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Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung

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Bernt Schnettler <strong>und</strong> Frederik S. Pötzsch<br />

von Wissen durch visuelle Darstellungen zu verstärken, reichen historisch tatsächlich weit<br />

zurück. Sie beschränken sich keineswegs auf Illustrationen, wie etwa in den Armenbibeln seit<br />

dem 13. Jahrh<strong>und</strong>ert, sondern fanden ihren frühen Ausdruck in Gestalt von Schautafeln <strong>und</strong><br />

beweglichen Bildern bei Prozessionen <strong>und</strong> Straßenk<strong>und</strong>gebungen. Der theologischen Bilderlehre<br />

zufolge fördern Visualisierungen den Unterricht in Heilslehren <strong>und</strong> Heiligengeschichten <strong>und</strong><br />

deren Einprägsamkeit. Schon die mittelalterlichen Holzschnitte setzten zusätzlich zur verbalen<br />

Verkündigung heiliger Texte auf Visualisierungen zur Verbreitung des religiösen Heilswissens,<br />

die sich vor allem an den nichtliteraten Teil der Bevölkerung wandten. Ebenso rechneten die<br />

Erziehungsutopien der Frühaufklärer mit der Eindruckskraft von Bildern: In Campanellas<br />

(1968[1602]) utopischem Ideal des Sonnenstaates sollten Illustrationen, die auf den Innenseiten<br />

der Stadtmauern angebracht waren, eine Wissensvermittlung <strong>und</strong> -aneignung gleichsam ›im<br />

Vorbeigehen‹ erlauben. Dem Text beigefügte <strong>und</strong> visuell angereicherte Hilfsmittel der Wissensvermittlung<br />

wurden später von Comenius im ›Orbis Pictus‹ realisiert (vgl. dazu Eichinger 1993).<br />

Wissenssoziologisch ist es deshalb eine weitgehend offene Frage, ob <strong>und</strong> inwiefern sich Wissen<br />

gegenwärtig durch Visualisierung verändert. Bislang hatte sich die <strong>Wissensforschung</strong> nämlich<br />

vor allem auf die Analyse des Zusammenhangs von sprachlich vermittelter Kommunikation<br />

<strong>und</strong> sozialen Strukturen konzentriert. Diese logozentrische Verengung in der Analyse der Wissenskonstitution<br />

<strong>und</strong> -distribution wird jedoch in jüngerer Zeit zunehmend überw<strong>und</strong>en. Die<br />

Selbstbeschränkung der Sozialwissenschaften auf Sprache <strong>und</strong> Schrift bei gleichzeitiger Skepsis<br />

gegenüber der Ausdrucksform, Gestaltungskraft, Erzähl- <strong>und</strong> Wahrheitsfähigkeit von Bildern<br />

steht zweifellos in Zusammenhang mit der Rolle der Literalität in der modernen Gesellschaft<br />

(Goody 1981). Zwar wurden Bilder über Jahrh<strong>und</strong>erte hinweg auch dann als Garanten der Traditions-,<br />

Glaubens- <strong>und</strong> Wissensvermittlung angesehen, wenn ihnen kein Text beigefügt war<br />

(Gombrich 1984). Jedoch entsteht das Misstrauen gegenüber der angeblich unauflöslichen<br />

Mehrdeutigkeit der Bilder in einer Zeit, für die Texte zu Garanten der Intersubjektivität <strong>und</strong><br />

›Objektivität‹ wurden, weil mit der Fixierung auf die Textlektüre nicht nur allmählich die Fähigkeit<br />

der Bildentschlüsselung abhanden kommt, sondern weil man zunächst auch relativ blind ist<br />

gegenüber der Mehrdeutigkeit oder gar Ambivalenz von Texten (vgl. Raab 2006: 98).<br />

Jüngst wendet sich die Forschung nun allerdings verstärkt der zentralen Bedeutung visueller<br />

Ausdruckformen für die Wissenskonstitution <strong>und</strong> Wirklichkeitskonstruktion zu. Bilder werden<br />

als Thema der Sozialwissenschaften wiederentdeckt (Heßler 2005). Wissenssoziologisch lässt<br />

sich dabei an vorangehende Traditionen anknüpfen (vgl. Raab 2006: 47 f.): So hatte bereits<br />

Mannheim (1964) aus wissenssoziologischer Perspektive auf die Wesensverschiedenheit von Bild<br />

<strong>und</strong> Sprache hingewiesen. Sprachlich können nur Sachverhalte zum Ausdruck gebracht werden,<br />

die sich in eine besondere ›diskursive‹ Ordnung einfügen, das heißt lineare <strong>und</strong> sukzessive Aneinanderreihung<br />

sinnhafter Bedeutungseinheiten größerer Sinngebilde darstellen. Bilder zeichnen<br />

sich demgegenüber durch einen simultanen <strong>und</strong> integralen ›präsentativen Symbolismus‹ aus<br />

(Langer 1965). In der Totalität des Bildes sind alle den Sinn des Ganzen konstituierende symbolischen<br />

Elemente zugleich gegenwärtig. Daraus folgt zum einen, dass die spezifische Bedeutung<br />

der Einzelelemente nur durch die Bedeutung des Ganzen verständlich werden kann. Zum<br />

anderen können in Bildern durch die Ausklammerung der Restriktionen sprachspezifischer<br />

Linearität <strong>und</strong> Sukzessivität Ideen, Intentionen <strong>und</strong> Positionen vermittelt werden, die über das<br />

Symbolsystem der Sprache entweder gar nicht oder nicht mit jenem besonderen Sinnpotential<br />

kommunizierbar <strong>und</strong> damit intersubjektiv zugänglich wären (Imdahl 1980).<br />

Die wachsende Bildlichkeit führe zu einem tiefgreifenden Kulturwandel, der ebenso nachhaltige<br />

Veränderungen der Wissensaneignung <strong>und</strong> -verteilung nach sich ziehe, wie der Übergang<br />

von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit. Denn wie alle Wissensformen unterliegt auch die visu-<br />

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