen einige zurzeit in<br />
<strong>der</strong> Ausstellung im Martin-Gropius-Bau zu<br />
sehen sind. Mit Renaissancemusik und<br />
Tanzdarbietungen des jungen preisgekrönten<br />
Ensembles „Antiquo More“ fand <strong>der</strong><br />
Besuch einen stimmungsvollen Ausklang.<br />
Sprachkurse gefragt<br />
Für die Zukunft sind weitere Touren geplant,<br />
jedoch wird gerade erst das Netz<br />
neu ausgeschrieben. DB-Regio dürfte gute<br />
Chancen mit <strong>der</strong> Baureihe VT646 bei <strong>der</strong><br />
Ausschreibung <strong>der</strong> Strecke für 2014 haben.<br />
In <strong>der</strong> Zwischenzeit werden in einem<br />
Schulungszentrum in Szczecin die Lokführer<br />
aus <strong>Deutsch</strong>land ausgebildet. Auch aus<br />
Sicherheitsgründen wird hier beson<strong>der</strong>er<br />
Der neue Triebwagenzug besucht erstmals einen polnischen Bahnhof. Foto: Höck<br />
Wert auf die polnischen Sprachkenntnisse<br />
gelegt. „Die Nachfrage übersteigt bei weitem<br />
die Zahl angebotener Ausbildungsplätze,<br />
wir sind selbst darüber erstaunt“ so ein<br />
Sprecher <strong>der</strong> Bahn. Für die Lokführer heißt<br />
es jetzt also: die Schulbank drücken, polnische<br />
Schienenverkehrsregeln lernen und<br />
Vokabeln pauken. <br />
Jan Karskis Bericht an die Welt<br />
Geschichte eines Staates<br />
im Untergrund<br />
Von Renate Weiß<br />
In diesem Jahr erschien in <strong>Deutsch</strong>land Jan Karskis „Mein Bericht an die Welt“. Als<br />
„Geschichte eines Staates im Untergrund“ war <strong>der</strong> Bericht in vierhun<strong>der</strong>tausend<br />
Exemplaren 1944 in USA herausgegeben, und war sofort vergriffen. Daraufhin erschien<br />
dieser Bericht in England, Schweden, Norwegen und Frankreich. 1999 wurde<br />
das Buch in Polen verlegt und nun eben bei uns.<br />
Was beeindruckt den Leser heute an<br />
diesem Bericht, da doch bereits viele Publikationen<br />
über die polnische Untergrundbewegung<br />
von 1939 bis 1945 erschienen<br />
sind? Das ist vor allem die Authentizität<br />
dieses Buches.<br />
Mich haben zwei Ereignisse beson<strong>der</strong>s<br />
beschäftigt. Die zweite Reise Karskis nach<br />
Frankreich bzw. nach London als Kurier <strong>der</strong><br />
Exilregierung. Er gelangte über viele Umwege<br />
und schwierige Fahrten mit dem Zug,<br />
zu Fuß, und per Schiff 1943 nach London.<br />
Er berichtete den Vertreten <strong>der</strong> polnischen<br />
Exilregierung und auch Vertretern <strong>der</strong> englichen<br />
Regierung über seine Erlebnisse und<br />
über die Situation in Warschau, Lublin und<br />
Krakau, über sein illegales Eintauchen in<br />
das Ghetto und das KZ Bełżec; über seine<br />
eigene Inhaftierung und die Folter (1940 ),<br />
sowie seine Befreiung aus dem Gestapogefängnis,<br />
dem Krankenlager. Die Rettungsaktion<br />
für Jan Karski erfolgte auf Anweisung<br />
von Józef Cyrankiewicz (Vorsitzen<strong>der</strong><br />
<strong>der</strong> Sozialdemokratischen Partei) unter<br />
Anleitung von Staszek Rosa (Stasnisław<br />
Rosieński, 1943 ermordet), den er aus Krakau<br />
kannte, aber nicht wusste, dass er zum<br />
Untergrund gehört. Eine ganze Gruppe von<br />
Kämpfern <strong>der</strong> PPS (Sozialdemokratische<br />
Partei Polens) war an dieser Befreiung beteiligt.<br />
Er charakterisiert Józef Cyrankiewicz<br />
(später Ministerpräsident in <strong>der</strong> Volksrepublik<br />
Polen) im Zusammenhang mit ihrer<br />
bei<strong>der</strong> Arbeit im Untergrund. „Während<br />
meines Aufenthalts in Krakau wohnte ich<br />
bei einem Mann namens Józef Cyna, mit<br />
dem ich schon vor dem Krieg befreundet<br />
war. Er war Anführer <strong>der</strong> Sozialistischen<br />
Partei und ein erstklassiger Journalist ... .<br />
Von den zahlreichen Vertretern <strong>der</strong> politischen<br />
Führung, denen ich begegnete, war<br />
er offenbar <strong>der</strong> Einzige, <strong>der</strong> erkannte, dass<br />
es ein fataler Fehler war, sich auf die Stärke<br />
Frankreichs zu verlassen.” Bereits hier erkannte<br />
Cyrankiewicz die eigennützige Rolle<br />
