07.01.2013 Aufrufe

Vom Führerheer zur Wehrmacht Hitler-Stalin-Pakt ... - MGFA

Vom Führerheer zur Wehrmacht Hitler-Stalin-Pakt ... - MGFA

Vom Führerheer zur Wehrmacht Hitler-Stalin-Pakt ... - MGFA

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Heft 2/2009<br />

C 21234 ISSN 0940 - 4163<br />

�� ��<br />

�����������������<br />

����������� ��� ����������� �������<br />

Militärgeschichte im Bild: Soldaten der 1. Gebirgsdivision überschreiten am 5. September 1939 die slowakisch-polnische Grenze.<br />

<strong>Vom</strong> <strong>Führerheer</strong> <strong>zur</strong> <strong>Wehrmacht</strong><br />

<strong>Hitler</strong>-<strong>Stalin</strong>-<strong>Pakt</strong><br />

Erinnerungskultur in Polen<br />

Seekrieg im Südatlantik<br />

������������������������������������<br />

����


Impressum<br />

Militärgeschichte<br />

Zeitschrift für historische Bildung<br />

Herausgegeben<br />

vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt<br />

durch Oberst Dr. Hans Ehlert und<br />

Oberst i.G. Dr. Hans-Hubertus Mack (V.i.S.d.P.)<br />

Produktionsredakteur<br />

der aktuellen Ausgabe:<br />

Hauptmann Klaus Storkmann M.A.<br />

Redaktion:<br />

Hauptmann Matthias Nicklaus M.A. (mn)<br />

Hauptmann Magnus Pahl M.A. (mp)<br />

Oberstleutnant Dr. Harald Potempa (hp)<br />

Hauptmann Klaus Storkmann M.A. (ks)<br />

Mag. phil. Michael Thomae (mt)<br />

Bildredaktion:<br />

Dipl.-Phil. Marina Sandig<br />

Lektorat:<br />

Dr. Aleksandar-S. Vuletić<br />

Layout/Grafik:<br />

Maurice Woynoski / Medienwerkstatt D. Lang<br />

Karten:<br />

Dipl.-Ing. Bernd Nogli<br />

Anschrift der Redaktion:<br />

Redaktion »Militärgeschichte«<br />

Militärgeschichtliches Forschungsamt<br />

Postfach 60 11 22, 14411 Potsdam<br />

E-Mail: <strong>MGFA</strong>RedaktionMilGeschichte@<br />

bundeswehr.org<br />

Telefax: 03 31 / 9 71 45 07<br />

Homepage: www.mgfa.de<br />

Manuskripte für die Militärgeschichte werden<br />

an diese Anschrift erbeten. Für unverlangt eingesandte<br />

Manuskripte wird nicht gehaftet.<br />

Durch Annahme eines Manuskriptes erwirkt<br />

der Herausgeber auch das Recht <strong>zur</strong> Veröffentlichung,<br />

Übersetzung usw. Honorarabrechnung<br />

erfolgt jeweils nach Veröffentlichung. Die Redaktion<br />

behält sich Kürzungen eingereichter<br />

Beiträge vor. Nachdrucke, auch auszugsweise,<br />

fotomechanische Wiedergabe und Übersetzung<br />

sind nur nach vorheriger schriftlicher Zustimmung<br />

durch die Redaktion und mit Quellenangaben<br />

erlaubt. Dies gilt auch für die Aufnahme in<br />

elektronische Datenbanken und Vervielfältigungen<br />

auf CD-ROM. Die Redaktion hat keinerlei<br />

Einfluss auf die Gestaltung und die Inhalte<br />

derjenigen Seiten, auf die in dieser Zeitschrift<br />

durch Angabe eines Link verwiesen wird. Deshalb<br />

übernimmt die Redaktion keine Verantwortung<br />

für die Inhalte aller durch Angabe einer Linkadresse<br />

in dieser Zeitschrift genannten Seiten<br />

und deren Unterseiten. Dieses gilt für alle ausgewählten<br />

und angebotenen Links und für alle Seiteninhalte,<br />

zu denen Links oder Banner führen.<br />

© 2009 für alle Beiträge beim<br />

Militärgeschichtlichen Forschungsamt (<strong>MGFA</strong>)<br />

Sollten nicht in allen Fällen die Rechteinhaber<br />

ermittelt worden sein, bitten wir ggf. um Mitteilung.<br />

Druck:<br />

SKN Druck und Verlag GmbH & Co., Norden<br />

ISSN 0940-4163<br />

Editorial<br />

Auf dem Cover dieser Ausgabe der Militärgeschichte<br />

sehen Sie eine Aufnahme vom Marsch einer Kompanie<br />

der <strong>Wehrmacht</strong> vorbei an polnischen Grenzmarkierungen.<br />

Viele Soldaten hatten Fotoapparate im Marschgepäck<br />

und hielten damit Augenblicke und Eindrücke<br />

der Kämpfe und Zerstörungen, aber auch den Alltag<br />

im Krieg fest. Noch heute finden sich zahlreiche dieser<br />

Fotos in Schuhkartons oder Schubläden in vielen Haushalten.<br />

Aus einem dieser Nachlässe stammt das Coverbild. Statt moderner Panzer<br />

und Kfz zeigt es das genaue Gegenteil und bildet damit die Realität für einen<br />

nicht geringen Teil der Soldaten ab: Sie waren zu Fuß und mit Pferden oder Tragtieren<br />

unterwegs. Persönliche und private Erinnerungen gehören ebenso <strong>zur</strong> Geschichte<br />

des Zweiten Weltkrieges und anderer Kriege wie die »große Politik«.<br />

1939, vor nunmehr 70 Jahren, begann der Zweite Weltkrieg. Vor dem »großdeutschen<br />

Reichstag« verkündete Adolf <strong>Hitler</strong> am Vormittag des 1. September,<br />

Polen habe »auch mit bereits regulären Soldaten angegriffen« – seit 5.45 Uhr<br />

werde nun »<strong>zur</strong>ückgeschossen«. Das NS-Regime beschränkte sich nicht nur auf<br />

die Lügen im Reichstag, sondern inszenierte des Weiteren einen »handfesten«<br />

Anlass – den vermeintlichen polnischen Überfall auf die deutsche Radiosendestation<br />

Gleiwitz. Unwahrheiten und mehr oder weniger geschickte Konstruktionen<br />

eines »passenden« Kriegsanlasses waren kein singulärer Fall des Jahres 1939; sie<br />

hatten und haben in Geschichte und Gegenwart zahlreiche Vorbilder und Nachahmer.<br />

»Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit.« So oft dieser Satz auch bemüht<br />

wurde, so zutreffend bleibt er in seinem Kern. Kriegsverbrechen und Lügen<br />

zu deren Verschleierung gingen auf die Konten von vielen kriegführenden Parteien.<br />

Bekannt wurde beispielsweise der Fall Katyn. 1940 ermordete der sowjetische<br />

Geheimdienst über zehntausend polnische Kriegsgefangene und andere<br />

Internierte. Bis 1990 leugnete Moskau die Verantwortung und bezichtigte die<br />

Deutschen des Verbrechens. Nicht zu verwechseln ist dieser Fall mit der Zerstörung<br />

der weißrussischen Ortschaft Chatyn und der Ermordung ihrer Bewohner<br />

durch die deutsche <strong>Wehrmacht</strong> 1943. Die Opfer von Katyn und die Leugnung der<br />

Verantwortung haben sich tief ins polnische Gedächtnis gegraben. Mit der polnischen<br />

Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg befasst sich der Schwerpunktbeitrag<br />

dieses Heftes. Tomasz Kopański zeigt dabei den polnischen Blickwinkel der Erinnerung<br />

und spart dabei auch heikle Themenfelder wie das Verhältnis von Polen<br />

und Juden nicht aus.<br />

Winfried Heinemann knüpft mit seinem Beitrag zum <strong>Hitler</strong>-<strong>Stalin</strong>-<strong>Pakt</strong> 1939<br />

thematisch eng an die polnische Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg an. Die<br />

historische Wahrheit gibt es in den wenigsten Fällen. Erinnerungen, ob nun die<br />

individuellen oder die von Nationen, sind stets subjektiv. In der deutschen zeithistorischen<br />

Forschung finden die Entwicklungslinien vom Ersten zum Zweiten<br />

Weltkrieg verstärkte Beachtung. Die Wurzeln für die Entgrenzung der Gewalt<br />

nach 1939 reichten oftmals in die Zeit vor 1918 <strong>zur</strong>ück.<br />

Bruno Thoß nimmt sich der Forschung des »Zeitalters der Weltkriege« an und<br />

zieht eine Verbindungslinie von der frühen Reichswehr <strong>zur</strong> <strong>Wehrmacht</strong>. Sein Aufsatz<br />

knüpft, ebenso wie Andreas Krause Landts Beitrag <strong>zur</strong> Selbstversenkung der<br />

deutschen Hochseeflotte in Scapa Flow 1919, thematisch eng an das Heft 3/2008<br />

zu Kriegsende und Revolution 1918 an. Komplettiert wird das Heft zum Kriegsbeginn<br />

1939 durch Jann M. Witts Aufsatz über den spektakulären Beginn des Seekriegs<br />

im Südatlantik.<br />

Für Ihr Interesse an der Militärgeschichte dankt<br />

Klaus Storkmann M.A.<br />

Hauptmann


<strong>Vom</strong> <strong>Führerheer</strong> <strong>zur</strong><br />

<strong>Wehrmacht</strong><br />

Dr. Bruno Thoß, geboren 1945 in Dresden,<br />

Leitender Wissenschaftlicher Direktor a.D.,<br />

2005 bis 2008 Kommissarischer Leiter<br />

der Abteilung Forschung im <strong>MGFA</strong><br />

Der <strong>Hitler</strong>-<strong>Stalin</strong>-<strong>Pakt</strong><br />

Oberst Dr. Winfried Heinemann, geboren<br />

1956 in Dortmund, seit 2003 Leiter des<br />

Forschungsbereichs »Militärgeschichte der DDR<br />

im Bündnis« im <strong>MGFA</strong><br />

Der Zweite Weltkrieg im<br />

Gedächtnis der Polen<br />

Major Dr. Tomasz Kopański, geboren 1964<br />

in Warschau, Mitarbeiter am Wojskowe Biuro<br />

Badań Historycznych der Polnischen Streitkräfte,<br />

Warschau<br />

Seekrieg im Südatlantik.<br />

Das Panzerschiff »Admiral<br />

Graf Spee« 1939<br />

Dr. Jann Markus Witt, geboren 1967<br />

in Eckernförde, Studium in Kiel und London,<br />

Kapitänleutnant d.R., Historiker des Deutschen<br />

Marinebunds/Marine-Ehrenmal Laboe<br />

4<br />

8<br />

12<br />

18<br />

Inhalt<br />

Service<br />

Das historische Stichwort:<br />

Scapa Flow, 21. Juni 1919 22<br />

Medien online/digital 24<br />

Lesetipp 26<br />

Die historische Quelle 28<br />

Geschichte kompakt 29<br />

Ausstellungen 30<br />

Militärgeschichte<br />

im Bild<br />

Kriegsbeginn<br />

September 1939 31<br />

Eingebunden in das XVIII. Gebirgs-Armee-<br />

Korps der 1. Gebirgs-Division, überschritt<br />

eine Kompanie Gebirgsjäger am 5. September<br />

1939 die slowakisch-polnische<br />

Grenze zwischen Ozenna und Mszana.<br />

Foto: Privat<br />

Weitere Mitarbeiter dieser Ausgabe:<br />

Christiane Botzet, M.A., Referentin im<br />

Referat MA 5 des Bundesarchivs,<br />

Abteilung Militärarchiv;<br />

Dr. Alexander Jaser, Historiker,<br />

Merzhausen bei Freiburg i.Br.;<br />

Andreas Krause Landt, Verleger des<br />

Landt Verlags in Berlin und freier Autor;<br />

Dr. John Zimmermann, Oberstleutnant, <strong>MGFA</strong>


<strong>Vom</strong> <strong>Führerheer</strong> <strong>zur</strong> <strong>Wehrmacht</strong><br />

