November 2011 - Deutsch-Polnische Gesellschaft der BRD eV
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POLITIK POLITIK<br />
gangenheit auseinan<strong>der</strong>setzen und gerade<br />
deshalb immer die Linksdemokraten gewählt<br />
hatten, ist allmählich aufgebraucht.<br />
Ein kleines Indiz dafür mag am Wahlabend<br />
die Anwesenheit Jerzy Urbans bei <strong>der</strong> politischen<br />
Konkurrenz gewesen sein, denn<br />
<strong>der</strong> legendäre Zeitungsmacher machte Janusz<br />
Palikot seine Aufwartung. Zu Beginn<br />
<strong>der</strong> 1990er Jahre steckte er allen an<strong>der</strong>en<br />
noch mutig die Zunge von den Wahlpartys<br />
<strong>der</strong> SLD heraus.<br />
Palikot<br />
Palikot ist überhaupt die große Überraschung<br />
<strong>der</strong> Wahl. Noch zu Beginn des Sommers<br />
hätte kein Beobachter auch nur einen<br />
Blumentopf auf ihn gesetzt. Der einstige<br />
PO-Abgeordnete, <strong>der</strong> im Dezember 2010<br />
Partei und Sejm verließ, schien den politische<br />
Mund zu voll genommen zu haben.<br />
Doch bei den Wahlen ist es nur <strong>der</strong> von<br />
ihm angeführten Liste gelungen, <strong>der</strong> schier<br />
übermächtigen PO Stimmen abspenstig<br />
zu machen. 650.000 Wähler, die vor vier<br />
Jahren ihr Kreuz noch bei <strong>der</strong> siegreichen<br />
Tusk-Partei machten, gaben ihm und seinen<br />
Leuten die Stimme. Die halbe Miete<br />
des glänzenden Erfolgs.<br />
In ersten Stellungnahmen bezeichnet er<br />
die Partei als eine linksliberale Kraft, die<br />
für die Einhaltung <strong>der</strong> Verfassung insbeson<strong>der</strong>e<br />
im Verhältnis Staat-Kirche eintrete,<br />
die das öffentliche Leben insgesamt<br />
liberalisieren wolle. Seine Abgeordneten<br />
sind eine kunterbunt zusammengesetzte<br />
Truppe, <strong>der</strong>en auffallend gemeinsames<br />
Merkmals allerdings ist, dass, den Chef<br />
ausgeklammert, niemand parlamentarische<br />
Erfahrung besitzt.<br />
Verteidigung <strong>der</strong> Mehrheit<br />
Bleiben noch die alten und neuen Regierungskoalitionäre<br />
– die große PO und die<br />
kleinere Bauernpartei PSL. Das Hauptziel,<br />
die Verteidigung <strong>der</strong> Regierungsmehrheit,<br />
wurde erreicht. Zwar verlieren sie zusammengerechnet<br />
fünf Sitze, doch die Mehrheit<br />
gilt weiter als komfortabel. Und <strong>der</strong><br />
kleine Koalitionspartner ist für den großen<br />
auch strategisch von Bedeutung. Wer auf<br />
dem Lande PSL wählt, zeigt Kaczyńskis PiS<br />
– die dort viel stärker als die PO ist – eben<br />
die kalte Schulter.<br />
Und die PO hat dennoch verloren – an<br />
Stimmenzahl nämlich und über eine Million,<br />
davon deutlich mehr als die Hälfte an<br />
die Palikot-Liste. Doch sie verbleibt, was<br />
Stimmenanteil, Abstand zur Konkurrenz<br />
„Kommt mit uns, wir siegen“,warb PiS auf ihren Plakaten. Polens Kämpfer für konservative Werte,<br />
Jarosław Kaczyński, umwarb im Wahlkampf beson<strong>der</strong>s die Jugend. So traute er sich sogar in die Unterwelt<br />
<strong>der</strong> Warschauer Clubszene. Hier stellte er sich unter Disco-Scheinwerfern den Fragen junger<br />
Männer und Frauen. Im Club Hybrydy, so vermeldet die renommierte Wochenzeitung DIE ZEIT, „beginnt<br />
<strong>der</strong> 62-Jährige unvermittelt einen kurzen Flirt mit einer jungen Dame, die seine Tochter o<strong>der</strong> Enkeltochter<br />
sein könnte. Den Augenaufschlag <strong>der</strong> 23-jährigen Sylwia Ługowska beantwortet Kaczyński<br />
mit einem Handkuss und einem schelmischen Lächeln“. Ługowska und ihre Mitstreiterinnen stammen<br />
aus dem Nachwuchs <strong>der</strong> Kaczyński-Partei und wurden in den Medien schnell „Engel“ getauft. kfo<br />
und Anzahl <strong>der</strong> Sitze anbelangt, auf dem<br />