<strong>der</strong> Alliierten bei <strong>der</strong> Befreiung Polens vom<br />
Faschismus. Obwohl die polnischen Soldaten<br />
an fast allen Fronten kämpften und<br />
an <strong>der</strong> Befreiung Berlins teilnahmen, wurde<br />
Polen nicht zu den Verhandlungen zum<br />
Potsdamer Abkommen hinzugezogen.<br />
20 POLEN und wir 4/<strong>2011</strong> POLEN und wir 4/<strong>2011</strong> 21<br />
Analysen<br />
Karski schreibt nicht nur über Persönlichkeiten<br />
des Untergrunds, son<strong>der</strong>n analysiert<br />
auch gesellschaftliche Bewegungen.<br />
„Von den vier Bewegungen, die am tiefsten<br />
im polnischen Bewusstsein verankert<br />
waren, besaß die Sozialistische im Kampf<br />
um die Unabhängigkeit die wahrscheinlich<br />
stärkste und ungebrochene Tradition. Sie<br />
hatte großen Einfluss bei den polnischen<br />
Arbeitern erlangt, die Vorreiter im Kampf<br />
um die Unabhängigkeit gewesen waren.<br />
Aus ihren Reihen stammen die mutigsten,<br />
unerbittlichsten und aufopfeungsvollsten<br />
Kämpfer.“ Zusammenfassend betont er<br />
„Die Arbeiter spielten eine maßgebliche<br />
Rolle bei <strong>der</strong> Verteidigung Warschaus...“<br />
„Die Nationalbewegung hatte ebenfalls<br />
tiefe Wurzeln in <strong>der</strong> Bevölkerung. Die<br />
Grundidee ‚Alles für die Nation‘ war von<br />
enormer Bedeutung für den Kampf Polens<br />
um die Selbsterhaltung als Nation und um<br />
die zahllosen Tragödien und Nie<strong>der</strong>lagen zu<br />
überstehen. Diese politisch starke Partei<br />
hatte Zulauf aus allen Klassen und Schichten.“<br />
„Historisch gesehen war die Bauernpartei<br />
die jüngste <strong>der</strong> vier Organisationen.“<br />
„Die vierte Kraft , die christliche Arbeiterbewegung,<br />
ist infolge ihrer ideologischen<br />
Orientierung ähnlich demokratisch ausgerichtet“<br />
Er analysiert die parlamentarischen Verhältnisse<br />
im Vorkriegspolen, zeigt die<br />
Verän<strong>der</strong>ungen, die sich im Untergrund<br />
entwickelten und die Rolle <strong>der</strong> Parteien<br />
für eine demokratische Entwicklung. „Die<br />
politischen Parteien repräsentierten die<br />
überwiegende Mehrheit <strong>der</strong> polnischen Bevölkerung<br />
im Untergrundstaat“.<br />
Wer war Jan Karski?<br />
Es ist die Geschichte eines polnischen<br />
Patrioten. Er lebte mit seiner Familie in einer<br />
großen interkulturellen Stadt, in Łódź.<br />
Er stammt aus einer Familie <strong>der</strong> polnischen<br />
Mittelschicht, hatte selbst den Ehrgeiz in<br />
die Diplomatie einzusteigen, Kariere zu<br />
machen. Dieser Ehrgeiz bedeutete harte<br />
Arbeit. Der Krieg brachte ihn auf einen an<strong>der</strong>en<br />
Weg, <strong>der</strong> nicht nur diplomatisches<br />
Geschick, son<strong>der</strong>n Mut, analytische Fähigkeiten<br />
und eine bedingungslose Liebe zu<br />
seinem Land erfor<strong>der</strong>te.<br />
Er wurde Kurier <strong>der</strong> Untergrundregierung<br />
Polens, <strong>der</strong> nicht nur Informationen<br />
Jan Kozielewski wurde 1914 in Łodź geboren,<br />
1942 nahm er den Namen Karski an.<br />
Foto: Verlag Antje Kunstmann<br />
nach Frankreich bzw. England vom Untergrundkampf<br />
<strong>der</strong> Exilregierung übermittelte,<br />
son<strong>der</strong>n selbst zum großen Teil die Nachrichten<br />
von den verschiedenen Kämpfern,<br />
Organisationen und Strukturen des Untergrundstaates<br />
erarbeitete.<br />
Es wird in seinen Berichten die Vielfalt <strong>der</strong><br />
Untergrundbewegung deutlich. Er übermittelte<br />
nicht nur Instruktionen <strong>der</strong> Parteien,<br />
son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> jüdischen Vertreter die<br />
nicht zu den Parteien gehörten, aber als<br />
jüdische Min<strong>der</strong>heit in Polen, Vertreter im<br />
Nationalrat in London hatten.<br />
Bevor Karski in geheimer Mission 1943<br />
nach London abreiste, hatte er noch eine<br />
Aussprache mit den jüdischen Vertretern<br />
des Untergrunds. Die jüdische Bevölkerung<br />
stand vor ihrer völligen Ausrottung. Die bei-