<strong>Vom</strong> <strong>Führerheer</strong> <strong>zur</strong><br />

<strong>Wehrmacht</strong><br />

Niederlage<br />

und Revolution<br />

1918/19 und ihre<br />

militärischen<br />

Folgen<br />

Am 20. Dezember 1918 trafen<br />

sich im Berliner Gebäude des<br />

Großen Generalstabes die Spitzenoffiziere<br />

von Verbänden, die vom<br />

Schlachtfeld in den Umkreis der<br />

Hauptstadt <strong>zur</strong>ückgekehrt waren. In<br />

einer politisch wie militärisch noch<br />

gänzlich ungeklärten Lage suchten sie<br />

nach einer Standortbestimmung des<br />

Militärischen im künftigen Deutschland.<br />

Anders als in hierarchisch geordneten<br />

Verhältnissen üblich, führten dabei<br />

freilich nicht die Kommandeure<br />

das Wort, sondern zwei besonders qualifizierte<br />

Generalstabsoffiziere mit Zukunft.<br />

Der eine – Major Kurt von Schleicher<br />

– sollte es in der Weimarer Republik<br />

noch zum Reichswehrminister<br />

und Reichskanzler (1932/33) bringen;<br />

der andere – Generalmajor Hans von<br />

Seeckt – würde als Chef der Heeresleitung<br />

(1920–1926) der Aufbauära der<br />

Reichswehr seinen Stempel aufdrücken.<br />

Weit über den Tag hinaus wies<br />

der politische Charakter der divergierenden<br />

Überlegungen beider Offiziere<br />

zu dem, was sie der Armee <strong>zur</strong> Aufgabe<br />

gestellt sehen wollten. Schleicher<br />

standen die gesellschaftlichen Verwerfungen<br />

in der Revolution und die Einschnitte<br />

im politisch-ökonomischen<br />

Leben nach der Niederlage vor Augen.<br />

Vorrangig galt es daher, den gemä-<br />

5 Regierungstruppen setzen bei Straßenkämpfen in Berlin 1919 gegen die Revolution<br />

Panzer ein.<br />

ßigten Kräften in der Revolutionsregierung<br />

eine einsetzbare Ordnungstruppe<br />

<strong>zur</strong> Verfügung zu stellen, um eine weitere<br />

Radikalisierung im Innern zu verhindern.<br />

Danach würde die neue Republik<br />

jedoch militärisch erst einmal<br />

kürzer treten müssen. Entscheidend<br />

für ihre innere Stabilisierung und ihren<br />

künftigen Platz in Europa würde vielmehr<br />

die Gesundung der Wirtschaft<br />

sein. Im Gegensatz dazu gedachte<br />

Seeckt diese Zeit militärischer Schwäche<br />

für das Reich so kurz wie möglich<br />

zu halten. Für den Wiederaufstieg <strong>zur</strong><br />

international anerkannten Macht war<br />

es unverzichtbar, dass die junge Republik<br />

ihre diplomatische Handlungsfähigkeit<br />

rasch auch wieder durch hinreichende<br />

militärische Mittel untermauern<br />

konnte.<br />

Wohlgemerkt: das alles wurde zu<br />

einem Zeitpunkt debattiert, als sich die<br />

<strong>zur</strong>ückkehrenden Truppen immer<br />

noch in einem Prozess der inneren Auflösung<br />

befanden. Viele ihrer Soldaten<br />

waren seit Sommer 1918 in eine Art<br />

»verdeckten Militärstreik« getreten. Sie<br />

ließen sich gerade noch so lange von<br />

ihren Offizieren führen, wie dies zum<br />

geordneten Rückmarsch erforderlich<br />

war. Lange aufgestauter Unmut gegen<br />

die sozialen Zustände im Heer machte<br />

sich währenddessen in Übergriffen von<br />

4 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />

Soldaten gegen die eigenen Offiziere<br />

Luft. Der am 10. November gebildete<br />

Berliner Arbeiter- und Soldatenrat<br />

brachte in seinem Aufruf »An das<br />

werktätige Volk« die Ziele der überwiegend<br />

kriegs- und militärmüden<br />

Soldaten auf den Punkt: »Der vielgerühmte<br />

[...] Militarismus ist zusammengebrochen.<br />

[...] Sofortiger Friede<br />

ist die Parole der Revolution.« Vor diesem<br />

Hintergrund war aus Sicht der<br />

noch im Amt befindlichen Obersten<br />

Heeresleitung zunächst einmal Näherliegendes<br />

angesagt als die Schleicher-<br />

Seecktschen Zukunftsprojektionen.<br />

Wenn ihr führender Vertreter, der aus<br />

Württemberg stammende Generalquartiermeister<br />

Wilhelm Groener,<br />

hoffte, »durch unsere Tätigkeit einen<br />

Teil der Macht im neuen Staat an Heer<br />

und Offizierskorps zu bringen«, dann<br />

benötigte er dazu vor allem politische<br />

Partner. Im Bündnis mit dem gemäßigten<br />

Vorsitzenden des Rates der<br />

Volksbeauftragten, Friedrich Ebert<br />

(MSPD), gelang dies auch. Die Heeresleitung<br />

erklärte sich bereit zum Kampf<br />

gegen ein Weitertreiben der Revolution<br />

und zum Schutz der bedrohten<br />

Grenzen. Dafür erhielt sie die Zusage,<br />

dass die Befehlsgewalt in den Händen<br />

der Offiziere erhalten bleiben sollte.<br />

Wohl musste man auch im Feldheer<br />

Süddeutsche Zeitung Photo


die Bildung von Soldatenräten hinnehmen,<br />

gedachte diese aber in sogenannte<br />

Vertrauensleute, die vorwiegend soziale<br />

Befugnisse erhalten sollten, umzuwandeln.<br />

Damit war freilich noch<br />

nichts darüber ausgesagt, wie die zukünftige<br />

<strong>Wehrmacht</strong> einer Deutschen<br />

Republik aussehen sollte. Denn allzu<br />

viel Kampfkraft – das zeigten gescheiterte<br />

Einsätze <strong>zur</strong>ückkehrender Fronttruppen<br />

gegen bewaffnete Anhänger<br />

der Revolution – war von den kampfmüden<br />

Soldaten nicht mehr zu erwarten.<br />

Daher galt es erst einmal, die militärische<br />

Autorität in den Verbänden<br />

wiederherzustellen. Und da dies in den<br />

Front- und Heimattruppenteilen nur<br />

noch im Ausnahmefall gelang, griff<br />

man zum Mittel einer Neuaufstellung<br />

sogenannter Freikorps aus dazu bereiten<br />

Offizieren, Unteroffizieren und<br />

Freiwilligen.<br />

Im Gegensatz dazu wollten die Revolutionäre<br />

die Gunst der Stunde nutzen,<br />

um das zu schaffen, was seit dem<br />

19. Jahrhundert als Ziel linksdemokratischer<br />

Militärprogrammatik galt: eine<br />

republikanische Volkswehr anstelle des<br />

monarchisch orientierten Kaiserheeres.<br />

5 Der frühere Chef der Heeresleitung,<br />

Hans von Seeckt (1866–1936), mit<br />

dem früheren Reichwehrminister Otto<br />

Geßler (1875–1955), Aufnahme von<br />

1931.<br />

BArch, Bild 102-10883<br />

Die Notwendigkeit von Offizieren als<br />

militärtechnischer Funktionselite akzeptierten<br />

zwar auch die Soldatenräte.<br />

Sie wollten deren republikanische Zuverlässigkeit<br />

jedoch durch Führerwahl<br />

in der Truppe, Ablegen aller Insignien<br />

aus der Kaiserzeit und Teilung der<br />

Kommandogewalt mit den Soldatenräten<br />

gesichert sehen. Die Entscheidung<br />

gegen solche Volkswehrpläne und für<br />

ein Berufsheer fiel freilich schon <strong>zur</strong><br />

Jahreswende 1918/19. Im Dezember<br />

1918 setzte sich die Führung der Mehrheitssozialisten<br />

(MSPD) mit ihrer Forderung<br />

nach einer parlamentarischen<br />

Demokratie und gegen das Modell einer<br />

sozialistischen Räterepublik durch.<br />

Aus den Januarwahlen von 1919 für<br />

eine Verfassunggebende Nationalversammlung<br />

gingen die gemäßigten Parteien<br />

mit einem überwältigenden<br />

Wahlsieg hervor. Mit ihrem Sieg im sofort<br />

ausbrechenden Bürgerkrieg entzogen<br />

die schlagkräftigeren Freikorps<br />

auch militärisch den radikalen Befürwortern<br />

einer Volkswehr den Boden.<br />

Um die neue Republik zusätzlich von<br />

außen sicherheitspolitisch unter Kontrolle<br />

zu halten, schränkten die Siegermächte<br />

im Versailler Vertrag von 1919<br />

künftige deutsche Streitkräfte auf reine<br />

Verteidigungszwecke ein. Die Wehrpflicht<br />

wurde abgeschafft und ein<br />

kleingehaltenes 100 000-Mann-Heer<br />

aus Berufs- und Zeitsoldaten vorgeschrieben.<br />

Abwartende Haltung<br />

<strong>zur</strong> Republik<br />

Noch hielten sich bei der Bildung einer<br />

vorläufigen Reichswehr allerdings Reformer<br />

und Traditionalisten in der militärischen<br />

Führung die Waage. Das<br />

schlug sich insbesondere in Maßnahmen<br />

zu einer Modernisierung der Menschenführung<br />

nieder. Unter den Bedingungen<br />

des Ersten Weltkrieges als<br />

eines vorwiegenden Grabenkrieges<br />

war die vor 1914 noch durchgängige<br />

Distanz zwischen Offizieren, Unteroffizieren<br />

und Mannschaften eingeschmolzen<br />

worden. Aufgrund der<br />

räumlichen Nähe und eines neuen<br />

Führungspersonals, das auf Kompanieebene<br />

inzwischen mehrheitlich aus<br />

bürgerlichen Reserveoffizieren und erfahrenen<br />

Feldwebeln bestand, hatte<br />

sich die bisherige formale Disziplin zugunsten<br />

einer auf Sachlichkeit und Ka-<br />

5 Kurt von Schleicher (1882–1934), Aufnahme<br />

ca. 1932.<br />

meradschaft ausgerichteten kleinen<br />

Kampfgemeinschaft weiterentwickelt.<br />

Diese gelegentlich bis <strong>zur</strong> Kumpanei<br />

reichenden Verhältnisse sollten sich<br />

nach 1918 in den Freikorps als selbsternannter<br />

Frontsoldatenbewegung fortsetzen.<br />

Die Freikorpssoldaten verkörperten<br />

den reinen Kämpfertypus und<br />

waren mehr auf ihre anerkannten<br />

Frontführer als auf den Gehorsam gegenüber<br />

der Republik und höhere Vorgesetzte<br />

eingeschworen. Beim Aufbau<br />

der Reichswehr würde man diese eher<br />

an ein modernes Söldnertum erinnernden<br />

Truppenteile und deren Führerkorps<br />

daher nur im Ausnahmefall<br />

berücksichtigen, da sie kaum in eine<br />

disziplinierte Friedensarmee zu integrieren<br />

waren.<br />

Andererseits verloren aber auch diejenigen<br />

Offiziere an der Spitze der<br />

Reichswehr schnell an Durchsetzungskraft,<br />

die bereit waren, zugunsten einer<br />

republiktreuen Truppe auf Reformforderungen<br />

aus dem Lager der demokratischen<br />

Parteien einzugehen. Wohl<br />

standen bis zum Frühjahr 1920 mit<br />

Reichswehrminister Gustav Noske<br />

(SPD) und dem württembergischen<br />

Oberst Walther Reinhardt als Chef der<br />

Heeresleitung überzeugte Republikaner<br />

an der Spitze der Armee. Der eigentliche<br />

militärische Aufbau wurde jedoch<br />

von General von Seeckt als Chef<br />

des Heeresamtes gesteuert, dem es vor-<br />

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />

BArch, Bild 136-B0228


<strong>Vom</strong> <strong>Führerheer</strong> <strong>zur</strong> <strong>Wehrmacht</strong><br />

rangig um die Entwicklungsfähigkeit<br />

der Reichswehr zu einem effizienten<br />

militärischen Instrument ging. Da er<br />

die Republik als eine vorübergehende<br />

Erscheinung ansah, stellte für ihn auch<br />

die erzwungene kleingehaltene Berufsarmee<br />

nur ein Übergangsstadium bis<br />

zu einer wiederzubelebenden Wehrpflichtarmee<br />

dar. Sein Handeln orientierte<br />

sich an drei Leitvorstellungen:<br />

strenge personelle Auslese, elitäres<br />

Sonderbewusstsein gegenüber dem<br />

nichtmilitärischen Umfeld und verbesserte<br />

Menschenführung in den Verbänden.<br />

Dabei sorgte Seeckt nach zwei Seiten<br />

hin für Abgrenzung: Die schwer integrierbaren<br />

Freikorpskämpfer schüttelte<br />

er bei der Personalgewinnung<br />

ebenso ab, wie er erklärte republikanische<br />

Offiziere bei der Wiedereinstellung<br />

benachteiligte. Das Verhältnis von<br />

15:1 zwischen Bewerbern und offene<br />

Stellen sorgten dafür, dass sich die Personalauswahl<br />

gezielt auf die Bevorzugung<br />

von Nachwuchs aus »nationalen<br />

Kreisen« konzentrieren konnte. Mit<br />

der Forderung nach rigoroser »Entpolitisierung«<br />

konnte man sich auch auf<br />

die allgemeine Abneigung in Politik<br />

und Öffentlichkeit gegen die politisierenden<br />

Soldaten in den Freikorps wie<br />

in den revolutionären Kampfverbän-<br />

5 Ausbildung in der Reichswehr, undatierte Aufnahme.<br />

den stützen. Die sicherste Gewähr dagegen<br />

schien Seeckts Kurs einer strikten<br />

Wiederherstellung der militärischen<br />

Subordination in den Händen<br />

der Offiziere. Unpolitisch sollte die<br />

Reichswehr allerdings keineswegs<br />

sein, selbst wenn ihren Soldaten das<br />

Wahlrecht vorenthalten blieb. Ihre<br />

grundsätzliche Orientierung am überzeitlichen<br />

Reichsgedanken und an einer<br />

Wiedererlangung der verlorenen Machtposition<br />

ließ sie in einer ausgesprochen<br />

abwartenden Haltung <strong>zur</strong> Republik<br />

verharren, wobei ihre Präferenzen klar<br />

bei den antidemokratischen Rechtsparteien<br />

lagen. Als entscheidend für den<br />

militärischen Wiederaufstieg erachtete<br />

es die Reichswehrführung dabei, dass<br />

die Truppe wieder fest auf eine erhebliche<br />

Leistungssteigerung in ihrer Ausbildung<br />

ausgerichtet wurde.<br />

Innere Konsolidierung<br />

der Truppe<br />

6 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />

Aus den Erfahrungen im Weltkrieg<br />

und beim Auseinanderbrechen der<br />

Streitkräfte in der Revolution zog man<br />

den Schluss, dass <strong>zur</strong> inneren Konsolidierung<br />

eine Modernisierung der Menschenführung<br />

angesagt war. Die bisherige<br />

Distanz zwischen Offizieren, Un-<br />

Süddeutsche Zeitung Photo/Scherl<br />

teroffizieren und Mannschaften wurde<br />

dadurch verringert, dass künftige Vorgesetzte<br />

in den ersten 15 Monaten ihrer<br />

Dienstzeit zusammen mit ihren späteren<br />

Untergebenen ausgebildet wurden.<br />

Damit bekamen die jungen Offizieranwärter<br />

am eigenen Leibe die<br />

Probleme zu spüren, die sie zum Zusammenhalt<br />

ihrer Einheiten später zu<br />

berücksichtigen hatten. Gleiche Verpflegung<br />

im Manöver, gemeinsame<br />

Wanderpatrouillen und gemischte<br />

Sportmannschaften taten ein Übriges<br />

<strong>zur</strong> Verringerung des Abstands zwischen<br />

Vorgesetzten und Untergebenen.<br />

Hinzu kam ein ganzes Paket an Fürsorge-<br />

und Berufsfortbildungsmaßnahmen,<br />

die <strong>zur</strong> allgemeinen Berufszufriedenheit<br />

der Längerdienenden<br />

beitragen und schon im Dienst ihre<br />

spätere Wiedereingliederung ins zivile<br />

Berufsleben vorbereiten sollten. Landsmannschaftliche<br />

Geschlossenheit in<br />

den Verbänden und eine Weckung von<br />

Korpsgeist durch intensive Traditionspflege<br />

beförderten den Zusammenhalt<br />

in der Truppe ebenso wie die Sorgfalt,<br />

die der Auswahl von Vertrauensleuten<br />

als Vertreter der »ruhigen Leute« beigemessen<br />

wurde.<br />

Eng begrenzt waren dagegen in den<br />

ersten Nachkriegsjahren die Möglichkeiten<br />

<strong>zur</strong> Modernisierung von Waffen<br />

und Gerät wie <strong>zur</strong> Personalergänzung<br />

für den Einsatzfall. Vor beide Anliegen<br />

hatten die restriktiven Bestimmungen<br />

des Versailler Vertrages hohe Hürden<br />

aufgetürmt. Die geheime Zusammenarbeit<br />

mit der Roten Armee, dem anderen<br />

Gegner des Versailler Systems, bot<br />

zwar Möglichkeiten <strong>zur</strong> Erprobung<br />

von Flugzeugen und Panzern in der<br />

Sowjetunion. Enge Kooperation mit<br />

den rechtsgerichteten Wehrverbänden<br />

schuf zudem die Voraussetzungen für<br />

eine vertragswidrige Heranbildung<br />

einer »Schwarzen Reichswehr«, die im<br />

Krisenfalle eng mit der aktiven Truppe<br />

zusammenarbeiten und diese personell<br />

ergänzen sollte. Das wesentlichste<br />

Instrument der Modernisierung bildete<br />

jedoch die Leistungssteigerung in der<br />

Ausbildung des Führernachwuchses.<br />

Jeder Offizier und Unteroffizier wurde<br />

so geschult, dass er oberhalb seiner<br />

Dienststellung jederzeit übergeordnete<br />

Verantwortung übernehmen konnte.<br />

Außerdem öffnete man mit der Orientierung<br />

am Leistungsprinzip Chancen<br />

zum Aufstieg zwischen den Dienst


5 Ausbildung in der Reichswehr, undatierte Aufnahme.<br />

gradgruppen. Damit wurde die personell<br />

zwar kleine Reichswehr zu einem<br />

effizienten <strong>Führerheer</strong> herangebildet,<br />

das bei veränderten politischen Verhältnissen<br />

die Grundvoraussetzungen<br />

für eine rasche personelle Auffüllung<br />

in sich trug.<br />

Die NS-Diktatur als Nutznießer<br />

Wirklicher Nutznießer dieser Modernisierung<br />

von Führung und Ausbildung<br />

sollte freilich nicht mehr die Republik<br />

von Weimar sein, sondern die<br />

Diktatur des Dritten Reiches. Schon in<br />

den krisenhaften Übergangsjahren<br />

(1928/33) war zwar die politische<br />

Reichswehrführung unter ihren Ministern<br />

Wilhelm Groener und Kurt von<br />

Schleicher noch loyal <strong>zur</strong> Republik geblieben.<br />

Im Offizierkorps hatten sich<br />

jedoch die Anhänger eines gegen den<br />

Versailler Vertrag gerichteten Kurses<br />

der geheimen Aufrüstung durchgesetzt.<br />

Unter dem Schlagwort »Wehrhaftmachung<br />

der Nation« wurden bereits<br />

Ende der 1920er Jahre Maßnahmen <strong>zur</strong><br />

vormilitärischen Ausbildung der Jugend<br />

eingeleitet. Formal auf überparteilicher<br />

Basis angedacht, dominierten<br />

in der Praxis die Anhänger einer antirepublikanischen<br />

Rechten bis hin <strong>zur</strong><br />

rechtsradikalen Schutzabteilung (SA)<br />

der NSDAP bei dieser getarnten Nachwuchsgewinnung<br />

für eine Reichswehr,<br />

die schon 1932 von den erlaubten 10<br />

auf 21 Divisionen angeplant war. Noch<br />

vor <strong>Hitler</strong>s Machtantritt legte das<br />

Reichswehrministerium dazu in Zusammenarbeit<br />

mit der deutschen Industrie<br />

außerdem für alle drei Teilstreitkräfte,<br />

also auch bereits für eine an sich noch<br />

verbotene Luftwaffe, ein erstes Rüstungsprogramm<br />

<strong>zur</strong> waffentechnischen<br />

Modernisierung auf. Seine Finanzierung<br />

über getarnte Haushaltmittel<br />

wurde selbst unter den Bedingungen<br />

der 1929 voll auf das Reich<br />

durchschlagenden Weltwirtschaftskrise<br />

durchgehalten. Kurt von Schleicher<br />

als Reichskanzler erreichte noch<br />

1932 bei den Genfer Abrüstungsverhandlungen<br />

einen ersten Durchbruch<br />

<strong>zur</strong> internationalen Gleichberechtigung<br />

des Reiches in Rüstungsfragen.<br />

Die schleichende Annäherung im<br />

jüngeren Offizierkorps an die Nationalsozialisten<br />

und deren Versprechen,<br />

den Versailler Vertrag mit seinen immer<br />

noch vorhandenen Einschränkungen<br />

für eine weitergehende Aufrüstung<br />

generell aufzukündigen, konnte<br />

das alles freilich nicht mehr aufhalten.<br />

Die Mehrheit der Soldaten unterstützte<br />

seit <strong>Hitler</strong>s »Machtergreifung« im Januar<br />

1933 nicht nur aus Überzeugung<br />

den neuen nationalsozialistischen als<br />

Süddeutsche Zeitung Photo<br />

einen erklärten Kriegerstaat. Nachdem<br />

1934 mit den staatlich legitimierten<br />

Mordaktionen gegen die SA-Führung<br />

um Ernst Röhm auch der wehrpolitische<br />

Konkurrent einer künftigen nationalsozialistischen<br />

»Volksarmee« ausgeschaltet<br />

worden war, ließ sich die<br />

Reichswehr unter ihrer neuen Führung<br />

nach dem Tod des Reichspräsidenten<br />

Paul von Hindenburg noch im selben<br />

Jahr reibungslos auf die Person des NS-<br />

Diktators als »Führer und Reichskanzler«<br />

vereidigen. Vor allem wäre aber<br />

der Ausbau der Reichswehr <strong>zur</strong> kriegsstarken<br />

Massenarmee der <strong>Wehrmacht</strong><br />

innerhalb weniger Jahre nicht ohne ein<br />

Führer- und Unterführerkorps denkbar<br />

gewesen, in dem schon bisher jeder<br />

Einzelne bereit und fähig war, Führungsaufgaben<br />

oberhalb der eingenommenen<br />

Dienststellung zu übernehmen.<br />

Die Einführung der allgemeinen<br />

Wehrpflicht 1935 unter Bruch des Versailler<br />

Vertrages brauchte dafür nur<br />

noch die personellen Schleusen zu öffnen.<br />

In den verbleibenden vier Jahren<br />

bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges<br />

sollte die <strong>Wehrmacht</strong> in allen<br />

ihren Teilen zu einer schlagkräftigen<br />

Einsatzarmee für <strong>Hitler</strong>s Eroberungspolitik<br />

heranwachsen. In Auswertung<br />

der Kriegserfahrungen aus dem Ersten<br />

Weltkrieg hatte sich das <strong>Führerheer</strong><br />

der Reichswehr mittlerweile aber auch<br />

qualitativ auf den künftigen als einen<br />

modernen Bewegungskrieg eingestellt,<br />

der zwischen 1939 und 1941 mit zeitweiligem<br />

Erfolg in einer Serie von<br />

»Blitzkriegen« erprobt werden konnte.<br />

Je extremer sich der neue Weltkrieg<br />

freilich radikalisierte und schließlich<br />

auf eine erneute militärische Katastrophe<br />

hinauslief, umso zwangsläufiger<br />

sollte sich auch ein vermeintlich hocheffizientes<br />

Nursoldatentum in der geistig-moralischen<br />

Krise des Dritten Reiches<br />

verfangen.<br />

� Bruno Thoß<br />

Literaturtipps<br />

Francis L. Carsten, Reichswehr und Politik 1918–1933,<br />

Köln, Berlin 1964.<br />

Rainer Wohlfeil und Hans Dollinger, Die deutsche Reichswehr.<br />

Bilder, Dokumente, Texte, Frankfurt a. M. 1972.<br />

Menschenführung im Heer. Hrsg. vom Militärgeschichtlichen<br />

Forschungsamt, Herford, Bonn 1982 (= Vorträge<br />

<strong>zur</strong> Militärgeschichte, Bd. 3).<br />

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009


<strong>Hitler</strong>-<strong>Stalin</strong>-<strong>Pakt</strong><br />

<strong>Hitler</strong> wollte Krieg. Schon 1938<br />

hatte er gehofft, durch Gebietsforderungen<br />

an die Tschechoslowakei<br />

einen bewaffneten Konflikt<br />

vom Zaun brechen zu können. In letzter<br />

Minute hatten Großbritannien und<br />

Frankreich nachgegeben und <strong>Hitler</strong><br />

auf der Münchener Konferenz das Sudetenland<br />

zugestanden. Noch einmal<br />

war der Frieden gerettet; der britische<br />

Premierminister Sir Neville Chamberlain<br />

wedelte bei seiner Ankunft in London<br />

mit dem unterschriebenen Vertrag<br />

und erklärte, dies bedeute »peace in<br />

our time« – Frieden für seine Generation.<br />

<strong>Hitler</strong>s Wille zum Krieg<br />

Der <strong>Hitler</strong>-<strong>Stalin</strong>-<strong>Pakt</strong><br />

5 Mitte September 1939 trafen während des Polen-Feldzuges Truppen Deutschlands und der Sowjetunion aufeinander. Im Bild<br />

