Forum Deutsch - University of Alberta
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HERBST 2005 9 <strong>Forum</strong> <strong>Deutsch</strong><br />
Um zwei buchten, eine nach südwesten, die andere, mit dem<br />
hafen, nach nordost geöffnet, lagen um drei weisse holzkirchlein<br />
ein paar dutzend meist weisser häuser hingewürfelt auf dem<br />
grauen fels, mitten in der mittagssonne. Die anglikanische kirche<br />
hatte ein schwarzes dach und, wie mit einem breiten rotstift entworfen,<br />
rote kanten und fensterrahmen, die römisch-katholische<br />
grüne, sie hiess Our Lady Of The Snows. Die unitarische ganz in<br />
weiss. Der himmel war fast wolkenlos, nur ein hoher zirrostratus,<br />
hauchdünne schleier, die das blau aufhellten, das licht noch<br />
verstärkten. Das meer schien seltsam unbewegt, obwohl ein<br />
heftiger wind wehte. Die schindelhäuser waren weiss, das town<br />
<strong>of</strong>fice, die Scotiabank, der supermarkt weiss, die kleine reihe<br />
läden und das chinesische restaurant ums eck, ein paar andeutungen<br />
von zaun weiss gestrichen, ein paar alte grabsteine gleich<br />
neben der straße, die fischfabrik weiss, die kühl-lkws, die dort<br />
warteten, und sonderbare behältnisse, würfel von 2m kantenlänge,<br />
daneben und die boote im hafen: weiss. Weiss, weiss. Das<br />
weiss nahm überhand, übernahm jegliche gestalt, jede form, es<br />
glänzte, leuchtete, strahlte, blendete. Überblendete selbst das<br />
grau, das vielfarbige felsgrau, auf dem alles bestand, das asphaltgrau<br />
der hauptstraße, das silbrige holzgrau der anleger und der<br />
boote auf dem schiffsfriedh<strong>of</strong> neben der fischfabrik, von denen<br />
eins innen ganz gelb war. Ein weissrausch, eine überbelichtung,<br />
blendung, als ob sich die dinge in meinen augen auflösen wollten<br />
in licht. Als ob das sehen hier tabula rasa machen wollte, die<br />
bilder löschen, nocheinmal beginnen auf schlohweissem grund.<br />
Peg’s B&B, das einzige und „downtown“ plaziert, war ausgebucht<br />
wegen einer hochzeit im ort. Durch vermittlung der reizenden<br />
landlady (die übers wochenende, wie dann auch mein vermieter,<br />
zu einer hochzeit nach St John’s fuhr) fand ich quartier gleich<br />
hinter dem etwas abgelegenen friedh<strong>of</strong> von Our Lady Of The<br />
Snows, ein paar schritte vor Sargents Cove, beinahe mit<br />
meerblick. Im sichtfeld des straßenfensters befand sich immerhin<br />
Brimstone Head, die attraktion der gegend: „Famously known as<br />
one <strong>of</strong> the four corners <strong>of</strong> the earth“, preist ihn das örtliche faltblättchen<br />
mit handkolorierter schatzinsel-karte, „according to the<br />
Flat Earth Society“. Auf ihrer homepage spricht diese eigenartige<br />
gesellschaft zwar von 5 – unter umständen auch 6 – ecken und<br />
der anspruch Fogos erscheint nicht unumstritten, denn Grönland<br />
und Island werden ebenso als kanditaten für die entsprechende<br />
ecke benannt, wenn auch ohne nähere lokalisation – doch neben<br />
der Osterinsel und einem see in Sibirien, der weder im atlas noch<br />
im internet auffindbar ist, existieren ohnehin nur äusserst vage<br />
angaben für diese mysteriösen ecken und enden („…somewhere<br />
near the south <strong>of</strong> Tasmania or New Zealand…“); Brimstone Head<br />
ist mit abstand die präziseste und, wenn man davorsteht, auch<br />
völlig unzweifelhaft.<br />
Fogo Head, sozusagen der hausberg, eine eher sanfte erhebung<br />
im norden, war aus dem hinterzimmer zu sehen. In der senke<br />
zwischen den beiden bergen, die in Banks und in Sargents Cove<br />
auslief, zwischen denen ein kleinerer hügel klippen ins meer<br />