sehr hohen Niveau von 2007. Zwar konnten<br />
1997 die SLD und 2007 PiS als Regierungsparteien<br />
Stimmen dazu gewinnen und<br />
den Stimmenanteil erhöhen, doch wurden<br />
sie beide vom jeweiligen Wahlsieger überflügelt<br />
und mussten die Regierungsmacht<br />
abgeben. Tusk hat es geschafft, die nationalkonservative<br />
Konkurrenz im Schach zu<br />
halten, kann auch die zahlenmäßig herben<br />
Verluste an Palikot gut verschmerzen, da<br />
die an<strong>der</strong>en wegen <strong>der</strong> geringeren Wahlbeteiligung,<br />
heuer 48,9 Prozent gegenüber<br />
53,9 Prozent vor vier Jahren, viele Stimmen<br />
an das gewaltige Lager <strong>der</strong> Nichtwähler<br />
verloren. Für seine zweite Amtszeit kündigte<br />
er an, dass nun in Ruhe diejenigen<br />
Dinge, die durch seine Regierung erfolgreich<br />
angeschoben worden seien, zu Ende<br />
gebracht werden könnten. In seiner Kampagne<br />
war viel vom „Bauen“ zu hören. Jetzt<br />
verwies er darauf, nun ganze drei Jahre von<br />
weiteren Wahlschlachten mit Kaczyński<br />
verschont zu bleiben. Ein dezenter Hinweis<br />
darauf, wie schwer ihm <strong>der</strong> diesjährige<br />
Wahlkampf gefallen ist. Und er warnte vor<br />
übertriebenen Hoffnungen, denn das Land<br />
müsse vor allem sehen, wie es die Klippen<br />
<strong>der</strong> weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise<br />
neuerlich umschiffe. <br />
Der Zug <strong>der</strong> 1000 nach Birkenau<br />
Schon zweimal fanden von Belgien ausgehend erfolgreiche Internationale Jugendtreffen<br />
in KZ-Gedenkstätten statt. 1995 fuhren 1000 belgische Jugendliche in Zusammenarbeit<br />
<strong>der</strong> Stadt Namur und <strong>der</strong> Auschwitz-Stiftung nach Polen und 2008 kamen<br />
auf Einladung des Instituts des Vétérans und <strong>der</strong> FIR in <strong>der</strong> Gedenkstätte Buchenwald<br />
über 1000 europäische Jugendliche aus 22 Nationen zusammen.<br />
Nun planen die Auschwitz-Stiftung, die FIR (Internationale För<strong>der</strong>ation <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>standskämpfer)<br />
und das Institut des Vétérans für Mai 2012 einen gemeinsamen „Zug<br />
<strong>der</strong> 1000“ von Brüssel nach Auschwitz mit Zusteigemöglichkeit in an<strong>der</strong>en europäischen<br />
Län<strong>der</strong>n. In dem Zug werden auch Überlebende <strong>der</strong> Lager und an<strong>der</strong>e Veteranen<br />
des antifaschistischen Kampfes mitfahren, um im direkten Kontakt mit den<br />
Jugendlichen Auskunft geben zu können.<br />
Am Sonntag, den 5. Mai 2012 werden gut 700 belgische Jugendliche und knapp 200<br />
Jugendliche aus an<strong>der</strong>en europäischen Län<strong>der</strong>n von Brüssel mit dem Zug nach Polen<br />
starten. Zudem werden gut 100 Jugendliche erwartet, die aus an<strong>der</strong>en Regionen direkt<br />
nach Polen zu diesem Treffen anreisen. In Polen wird es ein intensives Programm<br />
mit Führungen durch die Gedenkstätte, Gespräche mit Zeitzeugen, Gedenkveranstaltungen,<br />
Begegnungen zwischen den Jugendlichen und Eindrücke vom heutigen Polen<br />
geben.<br />
Wäsche trocknen im Hinterhof. Aufgenommen in Darlewo an <strong>der</strong> Ostseeküste. Foto: CFalk/pixelio<br />
Polityka auf <strong>Deutsch</strong>:<br />
Prekarier aller Län<strong>der</strong> ...<br />
Von Wawrzyniec Smoczynski<br />
Serielle Praktikanten, Zeitarbeitnehmer, junge Arbeitslose. In Europa wächst<br />
eine neue soziale Klasse ohne Perspektiven auf Wohlstand und Aufstieg. Auch in<br />
Polen gibt es sie, und sie hat schon einen eigenen Namen: Prekariat.<br />
In Polen ist die erste satte Generation herangewachsen.<br />
Wie aus dem Regierungsbericht<br />
„Młodzi <strong>2011</strong>“ [Jugend <strong>2011</strong>] hervorgeht,<br />
werden die Polen zwischen dem<br />
15. und 34. Lebensjahr ihren Altersgenossen<br />