Panzer der Roten Armee neben einer deutschen motorisierten Einheit.<br />

Für <strong>Hitler</strong> war die Münchener Konferenz<br />

zwar ein außenpolitischer Triumph,<br />

innerlich aber kochte der Dikta-<br />

tor: er hatte Krieg gewollt, nicht so sehr<br />

die von Sudetendeutschen bewohnten<br />

Randgebiete der Tschechoslowakei.<br />

Schon im Frühjahr 1939 legte er nach:<br />

die »Zerschlagung der Rest-Tschechei«,<br />

also die Abspaltung der Slowakei unter<br />

einer hitlerhörigen Regierung und<br />

die Umwandlung des übriggebliebenen<br />

tschechischen Staatsgebietes in ein<br />

»Reichsprotektorat Böhmen und Mähren«<br />

zeigten auch dem Appeasement<br />

(= Beschwichtigungs)-Politiker Chamberlain,<br />

dass <strong>Hitler</strong>s Unterschrift auf<br />

dem Münchener Abkommen das Papier<br />

nicht wert war, auf dem sie stand.<br />

Und in der Tat erhob der »Führer«<br />

schnell weitere territoriale Forderungen:<br />

Die durch den Versailler Vertrag<br />

von 1919 gegen den Willen der<br />

deutschen Bevölkerung geschaffene<br />

»Freie Stadt Danzig« solle wieder zum<br />

Reich kommen, und Polen solle der Errichtung<br />

einer exterritorialen Verbin-<br />

8 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />

dung durch den »Polnischen Korridor«<br />

zustimmen – jenen Gebietsstreifen also,<br />

der das Gros des Reichsgebiets von<br />

Ostpreußen trennte. In dieser Situation<br />

gaben die Westmächte Großbritannien<br />

und Frankreich Polen eindeutige Garantien<br />

für den Fall eines Krieges mit<br />

Deutschland.<br />

Die Rolle der Sowjetunion<br />

Wie aber würde sich der andere Nachbar<br />

Polens, die Sowjetunion, unter<br />

ihrem Diktator <strong>Stalin</strong> verhalten? Immerhin<br />

hatte sich Polen erst 1920 eines<br />

sowjetischen Angriffs auf seine Ostgrenze<br />

erwehren müssen.<br />

<strong>Stalin</strong> selbst hatte die Einsatzfähigkeit<br />

der Roten Armee entscheidend<br />

geschwächt. Die Zeit der »großen Säuberungen«<br />

war gerade erst zu Ende gegangen.<br />

Fast die komplette Spitze der<br />

BArch, Bild 101I-121-0012-30


Roten Armee, vor allem Marschall<br />

Michail Tuchatschewski, war ermordet<br />

worden, und die sowjetischen Streitkräfte<br />

waren kaum kriegsbereit. Außerdem<br />

hatte <strong>Stalin</strong>, seit er 1924 an die<br />

Macht gekommen war, bisher keine expansionistischen<br />

Tendenzen erkennen<br />

lassen. Die wachsenden Spannungen<br />

um Polen jedoch ließen der Sowjetunion<br />

eine zentrale Rolle zuwachsen,<br />

in der sie auch ohne Krieg außenpolitische<br />

Ziele erreichen konnte.<br />

Der <strong>Hitler</strong>-<strong>Stalin</strong>-<strong>Pakt</strong><br />

Zunächst waren es die Briten und Franzosen,<br />

die Verbindung zum sowjetischen<br />

Diktator aufnahmen und Garantien<br />

für Polen suchten. Seit April<br />

1939 verhandelten die britische und<br />

die sowjetische Regierung miteinander.<br />

Allerdings kamen die Gespräche<br />

nicht recht vom Fleck, denn die Westmächte<br />

waren nicht in der Lage, <strong>Stalin</strong><br />

irgendwelche territorialen Zugeständnisse<br />

auf Kosten Polens zu machen.<br />

Schließlich hatten sie ja gerade dessen<br />

territorialen Bestand garantiert.<br />

Anders stellte sich die Lage dar, als<br />

auch das Deutsche Reich die Moskauer<br />

Spitze kontaktierte. <strong>Hitler</strong> wusste um<br />

die Verhandlungen zwischen den<br />

Westmächten, vor allem Großbritannien,<br />

und der Sowjetunion. Zwar war<br />

für ihn <strong>Stalin</strong> der ideologische Todfeind,<br />

dennoch war <strong>Hitler</strong> bereit, <strong>Stalin</strong><br />

sein Stillhalteversprechen für den Fall<br />

eines Krieges mit der Intensivierung<br />

der Wirtschaftsbeziehungen und territorialen<br />

Zugeständnissen zu vergelten.<br />

<strong>Hitler</strong>s Kriegspläne wären nicht zu realisieren<br />

gewesen, hätte sich Polen auf<br />

britische und auch auf sowjetische Unterstützung<br />

verlassen können. <strong>Stalin</strong>s<br />

strategisches Kalkül aber sah anders<br />

aus. Ein Arrangement mit <strong>Hitler</strong> erlaubte<br />

ihm den unproblematischen Zugriff<br />

auf Ost-Polen, die baltischen Staaten<br />

und Finnland. Zudem eröffnete es<br />

die Möglichkeit eines Krieges zwischen<br />

den Westmächten und Deutschland –<br />

eben jenes Zerfleischen der »imperialistischen<br />

Mächte untereinander«, das<br />

anschließend der kommunistischen<br />

Weltrevolution doch noch zum Durchbruch<br />

verhelfen mochte. So erklärte<br />

<strong>Stalin</strong> 1940 (also nach dem Verschwinden<br />

Polens von der Landkarte) dem<br />

Vorsitzenden der noch existierenden<br />

Kommunistischen Internationale, dem<br />

Bulgaren Georgi Dimitroff, bei der<br />

Durchführung der Weltrevolution<br />

dürfe man die Rolle der Roten Armee<br />

nicht unterschätzen.<br />

<strong>Hitler</strong> entsandte seinen Außenminister<br />

Joachim von Ribbentrop zu streng<br />

geheimen Verhandlungen nach Moskau.<br />

Am 19. August vereinbarten beide<br />

Seiten ein Wirtschaftsabkommen, das<br />

große Lieferungen von Rohstoffen und<br />

Lebensmitteln nach Deutschland vorsah<br />

– für das rohstoffarme Land in der<br />

Mitte Europas eine wichtige Voraussetzung<br />

für seine Kriegführung.<br />

Vier Tage später, am 23. August, unterzeichneten<br />

Ribbentrop und sein sowjetischer<br />

Kollege Wjatscheslaw Molotow<br />

in Gegenwart <strong>Stalin</strong>s in Moskau<br />

einen deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt,<br />

der für zehn Jahre Gültigkeit<br />

haben sollte. Damit hatte <strong>Hitler</strong> erreicht,<br />

was er wollte: <strong>Stalin</strong> ließ ihm<br />

freie Hand für einen Angriff gegen<br />

Polen, und der deutsche Diktator war<br />

überzeugt, die Regierungen in London<br />

und Paris würden in dieser neuen Lage<br />

einmal mehr vor einem Krieg <strong>zur</strong>ückschrecken.<br />

Was aber gewann <strong>Stalin</strong>? Schon innerhalb<br />

weniger Tage gab es Gerüchte,<br />

der veröffentlichte Text des Nichtangriffspakts<br />

enthalte noch nicht alle beiderseitigen<br />

Abmachungen. Aus Berlin<br />

und Moskau kamen Proteste und wütende<br />

Dementis. Die Wahrheit aber sah<br />

anders aus: Ein geheimes Zusatzprotokoll<br />

grenzte die beiderseitigen Interessensphären<br />

in Osteuropa ab. Finnland,<br />

Estland und Lettland sowie Polen östlich<br />

von Narew, Weichsel und San<br />

sollten zum sowjetischen, dagegen Litauen<br />

und Polen westlich dieser Linie<br />

zum deutschen Einflussgebiet gehören.<br />

Darüber hinaus erkannte Deutschland<br />

an, dass die Sowjetunion »Interesse«<br />

an Bessarabien habe, dem östlichsten<br />

Teil Rumäniens. Die Welt war schockiert,<br />

denn mit einem Arrangement<br />

der beiden Diktatoren hatte kaum jemand<br />

gerechnet.<br />

Die Folgen<br />

Am Morgen des 1. September 1939<br />

überfiel die deutsche <strong>Wehrmacht</strong> Polen<br />

– Deutschland hatte den Zweiten Weltkrieg<br />

begonnen. Schon bald danach<br />

zerschlugen die deutschen Armeen in<br />

schnellem Vorstoß die polnischen<br />

Streitkräfte. Zwar erklärten Großbritannien<br />

und Frankreich in Erfüllung<br />

ihrer Beistandsgarantie am 3. September<br />

ihrerseits Deutschland den Krieg,<br />

aber konkrete Auswirkungen auf die<br />

militärischen Operationen in Polen<br />

konnte das nicht mehr haben. Vollends<br />

war das Schicksal Polens besiegelt, als<br />

am 17. September 1939 sowjetische Truppen<br />

von Osten auf polnisches Gebiet<br />

vorrückten. Schon bald standen sich an<br />

der in dem geheimen Zusatzprotokoll<br />

festgelegten Demarkationslinie deutsche<br />

und sowjetische Truppen gegenüber.<br />

Der polnischen Regierung gelang<br />

es, nach London ins Exil zu fliehen.<br />

Am 28. September 1939 schrieben<br />

Deutschland und die Sowjetunion das<br />

geheime Zusatzabkommen fort. Insbesondere<br />

wurde die Demarkationslinie<br />

zwischen den beiden Machtsphären<br />

nach Osten an den Bug verlegt, dafür<br />

aber wurde nun auch Litauen dem sowjetischen<br />

Interessenbereich zugeschlagen.<br />

<strong>Stalin</strong> zögerte nicht lange, die baltischen<br />

Staaten unter seinen »Einfluss«<br />

zu bringen. Estland war der erste der<br />

baltischen Staaten, der zunächst der<br />

Errichtung von Stützpunkten und der<br />

Stationierung der Roten Armee zustimmen<br />

musste. 1940 bat eine »fortschrittliche<br />

Regierung« in Tallinn um Aufnahme<br />

in die Sowjetunion als »Estnische<br />

Sozialistische Sowjetrepublik«. Es<br />

war eine Annexion in zwei Stufen, im<br />

Schutz sowjetischer Truppen übernahmen<br />

prosowjetische Kräfte die Regierung<br />

und kaschierten mit dieser »Bitte«<br />

die Annexion als freiwilligen Akt des<br />

Volkes.<br />

Lettland und Litauen folgten bald<br />

darauf. Lediglich Finnland widersetzte<br />

sich; im November 1939 kam es zum<br />

»Winterkrieg«. Finnland setzte den<br />

zahlenmäßig stark überlegenen sowjetischen<br />

Truppen tapferen und geschickten<br />

Widerstand entgegen, und die<br />

Kämpfe zeigten auch die erheblichen<br />

Führungsschwächen der Sowjetarmee,<br />

aber letztlich konnte Finnland trotz<br />

politischer und wirtschaftlicher Unterstützung<br />

aus dem Westen gegen den<br />

übermächtigen Nachbarn nicht bestehen.<br />

Finnland musste im März 1940<br />

um Frieden nachsuchen und Karelien<br />

abtreten.<br />

Für die Menschen in den drei baltischen<br />

Staaten, vor allem aber in Polen<br />

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />

9


<strong>Hitler</strong>-<strong>Stalin</strong>-<strong>Pakt</strong><br />

hatten die Kriegsereignisse katastrophale<br />

Folgen. Bald danach begann in<br />

den deutsch besetzten Gebieten eine<br />

gnadenlose Verfolgung der dort ansässigen<br />

Juden, aber auch der gesamten<br />

polnischen Intelligenz und Oberschicht.<br />

Lehrer, Priester und Politiker<br />

wurden verhaftet oder ermordet (der<br />

junge polnische Priesteramtsanwärter<br />

Karol Woytila, der spätere Papst Johannes<br />

Paul II., entkam nur mit Glück);<br />

Juden wurden erschossen oder in den<br />

größeren Städten in Ghettos zusammengepfercht<br />

(von wo sie später in die<br />

großen Vernichtungslager Auschwitz,<br />

Treblinka oder Sobibor transportiert<br />

und ermordet wurden).<br />

In den Gebieten unter sowjetischer<br />

Kontrolle waren die Verfolgungsmaßnahmen<br />

nicht in erster Linie rassistisch,<br />

sondern ideologisch-politisch geprägt.<br />

Aber auch <strong>Stalin</strong> ging es darum, die<br />

Oberschicht der besetzten Gebiete zu<br />

liquidieren, indem ihre Angehörigen<br />

in Arbeitslager deportiert wurden, die<br />

viele nicht überlebten, oder unmittelbaren<br />

Mordaktionen zum Opfer fielen.<br />

Rund 4000 polnische Offiziere, die im<br />

September 1939 in sowjetische Hand<br />

gefallen waren, wurden im Frühjahr<br />

1940 ermordet, die meisten in den Wäldern<br />

bei der Ortschaft Katyn; insgesamt<br />

fielen weit über 10 000 Polen dem<br />

sowjetischen Terror zum Opfer.<br />

Aber auch Deutsche im sowjetischen<br />

Machtbereich bekamen die Entwicklungen<br />

zu spüren. Das Baltikum war<br />

Jahrhunderte lang deutscher Siedlungsraum<br />

gewesen – jetzt wurden die<br />

Baltendeutschen umgesiedelt – »Heim<br />

ins Reich«, wie die Propagandaparole<br />

der Nazis lautete. Auch aus Bessarabien<br />

wurden die deutschstämmigen<br />

Siedler vertrieben. Die Eheleute Eduard<br />

und Elisabeth Köhler, die im Norden<br />

Bessarabiens gewohnt hatten, wurden<br />

nunmehr im »Generalgouvernement«<br />

angesiedelt, dem deutsch besetzten<br />

Teil Polens. In Heidenstein (heute wieder<br />

Skierbieszów, Polen) wurde am<br />

22. Februar 1943 ihr Sohn Horst, der<br />

heutige Bundespräsident, geboren. Das<br />

Schicksal der Familie, die dann bei<br />

Kriegsende erneut vertrieben wurde<br />

und letztlich in die junge Bundesrepublik<br />

gelangte, ist typisch für viele Menschen<br />

aus den ehemals deutsch besiedelten<br />

Gebieten der Sowjetunion:<br />

Lange vor der Vertreibung der Deutschen<br />

aus den nach Kriegsende an<br />

Polen gekommenen Ostgebieten des<br />

Deutschen Reiches und der Tschechoslowakei<br />

hatte es ähnliche Vertreibungen<br />

aus sowjetischen Territorien<br />

gegeben – mit der Zustimmung des<br />

deutschen Diktators.<br />

Der <strong>Hitler</strong>-<strong>Stalin</strong>-<strong>Pakt</strong> wirkte sich<br />

auch auf die weltweite kommunistische<br />

Bewegung aus. Für die Kommunisten<br />

in Deutschland, die ja zu den<br />

ersten Opfern von <strong>Hitler</strong>s Terror im eigenen<br />

Land gezählt hatten, war der<br />

<strong>Pakt</strong> der beiden Todfeinde ein Schock.<br />

Bisher hatten sie sich auf die ideologische,<br />

teilweise auch materielle Unterstützung<br />

der Kommunistischen Internationale<br />

und damit der Kommunistischen<br />

Partei der Sowjetunion verlassen können.<br />

Von einem Tag auf den anderen<br />

wurde aus der Speerspitze der Weltrevolution<br />

ein Verbündeter des faschistischen<br />

Diktators – eine für viele<br />

Kommunisten schwer verständliche<br />

Entwicklung, die besonders bei vielen<br />

der nach Westeuropa Emigrierten zum<br />

Bruch mit ihrer Partei führte. Einer der<br />

Mitbegründer der Kommunistischen<br />

Partei, Willi Münzenberg, der 1940 auf<br />

der Flucht vor der deutschen <strong>Wehrmacht</strong><br />

in Südfrankreich unter bis heute<br />

ungeklärten Umständen zu Tode kam,<br />

schrieb nach dem sowjetischen Einmarsch<br />

in Polen am 17. September einen<br />

Artikel über den »russischen Dolchstoß«<br />

in den Rücken der antifaschistischen<br />

Kämpfer gegen <strong>Hitler</strong>s Diktatur. Er endete<br />

mit dem Bannfluch: »Heute stehen<br />

in allen Ländern Millionen auf, sie<br />

recken den Arm und rufen, nach Osten<br />

deutend: ›Der Verräter, <strong>Stalin</strong>, bist Du‹.«<br />

Von ganz anderer Qualität war die<br />

Situation für die in Moskau noch lebenden<br />

Exilkommunisten. Die Mehrzahl<br />

der deutschen Politemigranten<br />

war inzwischen Opfer von <strong>Stalin</strong>s Terror<br />

der späten dreißiger Jahre geworden,<br />

und überlebt hatten nur linientreue<br />

Kader wie Wilhelm Pieck und<br />

Walter Ulbricht, die den Anspruch aufrecht<br />

erhielten, die Kommunistische<br />

Partei Deutschlands weiterhin zu führen.<br />

Auch sie wurden über Nacht von<br />

»Helden des antifaschistischen Kampfes«<br />

zu Gegnern einer in Moskau wohlgelittenen<br />

deutschen Regierung.<br />

Schon am 27. August äußerten Pieck<br />

und Ulbricht für das Zentralkomitee<br />

der KPD:<br />

»Das deutsche Volk begrüßt den<br />

Nichtangriffspakt zwischen der So-<br />

10 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />

wjetunion und Deutschland, weil es<br />

den Frieden will und in diesem <strong>Pakt</strong><br />

eine erfolgreiche Friedenstat von Seiten<br />

der Sowjetunion sieht. Es begrüßt<br />

diesen <strong>Pakt</strong>, weil er nicht [...] ein Instrument<br />

des Krieges und der imperialistischen<br />

Vergewaltigungen anderer<br />

Völker, sondern ein <strong>Pakt</strong> <strong>zur</strong> Wahrung<br />

des Friedens zwischen Deutschland<br />

und der Sowjetunion ist.«<br />

Nach dem deutschen Überfall auf die<br />

Sowjetunion 1941 wiederum galten<br />

diese Emigranten als Deutsche, die bestenfalls<br />

als Mitarbeiter der politischen<br />

Hauptverwaltung der sowjetischen<br />

Armee für den Propagandaeinsatz<br />

taugten, und der <strong>Pakt</strong> unterlag plötzlich<br />

ganz anderen Deutungen.<br />

Der Streit über das geheime<br />

Zusatzprotokoll im Kalten Krieg<br />

Denn nach dem deutschen Überfall auf<br />

die Sowjetunion im Sommer 1941<br />

musste <strong>Stalin</strong> anders begründen, warum<br />

er 1939 dem faschistischen Aggressor<br />

ein Heranrücken bis an die<br />

Grenzen der Sowjetunion gestattet<br />

hatte. Vor allem die Existenz des geheimen<br />

Zusatzprotokolls wurde jetzt<br />

nachdrücklicher denn je geleugnet.<br />

Viele Menschen in den baltischen Staaten<br />

begrüßten daher die deutsche<br />

<strong>Wehrmacht</strong> 1941 zunächst als »Befreier<br />

vom bolschewistischen Joch« – ohne<br />

zu ahnen, dass <strong>Hitler</strong> selbst sie 1939<br />

<strong>Stalin</strong>s Gewaltherrschaft überantwortet<br />

hatte. Die sowjetische Interpretation<br />

war nun, der Vertrag (den die sowjetische<br />

Seite vorzugsweise »Molotow-<br />

Ribbentrop-Abkommen« nannte, womit<br />

sie die Person <strong>Stalin</strong>s aus dem Spiel<br />

ließ) habe der Sowjetunion fast zwei<br />

Jahre Zeit <strong>zur</strong> Vorbereitung auf den<br />

Krieg verschafft, die sie gut genutzt<br />

habe. Dass ein geheimes Zusatzprotokoll<br />

<strong>Hitler</strong> den Krieg und <strong>Stalin</strong> die Besetzung<br />

der benachbarten Staaten ermöglicht<br />

hatte, das bestritt <strong>Stalin</strong> ein<br />

Leben lang.<br />

Je eine deutschsprachige und eine<br />

russischsprachige Ausfertigung des<br />

Vertrages und des Zusatzprotokolls<br />

waren bei Vertragsabschluss in das Archiv<br />

des Auswärtigen Amtes und in<br />

die russischen Archive gelangt. Die<br />

Ausfertigungen in deutscher Hand<br />

aber wurden bei Kriegsende vernichtet;<br />

von dem Zusatzabkommen exis-


5 Der sowjetische Außenminister Molotow unterzeichnet den sogenannten <strong>Hitler</strong>-<strong>Stalin</strong>-<strong>Pakt</strong> im Moskauer Kreml. Im Hintergrund<br />

stehen der deutsche Außenminister von Ribbentrop und <strong>Stalin</strong>.<br />

tierte lediglich die Mikroverfilmung<br />

einer Kopie. Da die Sowjets ihre Archive<br />

nicht öffneten, konnten sie bis<br />

zum Ende des Kalten Krieges behaupten,<br />

das Zusatzprotokoll habe nie existiert,<br />

die Mikrofilmversion sei eine<br />

westliche Fälschung.<br />

Die westliche Forschung hingegen<br />

akzeptierte die Kopie als echt, weil es<br />

umfangreiche weitere Beweise und<br />

Zeitzeugenaussagen gab, welche die<br />

Echtheit bestätigten. So wurde auch<br />

die Frage, ob es das Zusatzprotokoll je<br />

gegeben habe, Teil der ideologischen<br />

Auseinandersetzung im Kalten Krieg.<br />

Immerhin bewies das Zusatzabkommen<br />

ja, dass die Sowjetunion 1939 ihren<br />

nunmehrigen Verbündeten Polen<br />

den schlimmsten Ausrottungsmaßnahmen<br />

in dessen Geschichte preisgegeben<br />

hatte.<br />

In der Bundesrepublik war in der<br />

Zeit der Entspannung nach 1970 die<br />

Tendenz zu beobachten, allzu scharfe<br />

Angriffe gegen die Sowjetunion wegen<br />

der von ihr verübten Verbrechen als<br />

»friedensfeindlich« und »gegen den<br />

Geist der Entspannung gerichtet« abzulehnen.<br />

In der DDR-Geschichtsschreibung<br />

wurde der <strong>Pakt</strong> weitgehend<br />

verschwiegen, auch wenn das<br />

angesichts der in der bundesrepublikanischen<br />

Forschung gewonnenen Erkenntnisse<br />

schwer fiel. Erst 1989, <strong>zur</strong><br />

Zeit von Glasnost und Perestroika unter<br />

dem reformorientierten KPdSU-Generalsekretär<br />

Michail Gorbatschow,<br />

veröffentlichte auch die sowjetische<br />

Seite den Text des bei ihr erhaltenen<br />

Exemplars; im Dezember desselben<br />

Jahres annullierte der sowjetische Kongress<br />

der Volksdeputierten den Vertrag.<br />

Nun, schon nach dem Fall der<br />

Mauer, erschien auch in der untergehenden<br />

DDR (ausgerechnet im Parteiverlag<br />

der PDS) 1990 eine entsprechende<br />

Dokumentation von Gerhard<br />

Hass. Jetzt konnte niemand mehr daran<br />

zweifeln:<br />

<strong>Hitler</strong> hatte Krieg gewollt – <strong>Stalin</strong><br />

hatte territoriale Gewinne gewollt.<br />

Beide haben Ostmitteleuropa in ver-<br />

brecherischer Weise unter sich aufgeteilt,<br />

über Millionen Menschen Tod<br />

oder unsägliches Unglück gebracht.<br />

Dass <strong>Hitler</strong> nur 23 Monate später die<br />

Sowjetunion in ebenso verbrecherischer<br />

Weise angegriffen hat, ändert<br />

an diesem Befund nichts.<br />

� Winfried Heinemann<br />

Literaturtipps<br />

Ingeborg Fleischhauer, Der <strong>Pakt</strong>. <strong>Hitler</strong>, <strong>Stalin</strong> und die<br />

