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Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung

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Bernt Schnettler <strong>und</strong> Frederik S. Pötzsch<br />

3. Iconic Turn: Einen exklusiveren Bildbegriff vertritt der von dem deutschen Kunsthistoriker<br />

Gottfried Boehm proklamierte ›iconic turn‹ (1994b: 13). Der iconic turn fokussiert primär auf<br />

eine allgemeine, phänomenologisch-anthropologische Bestimmung des Bilds jenseits sozialer<br />

<strong>und</strong> kultureller Strukturen <strong>und</strong> adressiert damit in erster Linie erkenntnistheoretische <strong>und</strong> bildphilosophische<br />

Fragen. Er stellt einen Gegenentwurf zur Hegemonie der Sprache in der<br />

Erkenntnisproduktion dar. Jenseits der Spezialprobleme kunstwissenschaftlicher Bildanalysen<br />

geht es darum, Essenzialien einer ›Bild-Philosophie‹ zu klären. Der Ansatz teilt die Diagnose des<br />

pictorial turn einer wachsenden Bedeutung visueller Formen für die Gegenwartskultur <strong>und</strong><br />

expandierender Bildwelten. Allerdings richtet sich sein vornehmliches Interesse nicht auf historische<br />

Zusammenhänge, sondern auf f<strong>und</strong>amentale Fragen wie der, was ein Bild ist (Boehm<br />

2006), wie die bildliche Wirkungsweise bestimmt werden kann <strong>und</strong> was diese von anderen Formen<br />

menschlichen Ausdrucks unterscheidet.<br />

Der Ansatz zielt unmittelbar auf die epistemologische Frage danach, was die Erkenntnisfähigkeit<br />

des Menschen ausmacht: Scriptorum <strong>und</strong> imago werden dabei als voneinander unabhängige<br />

<strong>und</strong> unüberbrückbare Erkenntnis- <strong>und</strong> Ausdrucksmöglichkeiten angesehen (Boehm 1994b.<br />

11 f., 14 ff.), wobei im Anschluss an Wittgensteins These einer Vorgängigkeit der bildlichen vor<br />

der sprachlichen Wahrnehmung an die Leibphänomenologie Merleau-Pontys der bildliche als<br />

eigentlicher Modus der menschlichen Erkenntnis angesetzt wird. Daraus wird die emphatische<br />

Forderung abgeleitet, ›zu den Bildern selbst!‹ zurückzukehren (vgl. Schulz 2005: 64). Bilder seien<br />

Ausdruck ganz eigener Qualität <strong>und</strong> Evidenz, die nicht auf sprachlicher Erkenntnis oder theoretischen<br />

Konstruktionen beruhen, sondern im Sinne einer ›ikonischen Differenz‹ (Boehm<br />

1994b: 29–36, 2004: 30 f.) aus sich heraus wirksam seien. Verb<strong>und</strong>en wird dies mit der Folgerung,<br />

Bilder stünden jenseits der Sprache <strong>und</strong> seien – quasi ahistorisch – in der Lage, Wissen zu<br />

vermitteln.<br />

Dieser Ansatz ist verschiedentlich als Fortschreibung der Auratisierungsidee des Kunstwerks<br />

kritisiert worden (Sauerländer 2004: 408). Wissenssoziologisch problematischer ist allerdings<br />

die Dekontextualisierung visueller Ausdrucksformen sowie die Ausgrenzung ›schwacher‹<br />

Bilder – etwa ›Gebrauchsbilder‹ in Werbung, Medien oder Wissenschaft – von ›starken Bildern‹<br />

(Boehm 1994: 35 ff.). Fraglich ist diese Differenzierung vor allem, weil gerade das Gros gegenwärtiger<br />

Visualisierungen, die für die Wissenskonstitution <strong>und</strong> -verbreitung zentral sind, aus solchen<br />

Gebrauchsbilder bestehen.<br />

Ausgehend von diesen Thesen formieren sich in den Geisteswissenschaften Ansätze zu einer<br />

eigenständigen Bildwissenschaft, welche die strukturierende Wirkung von Bildern zum Hauptgegenstand<br />

erheben <strong>und</strong> damit auf die Entwicklung einer der allgemeinen Sprachwissenschaft<br />

analogen ›Wissenschaft vom Bild‹ zielen, deren Etablierung aber noch nicht abgeschlossen ist.<br />

Während etwa Beltings Bild-Anthropologie (Belting 2001) für einen interdisziplinären Ansatz<br />

plädiert, ist die reklamierte Vorrangstellung der Kunstgeschichte als paradigmatischer Leitdisziplin<br />

für die Bildwissenschaft (Bredekamp u. a. 2003) heftig umstritten.<br />

4. Kultur, Visualität <strong>und</strong> Erkenntnis: Nicht allein ein nachhaltiger Kulturwandel werde durch<br />

die expandierenden Bilderwelten ausgelöst. Vielfach wird die weitergehende Auffassung vertreten,<br />

Visualisierungen hätten einen tiefgreifenden Wandel in der Form der Erkenntnisproduktion<br />

zur Folge, in dessen Zuge der Logozentrismus der okzidentalen Schriftkulturen längst von einer<br />

Bildkultur flankiert, wenn nicht sogar überholt worden sei. Dieser Logozentrismus der okzidentalen<br />

Kultur entspringe aus antikem Erbe. Angeführt werden das religiöse Bilderverbot der<br />

judeo-christlich Tradition (wie es etwa in der Parabel vom Tanz um das Goldene Kalb ausgedrückt<br />

wird, Ex 32,1–35) <strong>und</strong> die platonischen Kritik an den sinnestäuschenden Bildern im<br />

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