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Berlin Mitte 4. Tag - Institut für Raumgestaltung

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Der extremen Ideologisierung entgegengesetzt ist der radikale Pragmatismus. Aufgrund fehlender kultureller Kontinuität<br />

hat die Stadt gerade bei den abrupten Wachstumsschüben des 19. und 20. Jahrhunderts nur geringe Gestaltungskraft<br />

und formenden Widerstand aufgebracht. Diese Haltung erwies sich als Schwäche und Stärke; als<br />

Schwäche, weil das neu Entstehende nicht in einem Kontext eingebunden wurde; als Stärke, weil die Stadt eine<br />

enorme Vitalität und Offenheit <strong>für</strong> das Kommende entfaltete.<br />

Nach 1900 sah man <strong>Berlin</strong> als ein ‚Amerika im Kleinformat‘, als ein ‚Chicago an der Spree‘. ‚<strong>Berlin</strong> konnte und<br />

musste sich amerikanisieren, weil es an der Entfaltung des wirtschaftlichen Materialismus durch tief wurzelnde Traditionen<br />

nicht verhindert wurde, weil es auf dem östlichen Boden seit Jahrhunderten eine Pionierstadt war, ähnlich<br />

den Städten der neuen Welt‘ schrieb Karl Scheffler 1910 in seinem großen Essay ‚<strong>Berlin</strong> – ein Stadtschicksal‘.<br />

Mit der Rede von der Pionierstadt spricht Scheffler die periphere Lage <strong>Berlin</strong>s an. Es lag über Jahrhunderte am<br />

Rande der deutschen Kulturzone, in einer unwirtlichen, dünn besiedelten Landschaft an der Grenze zum erst spät<br />

kolonisierten Osten. Noch heute ist die Stadt eine inselhafte Agglomeration in der kaum bevölkerten Mark<br />

Brandenburg. Sie ähnelt damit eher einer Stadt in der Prärie oder Wüste wie Calgary oder Las Vegas, als einem Knoten<br />

in einer urbanisierten Stadtregion, wie Paris, London oder Frankfurt am Main. <strong>Berlin</strong> liegt abseits des europäischen<br />

Wirtschaftskorridors, der sich zwischen London und Mailand erstreckt, am Rande zu <strong>Mitte</strong>l- und Osteuropa.<br />

<strong>Berlin</strong> ist eine Einwandererstadt, die nicht aus sich selbst heraus gewachsen ist, sondern durch den Zustrom<br />

von Menschen aus entfernten Gegenden. Am Ende des 17. Jhdts. erstarkte es aufgrund der aktiven Anwerbungspolitik<br />

Friedrich Wilhelm I., der die Hugenotten aus Frankreich aber auch Dänen, Holländer, Schotten, Böhmen<br />

und Juden willkommen hieß. Im 19. Jhdt. war es vor allem der Zuzug Schlesier, Polen und Russen, darunter viele<br />

Juden, die <strong>Berlin</strong> zu einer Milionenstadt werden ließen. Der englische Schriftsteller Stephen Spender nannte <strong>Berlin</strong><br />

‚eine Stadt, in der Tradition ein Witz war‘. Und in Bezug auf die 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts schrieb<br />

der Essayist: ‘In dieser Stadt ohne allen Stil und Tradition war man sich klar darüber, dass jeder von einem <strong>Tag</strong> auf<br />

den anderen wieder beim Punkt Null anfängt. Die Stärke der <strong>Berlin</strong>er bestand darin, dass sie ein vollkommen neues<br />

Leben anfangen konnten – denn es konnte sowieso niemand groß auf etwas davor zurückgreifen.‘<br />

|...| Dank seiner exzentrischen Lage ist es bereit <strong>für</strong> das Exzentrische. Sie städtische Formlosigkeit birgt<br />

‚Spielraum <strong>für</strong> unbegrenzte Möglichkeiten. <strong>Berlin</strong> ist ein Experiment ohne Hypothese. Multiple Identitäten ermöglichen<br />

es, das ‚Andere‘ zu absorbieren. Diese Offenheit geht allerdings mit Hässlichkeit einher.‘

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