Initiative der deutschen Diplomatie 1938–1939, Frankfurt<br />

a.M. 1990.<br />

Gerhard Hass, 23. August 1939. Der <strong>Hitler</strong>-<strong>Stalin</strong> <strong>Pakt</strong>,<br />

Berlin 1990.<br />

Jan Lipinsky, Das Geheime Zusatzprotokoll zum deutschsowjetischen<br />

Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939<br />

und seine Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von<br />

1939 bis 1999, Frankfurt a.M. 2004 (= Europäische<br />

Hochschulschriften, Reihe III, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften,<br />

991).<br />

Donal O’Sullivan, <strong>Stalin</strong>s »Cordon sanitaire«. Die sowjetische<br />

Osteuropapolitik und die Reaktionen des Westens<br />

1939–1949, Paderborn 2003.<br />

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />

11<br />

SZ-Photo


Erinnerungskultur in Polen<br />

Der Zweite Weltkrieg nimmt,<br />

mehr als 60 Jahre nach seinem<br />

Ende, immer weniger Platz im<br />

historischen Bewusstsein der europäischen<br />

Völker, vor allem der jungen<br />

Europäer ein. Diese verbreitete Meinung<br />

bestätigten bereits Untersuchungen<br />

des Internationalen Instituts<br />

für Meinungsforschung (IMAS International)<br />

mit Sitz im österreichischen<br />

Linz Mitte der 1990er Jahre. Eine persönliche<br />

Befragung von insgesamt 8000<br />

Personen in Österreich, Deutschland,<br />

Tschechien, Polen, Ungarn und Russland<br />

sollte »Die Meinungsfurchen des<br />

2. Weltkriegs« feststellen, so der Titel<br />

des IMAS-Reports Nr. 9 vom Mai 1995,<br />

sprich: die Spuren, die der Zweite Weltkrieg<br />

im Bewusstsein dieser sechs Nationen<br />

hinterlassen hat. In deutlicher<br />

Abweichung vom allgemeinen Trend<br />

lagen freilich die jungen Polen und<br />

Russen. Bei ihnen wollte jeweils eine<br />

breite Mehrheit von rund 64 Prozent<br />

die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg<br />

bewahren. Jüngste polnische Untersuchungen<br />

untermauern diese Ergebnisse:<br />

Die Mehrheit der Polen hat<br />

noch immer ein sehr emotionales Verhältnis<br />

zu den Kriegsereignissen.<br />

Die Erinnerung an die Vergangenheit<br />

ist ein wichtiges Element des historischen<br />

Bewusstseins und der nationalen<br />

Identität. Das Bild von der Vergangenheit<br />

des eigenen Volkes, das in der allgemeinen<br />

Erinnerung bewahrt wird,<br />

spiegelt sich nicht nur in den inneren<br />

Verhältnissen des jeweiligen Landes<br />

wider, sondern auch in dessen Beziehungen<br />

zu anderen Völkern. Unter den<br />

wichtigsten Ereignissen der tausendjährigen<br />

Geschichte Polens nimmt die<br />

Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg<br />

nach wie vor eine herausragende Stellung<br />

im historischen Bewusstsein der<br />

Bevölkerung ein.<br />

Die Zeit zwischen September 1939<br />

und Mai 1945 stellt eine außergewöhnliche<br />

Zäsur in der polnischen Geschichte<br />

dar.<br />

Die Bevölkerung des Landes musste<br />

eine lange Reihe extremer und leidvoller<br />

Erfahrungen machen: den täglichen<br />

Überlebenskampf, den bewaffneten<br />

Widerstand und das Martyrium<br />

vieler Menschen während der deutschen<br />

Besatzung Polens, Heldentum<br />

ebenso wie moralische Kompromisse,<br />

aber auch das Zerbrechen von Charakteren<br />

und menschliche Niedertracht.<br />

Dazu zählte des Weiteren die Gleichgültigkeit<br />

der Westmächte, die sich bei<br />

ihrem Vorgehen von Grundsätzen der<br />

Realpolitik leiten ließen und schließlich<br />

bereit waren, der Verständigung<br />

mit der UdSSR einen schwachen Bündnispartner<br />

zu opfern. Diese Erfahrungen<br />

haben sich im kollektiven Gedächtnis<br />

der heute Lebenden eingebrannt.<br />

Überlagert von Mythen und Legenden,<br />

werden sie von einer Generation auf<br />

die nächste vererbt.<br />

Vielfältige Erinnerungen<br />

Was die Kriegsgeneration betrifft,<br />

konnte das kollektive Gedächtnis keine<br />

einfache Bündelung der Erinnerung<br />

von Individuen sein. Zu unterschied-<br />

12 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />

Der Zweite Weltkrieg im<br />

Gedächtnis der Polen<br />

5 Der Warschauer Aufstand 1944 ist ein zentraler Teil der polnischen Erinnerung an<br />

den Zweiten Weltkrieg. An den Jahrestagen seines Ausbruchs am 1. August besuchen<br />

zahlreiche Menschen die Gedenkstätten des polnischen Widerstandes gegen<br />

die nationalsozialistische Herrschaft, darunter auch viele junge Polinnen und Polen.<br />

Das Bild zeigt eine Aufnahme des Soldatenfriedhofs im Warschauer Stadtteil<br />

­Powa˛zki­vom­1.­August­2005.­<br />

lich waren die Erfahrungen, die Bewohner<br />

der polnischen östlichen Grenzgebiete<br />

oder Einwohner Zentralpolens<br />

machten, Häftlinge eines deutschen<br />

Konzentrationslagers oder Insassen<br />

eines sowjetischen Lagers, polnische<br />

Partisanen oder Soldaten, die als Angehörige<br />

polnischer Streitkräfte von England<br />

aus bei Tobruk kämpften. Die Erinnerungen<br />

eines Ghettoflüchtlings<br />

standen jenen eines Szmalcownik (etwa:<br />

Kriegsgewinnler) gegenüber, der Juden<br />

gegen Geld verraten hatte. Der<br />

Hauptstädter aus Warschau hatte den<br />

Krieg anders als ein Bauer in einem<br />

von der Welt abgeschnittenen Dorf erlebt.<br />

Unmittelbar nach dem Krieg waren<br />

also eher vielfältige und widersprüchliche<br />

Erinnerungen vorhanden. Im<br />

picture-alliance/dpa/epa pap Pawel Kula


� � � � � � � � �<br />

������ ������<br />

������<br />

�������<br />

� � � � � �������<br />

����<br />

� � � � � � � � � � �<br />

� � � � � � �� � �<br />

� � � � � �<br />

����<br />

� �� ��� ��� ������<br />

� � � � � �<br />

����<br />

���������<br />

������<br />

��������<br />

Laufe der Zeit unterlag dieser Teil des<br />

historischen Bewusstseins jedoch, der<br />

sich darüber hinaus mit Mythen und<br />

Symbolen vermengte, einer Umgestaltung<br />

und Vereinheitlichung, maßgeblich<br />

bestimmt von den kommunistischen<br />

Machthabern, die 45 Jahre lang<br />

eine eigene Geschichtspolitik betrieben<br />

– in Übereinstimmung mit der propagierten<br />

Ideologie des Sozialismus. Auf<br />

diese Weise entstand ein einseitiges<br />

Bild vom Krieg und von der Besatzung.<br />

Die kollektive Erinnerung der Polen<br />

an den Zweiten Weltkrieg scheint nach<br />

über 60 Jahren von zwei miteinander<br />

verwobenen Strängen dominiert zu<br />

werden. Niederlagen und Leiden bilden<br />

den einen. Das gewaltige Ausmaß<br />

der erlittenen Menschenopfer und materiellen<br />

Verluste rücken die Vorstellung<br />

vom Märtyrertum in den Vordergrund.<br />

Der zweite Strang erinnert an<br />

Mut und Heldentum. Er ist verbunden<br />

mit den Kriegsanstrengungen im<br />

Lande und an allen Fronten, an denen<br />

polnische Soldaten »für unsere und<br />

������<br />

��������<br />

���������<br />

�����<br />

�����<br />

����<br />

����������<br />

��������<br />

� � � � � � � �<br />

������<br />

�����<br />

� � � � � � � � � � � �<br />

�����������<br />

������<br />

��������<br />

������<br />

��������<br />

��������<br />

����<br />

����������� ���������<br />

��������<br />

����������� �������<br />

������������������<br />

� � � � � � � �<br />

�����<br />

�����<br />

������<br />

������<br />

�����������<br />

��������<br />

eure Freiheit«, also auch für die anderer<br />

Europäer kämpften. Hierbei handelt<br />

es sich um eine polonozentrische<br />

Erinnerung. Im Allgemeinen erinnert<br />

man sich daran, dass sich Polen als erstes<br />

Land gegen <strong>Hitler</strong> stellte und dass<br />

es ein Staat ohne »Quislinge«, d.h. ohne<br />

Kollaborateure auf Regierungsebene,<br />

war. In Polen gab es nicht nur eine Widerstandsbewegung,<br />

sondern gleich<br />

einen ganzen, im europäischen Vergleich<br />

einzigartigen Untergrundstaat.<br />

Der Stolz der Polen auf die heldenhaften<br />

Aspekte des Krieges vermischt<br />

sich jedoch mit einer Verbitterung, die<br />

nicht nur auf dem ungeheuren Umfang,<br />

sondern auch auf der Vergeblichkeit<br />

der erlittenen Opfer beruht. Die<br />

Bitterkeit resultiert aus der Art und<br />

Weise, wie der Krieg beendet wurde –<br />

und aus den politischen Folgen für das<br />

zerstörte Polen, nämlich der sowjetischen<br />

Dominanz und dem endgültigen<br />

Verlust der polnischen Ostgebiete, die<br />

1939 von der Sowjetunion besetzt und<br />

annektiert worden waren. Angesichts<br />

fehlender militärischer und politischer<br />

�����<br />

� � � � � � � � � �<br />

����������<br />

�������<br />

����<br />

��������<br />

������ ����������<br />

��������<br />

�����������<br />

���������<br />

������<br />

� � � � � �<br />

� � � � � � �<br />

� � � � �<br />

�����<br />

���<br />

�������<br />

�����������<br />

����<br />

�����<br />

�������<br />

������<br />

�����<br />

������<br />

�����<br />

�����<br />

� � � � � � � �<br />

Erfolge bleibt den Polen nur, sich mit<br />

etwas zu trösten, was sie »moralische<br />

Siege« nennen.<br />

Auschwitz<br />

����������<br />

�������������<br />

���������������<br />

�������������������<br />

��������������������<br />

��������������<br />

�����������<br />

��������������������<br />

�����������<br />

���������������<br />

������������������<br />

��������������<br />

������������������<br />

�������������������<br />

������������������<br />

������������������������<br />

�� � � �<br />

� � � � � � � � �<br />

� � �<br />

� � � � � � � � � � �<br />

� � �<br />

����<br />

Das Bild, das am häufigsten in Verbindung<br />

mit dem Zweiten Weltkrieg auftaucht,<br />

ist jedoch mit den deutschen<br />

Todeslagern verbunden. In Umfragen<br />

nach den wichtigsten Ereignissen des<br />

Zweiten Weltkriegs heben die Befragten<br />

diesen Punkt besonders hervor.<br />

Das wichtigste Symbol der Vernichtung<br />

bleibt Auschwitz. Das Wissen<br />

über dieses Lager differiert aber deutlich<br />

in Abhängigkeit vom Alter und<br />

Bildungsgrad der Befragten, wobei das<br />

Bild der Jüngeren und Gebildeteren<br />

näher an der historischen Wahrheit<br />

liegt. Darüber hinaus hat sich die Wahrnehmung<br />

des Lagers im Laufe der Zeit<br />

verändert. Entsprechende Umfragen<br />

zeigen, dass die Manipulationen durch<br />

die Geschichtspolitik der kommunistischen<br />

Machthaber zu Zeiten der Volks-<br />

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />

�����<br />

� ����<br />

��������<br />

13


Erinnerungskultur in Polen<br />

5 Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, Aufnahme von 2006.<br />

republik Polen zu einer Verzerrung<br />

auch dieses Aspekts der Realität geführt<br />

haben. Viele Jahre lang hat die<br />

Bildungspolitik Auschwitz als Symbol<br />

für das Märtyrertum der polnischen<br />

Nation präsentiert, was an sich keine<br />

Verfälschung war – solange nicht die<br />

Tatsache ausgelassen wurde, dass die<br />

überwiegende Mehrzahl der Vernichtungsopfer<br />

Juden waren.<br />

Die kommunistische Geschichtsdarstellung<br />

diente der Legitimierung der<br />

Regierung; die stalinistischen Verbrechen<br />

blieben dabei außen vor. Betont<br />

wurden das Schreckliche, das die Deutschen<br />

den Polen angetan hatten, sowie<br />

die Tatsache, dass sowjetische Soldaten<br />

dem Bösen ein Ende setzten. Schrittweise<br />

ging das auf die »polnische Nation«<br />

verengte Bild später in eine Darstellung<br />

über, die das Leiden und den<br />

Tod von Bürgern vieler Nationen betonte,<br />

und schließlich in ein universelles<br />

Verständnis, in dessen Licht Auschwitz<br />

das Symbol für Völkermord schlechthin<br />

geworden ist.<br />

Der Warschauer Aufstand<br />

Eine besondere Stellung im kollektiven<br />

Gedächtnis der Polen kommt unverändert<br />

dem Warschauer Aufstand von<br />

1944 zu. Dies erstaunt neben dem<br />

großen Zeitabstand auch deswegen,<br />

weil die kommunistische Propaganda<br />

in der Zeit der Volksrepublik dem Aufstand<br />

gegenüber extrem feindlich ein-<br />

gestellt war. Aus militärischer Sicht<br />

war der Warschauer Aufstand, organisiert<br />

durch den Polnischen Untergrundstaat,<br />

gegen die deutschen Besatzer<br />

gerichtet. Seine strategische Bedeutung<br />

lag jedoch in dem Versuch, durch<br />

die Wiedererrichtung einer legalen<br />

Staatsregierung in der Hauptstadt Polens<br />

einen unabhängigen polnischen<br />

Staat zu errichten, um damit einen von<br />

der Sowjetunion abhängigen Satellitenstaat<br />

zu verhindern und den Vorkriegsverlauf<br />

der Ostgrenze wiederherzustellen.<br />

Der bewaffnete Kampf<br />

der Soldaten der Heimatarmee (Armia<br />

Krajowa) sowie der Einwohner von<br />

Warschau richtete sich gegen die neue<br />

politische Ordnung in Osteuropa:<br />

Diese war bereits auf der Konferenz<br />

von Teheran 1943 festgelegt worden,<br />

nachdem sich die USA und Großbritannien<br />

mit der von <strong>Stalin</strong> geführten<br />

Politik der vollendeten Tatsachen auf<br />

polnischem Gebiet einverstanden erklärt<br />

hatten.<br />

Nach dem Krieg wurde der Aufstand<br />

von 1944 für die Polen zum zentralen<br />

Symbol einer großen Schlacht um die<br />

Freiheit und zum höchsten Zeugnis<br />

des Willens <strong>zur</strong> Selbstbestimmung und<br />

<strong>zur</strong> Bewahrung der Souveränität Polens.<br />

Der Kampf dauerte 63 Tage. Die<br />

sich um den Aufstand rankenden Legenden,<br />

die mit ihm verbundenen<br />

Emotionen und die Streitigkeiten um<br />

die historischen Geschehnisse sind<br />

auch nach 65 Jahren nicht erloschen.<br />

So, wie von den Kommunisten be-<br />

14 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />

Klaus Storkmann<br />

fürchtet, war die Pflege der Erinnerung<br />

an den Aufstand besonders stark in<br />

den Kreisen der Opposition verbreitet<br />

(siehe Kasten: Kampf um die Erinnerung).<br />

Die deutsch-polnischen Nachkriegsbeziehungen<br />

Das in der Gesellschaft existierende Bild<br />

vom Krieg hat eine wesentliche Bedeutung<br />

für das Verhältnis zu anderen Nationen.<br />

In der Zeit der Volksrepublik<br />

waren sowohl die deutsch-polnischen<br />

als auch die polnisch-sowjetischen Beziehungen<br />

ideologisch definiert und<br />

durch Tabus belastet. Auf das deutschpolnische<br />

Miteinander fiel jahrzehntelang<br />

der Schatten des Krieges und der<br />

Besatzung.<br />

Eine echte Diskussion über Annäherung<br />

und Versöhnung zwischen Polen<br />

und Deutschen (siehe Kasten: Die<br />

Grenzfrage) konnte sich erst unter den<br />

Bedingungen der Meinungsfreiheit<br />

und auf der Basis uneingeschränkter<br />

historischer Aufarbeitung entwickeln –<br />

also erst nach der politischen Wende<br />

des Jahres 1989. In den 1990er Jahren<br />

waren Fragen der nationalsozialistischen<br />

Besatzung jedoch zunächst<br />

eher ein Randthema. Besonders intensiv<br />

diskutiert wurden hingegen die<br />

Aussiedlung deutscher Einwohner<br />

nach dem Krieg oder auch das Verhältnis<br />

der Polen zum deutschen Kulturerbe<br />

in den ehemaligen deutschen Ostgebieten.<br />

Polnische Historiker haben<br />

sich ernsthaft mit diesem Problem auseinandergesetzt.<br />

Eine große Zahl von<br />

Artikeln und Monografien dokumentiert<br />

ihre Forschungsergebnisse. Auch<br />

in der polnischen Bevölkerung gab es<br />

ein großes Interesse an der Vergangenheit<br />

der ehemals deutschen Gebiete.<br />

In den letzten Jahren kehrte die Erinnerung<br />

an den Krieg mit den Deutschen<br />

mit unerwarteter Heftigkeit <strong>zur</strong>ück.<br />

Auslöser hierfür waren die Aktivitäten<br />

von Angehörigen einiger deutscher<br />

Vertriebenenorganisationen: Sie forderten<br />

von Polen Vermögen, Häuser<br />

und Grundstücke <strong>zur</strong>ück, die im Zuge<br />

der Vertreibungen enteignet worden<br />

waren. In heißen Diskussionen äußerten<br />

politische Kommentatoren und Publizisten<br />

in Polen die Befürchtung, in<br />

Deutschland finde eine für Polen bedrohliche,<br />

allgemeine Umgestaltung


picture-alliance/ZB<br />

�Kampf um die Erinnerung<br />

5 Denkmal für den Warschauer Aufstand am<br />

plac Krasińskich.<br />

der Erinnerung an die Vergangenheit<br />

insofern statt, als sich die Deutschen<br />

selbst als Kriegsopfer ansehen würden.<br />

Insgesamt freilich sind die Polen<br />

nicht der Meinung, dass die Mehrheit<br />

der Deutschen sich der Verantwortung<br />

für den Zweiten Weltkrieg entzieht.<br />

Ein bedeutender Teil der polnischen<br />

Gesellschaft schätzt die deutschen Gesten<br />

des guten Willens ebenso wie die<br />

ernsthafte Arbeit an der Aufarbeitung<br />

der eigenen Geschichte und meint,<br />

dass die Verständigung und Versöhnung<br />

mit den Deutschen möglich und<br />

notwendig ist.<br />

Die polnisch-russischen<br />

Beziehungen<br />

In den offiziellen polnischen Darstellungen<br />

des Zweiten Weltkrieges zwischen<br />

1945 und 1989 rückten die kom-<br />

In Warschau, dem Zentrum<br />

der politischen und militärischen<br />

polnischen Konspiration,<br />

erinnern heute zahlreiche<br />

Denkmäler, Tafeln,<br />

Kreuze und andere Mahnmale<br />

an den bewaffneten<br />

Kampf der Heimatarmee gegen<br />

die deutschen Besatzer.<br />

Der Kampf um die »richtige«<br />

Erinnerung setzte dabei unmittelbar<br />

nach dem Ende des<br />

Krieges ein. 1945 versuchte<br />

die kommunistische Polnische<br />

Arbeiterpartei noch, Initiativen<br />

von Kriegsveteranen zu<br />

kanalisieren, indem sie zu<br />

Spenden für ein »Denkmal zu Ehren der Helden der Hauptstadt« aufrief. Doch<br />

galt die Heimatarmee, an vorderster Stelle ihre Anführer, in den Augen der kommunistischen<br />

