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Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung

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Visuelles Wissen<br />

»Sonnengleichnis« (Platon 1997). Hier sei das tiefe Misstrauen verwurzelt, das unsere Kultur<br />

gegenüber dem Ikonischen hege. Die immer wieder erneuerte Dominanz des Wortes über das<br />

Bild manifestiert sich beispielsweise im Bilderstreit zwischen Ikonodulen <strong>und</strong> Ikonoklasten, dem<br />

Bildersturm der Reformation oder der Bilderfeindlichkeit der Aufklärung (Sachs-Hombach<br />

2002; Stafford 1998) <strong>und</strong> habe zur Folge, dass die visuellen gegenüber den sprachlichen Ausdruckformen<br />

zurückgesetzt worden seien <strong>und</strong> erstere in der westlichen Kultur lediglich eine dem<br />

Text unter- oder beigeordnete Bedeutung des Mimetischen oder Illustrativen (Bredekamp u. a.<br />

2003: 18 ff.) zugestanden werde. Die okzidentale Kultur habe dem imago stets einen sek<strong>und</strong>ären,<br />

untergeordneten Rang zugewiesen, während Autoritativität <strong>und</strong> Wahrheitsfähigkeit allein dem<br />

scriptorum, der Schrift beigemessen worden sei.<br />

Demgegenüber geht jedoch der Okularzentrismus (Knoblauch 2005: 331) davon aus, dass es<br />

in der westlichen Kultur schon immer eine Hegemonie des Auges gegeben habe. Während noch<br />

vor der Frühneuzeit eine gewisse Dominanz von Hören <strong>und</strong> Fühlen überwog, so gewinne seit<br />

der Renaissance <strong>und</strong> verstärkt seit der bürgerlichen Gesellschaft das Sehen immer mehr an<br />

Bedeutung. Diese Entwicklung werde befördert durch die Erfindung von Fotographie <strong>und</strong> Film<br />

<strong>und</strong> führe zwischen 1905 <strong>und</strong> 1910 in einem qualitativen Sprung zu einer »Wahrnehmungsrevolution«,<br />

in der die Visualität die Oberhand übernommen habe (Lowe 1982). Eine Verwandtschaft<br />

von Seh- <strong>und</strong> Erkenntnisakt legt auch die Sprachgeschichte nahe. Etymologisch weisen<br />

›Visuelles‹ <strong>und</strong> ›Wissen‹ eine gemeinsame Herkunft auf: beide leiten sich vom lateinischen vidére<br />

ab <strong>und</strong> werden über das mittelhochdeutsche wizzen <strong>und</strong> das althochdeutsche wizzan (für ›sehen‹<br />

aber auch für ›erkennen‹) in unsere Sprache übernommen.<br />

Und zweifelsohne stellt Bildlichkeit eine Konstante menschlicher Kulturen dar. Allerdings<br />

sind ihre Formen <strong>und</strong> Funktionen von Kultur zu Kultur, Epoche <strong>und</strong> Milieu höchst variabel<br />

<strong>und</strong> durch äußere soziokulturelle Faktoren mitgeformt (Schulz 2005: 13 f.). Zu allen Zeiten<br />

haben Menschen auch auf visuellem Wege miteinander kommuniziert <strong>und</strong> bildliche Ausdruckformen<br />

stellen als Kulturträger immer eine Quelle für die soziokulturellen Kontexte dar, in<br />

denen sie entstanden sind (Panofsky 1994[1932]).<br />

Umstritten ist außerdem, inwiefern Visualität kulturellen Sehkonventionen folgt oder ein<br />

spezifisches universales Vermögen darstellt. Dies ergibt sich unmittelbar aus dem Umstand, dass<br />

Visualisierungen nicht in einem schlichten Abbildungsverhältnis zur Wirklichkeit stehen. Vielmehr<br />

sind sie das Ergebnis kulturell geprägter Darstellungs- <strong>und</strong> Rezeptionsweisen, die Sehen als<br />

ein nicht rein natürliches, sondern ein soziokulturell bedingtes Vermögen ansetzen. Visuelle<br />

Wahrnehmung ist nicht ein lediglich den Gesetzen der Optik folgender, mittels Sinnesphysiologie<br />

<strong>und</strong> Wahrnehmungspsychologie erklärbarer Vorgang. Im Gegenteil ist das »Auge ein sozial<br />

<strong>und</strong> kulturell, vor allem aber auch medial eingestelltes <strong>und</strong> stimuliertes Organ der Wahrnehmung«<br />

(Soeffner/Raab 2004: 254). Das als natürlich erscheinende Sehen unterliegt ganz offenbar<br />

soziokulturellen Praktiken, die ›entscheiden‹ was überhaupt gesehen werden kann (Crary<br />

1996), <strong>und</strong> vor allem: was das, was gesehen wird, bedeutet. Die Moderne sei nicht vornehmlich<br />

durch die Fülle visueller Reize geprägt. Vielmehr zeichne sie sich aus durch eine der Rationalisierung<br />

der modernen Gesellschaft analoge Disziplinierung des Sehens, die eine Aufmerksamkeitssteuerung<br />

produziere, welche uns Dinge nach strikten Ordnungsmustern wahrnehmen lasse<br />

(Crary 2002). Fotographie, Film <strong>und</strong> die neuen visuellen Kommunikationsform seien nicht<br />

Ursache für eine veränderte Wahrnehmung, sondern Folge dieser, da sie ein fokussiertes, geordnetes<br />

Sehen erlauben, als etwa die ›altmeisterliche‹ Malerei (Crary 1990:14 f.). Deshalb ist es für<br />

die <strong>Wissensforschung</strong> von besonderer Bedeutung, die kulturspezifischen Varianten, Adaptionen<br />

<strong>und</strong> Anpassungen visueller Kommunikationsformen sowie visueller ›Rhetoriken‹ <strong>und</strong> ›Semantiken‹<br />

sowie die durch neue Bildmedien veränderte Blickkultur (Regener 2006a) zu erforschen.<br />

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