in Westeuropa immer ähnlicher: Sie<br />
sind offene Hedonisten und leidenschaftliche<br />
Konsumenten von Gütern, sie haben<br />
ein lockeres Verhältnis zur Institution<br />
<strong>der</strong> Ehe, leben ihren Individualismus aus,<br />
möchten aber auch nützlich für die Allgemeinheit<br />
sein. Beziehungen zu Menschen<br />
sind ihnen ebenso wichtig wie ein hoher<br />
Lebensstandard. Sie haben große Ambitionen:<br />
Sie möchten viel Geld, eine gute<br />
Ausbildung und ein hohes Sozialprestige<br />
haben, aber auch eine interessante Arbeit,<br />
wertvolle Freundschaften, ein buntes Leben<br />
und nach einiger Zeit auch eine wohlgeratene<br />
Familie. Schon jetzt schöpfen sie<br />
das Leben aus dem Vollen, erwarten von<br />
ihm aber noch erheblich mehr.<br />
Arbeit halten sie für einen Stützpfeiler des<br />
künftigen Wohlstands und Glücks, doch<br />
es fällt ihnen zunehmend schwer, eine<br />
Beschäftigung und finden und eine gute<br />
Stelle zu bekommen. Junge Polen zwischen<br />
dem 18. und 34. Lebensjahr stellen die<br />
Hälfte <strong>der</strong> registrierten Arbeitslosen, und<br />
die Jugendarbeitslosigkeit ist doppelt so<br />
hoch wie <strong>der</strong> Durchschnitt. Die Hälfte <strong>der</strong><br />
Beschäftigten unter ihnen arbeitet nicht im<br />
erlernten Beruf, und ein Hochschulstudium<br />
ist kein Garant mehr für eine gute soziale<br />
Stellung. 62 Prozent <strong>der</strong> Jugendlichen<br />
jobbt mit Zeitverträgen, Berufsanfänger<br />
steigen in den Arbeitsmarkt mit unbezahlten<br />
Praktika ein, die häufig Festanstellungen<br />
ähneln. Wie die Autorin des Berichts,<br />
Prof. Krystyna Szafraniec, schreibt, „sind<br />
die jungen Leute in <strong>der</strong> Falle temporärer<br />
Beschäftigungsformen gefangen“.<br />
Was dadurch droht, zeigt das Beispiel<br />
Westeuropas. Während junge Polen immer<br />
noch die Hoffnung auf Wohlstand und Aufstieg<br />
haben, geben ihre Altersgenossen in<br />
Frankreich, Spanien und Griechenland sie<br />
allmählich auf. Über den entwickelten Län-<br />
<strong>der</strong>n schwebt die Gefahr einer verlorenen<br />
Generation, <strong>der</strong> ersten seit dem Zweiten<br />
Weltkrieg, <strong>der</strong> er schlechter ergehen könnte<br />
als <strong>der</strong> vorangegangenen. Ein Vorbote<br />
<strong>der</strong> sozialen Krise sind die Unruhen mit<br />
Beteiligung von Jugendlichen, die seit einigen<br />
Jahren ausbrechen: brennende Pariser<br />
Vorstädte, Straßenschlachten im Zentrum<br />
von Athen, Massendemonstrationen in<br />
Madrid und jüngst die Ausschreitungen in<br />
London. Warschau drohen solche Szenen<br />
noch nicht, aber Polen biegt in dieselbe<br />
Sackgasse ein.<br />
Unsicher über die Zukunft<br />
Die Jungen sind die größten Opfer <strong>der</strong><br />
Wirtschaftskrise. Arbeitslos sind heute<br />
20,4 Prozent <strong>der</strong> Europäer zwischen 15 und<br />
24 Jahren, die gerne eine Anstellung finden<br />
möchten, ein Drittel mehr als 2008. Über<br />
fünf Millionen junge Leute finden gar nicht<br />
erst einen Einstieg in den Arbeitsmarkt,<br />
und die Arbeitslosigkeit in dieser Gruppe<br />
hält sich auf einem Rekordniveau, trotz <strong>der</strong><br />
schon zwei Jahre andauernden wirtschaftlichen<br />
Belebung. Der EU-Durchschnitt ist<br />
ohnehin zu optimistisch, verstellt er doch<br />
den Blick auf die extremen Indikatoren einzelner<br />
Län<strong>der</strong>: In Spanien sind 42 Prozent<br />
<strong>der</strong> Jugendlichen arbeitslos, in den baltischen<br />
Län<strong>der</strong>n, Griechenland und <strong>der</strong> Slowakei<br />
über 30 Prozent, in Polen, Ungarn,<br />
Italien und Schweden über 20.<br />
Wenn Jugendliche eine Arbeit finden, ist<br />
4 POLEN und wir 4/<strong>2011</strong> POLEN und wir 4/<strong>2011</strong> 5