Machthaber als Hort der Reaktion; ihre Anhänger hatten im »neuen<br />

Polen« unter zahlreichen Repressionen zu leiden – bis hin <strong>zur</strong> Deportation in sowjetische<br />

»Umerziehungslager«. Die baulich sichtbare Erinnerung musste sich in<br />

der Hauptstadt des Landes bis in die 1970er Jahre hauptsächlich auf Friedhöfe beschränken;<br />

das konnte die Warschauer Bevölkerung jedoch nicht davon abhalten,<br />

mittels Kranzniederlegungen, Blumen oder Provisorien wie Holztafeln spontan<br />

des Aufstandes zu gedenken. Das erste offizielle größere Denkmal, die 1964 enthüllte<br />

»Nike«, gedachte im Sinne der Behörden dann nicht näher definierter Helden<br />

Warschaus – und nicht der Kämpfer des »ungerechtfertigten«, weil bürgerlichen<br />

Aufstandes von 1944, was in der Bevölkerung und vor allem unter ehemaligen<br />

Kombattanten Unmut hervorrief. Weitere Denkmäler folgten, unter anderem<br />

das 1989 vollendete monumentale Ensemble am plac Krasińskich, wo<br />

Bundespräsident Roman Herzog 1994 sich im Namen des deutschen Volkes für das<br />

den Polen zugefügte Leid entschuldigte. Doch immer griff der Staat entsprechend<br />

ein – von der Auswahl des Platzes bis hin zum Enthüllungsritual. Der Traum vom<br />

Bau eines eigenen Aufstandsmuseums konnte erst nach der politischen Wende<br />

von 1989 verwirklicht werden. Das Museum wurde 2004 eröffnet (weitere Informationen<br />

auf der Website des Museums: http://www.1944.pl). mt<br />

munistischen Machthaber die von<br />

Deutschen verübten Verbrechen bewusst<br />

in den Vordergrund. Wenn man<br />

die damalige, allgemein antideutsche<br />

Stimmung berücksichtigt, war es relativ<br />

einfach, die Haltung von Regierung<br />

und Bevölkerung bei der Einschätzung<br />

der Kriegsgeschichte einem gemeinsamen<br />

Nenner anzunähern. Die polnische<br />

Führung versuchte, in der Bevölkerung<br />

freundschaftliche Gefühle<br />

gegenüber der Sowjetunion als Bezwingerin<br />

des faschistischen Deutschlands<br />

zu erzeugen. Der fundamentale<br />

Widerspruch, der in der Zeit der Volksrepublik<br />

zwischen der offiziellen Geschichtsschreibung<br />

einerseits und den<br />

persönlichen Erfahrungen der meisten<br />

Polen andererseits bestand, war aber<br />

gerade mit den Auseinandersetzungen<br />

Polens mit seinen östlichen Nachbarn<br />

verbunden. Das propagandistische<br />

Motto der »polnisch-sowjetischen<br />

Freundschaft« wurde im Allgemeinen<br />

als Lüge aufgefasst. Im Bewusstsein<br />

der meisten Polen bestand eine Kontinuität<br />

zwischen dem zaristischen Russland<br />

und der UdSSR. Es können viele<br />

Beispiele dafür aufgezählt werden,<br />

welche die Feindseligkeit des Kremls<br />

gegenüber polnischen Unabhängigkeitsbestrebungen<br />

belegen. Zwei sowjetische<br />

Besatzungen der polnischen<br />

Ostgebiete (zwischen dem 17. September<br />

1939 und dem 22. Juni 1941 sowie<br />

von 1944 und 1945 während der »Befreiung«<br />

dieser Gebiete durch die Rote<br />

Armee) und die mit ihnen verbundenen<br />

Verbrechen, Morde und Deportationen<br />

kamen in offiziellen Geschichtsdarstellungen<br />

nicht vor.<br />

Zweifellos waren und sind antirussische<br />

Gefühle und Ängste in Polen<br />

auch heute keine Seltenheit. Sie werden<br />

durch den Unwillen Russlands<br />

verstärkt, wenigstens eine symbolische<br />

Geste der Wiedergutmachung für die<br />

Leiden der Polen während des <strong>Stalin</strong>ismus<br />

zu zeigen. Als Beispiel hierfür mögen<br />

die fast 19 000 kriegsgefangenen<br />

polnischen Offiziere dienen, die in Lagern<br />

auf dem Gebiet der UdSSR festgehalten<br />

und durch den sowjetischen Geheimdienst<br />

NKWD im Frühjahr 1940<br />

ermordet wurden. In der öffentlichen<br />

Meinung Polens ist dieses Verbrechen<br />

von Moskau immer noch nicht ausreichend<br />

verurteilt worden.<br />

Die Furcht vor dem russischen »Imperialismus«<br />

ist weiterhin lebendiger<br />

Bestandteil der polnischen Wahrnehmung<br />

des großen Nachbarn. Hier<br />

klingt bis heute die Erfahrung der drei<br />

Polnischen Teilungen im 19. Jahrhundert<br />

nach, als die Polen ohne einen eigenen<br />

Staat als Untertanen Russlands,<br />

Deutschlands und Österreichs lebten<br />

und sich vor allem im Zarenreich<br />

starker Unterdrückung ausgesetzt sahen.<br />

Einschlägige Diskussionen in Polen<br />

resultieren dabei außer in einigen<br />

extremen Fällen nicht aus der Absicht,<br />

die Verdienste der sowjetischen Soldaten<br />

bei der Befreiung von der nationalsozialistischen<br />

Besatzung infrage zu<br />

stellen. Die Polen fordern jedoch von<br />

Russland die Anerkennung der Tatsache,<br />

dass das Heldentum der sowjetischen<br />

Soldaten und die politischen<br />

Ziele <strong>Stalin</strong>s zwei unterschiedliche Aspekte<br />

darstellen. Die eigenen – polnischen<br />

– Verluste im Osten, sowohl an<br />

Menschen als auch territorialer Art,<br />

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />

1


Erinnerungskultur in Polen<br />

�Die Grenzfrage<br />

Für Polen war das wichtigste Ergebnis des Zweiten Weltkriegs die Zerschlagung<br />

Preußens, sichtbar vor allem in der neuen Grenzziehung: der Oder-Neiße-Linie.<br />

Die Grenzfrage belastete die deutsch-polnischen Beziehungen über viele Jahre.<br />

Von Seiten des »Bruderstaates« DDR war zwar bereits 1950 im Görlitzer Abkommen<br />

die Grenzziehung anerkannt worden, eine echte Annäherung zwischen den<br />

beiden Staaten unterblieb jedoch. Die Bundesrepublik lehnte die Grenze zunächst<br />

strikt ab; Polen sah die »revisionistische BRD« gar als Nachfolger Preußens. Erst in<br />

den 1970er Jahren schlug Westdeutschland mit der Ostpolitik neue Wege ein: In<br />

den Verträgen von Moskau und Warschau (1970) bestätigte Bonn die Unverletzlichkeit<br />

der bestehenden Grenzen in Europa. Auf gesellschaftlicher Ebene war das<br />

Gespräch wesentlich früher gesucht worden, etwa im Brief der polnischen Bischöfe<br />

an die Amtsbrüder in Deutschland aus dem Jahre 1965, wo der Satz geschrieben<br />

steht: »Wir vergeben und bitten um Vergebung«. Dies hat den Prozess<br />

der Normalisierung auf Regierungsebene sowie die Annäherung der deutschen<br />

und polnischen Bevölkerung nicht unwesentlich geprägt. Im Juni 1990 verabschiedeten<br />

Bundestag und DDR-Volkskammer eine gleichlautende Erklärung <strong>zur</strong> Anerkennung<br />

der polnischen Westgrenze. Im November 1990 folgte ein entsprechender<br />

Vertrag zwischen dem vereinten Deutschland und Polen mt<br />

schmerzen zwar weiterhin, bilden aber<br />

heute für die polnische Gesellschaft<br />

insgesamt ein abgeschlossenes Kapitel.<br />

Die Kommunisten haben in gewisser<br />

Weise dazu beigetragen, indem sie<br />

jahrzehntelang die Erinnerung an die<br />

sowjetische Besatzung der polnischen<br />

Ostgebiete unterdrückten.<br />

Polen und Juden<br />

Die Beziehungen zwischen Polen und<br />

Juden während der deutschen Besatzung<br />

zählen zu den schwierigsten Aspekten<br />

im polnischen Bild von der eigenen<br />

Vergangenheit. Die Frage weckt<br />

immer noch viele Emotionen; um sie<br />

herum entstanden zahlreiche Missverständnisse,<br />

insbesondere im Ausland.<br />

Diese reichten – beispielsweise in den<br />

USA – bis hin zu verletzenden und absurden<br />

Behauptungen über eine angebliche<br />

kollektive Mitverantwortung<br />

der Polen, die in dem Vorwurf gipfelten,<br />

die Polen seien »für die Passivität<br />

im Angesicht der Vernichtung der<br />

Juden« verantwortlich.<br />

Tausende polnischer Bürger aus unterschiedlichen<br />

gesellschaftlichen, religiösen<br />

und politischen Gruppen (sogar<br />

aus denen, die antisemitisch gefärbt<br />

waren) haben verfolgten Juden geholfen<br />

und zu ihrer Rettung beigetragen.<br />

Denen, die den Polen Passivität vorwerfen,<br />

ist sicherlich die heldenhafte<br />

Tätigkeit des »Rates für Judenhilfe«<br />

(Rada Pomocy Żydom, Deckname<br />

»Żegota«) nicht bekannt – einer polnischen<br />

Untergrundorganisation, die<br />

als Organ der polnischen Exilregierung<br />

wirkte. Żegota organisierte die Unterstützung<br />

für die Juden in den Ghettos<br />

und half denjenigen, die am nötigsten<br />

Hilfe benötigten.<br />

Es ist nicht zu leugnen, dass es Fälle<br />

gab, wo Polen Schandtaten begingen.<br />

Der Krieg und die deutsche wie die so-<br />

16 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />

wjetische Besatzung stellten die Menschen<br />

vor extreme Herausforderungen,<br />

demoralisierten sie mitunter oder brachen<br />

ihre Würde und ihren Charakter.<br />

Erst im postkommunistischen, freien<br />

Polen entstanden die Voraussetzungen<br />

und die Bereitschaft, solch besonders<br />

düstere Seiten des Krieges gründlich<br />

und auf wissenschaftlicher Basis zu<br />

untersuchen. Phänomene wie Kollaboration,<br />

Denunziation oder nationalistisch<br />

motivierte Verbrechen waren zuvor<br />

aus dem kollektiven Gedächtnis<br />

ausgeblendet worden. Ein Wendepunkt<br />

war in dieser Hinsicht der Fall<br />

des Städtchens Jedwabne, wo 1941 eine<br />

durch die Deutschen angestiftete<br />

Gruppe polnischer Einwohner Morde<br />

an Juden verübte. Die Kontroversen<br />

und heißen Diskussionen um dieses<br />

Verbrechen haben ganz Polen aufgewühlt.<br />

Der Fall Jedwabne wird mit Sicherheit<br />

nicht vergessen werden.<br />

Mit den Worten des Historikers und<br />

Stereotypenforschers Tomasz Szarota<br />

»kann es sich ein freies und voll souveränes<br />

Volk leisten, die eigene Geschichte<br />

ehrlich aufzuarbeiten. Unter<br />

5 Jedwabne, 10. Juli 2001: Der polnische Staatspräsident Alexander Kwasniewski<br />

legt am 60. Jahrestag des Massakers, bei dem Hunderte von Juden durch ihre polnischen<br />

Mitbewohner umgebracht worden waren, einen Kranz nieder.<br />

ullstein bild – Reuters


5 Parlamentäre der Armia Krajowa verhandeln nach mehr als 60 Tagen Kampf und<br />

Entbehrung mit <strong>Wehrmacht</strong>offizieren über die Kapitulation der Widerstandsarmee.<br />

Aufnahme vom 2. Oktober 1944.<br />

Beibehaltung des Stolzes auf lobenswerte<br />

Handlungen, Erfolge und Errungenschaften<br />

ist ein Volk auch in der<br />

Lage, sich zu unwürdigen Taten zu bekennen.«<br />

Diese von Szarota geäußerte<br />

Überzeugung fand ihre Bestätigung in<br />

repräsentativen Umfragen des Jahres<br />

2004: In allen Bildungsschichten gibt es<br />

weitaus mehr Personen, die glauben,<br />

dass man von den Leiden, die anderen<br />

von Polen zugefügt wurden, sprechen<br />

muss, als Menschen, die meinen, man<br />

sollte aufhören, dies zu tun. Dies kann<br />

als Zeugnis dafür gelten, dass die Offenheit<br />

der Gesellschaft insgesamt größer<br />

geworden ist.<br />

Sieg oder Niederlage?<br />

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs<br />

beschäftigte viele Polen die Frage, was<br />

die neue Wirklichkeit bringen werde,<br />

ob das Kriegsende wirklich einen Sieg<br />

für Polen bedeute, oder ob das Land in<br />

Wahrheit nicht eher eine Niederlage erlitten<br />

habe. Die Mehrheit der Bevölkerung<br />

erlebte damals mehr als eine Enttäuschung,<br />

was die allgemeine Situation<br />

im Lande und ihre persönlichen<br />

Lebensbedingungen nach dem Krieg<br />

betraf. Bei vielen wuchs das Gefühl des<br />

unverdienten Leidens eines Volkes, das<br />

von seinen Verbündeten verraten worden<br />

sei. Die wirkliche Freude über die<br />

Beendigung des Alptraums von Krieg<br />

und Besatzung im Lager der Sieger<br />

wurde begleitet von einem tiefgehenden<br />

und lähmenden Bewusstsein neuer Ab-<br />

hängigkeit und Unfreiheit. Die Polen<br />

waren »unterlegene Sieger«. Mit diesem<br />

Bewusstsein »betraten« viele die neue<br />

Nachkriegswirklichkeit.<br />

60 Jahre nach Beendigung des Zweiten<br />

Weltkriegs, im April 2005, führte<br />

das Zentrum für die Erforschung der<br />

gesellschaftlichen Meinung (Centrum<br />

Badania Opinii Społecznej, CBOS) eine<br />

Untersuchung durch. Es befragte Polinnen<br />

und Polen, ob ihr Land als Sieger<br />

des Zweiten Weltkriegs betrachtet<br />

werden könne. Die Analyse der Antworten<br />

zeigte, dass die meisten der<br />

Meinung waren, dass Polen zwar zu<br />

den Gewinnern des Krieges gehörte, es<br />

sich aber nicht um einen vollständigen<br />

Sieg gehandelt habe (33 Prozent). 27<br />

Prozent bejahten hingegen die Frage in<br />

vollem Umfang, während immerhin 22<br />

Prozent sie verneinten. Zwei Hauptfaktoren<br />

waren für ein derartig breit<br />

gefächertes Meinungsbild verantwortlich:<br />

der Bildungsgrad und die politischen<br />

Ansichten der Befragten. In die<br />

individuellen Bewertungen floss die<br />

Betrachtung der gesamten Nachkriegszeit<br />

mit ein, und hier vor allem die Einschätzung<br />

der kommunistischen Volksrepublik<br />

Polen: Erachtete ein Befragter<br />

die Volksrepublik als »normalen« polnischen<br />

Staat, dann zählte er Polen <strong>zur</strong><br />

Gruppe der Gewinner. Wurde die<br />

Volksrepublik als Zeit der Zensur und<br />

Unterdrückung abgelehnt, waren zwei<br />

Standpunkte möglich: ein gemäßigter<br />

(»wir waren Sieger, aber...«) oder ein<br />

radikaler (»wir sind als Verlierer aus<br />

dem Krieg hervorgegangen«).<br />

bpk/Benno Wundshammer<br />

Veränderungen in der<br />

Erinnerung nach 1989<br />

Die Erinnerung der Polen an den Zweiten<br />

Weltkrieg hat in den letzten 15 bis<br />

20 Jahren tiefgreifende Veränderungen<br />

erfahren. In Vergessenheit geraten ist<br />

das vereinfachte, von der kommunistischen<br />

Propaganda erzwungene Bild<br />

vom Krieg als ausschließlich deutschpolnischem<br />

Konflikt. Das Wissen über<br />

für die Kommunisten unangenehme<br />

Ereignisse drang im freien Polen nunmehr<br />

ungehindert bis zu all jenen vor,<br />

die bereit waren, die eigene Geschichte<br />

aufzuarbeiten. So gehört heute beispielsweise<br />

zum Allgemeinwissen, dass Polen<br />

im Jahre 1939 von zwei Invasoren –<br />

Deutschland und der UdSSR – angegriffen<br />

wurde, und dass das Ende des<br />

Krieges in keiner Weise die Wiedererlangung<br />

der polnischen Unabhängigkeit<br />

bedeutete. Der Polonozentrismus<br />

im Bild vom Krieg hat sich etwas abgemildert.<br />

Immer öfter verbinden die<br />

Polen die Kriegsereignisse mit einer<br />

Zeit der allgemeinen menschlichen<br />

Tragödie.<br />

Eine unverändert wichtige Stellung<br />

im kollektiven Gedächtnis nehmen die<br />

Stereotypen ein, die sich in den gegenseitigen<br />

polnisch-deutschen, russischpolnischen<br />

oder insbesondere in den<br />

polnisch-jüdischen Wahrnehmungen<br />

widerspiegeln. Dies bedeutet nicht,<br />

dass Anstrengungen, die gemeinsame<br />

Vergangenheit besser zu verstehen, als<br />

sinnlos zu betrachten sind. Fundiertes<br />

historisches Wissen zerstört zwar nicht<br />

falsche Mythen, löscht nicht gleich vorhandene<br />

Stereotypen aus. Es erlaubt jedoch<br />

bei einem bisschen guten Willen,<br />

den Anderen besser zu verstehen.<br />

� Tomasz Kopański<br />

Literaturtipps<br />

Übersetzung aus dem Polnischen:<br />

Sonja Stankowski<br />

Jochen Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die <strong>Wehrmacht</strong><br />

in Polen 1939, Frankfurt a.M. 2006.<br />

Bernhard Chiari (Hrsg.), Die polnische Heimatarmee.<br />

Geschichte und Mythos der Armia Krajowa seit dem<br />

Zweiten Weltkrieg, München 2003 (= Beiträge <strong>zur</strong> Militärgeschichte,<br />

