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Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung

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Bernt Schnettler <strong>und</strong> Frederik S. Pötzsch<br />

strukturen gr<strong>und</strong>legend verändere (Oestermeier/Hesse 2000), die mitunter eine eigene ›Bildsprache‹<br />

ausbildet (wie sie etwa auf sprachlich-bildlichen ›Homepages‹ auftritt (Fackler 2001)).<br />

Visualisierungen haben in der Wissenskommunikation zweifellos nicht nur in der Wissenschaft,<br />

sondern in zahlreichen gesellschaftlichen Feldern eine wachsende Bedeutung. Allerdings<br />

ist bislang zu wenig empirisch untersucht, in welcher Form visuelle Kommunikation Wissen herstellt,<br />

verbreitet <strong>und</strong> verändert. Bevor Schlüsse über die Veränderung der Denkformen, des<br />

Ersatzes von Argumentation durch Persuasion oder seriöser Wissensvermittlung durch Edutainment<br />

gezogen werden können, ist es sicherlich erforderlich, die weitere Entfaltung eines dezidiert<br />

wissenssoziologischen Ansatz zur Erforschung visuellen Wissens voranzutreiben.<br />

6. Desiderata einer Soziologie visuellen Wissens: Eine wissenssoziologische Erforschung des<br />

Visuellen muss die Formen <strong>und</strong> Funktionen von visuellen Ausdrucks- <strong>und</strong> Kommunikationsformen<br />

bestimmen. Über die Entwicklung entsprechender Verfahren der Analyse, Interpretation<br />

<strong>und</strong> Deutung von bildlichen Ausdruckformen hinaus, die sich nur bedingt auf den etablierten<br />

Verfahren sozialwissenschaftlicher Textanalysen stützen können, ist dabei zu beachten, dass<br />

Visualisierungen (a) synästhetische Aspekte beinhalten, welche ihr Ausdeutungspotential gegenüber<br />

Schriftzeichen vervielfachen, (b) nicht alle Visualisierungen Zeichencharakter haben <strong>und</strong><br />

deshalb (c) Visualisierungen nur in Verbindung mit dem Kontext, in dem sie stehen, interpretierbar<br />

sind. Anders ausgedrückt: Bilder müssen dort analysiert werden, wo an <strong>und</strong> mit ihnen<br />

gehandelt wird <strong>und</strong> wo sie über Fragen der reinen Ästhetik hinaus mit Sinn <strong>und</strong> Bedeutung<br />

bedacht werden. In ihrer Wirkung ist in Rechnung zu stellen, dass sich ästhetische mit funktionalen,<br />

pragmatischen, ›syntaktischen‹, ›rhetorischen‹ <strong>und</strong> wahrnehmungspsychologischen<br />

Aspekten verbinden.<br />

Das erfordert eine Soziologie visuellen Wissens. Wissen stellt nicht eine material fassbare<br />

Größe dar, sondern beruht auf der Sedimentierung von Erfahrung <strong>und</strong> ist damit prinzipiell an<br />

das Subjekt rückgeb<strong>und</strong>en. Die Konstitution des subjektiven Wissensvorrates vollzieht sich vor<br />

dem Hintergr<strong>und</strong> einer immer schon bestehenden soziokulturellen Ordnung, so dass »der subjektive<br />

Wissensvorrat nur zum Teil aus ›eigenständigen‹ Erfahrungs- <strong>und</strong> Auslegungsresultaten<br />

besteht, während er zum bedeutenderen Teil aus Elementen des gesellschaftlichen Wissensvorrats<br />

abgeleitet ist« (Schütz/Luckmann 1979: 314). Es muss dementsprechend von einem komplexen<br />

Wechselspiel zwischen subjektiver Erfahrungskonstitution <strong>und</strong> gesellschaftlicher Wirklichkeitskonstruktion<br />

(Berger/Luckmann 1969) ausgegangen werden. Betrachtet man »Wissen« also unter<br />

der Perspektive dessen, »was in einer Gesellschaft als ›Wissen‹ gilt« (Berger/Luckmann 1969: 16),<br />

so rücken insbesondere die Prozesse der Objektivierung subjektiver Sinnentäußerungen <strong>und</strong> der<br />

Legitimierung ihrer Deutungen in den Mittelpunkt. Ersteres muss notwendigerweise durch<br />

detaillierte Analysen kommunikativer Prozesse <strong>und</strong> Symbolisierungen erfolgen, letzteres erfordert<br />

eine genaue Rekonstruktion der institutionellen Verfestigungen <strong>und</strong> der sozialen Strukturen, die<br />

für die Festschreibung von etwas als »Wissen« verantwortlich sind. Neben einer genauen Untersuchung<br />

der Felder visueller Wissensproduktion <strong>und</strong> -verteilung ist deshalb die exakte Beschreibung<br />

<strong>und</strong> Analyse von Visualisierungen als kommunikativen Formen notwendig.<br />

Der Begriff ›visuelles Wissen‹ ist allerdings noch unzureichend bestimmt. Das Hauptproblem<br />

besteht in seiner Mehrdeutigkeit. Er konf<strong>und</strong>iert verschiedene Phänomene miteinander. Als visuelles<br />

Wissen wäre etwa das (a) spezialisierte Sonderwissen über Visuelles (z. B. Ästhetik oder Ikonik)<br />

zu bezeichnen, das auf die Vertreter bestimmter Sonderwissenswissensbestände beschränkt<br />

bleibt <strong>und</strong> dem Alltag weitgehend entzogen ist. In einem sehr viel breiteren Sinne ist der Ausdruck<br />

auch bezogen auf (b) diejenige allgemeine Form von Wissen, welche die nichtsprachlichen, körperhaften<br />

Ausdrucksformen umfasst <strong>und</strong> als ausschließlich visuell vermitteltes Wissen auftritt (wie<br />

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