Psychologie und Sprache - aware – Magazin für Psychologie
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24 <strong>aware</strong> HS12 PSYCHOLOGIE & GESELLSCHAFT<br />
Das rückläufige Labyrinth<br />
Die überbordende Mannigfaltigkeit der<br />
Welt zerfällt in Zeichen; diese Zeichen lesen<br />
wir symbolisch, nicht nur logisch oder<br />
mathematisch, so wie wir ein unangebrachtes<br />
Lächeln als ein Symbol der Heuchelei<br />
deuten. Worauf beruht denn die Symbolkraft<br />
der <strong>Sprache</strong>? Wie entstehen überhaupt<br />
Sinn <strong>und</strong> Bedeutung? Diese Fragen<br />
weisen auf eine Kernfrage hin: Wo ist der<br />
Ursprung der <strong>Sprache</strong>?<br />
Von Fernando Noriega<br />
Gib mir einen Standpunkt <strong>–</strong> sagte Archimedes<br />
einst, vielleicht mit glücklicherem Ausdruck <strong>–</strong> <strong>und</strong><br />
ich bewege die Erde. Gib mir nur das erste Wort<br />
<strong>–</strong> könnte man auch sagen <strong>–</strong>, <strong>und</strong> ich entfalte alle<br />
<strong>Sprache</strong>n. Wie alle wissenschaftlichen Gefüge,<br />
verfügen die Sprachwissenschaft <strong>und</strong> die <strong>Psychologie</strong><br />
nur über einen hypothetischen Gr<strong>und</strong>stein,<br />
auf den sie sich zur Ableitung ihrer zu erklärenden<br />
Phänomene beziehen können; die Frage nach dem<br />
Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Ursprung des jeweils betrachteten<br />
Weltbereiches hat immer einen blinden Punkt,<br />
nach dem man keine weitere Frage aufs Spiel setzen<br />
kann <strong>–</strong> ebenso wie das Auge, welches gerade<br />
dort nicht sieht, wo es das Gesehene übermittelt.<br />
Jedoch unternehmen wir die Reise in den wankelmütigen<br />
See des Unbekannten, des wechselhaften<br />
Ungewussten, <strong>und</strong> zwar mit vollem Eifer oder sogar<br />
an das Bestmögliche glaubend. Wir wagen es,<br />
immerhin zu sprechen, ohne genau zu wissen, wie<br />
wir genau dadurch etwas bewirken oder woher<br />
gr<strong>und</strong>sätzlich das Gesagte kommt <strong>–</strong> oder getraut<br />
sich der skeptische Leser, die absolute Freiheit des<br />
Fühlens, des Sagens <strong>und</strong> des Denkens zu beteuern?<br />
Nun lautet das Rätsel folgendermassen: Wie<br />
entsteht die <strong>Sprache</strong> überhaupt? Wie ist sie überhaupt<br />
möglich? Wie kommt es dazu, dass die von<br />
einem brabbelnden Fleischsack emittierten Geräusche<br />
auf Gegenstände <strong>und</strong> Verhältnisse in der<br />
Welt hindeuten, <strong>und</strong> sogar Schönheit ausdrücken<br />
können?<br />
Das Thema hat schon den altertümlichen Menschen<br />
zur Grübelei hingeführt. Mag ich hier kurz<br />
Folgendes gemahnen: Gemäss dem ägyptischen<br />
Glauben, entstanden alle Wesen erst nachdem sich<br />
alles vom ungeschaffenen Ozean (Nun), dank des<br />
Hauches der lebenseinflössenden Wörter der Götter,<br />
differenzierte. Bei den Babyloniern musste<br />
der Name des Menschen fixiert werden, damit die<br />
Geschichte überhaupt anfangen konnte. Dem<br />
Buch Genesis nach war es der Ruf der göttlichen<br />
Stimme, der alle Geschöpfe mit einem raschen<br />
Blitz zum Licht des Daseins aufmunterte. Im<br />
Glaubenssystem der Muslimen ist der Koran, die<br />
wörtliche Offenbarung Gottes, dem Weltall<br />
gleichaltrig <strong>und</strong> wird als Attribut, nicht als blosses<br />
Handwerk Allahs gefasst (Eliade, 2002).<br />
Eine solche Liste liesse sich ewig weiterführen.<br />
Die unerschöpfliche Tiefe dieser Gewässer lässt<br />
sich nicht einfach durchschwimmen. Galileo Galilei,<br />
dessen Bewegungslehre sich im Begriff der<br />
«Vacuumlichtgeschwindigkeit» niederschlägt, behauptete,<br />
die Natur sei ein mit mathematischen<br />
Zeichen geschriebenes Buch. Die ganze Gestalt<br />
der Welt sei zunächst die systematische Anhäufung<br />
unterschiedlicher Bedeutungseinheiten, ohne<br />
deren Kenntnis das Leben zu einem verworrenen<br />
Labyrinth unendlichen Umherstreifens würde.<br />
Nur indem man die <strong>Sprache</strong> der Welt von ihrer<br />
Bildquelle: Fernando Noriega