57).<br />

Norman Davies, Im Herzen Europas. Geschichte Polens,<br />

3. Aufl., München 2002.<br />

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />

1


Seekrieg im Südatlantik<br />

Das Panzerschiff<br />

»Admiral Graf Spee« 1939<br />

Seekrieg im Südatlantik<br />

5 Am 17. Dezember 1939 versenkte Kapitän z.S. Langsdorff sein Schiff.<br />

Am 17. Dezember 1939 ging das<br />

deutsche Panzerschiff »Admiral<br />

Graf Spee« im Rio de la<br />

Plata unter. Angesichts einer militärisch<br />

aussichtslosen Lage hatte sich der<br />

Kommandant, Kapitän <strong>zur</strong> See Hans<br />

Langsdorff, entschieden, lieber sein<br />

Schiff selbst zu versenken, als seine Besatzung<br />

im Gefecht gegen einen weit<br />

überlegenen Gegner um der »Ehre der<br />

deutschen Flagge” willen zu opfern.<br />

Kapitän z.S. Langsdorff<br />

Hans Wilhelm Langsdorff wurde 1894<br />

als Sohn eines Richters in Bergen auf<br />

der Insel Rügen geboren. 1912 trat er in<br />

die Kaiserliche Marine ein und nahm<br />

1916 an Bord des Linienschiffs SMS<br />

»Großer Kurfürst« an der Skagerrak-<br />

Schlacht teil. 1918 in die Reichsmarine<br />

übernommen, avancierte Langsdorff in<br />

den 1920er Jahren zum Kommandeur<br />

einer Torpedoboot-Halbflottille. 1925<br />

wurde er Marineverbindungsoffizier<br />

<strong>zur</strong> Heeresleitung in Berlin. Anfang<br />

18 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />

der 1930er Jahre diente Langsdorff als<br />

Adjutant des Reichswehrministers General<br />

Kurt von Schleicher, ab 1935 als<br />

1. Admiralstabsoffizier im Stab des<br />

Kommandeurs der Aufklärungsstreitkräfte.<br />

1937 wurde Langsdorff zum<br />

Kapitän <strong>zur</strong> See befördert und im November<br />

1938 Kommandant des Panzerschiffs<br />

»Admiral Graf Spee«.<br />

Ein modernes Schiff<br />

1928 war der Bau eines Nachfolgers für<br />

das veraltete Linienschiff »Preußen«<br />

beschlossen worden. Aufgrund der im<br />

Versailler Vertrag festgelegten Größenbegrenzung<br />

auf 10 000 Tonnen Wasserverdrängung<br />

folgten die Konstrukteure<br />

dabei dem Prinzip: »Stärker als<br />

jedes schnellere und schneller als jedes<br />

stärkere Schiff«. Das Ergebnis war ein<br />

völlig neuer Schiffstyp: Ohne die Bestimmungen<br />

des Versailler Vertrages<br />

zu verletzen, war das Schiff mit seiner<br />

Bewaffnung von sechs 28 cm- und acht<br />

15 cm-Geschützen zum damaligen<br />

Zeitpunkt allen schnelleren Gegnern<br />

artilleristisch überlegen und mit seiner<br />

Höchstgeschwindigkeit von 28 Knoten<br />

(Seemeilen pro Stunde, entsprechen<br />

51,86 km/h) schneller als die meisten<br />

stärkeren Schiffe. Zugleich ermöglichte<br />

der sparsame Dieselantrieb einen großen<br />

Aktionsradius von fast 20 000 Seemeilen<br />

und damit eine Kriegführung<br />

auf den Weltmeeren. 1931 lief der erste<br />

Neubau in Kiel vom Stapel und wurde<br />

auf den Namen »Deutschland« getauft.<br />

Die gelungene Konstruktion wurde im<br />

Ausland halb spöttisch und halb bewundernd<br />

als »Westentaschen Schlachtschiff«<br />

bezeichnet.<br />

Die baugleiche »Admiral Graf Spee«<br />

lief im Juni 1934 in Wilhelmshaven<br />

vom Stapel und wurde im Januar 1936<br />

in Dienst gestellt. Im Mai 1937 vertrat<br />

das Schiff die deutsche Kriegsmarine<br />

bei der Flottenparade im Spithead anlässlich<br />

der Krönung des britischen<br />

Königs George VI. und war anschließend<br />

an der Überwachung der spanischen<br />

Gewässer während des Spanischen<br />

Bürgerkriegs beteiligt.<br />

Archiv des Deutschen Marinebundes


Jagd auf Handelsschiffe<br />

Am 21. August 1939 lief die »Admiral<br />

Graf Spee« von Wilhelmshaven mit<br />

Kurs auf den Südatlantik aus. Kapitän<br />

Langsdorff analysierte zutreffend, dass<br />

etwas Entscheidendes bevorstand, wie<br />

der Eintrag für den 25. August 1939 im<br />

Kriegstagebuch des Panzerschiffs belegt:<br />

»Der 26.8. ist als erster Tag der getarnten<br />

Mobilmachung der Kriegsmarine<br />

befohlen. Gesamteindruck, dass<br />

England und Frankreich Deutschland<br />

den Krieg erklären werden, falls<br />

Deutschland in Polen oder Danzig einmarschiert,<br />

ohne dass die Polen den<br />

Angriff eröffnet haben.«<br />

Fünf Tage später, am 1. September<br />

1939, begann mit dem deutschen Angriff<br />

auf Polen der Zweite Weltkrieg.<br />

Am gleichen Tag traf sich die »Admiral<br />

Graf Spee« zum ersten Mal mit dem<br />

Versorgungsschiff »Altmark« <strong>zur</strong><br />

Treibstoffergänzung auf offener See.<br />

Diese Fähigkeit <strong>zur</strong> Versorgung außerhalb<br />

von Häfen war entscheidend für<br />

den Erfolg der »Admiral Graf Spee«,<br />

denn auf diese Weise konnte der wichtigste<br />

strategische Nachteil der Deutschen<br />

im Seekrieg – der Mangel an<br />

überseeischen Stützpunkten – zumindest<br />

teilweise ausgeglichen werden.<br />

Dreieinhalb Wochen hielt sich die<br />

»Admiral Graf Spee« fernab der Schifffahrtswege<br />

in den Weiten des Südatlantiks<br />

verborgen. Erst am 26. September<br />

erhielt Langsdorff seinen Einsatzbefehl.<br />

Er sollte »größtmöglichste Wir-<br />

5 Das aufgebrachte englische<br />

Handelsschiff »Huntsman«.<br />

kung im Handelskrieg« anstreben, »jedoch<br />

ohne vollen Einsatz.« Das bedeutete,<br />

Langsdorff sollte so viele Handelsschiffe<br />

wie möglich versenken,<br />

Gefechten mit Kriegsschiffen aber aus<br />

dem Wege gehen. Für diese Aufgabe<br />

war das Panzerschiff dank seiner hohen<br />

Geschwindigkeit und großen<br />

Reichweite ideal geeignet, und so<br />

machte die »Admiral Graf Spee« in den<br />

folgenden vier Monaten vor Südamerika,<br />

im Südatlantik und im Indischen<br />

Ozean Jagd auf feindliche Handelsschiffe.<br />

Es gelang der »Admiral Graf Spee«,<br />

neun britische Handelsschiffe mit insgesamt<br />

50 089 BRT zu versenken, ohne<br />

dass ein einziger feindlicher Seemann<br />

sein Leben verlor. Das erste Opfer des<br />

deutschen Panzerschiffs war der Frachter<br />

»Clement«, der am 30. September in<br />

der Nähe der brasilianischen Küste<br />

aufgebracht und versenkt wurde. Zuletzt<br />

versank am 7. Dezember der Getreidefrachter<br />

»Streonshall«. Obgleich<br />

es einigen der Schiffe geglückt war, vor<br />

der Aufbringung Notrufe abzusetzen,<br />

entkam das Panzerschiff allen Verfolgern.<br />

Zur Tarnung hatte Langsdorff die Silhouette<br />

seines Schiffes verändert und<br />

zudem häufig sein »Jagdgebiet« gewechselt.<br />

So gelang es ihm, nicht nur<br />

der Entdeckung zu entgehen, sondern<br />

zugleich auch möglichst viel Unruhe zu<br />

stiften. In seinem Erinnerungen zollte<br />

Winston S. Churchill dem geschickten<br />

Vorgehen Langsdorffs Respekt: »Die<br />

Archiv des Deutschen Marinebundes<br />

›Graf Spee‹ wurde kühn und unternehmungslustig<br />

geführt. Ihre Taktik war,<br />

irgendwo kurz zu erscheinen, ein<br />

Opfer <strong>zur</strong> Strecke zu bringen und dann<br />

wieder in der Unendlichkeit des Ozeans<br />

zu verschwinden.« Noch wichtiger als<br />

der Schaden, den der Tonnageverlust<br />

dem Feind zufügte, war der strategische<br />

Wert des Unternehmens, denn<br />

durch die Jagd auf den einsamen Wolf<br />

wurde eine große Zahl von Kriegsschiffen<br />

gebunden, die anderswo<br />

ebenso dringend benötigt wurden.<br />

Nicht umsonst nannte Churchill diese<br />

Wochen »sorgenvoll”.<br />

Gefecht vor dem Rio de la Plata<br />

Vor der geplanten Rückkehr nach<br />

Deutschland wollte Langsdorff noch<br />

ein letztes Mal vor der Küste Südamerikas<br />

nach Beute Ausschau halten. Am<br />

13. Dezember 1939 gelang es jedoch<br />

der britischen Kampfgruppe »Force<br />

G«, die »Admiral Graf Spee« in Küstennähe<br />

vor der Mündung des Rio de<br />

la Plata zu stellen. Das von Kommodore<br />

Henry Harwood geführte Abfanggeschwader<br />

bestand aus dessen<br />

Flaggschiff, dem Leichten Kreuzer<br />

HMS »Ajax«, dem Schweren Kreuzer<br />

HMS »Exeter« sowie dem neuseeländischen<br />

Leichten Kreuzer HMNZS<br />

»Achilles«.<br />

Als Langsdorff am frühen Morgen<br />

die Sichtung von drei britischen Kriegsschiffen<br />

gemeldet wurde, dachte er, le-<br />

5 Kapitän z.S. Hans Wilhelm Langsdorff<br />

(1894–1939).<br />

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />

19


Seekrieg im Südatlantik<br />

diglich einen Leichten Kreuzer und<br />

zwei Zerstörer vor sich zu haben. Das<br />

war zu dieser Zeit kein ungewöhnliches<br />

Versehen auf hoher See: 1941 verwechselten<br />

etwa die britischen Schiffe<br />

»Hood« und »Prince of Wales« im Gefecht<br />

mit der »Bismarck« das Schlachtschiff<br />

mit dem Schweren Kreuzer<br />

»Prinz Eugen« – ein Fehler, der sich für<br />

die »Hood” als tödlich erweisen sollte.<br />

Da die Briten zwischen ihm und der<br />

offenen See standen, versuchte Langsdorff,<br />

die Durchfahrt zu erzwingen.<br />

Um 6.17 Uhr eröffnete die »Admiral<br />

Graf Spee« das Feuer. Den 28 cm-<br />

Kanonen des Panzerschiffs waren die<br />

15 cm-Geschütze von Harwoods Leichten<br />

Kreuzern an Reichweite und<br />

Durchschlagskraft weit unterlegen.<br />

Deshalb entschloss sich der britische<br />

Kommodore, die Schiffe seines Geschwaders<br />

getrennt angreifen zu lassen.<br />

Unterstützt von der »Achilles« attackierte<br />

er mit seinem Flaggschiff<br />

»Ajax« das deutsche Panzerschiff von<br />

Osten her, während die »Exeter« mit<br />

ihren schwereren 20 cm-Geschützen<br />

aus Richtung Süden anlief. Dadurch<br />

wurde die »Admiral Graf Spee« gezwungen,<br />

ihr Feuer zu verteilen. Für<br />

sein brillantes Manöver wurde Har-<br />

20 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />

wood am folgenden Tag die Ritterwürde<br />

verliehen und außer der Reihe<br />

zum Konteradmiral befördert. Langsdorff<br />

führte sein Schiff wie einen Zerstörer.<br />

Wiederholt änderte er den Kurs,<br />

sodass seine Geschützführer gezwungen<br />

waren, sich immer wieder neu auf<br />

ihre Gegner einzuschießen. Dieses Vorgehen<br />

ist später kritisiert worden. Möglicherweise<br />

hätte Langsdorff bei einem<br />

anderen Kurs seine artilleristische<br />

Überlegenheit voll zum Tragen und die<br />

drei Gegner aus der Distanz erfolgreich<br />

niederkämpfen können.<br />

Das deutsche Panzerschiff erhielt insgesamt<br />

20 Treffer. 36 Seeleute wurden<br />

getötet, 60 verwundet. Obgleich die<br />

britischen Schiffe ebenfalls schwer beschädigt<br />

wurden, zwangen sie Langsdorff<br />

schließlich zum Rückzug. Gegen<br />

7.30 Uhr löste sich die »Admiral Graf<br />

Spee« aus dem Gefecht und nahm Kurs<br />

auf den neutralen Hafen Montevideo<br />

am Rio de la Plata in Uruguay. Langsdorff<br />

hatte den Hafen auf Rat seines<br />

Navigationsoffiziers ausgewählt, augenscheinlich<br />

ohne zu bedenken, dass er<br />

und sein Schiff weiter flussaufwärts im<br />

deutschfreundlichen Argentinien sehr<br />

viel freundlicher aufgenommen worden<br />

wären.<br />

Das Ende vor Montevideo<br />

In Montevideo wollte Langsdorff die<br />

Gefechtsschäden beheben. Kurz nach<br />

Mitternacht lief die »Admiral Graf<br />

Spee« in den Hafen ein. Die an Bord<br />

befindlichen Seeleute der versenkten<br />

britischen Handelsschiffe wurden freigelassen<br />

und die 36 deutschen Gefallenen<br />

unter großer Anteilnahme der<br />

Bevölkerung beigesetzt. Auch die Offiziere<br />

und Besatzungen der von der<br />

»Admiral Graf Spee« versenkten britischen<br />

Schiffe erwiesen den Toten die<br />

letzte Ehre.<br />

Nach dem Völkerrecht hätte das<br />

deutsche Kriegsschiff nur für 24 Stunden<br />

in dem neutralen Hafen bleiben<br />

dürfen. Obgleich der Präsident Uruguays<br />

die Frist durch einen Erlass auf<br />

72 Stunden verlängerte, änderte diese<br />

Geste angesichts der schweren Schäden<br />

nicht viel. Vergeblich versuchten<br />

deutsche Diplomaten, die Frist erneut<br />

zu verlängern. Obwohl die »Admiral<br />

Graf Spee« noch kampffähig war, erschien<br />

es mehr als fraglich, ob das<br />

Schiff aufgrund der Treffer im Bug und<br />

vor allem in der Antriebsanlage die<br />

Fahrt <strong>zur</strong>ück nach Deutschland schaffen<br />

würde. Ebenso hatte einer der Tref-<br />

Archiv des Deutschen Marinebundes


fer Küche und Bäckerei des werftreifen<br />

Schiffes zerstört, wodurch die Versorgung<br />

der Besatzung so gut wie unmöglich<br />

geworden war. Unterdessen hatten<br />

die britische Propaganda die Deutschen<br />

geschickt in die Irre geführt. Es<br />

gelang den Briten, den Deutschen und<br />

Kapitän Langsdorff Glauben zu machen,<br />

dass das britische Blockadegeschwader<br />

wesentlich größer sei als nur<br />

die drei Schiffe Konteradmiral Harwoods.<br />

Verstärkt durch den Schweren<br />

Kreuzer »Cumberland«, bewachte er<br />

mit den angeschlagenen Leichten<br />

Kreuzern »Ajax« und »Achilles« seine<br />

waidwund geschossene Beute im<br />

Hafen von Montevideo, während die<br />

schwer beschädigte »Exeter« <strong>zur</strong> Reparatur<br />

Kurs auf die Falkland-Inseln genommen<br />

hatte. Die eilig herbeigerufene<br />

Verstärkung, bestehend aus dem<br />

Flugzeugträger »Ark Royal« und fünf<br />

weiteren Kriegsschiffen, war dagegen<br />

noch mehrere Tage entfernt.<br />

Angesichts der Gefechtsschäden seines<br />

Schiffes hätte aber auch die Kenntnis<br />

der wahren Situation auf der britischen<br />

Seite die Lage für Kapitän<br />

Langsdorff nicht wesentlich geändert.<br />

Ihm blieben nur drei Möglichkeiten:<br />

Die »Admiral Graf Spee« an die Uru-<br />

guayer zu übergeben und sich mit seiner<br />

Besatzung internieren zu lassen,<br />

sein Schiff zu versenken oder kämpfend<br />

unterzugehen. Auf Langsdorffs<br />

Bitte um Instruktionen antwortete das<br />

Oberkommando der Kriegsmarine<br />

ausweichend: Internierung käme nicht<br />

in Frage, aber ob er kämpfen oder das<br />

Schiff versenken wolle, müsse er selbst<br />

entscheiden. Doch anstatt sich wie von<br />

<strong>Hitler</strong> und Großadmiral Erich Raeder,<br />

dem Oberbefehlshaber der Kriegsmarine,<br />

erhofft, auf einen sinnlosen Kampf<br />

einzulassen, der vielleicht der »Flaggenehre«<br />

Genüge getan, aber zweifellos<br />

mit der Vernichtung seines Schiffs und<br />

dem Tod seiner Crew geendet hätte,<br />

entschloss sich Langsdorff für die<br />

Selbstversenkung. Er hatte sich damit<br />

für das Überleben seiner Besatzung<br />

entschieden – angesichts der aussichtslosen<br />

Situation ein humaner, aber für<br />

den Kommandanten eines Kriegsschiffs<br />

dennoch schwerer Entschluss.<br />

Kurz vor Ablauf der 72-Stunden-Frist<br />

verließ die »Admiral Graf Spee« am 17.<br />

Dezember 1939 um 17.30 Uhr mit einer<br />

Notmannschaft an Bord den Hafen von<br />

Montevideo. Das Panzerschiff verfügte<br />

noch über genug Munition für 80 Minuten<br />

Kampf. Doch statt die feind-<br />

5 Makabres Wahrzeichen Montevideos: das ausgebrannte Wrack der »Admiral Graf<br />

Spee« war noch viele Jahre sichtbar.<br />

Archiv des Deutschen Marinebundes<br />

lichen Schiffe zu zerstören, zerrissen<br />

die Granaten und Torpedos den Rumpf<br />

des eigenen Schiffs. Es sank auf acht<br />

Meter Wassertiefe. Tagelang wüteten<br />

schwere Brände an Bord, das ausgebrannte<br />

Wrack war noch viele Jahre<br />

später sichtbar – gleichsam als makabres<br />

Wahrzeichen Montevideos.<br />

Eine bittere Ironie des Schicksals: gut<br />

25 Jahre früher, am 8. Dezember 1914,<br />

war der Namenspatron des Schiffes,<br />

Vizeadmiral Maximilian Reichsgraf<br />

von Spee, mit seinem Geschwader bei<br />

den Falkland-Inseln von einem überlegenen<br />

britischen Verband versenkt<br />

worden.<br />

Nach der Selbstversenkung seines<br />

Schiffes war Langsdorff mit seiner gesamten<br />

Besatzung nach Buenos Aires<br />

in die argentinische Internierung gegangen.<br />

Um, wie er zu seiner Besatzung<br />

sagte, »der Welt die deutsche<br />

Ehre beweisen« – und um zu beweisen,<br />

dass er nicht aus Feigheit gehandelt<br />

hatte –, erschoss sich der Kapitän zwei<br />

Tage später. Am Morgen des 20. Dezember<br />

fand ihn sein Adjutant in voller<br />

Uniform auf der Reichskriegsflagge<br />

liegend. Langsdorff wurde auf dem<br />

deutschen Friedhof von Buenos Aires<br />

unter großer Anteilnahme der Bevölkerung<br />

beigesetzt.<br />

Lange Zeit wurde Kapitän Langsdorff<br />

von seinen Gegnern mehr gewürdigt<br />

als von seinen eigenen Landsleuten.<br />

So erhob Raeder nach dem Krieg<br />

in seinen Schriften den Vorwurf, der<br />

Verlust des Schiffes sei von Langsdorff<br />

verursacht worden, weil er gegen seine<br />

Befehle verstoßen habe. Dagegen würdigte<br />

ihn Churchill voller Hochachtung<br />

als einen »hervorragenden Offizier«.<br />

Bis heute gilt Langsdorff den<br />

Briten als ehrenhafter und würdiger<br />

Gegner – aber was galten <strong>Hitler</strong> und<br />

seinen Admiralen schon Anstand und<br />

Menschlichkeit.<br />

� Jann M. Witt<br />

Literaturtipp<br />

F.W. Rasenack, Panzerschiff »Admiral Graf Spee«, Hamburg<br />

1999.<br />

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />

21


Service<br />

Eine Woche bevor der Vertrag von<br />

Versailles den Ersten Weltkrieg<br />

formell beendete, wurden im<br />

Norden Schottlands 74 Einheiten der<br />

deutschen Hochseeflotte von ihren Besatzungen<br />

fast vollständig versenkt: 50<br />

Torpedoboote, acht Kleine Kreuzer,<br />

fünf Große Kreuzer und elf Linienschiffe<br />

– insgesamt 400 000 Tonnen<br />

Schiffsmaterial, nahezu der ganze Stolz<br />

der Kaiserlichen Marine. Sieben Monate<br />

hatten die Schiffe in der von den<br />

Orkney-Inseln gebildeten Bucht vor<br />

Anker gelegen.<br />

Während die bis 1917 gefährlich<br />

schlagkräftigen U-Boote an die gegnerischen<br />

Mächte ausgeliefert wurden,<br />

verlangte der Waffenstillstandsvertrag<br />

vom 11. November 1918 die Internierung<br />

der großen Überwasserschiffe. In<br />

den Heimathäfen entwaffnet, brach die<br />

Flotte kurz darauf von Wilhelmshaven<br />

in einer 50 Kilometer langen Linie zu<br />

ihrer letzten Fahrt auf. Auf deutscher<br />

Seite glaubte man noch, die Schiffe<br />

würden als ein »vorübergehendes<br />

Pfand« nach dem Friedenschluss <strong>zur</strong>ückkehren.<br />

Chef des Überführungs-<br />

und später des Internierungsverbands<br />

Scapa Flow war Konteradmiral Ludwig<br />

von Reuter. Zunächst fuhren die<br />

Schiffe zum Firth of Forth vor Edinburgh,<br />

wo die Briten mit großem Flot-<br />

Das historische Stichwort<br />

tenaufgebot sie erwarteten: 90 000<br />

Mann auf 370 Schiffen, für die Deutschen<br />

ein maritimer Spießrutenlauf.<br />

Admiral David Beatty wollte mit seiner<br />

Siegesparade einen Ausgleich für<br />

die ausgebliebene Vernichtungsschlacht<br />

schaffen. Die Royal Navy hatte<br />

schließlich den Krieg mit der wirksamen,<br />

dabei aber wenig spektakulären<br />

Fernblockade gewonnen, und die<br />

Kaiserliche Marine hatte sie nicht verhindern<br />

können. An diesem 21. November<br />

1918 mussten die Deutschen<br />

ihre Kriegsflaggen einholen. Danach<br />

überprüften britische und amerikanische<br />

Offiziere, ob die Entwaffnung tatsächlich<br />

erfolgt war. Sie wurden von<br />

lässigen deutschen Soldatenräten und<br />

Matrosen beobachtet, die vergeblich<br />

auf den Schulterschluss mit den gegnerischen<br />

Mannschaften hofften.<br />

Ab dem folgenden Tag ging es weiter<br />

nach Scapa Flow, dem Stützpunkt der<br />

»Grand Fleet«. Von hier aus hatte sie<br />

während des Krieges ihre Fernblockade<br />

unterhalten und die Kaiserliche<br />

Marine zu weitgehender Untätigkeit<br />

verurteilt.<br />

Der Internierungsort bot wenig Abwechslung.<br />

Außer ein paar Häusern<br />

und Baracken, Schafen, Möwen- und<br />

Kormoranschwärmen gab es nicht viel<br />

zu sehen. Die Briten umkreisten mit<br />

22 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />

Scapa Flow,<br />

21. Juni 1919<br />

5 Feuerbereite britische Kriegsschiffe (li.) begleiten Schiffe der deutschen Hochseeflotte <strong>zur</strong> Internierung nach Scapa Flow.<br />