schob, hatte sich in dessen windschatten und in langer zeit soviel<br />
erde angesammelt, dass es tief genug war für gräber. Wie der rest<br />
Neufundlands besteht ja auch Fogo Island hauptsächlich aus<br />
blankem fels, der zwar zu teilen von einer üppigen schicht flachwüchsiger<br />
pflanzen bedeckt wird, einem würzigen teppich aus<br />
moosen, zwergkoniferen, kriechwacholder, blaubeeren, rentierflechte,<br />
rebhuhnbeeren, molte- und rauschbeeren, dazwischen<br />
graspolster; es gibt niedrige wäldchen und moore in flachen<br />
senken, aber keine tiefgründigen böden. Die häuser balancieren<br />
<strong>of</strong>t auf den unwahrscheinlichsten stelzkonstruktionen, liegen mit<br />
einer seite oder manchmal nur mit einer ecke dem fels auf, werden<br />
in der waage gehalten von untergeschobnen holzrollen und<br />
stämmchen, manchmal sieht man diese abenteuerlichen unterbauten<br />
<strong>of</strong>fen und glaubt nicht, dass sie auch nur einen sturm<br />
überstehen könnten, aber sie stehen ja, auf fels gegründet, seit<br />
jahrzehnten schon. Und manchmal wird ein haus verschoben,<br />
der kamin wird abgerissen und später, anderswo, wird ein neuer<br />
gemauert, und das ganze haus zieht um, wird davongerollt, mit<br />
allem drin und dran.<br />
Wichtig für den bestand der holzhäuser ist allerdings ein<br />
regelmäßiger neuanstrich. Ein paar jahre nicht gestrichene<br />
häuser ergrauen mit der zeit; später spalten sich die schindeln,<br />
die oberfläche wirkt lebendig, das haus struppig, gefiedert.<br />
Länger verlassene gebäude geraten dann allmählich aus dem lot,<br />
beginnen mehr und mehr auszusehen wie frühe kinderzeichnungen<br />
von behausungen, windschief, krumm und krakelig, aber<br />
halten sich erstaunlich lang noch und scheinbar allen gesetzen<br />
der statik zum trotz, bis sie endlich zusammensinken – doch<br />
selbst das tun sie nicht ohne eine gewisse grazie. Die farbe also<br />
ist das wichtigste und weiss ist die billigste. Noch billiger ist nur<br />
eine weisse plastik-verkleidung, die schalbretter bis in die<br />
maserung optisch perfekt imitiert und gar nicht gestrichen werden<br />
muss; der unterschied fällt praktisch bloß auf, wenn man versucht,<br />
aufs holz zu klopfen. Ein graziles altern ist damit vermutlich<br />
nicht mehr möglich. Fogo aber ist keine reiche gegend, die<br />
leute leben vom meer, von einem längst überfischten meer.<br />
Dieses meer gab es selbst auf dem friedh<strong>of</strong>, hinter dem ich<br />
wohnte; am tor begann eine kleine reihe von trittsteinen, quadratische<br />
betonplatten mit einer art vierpassmuster in der oberfläche,<br />
weissgestrichene votivtafeln, mit schwarzen buchstaben<br />
einer LOVING MEMORY bedeckt, nur namen, keine<br />
jahreszahlen, und kleinen zeichnungen. MY FOUR SISTERS:<br />
CATHERINE, STELLA, JOSEPHINE, YVONNE. THREE BROTH-<br />
ERS. DROWNED AT SEA. BELOVED. Diese andeutung eines<br />
weges endete in blau-weiss, mit himmel und meer und horizont<br />
als untergrund, von dem das blau schon ein bisschen blätterte,<br />
oder sollten das etwa wellenkämme und wolken sein, IN MEM-<br />
ORY OF MARTIN WALBOURNE, im grünen gras, in dem noch<br />
wilde blumen blühten. Weiter gab es, scheinbar regellos übers<br />
gelände verstreut, ganz wie auch die häuser im ort standen,<br />
schmale, weisse grabsteine, manche mit schwarz nachgemalter<br />
schrift, WE SHALL MEET AGAIN, manche mit weiss eingefasstem<br />
weissen kies davor; nur zwei schwarze stelen, mit weisser<br />
schrift allerdings, zwei der familie Pickett. Die namen auf den<br />
steinen waren die gleichen wie die der seitensträßchen und an