Dampfern den Verband und hielten ein<br />

Wachgeschwader in Bereitschaft. Der<br />

Landgang war den deutschen Besatzungen<br />

verwehrt. Von 20 000 Mann Besatzung<br />

kehrten während der folgenden<br />

Monate 15 000 in die Heimat<br />

<strong>zur</strong>ück. Die restlichen 5 000 hielten die<br />

Fahrtbereitschaft aufrecht. Außer den<br />

nötigsten Reinigungs- und Wartungsarbeiten<br />

gab es nicht viel zu tun. Die<br />

Briten lieferten Wasser und Kohle auf<br />

Rechnung; Proviant kam aus Deutschland,<br />

täglich eintausend Brote und wenig<br />

frische Lebensmittel. Die Besatzungen<br />

angelten kleine Fische und<br />

hungerten mal mehr, mal weniger. Der<br />

direkte Funkverkehr mit der Heimat<br />

war untersagt. Die Internierung wurde<br />

de facto <strong>zur</strong> Kriegsgefangenschaft. Um<br />

den Jahreswechsel 1918/19 herum kam<br />

es zu Unruhen, ausgehend vom Flaggschiff<br />

»Friedrich der Große«. Gemäßigte<br />

Mannschaften schützten von Soldatenräten<br />

»entlassene« Offiziere. Rollschuhfahren<br />

auf dem Achterdeck war<br />

eine der harmloseren Methoden, Vorgesetzte<br />

zu ärgern. Umgekehrt provozierte<br />

die Mannschaft des Kleinen<br />

Kreuzers »Bremse« die anderen Schiffe<br />

damit, dass sie am 27. Januar den Geburtstag<br />

Wilhelms II. in Paradeuniform<br />

(»Anzug blau«) feierte. Konteradmiral<br />

von Reuter, auch er unbewaffnet, be-<br />

Süddeutsche Zeitung Photo/Scherl


5 Blick auf die internierten Einheiten, Aufnahme vom 10. Mai 1919 mit zeitgenössischer<br />

Beschriftung.<br />

schrieb seine Situation als »ein Spiel<br />

mit sieben Kugeln«. Die reichsweite<br />

Neuregelung der Kommandogewalt,<br />

die den Soldatenräten am 19. Januar<br />

1919 die Macht aus den Händen nahm,<br />

wirkte sich in Scapa Flow kaum aus.<br />

Eine allgemeine Beruhigung der inneren<br />

Lage trat erst mit der zweiten<br />

großen Mannschaftsreduzierung kurz<br />

vor der Versenkung ein.<br />

In Versailles einigten sich die Siegermächte<br />

auf eine drastische Reduzierung<br />

der deutschen Marine und forderten<br />

die Übergabe der internierten<br />

Flotte und weiterer Schiffe. Als am 11.<br />

Mai in Scapa Flow die Friedensbedingungen<br />

bekannt wurden, beschloss<br />

Reuter, dem allgemeinen Ehrenkodex<br />

entsprechend, kein Schiff in gegnerische<br />

Hände zu geben. Noch am 21.<br />

Juni nahm er aufgrund der letzten<br />

Nachrichten aus Berlin vom 17. Juni<br />

an, dass die Reichsregierung die Friedensbedingungen<br />

ablehnen und der<br />

Kriegszustand binnen kurzem wieder<br />

eintreten werde. Zum ersten Mal seit<br />

sieben Monaten liefen zudem die bri-<br />

6 Das Linienschiff »Bayern« wird von der<br />

Besatzung versenkt.<br />

Süddeutsche Zeitung Photo/Scherl<br />

tischen Schiffe aus Scapa Flow zu Torpedoübungen<br />

auf die offene See aus.<br />

Der 21. Juni 1919 war ein strahlend<br />

schöner Tag. Reuters mit Signalflaggen<br />

übermittelter Versenkungsbefehl lautete<br />

»Paragraph 11 bestätigen«. Wie<br />

schon bei dem in den letzten Kriegstagen<br />

unternommenen Versuch der Flottenführung,<br />

mit einem Vorstoß zu einer<br />

letzten Schlacht zu gelangen, stand<br />

im Hintergrund die Hoffnung auf ein<br />

»Stirb und Werde«, auf eine neue deutsche<br />

»Zukunftsflotte«. Ein Ausflugsdampfer<br />

mit 400 Schulkindern umkreiste<br />

die Liegeplätze der deutschen<br />

Flotte, als sich gegen 12 Uhr Mittag die<br />

ersten Schiffe <strong>zur</strong> Seite neigten, nachdem<br />

Flutventile sowie Kondensator-<br />

und Torpedorohröffnungen aufgeschraubt<br />

worden waren. Rund 1000<br />

Mann bestiegen alle verfügbaren Boote,<br />

als Zivilisten aus den nahen Ortschaften,<br />

teilweise auch die <strong>zur</strong>ückkehrenden<br />

britischen Bewacher, hilflos auf die<br />

Schiffe zu schießen begannen. 12.16 Uhr<br />

war »Friedrich der Große« als erstes Linienschiff<br />

gesunken. Auf der »Seydlitz«<br />

ertönte ein Hornruf nach dem alten<br />

Reiterlied, »Wohl auf Kameraden,<br />

auf’s Pferd, auf’s Pferd!« Als letztes der<br />

großen Schiffe sank die »Hindenburg«<br />

auf ebenem Kiel, sodass die Aufbauten<br />

noch viele Jahre aus dem Wasser<br />

ragten. Das Grollen und Tosen des Untergangs,<br />

das Reißen der Ankerketten,<br />

die aufgeregten Schulkinder, die Rufe<br />

und Schüsse, all das machte einen gewaltigen<br />

Lärm. Bergungsversuche<br />

zeigten wenig Erfolg, als einziges<br />

Fotos: ullstein bild<br />

5 Das gehobene Linienschiff »König<br />

Albert« wird 1936 <strong>zur</strong> Verschrottung<br />

geschleppt.<br />

großes Schiff wurde die »Baden« am<br />

Ufer auf Grund gesetzt. Neun deutsche<br />

Soldaten starben infolge des britischen<br />

Feuers, niemand ertrank. Die Besatzungen<br />

des Internierungsverbandes wurden<br />

vom Wachgeschwader aufgenommen<br />

und in die Kriegsgefangenschaft<br />

überführt, aus der sie am 31. Januar<br />

1920 nach Wilhelmshaven <strong>zur</strong>ückkehrten.<br />

Trotz der neun Toten war die Versenkung<br />

der wilhelminischen Flotte nicht<br />

das nächtlich-düstere Todesfanal, das<br />

der expressionistische Dichter Reinhard<br />

Goering in seinem 1920 uraufgeführten<br />

Drama »Scapa Flow« aus ihr<br />

gemacht hat. Rückblickend betrachtet,<br />

lösten Briten und Deutsche den Konflikt<br />

um die Hochseeflotte fast schon in<br />

stillschweigendem Einvernehmen.<br />

Vieles spricht dafür, dass die Briten die<br />

Aktion weitgehend tolerierten, weil sie<br />

sich der schwierigen Verteilungsfrage<br />

entledigen wollten. Ob sie sich abgesprochen<br />

haben oder nicht: Deutsche<br />

und Briten konnten im Zuge der Versenkung<br />

voreinander das Gesicht wahren.<br />

Was die Siegermächte nicht daran<br />

hinderte, den Deutschen <strong>zur</strong> Strafe<br />

weiteres Schiffs- und Hafenmaterial als<br />

Reparationsleistungen abzuverlangen.<br />

Die meisten Wracks wurden zwischen<br />

den beiden Weltkriegen mit spektakulärem<br />

Aufwand geborgen und verschrottet.<br />

Die sieben bis heute in der<br />

Bucht verbliebenen Einheiten erfreuen<br />

sich großer Beliebtheit unter marinebegeisterten<br />

Sporttauchern.<br />

Andreas Krause Landt<br />

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009 23


Service<br />

Historisch-geografisches<br />

Informationssystem<br />

Welche Staaten umfasste der Deutsche<br />

Bund? Wieviele Exklaven hatte das<br />

Großherzogtum Baden? Wie hoch war<br />

die Bevölkerungsdichte pro Quadratmeter<br />

in der preußischen Provinz Brandenburg?<br />

Wie lange existierte die<br />

Landgrafschaft Hessen-Homburg? Wieviel<br />

Stahl wurde im Königreich Hannover<br />

produziert?<br />

http://www.hgis-germany.de<br />

All diese und viele weitere Fragen<br />

lassen sich dank des Informationssystems<br />

»HGIS Germany« per Mausklick<br />

beantworten. HGIS Germany ist ein<br />

Projekt des Instituts für Europäische<br />

Geschichte Mainz und des Instituts für<br />

Raumbezogene Informations- und Messtechnik<br />

der Fachhochschule Mainz in<br />

Kooperation mit dem Deutschen Historischen<br />

Museum in Berlin. Hinter der<br />

Abkürzung HGIS verbirgt sich ein<br />

multimediales Informationssystem,<br />

das die historisch-geografische Entwicklung<br />

der Staaten des Deutschen<br />

Bundes, des Norddeutschen Bundes<br />

sowie des Deutschen Reiches von 1820<br />

bis 1914 abbildet. Dieses Informationssystem<br />

kann kostenfrei im Internet aufgerufen<br />

werden und bietet nicht nur<br />

geografische Daten, sondern auch eine<br />

Vielzahl weiterer, historisch relevanter<br />

Informationen, wie etwa Bevölkerungszahlen,<br />

Wirtschaftsstatistiken und dynastische<br />

Verbindungen. Mittels interaktiver<br />

Zeitreise können die Entwicklung<br />

der Staats- und Verwaltungsgrenzen,<br />

der politischen, wirtschaftlichen<br />

und dynastischen Verhältnisse in und<br />

zwischen den Staaten sowie Daten <strong>zur</strong><br />

Bevölkerungsentwicklung und <strong>zur</strong> Industrialisierung<br />

abgerufen werden.<br />

Medien online/digital<br />

24 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />

Neben der Zeitreise bietet die Startseite<br />

von HGIS Germany einen direkten<br />

Zugriff auf thematische Karten,<br />

multimediale Staatenbeschreibungen<br />

und ein elektronisches Begleitkompendium<br />

zum historisch-geografischen Informationssystem.<br />

Die thematischen<br />

Karten bilden territoriale Veränderungen<br />

sowie dynastische und statistische<br />

Entwicklungen ab. Die multimedialen<br />

Staatenbeschreibungen behandeln<br />

nicht nur einzelne Länder,<br />

sondern auch deren Provinzen und Regierungsbezirke<br />

sowie die politischen<br />

und wirtschaftlichen Staatenbünde<br />

und können als Textdokumente ausgedruckt<br />

werden. Für die Nutzung von-<br />

HGIS Germany wird eine DSL-Verbindung<br />

empfohlen.<br />

Schlacht bei Minden<br />

mn<br />

Am 1. August 1759 traf vor den Toren<br />

der damals preußischen Festung Minden<br />

ein alliiertes Heer unter der Führung<br />

des Herzogs Ferdinand von<br />

Braunschweig auf die mit den Sachsen<br />

verbündeten Franzosen. Die alliierten<br />

Truppen stammten aus Preußen, Großbritannien,<br />

Hannover, Hessen-Kassel,<br />

Braunschweig, Sachsen-Coburg-Gotha<br />

und Schaumburg-Lippe. Trotz ihrer<br />

zahlenmäßigen Unterlegenheit konn-<br />

ten sie die französisch-sächsische<br />

Streitmacht unter dem Kommando des<br />

Marschalls Contades besiegen. Entscheidend<br />

für den Ausgang der<br />

Schlacht war ein Angriff britischer und<br />

hannoverscher Infanteriebataillone auf<br />

den linken Flügel der massiert aufgestellten<br />

französischen Kavallerie, der<br />

das Zentrum der französischen<br />

Schlachtordnung ins Wanken brachte.<br />

Gegen alle taktischen Regeln der Kriegführung<br />

des 18. Jahrhunderts griff hier<br />

die Infanterie mit fliegenden Fahnen<br />

und klingendem Spiel die gegnerische<br />

Kavallerie auf offenem Feld an.<br />

Der unerwartete Sieg der Alliierten<br />

hatte weitreichende Folgen: Durch die<br />

verlorene Schlacht bei Minden und die<br />

Niederlagen bei Quebec und Quiberon<br />

wurde Frankreich nachhaltig geschwächt,<br />

sodass Großbritannien <strong>zur</strong><br />

Weltmacht aufsteigen konnte. Die französische<br />

Monarchie sollte sich von diesem<br />

Schlag bis zum Ausbruch der<br />

Französischen Revolution nicht mehr<br />

erholen. Für Preußen war der Sieg bei<br />

Minden weniger bedeutsam, da er die<br />

Niederlagen bei Kay, Kunersdorf und<br />

Maxen nicht aufwiegen konnte.<br />

Die Stadt Minden gedenkt dieses historischen<br />

Ereignisses, das sich 2009<br />

zum 250. Mal jährt, mit einem vielfältigen<br />

Programm: Vorträge, Ausstellungen,<br />

Führungen, Theater-, Kunst- und<br />

Musikveranstaltungen werden angeboten.<br />

Alle Informationen zum Jubiläums-<br />

http://www.schlacht-bei-minden.de


digital<br />

1. August wird die Stadt dazu in das<br />

programm findet der historisch interessierte<br />

Besucher unter www.schlachtbei-minden.de.<br />

Ein Highlight im Programm<br />

ist die Nachstellung der<br />

Schlacht. Bereits in der Woche vor dem<br />

Jahr 1759 <strong>zur</strong>ückversetzt: Bürger, Bauern,<br />

Bettler, Händler und Soldaten bevölkern<br />

die Straßen und machen Minden<br />

so <strong>zur</strong> historischen Bühne, bevor<br />

am Tag der Schlacht Kampf- und Lazarettszenen<br />

den Besuchern einen Eindruck<br />

vom Schrecken des Krieges vermitteln.<br />

Die Festwoche steht unter dem<br />

Motto »Von Pulverdampf zu Rosenduft«<br />

– doch was hat Pulverdampf mit<br />

Rosenduft zu tun?<br />

Hintergrund ist die Legende, dass<br />

britische Soldaten auf dem Weg in die<br />

Schlacht Rosen pflückten und als<br />

Schmuck an ihren Hüten befestigt haben<br />

sollen. Bis heute werden in der Britischen<br />

Armee am Jahrestag der<br />

Schlacht bei Minden, dem sogenannten<br />

Minden Day, an die Soldaten der<br />

Truppenteile, die in der Tradition der<br />

bei Minden kämpfenden britischen Regimenter<br />

stehen, Rosen verteilt. Erinnert<br />

werden soll mit dieser Tradition<br />

der außergewöhnlichen Tapferkeit der<br />

britischen Infanteristen im Kampf gegen<br />

die französische Kavallerie und<br />

Artillerie.<br />

Wer nach einem Besuch der Internetseite<br />

mehr über die Schlacht bei Minden<br />

erfahren möchte, dem sei der von<br />

Martin Steffen herausgegebene und<br />

im Verlag J.C.C. Bruns erschienene<br />

Sammelband »Die Schlacht bei Minden«<br />

(2. Aufl. 2008) empfohlen. Neben<br />

einer Darstellung des Schlachtenverlaufes<br />

finden sich darin u.a. Hintergrundinformationen<br />

<strong>zur</strong> Kriegführung<br />

im 18. Jahrhundert, <strong>zur</strong> Lage der Bevölkerung,<br />

biografische Skizzen und<br />

ein Beitrag <strong>zur</strong> Traditionspflege in den<br />

britischen Streitkräften.<br />

mn<br />

<strong>Hitler</strong> vor Gericht<br />

<strong>Hitler</strong> vor Gericht. Regie: Bernd Fischerauer.<br />

Eine Produktion der Tellux-Film GmbH im Auftrag von<br />

BR-alpha, 60 Minuten, 2009; 14,95 Euro, zu beziehen<br />

über www.brshop.de<br />

April 1924. Unter lautstarken Jubelrufen<br />

der Prozessbeobachter erging eines<br />

der folgenschwersten Gerichtsurteile<br />

in der deutschen Geschichte. Wegen<br />

des Putschversuchs vom November<br />

1923 wurde Adolf <strong>Hitler</strong> zu fünf Jahren<br />

Festungshaft verurteilt.<br />

Zum 85. Jahrestag des Urteilsspruchs<br />

produzierte der Bayerische Rundfunk<br />

ein Dokumentarspiel. An den Originalschauplätzen<br />

in München und Landsberg<br />

am Lech gedreht, dokumentiert<br />

der Film den Prozess gegen <strong>Hitler</strong>, General<br />

Erich Ludendorff, Ernst Röhm<br />

und andere.<br />

»<strong>Hitler</strong> vor Gericht« stützt sich ausschließlich<br />

auf ausgewählte Originalprotokolle<br />

der 24 Prozesstage und ist<br />

somit aufgrund seiner Authentizität<br />

für die politisch-historische Bildung<br />

gut geeignet. Die im Februar 1924 in<br />

der Münchner Infanterieschule begonnene,<br />

damals noch »<strong>Hitler</strong>-Ludendorff-<br />

Prozess« genannte Verhandlung geriet<br />

mehr und mehr <strong>zur</strong> juristischen Farce.<br />

Die nachgesprochenen Dialoge und<br />

Reden zeigen deutlich die Umkehrung<br />

der Rollen: <strong>Hitler</strong> scheint nicht Angeklagter<br />

zu sein, sondern tritt als Ankläger<br />

auf. Der Vorsitzende Richter Georg<br />

Neithardt ließ <strong>Hitler</strong>, Ludendorff und<br />

den Mitangeklagten breiten Raum <strong>zur</strong><br />

Selbstdarstellung und machte aus sei-<br />

4 Gruppenbild der<br />

Angeklagten nach<br />

dem Ende des<br />

<strong>Hitler</strong>-Ludendorff-<br />

Prozesses, München,<br />

April 1924.<br />

Telepool GmbH<br />

ner politischen Sympathie für die Sache<br />

der Angeklagten keinen Hehl. Der<br />

Prozess wegen Hochverrats war von<br />

Anfang an darauf angelegt, die Verstrickung<br />

der Spitzen der bayerischen<br />

Landesregierung, der Landespolizei<br />

und der dortigen Reichswehr in den<br />

Novemberputsch zu verschleiern und,<br />

wie es hieß, dem »nationalen Gedanken<br />

nicht zu schaden«. Primäres Ziel<br />

und wohl auch politische Vorgabe an<br />

den Richter war es, Gustav Ritter von<br />

Kahr, seit September 1923 als Generalstaatskommissar<br />

Inhaber der vollziehenden<br />

Gewalt in Bayern mit diktatorischen<br />

Vollmachten, General Otto<br />

Hermann von Lossow und Hans Ritter<br />

von Seißer, Chef der bayerischen Landespolizei,<br />

aus dem Prozess gegen die<br />

Putschisten herauszuhalten. Die Sympathien<br />

des Staatsanwalts, des Richters<br />

und nahezu aller Prozessbeobachter<br />

für <strong>Hitler</strong>, Ludendorff und die Mitangeklagten<br />

treten in den Dialogen und<br />

Zeugenvernehmungen deutlich zu<br />

Tage. Das Schlusswort des Staatsanwalts<br />

und noch mehr die Urteilsbegründung<br />

des Richters waren eher ein<br />

Lobgesang auf die Angeklagten denn<br />

eine Auseinandersetzung mit dem Vorwurf<br />

des Hochverrats.<br />

Ludendorff protestierte unter dem<br />

Beifall des Publikums im Gerichtssaal<br />

lautstark gegen seinen Freispruch – er<br />

empfinde dies als »Schande«.<br />

Der zu fünf Jahren Festungshaft verurteilte<br />

<strong>Hitler</strong> musste lediglich etwa<br />

acht Monate davon verbüßen. Auch<br />

über den weiteren Werdegang der Prozessbeteiligten<br />

gibt der Film Auskunft.<br />

Richter Neithardt wurde 1933 Präsident<br />

des Oberlandesgerichts München<br />

– später Lohn für eines der folgenschwersten<br />

Fehlurteile in der deutschen<br />

Geschichte.<br />

ks<br />

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />

2<br />

Bundesarchiv


Service<br />

Antike<br />

Am Anfang der europäischen Literaturgeschichte<br />

steht ein Werk<br />

über den Krieg: die Ilias des Homer.<br />

Das Epos genügt literarisch höchsten<br />

Ansprüchen – und wird zugleich als<br />

historisches Dokument gelesen, auch<br />

wenn Homers Schilderung dem Bereich<br />

der Fiktion zu<strong>zur</strong>echnen ist. Die<br />

Erzählungen eines Homer sowie die<br />

seiner Nachfolger bilden gemeinsam<br />

mit archäologischen Quellen das Fundament<br />

der antiken (Militär-)Geschichtsschreibung.<br />

Dem zentralen Stellenwert<br />

des Krieges in der Antike ist es geschuldet,<br />

dass die Nachwelt über kaum<br />

einen anderen Gegenstand dieser Zeit<br />

so gut Bescheid weiß wie über dieses<br />

Phänomen. Die Allgegenwart des Krieges<br />

zeigt sich auch in zahlreichen Historienfilmen,<br />

nicht zu vergessen die<br />

mittlerweile zum Bildungskanon gehörenden<br />

Comics über den gallischen<br />

Krieger Asterix und seine Abenteuer.<br />

Leonhard Burckhardt,<br />

Militärgeschichte der<br />

Antike, München 2008.<br />

ISBN 978-3-406-56247-1;<br />

128 S., 7,90 Euro<br />

Lesetipp<br />

Der Militärgeschichte der Antike<br />

widmet sich auch der Baseler Professor<br />

Leonhard Burckhardt in äußerst anschaulicher<br />

und präziser Form. Dass<br />

der Kürze seines Buches einzelne Aspekte<br />

geopfert werden mussten, ist<br />

dem Autor schmerzlich bewusst. Trotzdem<br />

fanden erfreulicherweise ein paar<br />

wichtige Abbildungen Eingang in das<br />

Buch. Der Schwerpunkt der Darstellung<br />

liegt auf der Struktur- und Sozialgeschichte<br />

wie auch auf strategischtaktischen<br />

und politischen Faktoren. In<br />

allen zwölf Kapiteln, welche die Zeit<br />

vom frühen Griechenland bis zum<br />

späten Römischen Reich umspannen,<br />

hebt Burckhardt das Charakteristische<br />

der einzelnen Epochen hervor, ohne<br />

dabei jedoch das Ganze aus dem Auge<br />

zu verlieren: die Wechselbeziehungen<br />

zwischen Staat, Gesellschaft und Militär.<br />

Literaturhinweise und ein Register<br />

runden die gelungene Einführung in<br />

das Thema ab. mt<br />

26 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />

Preußische Armee<br />

Die Geschichte des Königreichs<br />

Preußen ist auf das Engste verwoben<br />

mit der Geschichte seiner Armee.<br />

Bereits im 18. Jahrhundert urteilte der<br />

französischen Schriftsteller und Politiker<br />

Honoré Gabriel de Mirabeau, dass<br />

Preußen kein Staat mit einer Armee sei,<br />

sondern eine Armee, die einen Staat<br />

besitze. Vor dem Hintergrund der<br />

jüngsten deutschen Geschichte stellte<br />

sich die deutsche Nachkriegsgeschichtsschreibung<br />

die Frage, welche<br />

Folgen sich aus dieser symbiotischen<br />

Beziehung ergaben. Eine Antwort darauf<br />

war die These von der »sozialen<br />

Militarisierung« Preußens. Der neue-<br />

Peter Baumgart, Bernhard<br />

R. Kroener, Heinz Stübig<br />

(Hrsg.), Die preußische<br />

Armee zwischen Ancien<br />

Régime und Reichsgründung,<br />

Paderborn<br />

u.a. 2008. ISBN: 978-3-<br />

506-75660-2; 285 S.,<br />

39,90 Euro<br />

ren Forschung ist es gelungen, dieses<br />

Bild einer weitreichenden Militarisierung<br />

der preußischen Gesellschaft zu<br />

korrigieren bzw. zu revidieren und der<br />

Debatte über die gesellschaftspolitische<br />

Stellung des Militärs eine neue<br />

Richtung zu geben. Der von Peter<br />

Baumgart, Bernhard R. Kroener und<br />

Heinz Stübig herausgegebene Sammelband<br />

ist eine gelungene Zwischenbilanz<br />

dieser neuen Forschungsdiskussion<br />

und bietet zugleich einen anschaulichen<br />

Überblick über die Geschichte<br />

der preußischen Armee vom Anfang<br />

des 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts.<br />

In insgesamt 14 Beiträgen werden<br />

die wichtigsten Entwicklungslinien<br />

vom »Soldatenkönig« Friedrich<br />

Wilhelm I. über die preußischen Heeresreformen<br />

in napoleonischer Zeit bis<br />

<strong>zur</strong> Roonschen Heeresreorganisation<br />

und dem Reichsmilitärgesetz von 1874<br />

nachgezeichnet. Da die politische und<br />

soziale Geschichte der bewaffneten<br />

Macht dabei im Vordergrund steht,<br />

werden operationsgeschichtliche Aspekte<br />

nur am Rande behandelt. Aufgrund<br />

seines informativen Charakters<br />

ist dieses Buch nicht nur dem Fachpublikum,<br />

sondern auch einer breiten Leserschaft<br />

zu empfehlen. mn<br />

Wilhelm II.<br />

Die New York Times nannte ihn<br />

einst »the most interesting man in<br />

Europe«: Wilhelm II. ist bis heute<br />

Thema wissenschaftlicher und publizistischer<br />

Kontroversen. »Jeder Mensch<br />

ist zu seiner Zeit in einen größeren Zusammenhang<br />

gestellt«, gab Georg<br />

Friedrich Prinz von Preußen bei der<br />

Präsentation eines der neuesten Bücher<br />

über den Kaiser im Januar 2009 zu bedenken.<br />

Autor Eberhard Straub ergänzte,<br />

jeder Mensch sei auch eine<br />

»kollektive Existenz«, zumal als öffentliche<br />

Person. Wilhelm II. war Kaiser<br />

und König, zudem u.a. Admiral der<br />

Flotte und oberster Bischof der evangelischen<br />

Landeskirche Preußens.<br />

Straub zeichnet Wilhelm als Bildungsbürger<br />

und zugleich als Traditionalisten.<br />

Beispielhaft für diesen Widerspruch<br />

sieht der Autor die Personalpolitik in<br />

der Flotte, dem »Spielzeug des Kaisers«<br />

und zugleich »Stolz der Nation«.<br />

Wilhelm habe Karrierechancen für<br />

»Bürgerliche« als Offiziere geöffnet,<br />

zugleich aber Wert auf adliges, traditionelles<br />

Ethos »seiner« Seeoffiziere gelegt.<br />

Straub beschreibt das Leben Wilhelms<br />

aus sehr verschiedenen Blickwinkeln:<br />

aus der Sicht des preußischen<br />

Königshauses, des Adels und der Großund<br />

Kleinbürger. Widerspruch wird<br />

Straubs teilweise wenig kritische Einschätzung<br />

des Kaisers als hochgebildeter<br />

Modernisierer und sozial denkender<br />

Reformer finden. Mit dem von ihm<br />

gewählten Untertitel »Die Erfindung<br />

des Reiches aus dem Geist der Moderne«<br />

fordert der Buchautor zwingend<br />

<strong>zur</strong> Hinterfragung seiner Thesen heraus.<br />

Eberhard Straub, Kaiser Wilhelm II. in der Politik<br />

seiner Zeit. Die Erfindung des Reiches aus dem Geist<br />

der Moderne, Berlin 2008. ISBN 978-3-938844-05-2;<br />

468 S., 29,90 Euro<br />

Christopher Clark, Wilhelm II. Die Herrschaft des<br />

letzten deutschen Kaisers, München 2008. ISBN 978-3-<br />

421-04358-0; 416 S., 24,95 Euro (eine preisreduzierte<br />

Taschenbuchausgabe erscheint im Nov. 2009)


Der britische Historiker Christoper<br />

Clark, bekannt geworden durch seinen<br />

in Deutschland 2007 erschienen Bestseller<br />

»Preußen«, bietet ebenfalls neue,<br />

durchaus provokative Interpretationen<br />

des letzten Deutschen Kaisers und seiner<br />

dreißigjährigen Herrschaft. Clarks<br />

Ziel ist es nicht, den Monarchen zu rehabilitieren.<br />

Dennoch hinterfragt auch<br />

er die »Dämonisierung« des Kaisers<br />

durch die bisherige Geschichtsschreibung.<br />

Er analysiert zugleich, inwieweit<br />

der Verlauf der deutschen und europäischen<br />

Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts<br />

durch die Persönlichkeit und<br />

den Charakter Wilhelms bestimmt<br />

wurden. ks<br />

Zweiter Weltkrieg I<br />

Warum setzte das angeschlagene<br />

Großbritannien nach der französischen<br />

Niederlage im Frühjahr 1940<br />

den Kampf gegen das weite Teile Kontinentaleuropas<br />

beherrschende Deutsche<br />

Reich und seine sieggewohnte<br />

<strong>Wehrmacht</strong> weiter fort? Weshalb vertraute<br />

ausgerechnet der sonst stets argwöhnische<br />

<strong>Stalin</strong> bis zum 22. Juni 1941<br />

darauf, dass der <strong>Pakt</strong> mit <strong>Hitler</strong> halten<br />

und das nationalsozialistische Deutschland<br />

nicht den ideologischen Hauptgegner<br />

Sowjetunion überfallen würde?<br />

Ian Kershaw, Wendepunkte.Schlüsselentscheidungen<br />

im Zweiten<br />

Weltkrieg 1940/41,<br />

2. Aufl., München 2008.<br />

ISBN 978-3-421-05806-5;<br />

729 S., 39,95 Euro<br />

Wieso griffen die Japaner im Dezember<br />

1941 den US-Flottenstützpunkt Pearl<br />

Harbor auf Hawaii an? Und warum erklärte<br />

<strong>Hitler</strong> ungeachtet des festgelaufenen<br />

Feldzuges gegen die Sowjetunion<br />

kurz danach dem aufstrebenden Wirtschaftsgiganten<br />

USA den Krieg?<br />

Mögliche Erklärungen für diese und<br />

weitere Fragen bietet der renommierte<br />

britische Historiker und <strong>Hitler</strong>-Biograf<br />

Ian Kershaw in seiner jüngsten Studie<br />

über den Zweiten Weltkrieg, indem er<br />

die Schlüsselentscheidungen von Frühjahr<br />

1940 bis Herbst 1941, deren jeweilige<br />

Umsetzung dem Krieg eine neue<br />

Richtung gaben, sachkundig unter die<br />

Lupe nimmt.<br />

Kershaw berücksichtigt sowohl die<br />

Grundlagen dieser Entscheidungen –<br />

wie etwa den Wissensstand der Entscheidungsträger<br />

über die eigene und<br />

die Lage auf der Gegenseite – als auch<br />

den Prozess der Entscheidungsfindung<br />

selbst, und er bezieht die Persönlichkeit<br />

der jeweiligen Akteure mit ein. Indem<br />

Kershaw die zeitgenössische Perspektive<br />

der Entscheidungsträger einnimmt,<br />

wird auch mancher der auf den<br />

ersten Blick als unbegreiflich erscheinenden<br />

Entschlüsse verständlicher. Die<br />

Analyse ist dennoch keine reine »Geschichte<br />

von oben«, die den Eindruck<br />

vermittelt, dass mächtige Männer auf<br />

Grundlage einsamer Entschlüsse den<br />

Weltenlauf bestimmen: Kershaw gelingt<br />

es in der gutgeschriebenen Studie<br />

auch, die Strukturen aufzuzeigen, in<br />

welche die Entscheidungen eingebettet<br />

waren und die sich je nach Land und<br />

Staatsform in ihrem Spielraum voneinander<br />

unterschieden. All den Entscheidungen<br />

ist zu eigen, dass sie eine<br />

enorme Tragweite hatten und den<br />

Kriegsverlauf und -ausgang entscheidend<br />

beeinflussten. Die daran anknüpfende<br />

Überlegung, welchen Verlauf<br />

der Krieg im Falle einer anderen Entscheidung<br />

genommen hätte, bezieht<br />

Kershaw angemessen mit ein, ohne das<br />

»Was wäre, wenn ...« überzubetonen.<br />

Die zehn von Kershaw ausgewählten<br />

Schlüsselentscheidungen werden chronologisch<br />

analysiert, lassen sich aber<br />

auch einzeln lesen. mp<br />

Zweiter Weltkrieg II<br />

Die 1. Gebirgs-Division der <strong>Wehrmacht</strong><br />

bildet keine Tradition für<br />

die Bundeswehr. Wem es dafür noch<br />

an Beweisen mangeln sollte, dem sei<br />

das Buch von Hermann Frank Meyer<br />

besonders empfohlen. Der Autor, ein<br />

seit Jahrzehnten ausgewiesener Experte,<br />

hat wie nur wenige bislang die<br />

Geschichte eines deutschen Großverbandes<br />

im Zweiten Weltkrieg samt dessen<br />

Rolle in der sogenannten (west-)<br />

deutschen Vergangenheitsbewältigung<br />

detektivisch recherchiert und kenntnisreich<br />

beschrieben. Auf beinahe 800<br />

Seiten verfolgt er den Weg derer mit<br />

dem Edelweiß, zeichnet ihre Kämpfe<br />

und horrenden Verluste, vor allem je-<br />

doch die mörderische Blutspur nach,<br />

die sie an der Ostfront und auf dem<br />

Balkan gezogen haben. Die beispiellose<br />

Kette von der Verstrickung über die<br />

Beteiligung bis hin <strong>zur</strong> Durchführung<br />

von Mordaktionen raubt dem Lesenden<br />

bisweilen den Atem, zumal es Widerstand<br />

aus den eigenen Reihen kaum<br />

gab und noch die Nachkriegsjustiz<br />

mehr Verständnis für die Täter denn<br />

Empathie für die Opfer entwickelte.<br />

Darüber hinaus verschweigt Meyer<br />

weder die Komplizenschaft zwischen<br />

Gebirgsjägern und Teilen der einheimischen<br />

Bevölkerung noch die psychologischen<br />

Auswirkungen jahrelanger Todesgefahr<br />

auf die Soldaten. Aber er<br />

wägt sorgfältig ab, urteilt nicht, wo<br />

Hermann Frank Meyer,<br />

Blutiges Edelweiß. Die<br />

1. Gebirgs-Division im<br />

Zweiten Weltkrieg, 2. Aufl.,<br />

Berlin 2008. ISBN 978-3-<br />

86153-447-1; 800 Seiten,<br />

39,80 Euro<br />

seine Quellen dies nicht eindeutig zulassen,<br />

schildert nüchtern und moralisiert<br />

nicht. Er trägt zusammen, was in<br />

beinahe zwei Dutzend Archiven in<br />

mehr als zehn Ländern zu finden war,<br />

stellt die Fakten den Schilderungen aus<br />

über 80 Interviews mit Beteiligten gegenüber<br />

und untersucht die veröffentlichte<br />

Erinnerungsliteratur der ehemaligen<br />

Gebirgsjäger. Auf diese Weise<br />

enttarnt er die vielen Veteranen, die im<br />

Nachhinein in kaum zu übertreffender<br />

Schändlichkeit gelogen und betrogen<br />

haben, um ihre vermeintlichen Ideale<br />

in die neuen Streitkräfte der Bundesrepublik<br />

hineinzutragen. Mit Meyers<br />

Buch ist ein Standardwerk erschienen,<br />

das Maßstäbe setzt – angesichts seiner<br />

methodischen Genauigkeit, aber auch<br />

aufgrund der umfangreichen Orts- und<br />

Personenregister sowie des zahlreichen<br />

Bild- und Kartenmaterials. Wie falsch<br />

verstandenes Elitedenken und skrupelloses<br />

Draufgängertum die Grundlage<br />

für beispiellose Verbrechen bilden<br />

können, ist zudem eine Lehre für alle<br />

Zeiten. Das vorliegende Buch bezeugt<br />

das beinahe nebenbei – und ist schon<br />

deswegen gerade Soldaten zu empfehlen.<br />

John Zimmermann<br />

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />

2


Service Die historische Quelle<br />

Bundesarchiv-Militärarchiv<br />

Die Luftangriffe auf Warschau im September 1939<br />

5 Warschau nach den Luftangriffen im September 1939, BArch, Bild 141-0763.<br />

»Beantrage dringend letzte Möglichkeit von Brand- und<br />

Terrorangriffen als groß angelegten Versuch auszunutzen.«<br />

Als der Fliegerführer z.b.V. Generalmajor Wolfram<br />

Freiherr von Richthofen wenige Tage vor der Kapitulation<br />

Warschaus einen »Terrorangriff« auf die polnische<br />

Hauptstadt forderte, waren seit dem Beginn des Angriffs<br />

auf Polen bereits mehr als 150 polnische Städte und Ortschaften<br />

das Ziel verheerender deutscher Luftangriffe geworden,<br />

die Tausende Todesopfer und Verletzte gefordert<br />

hatten.<br />

Mit diesen massiven Angriffen auf nicht-militärische<br />

Ziele sollte der Widerstandswille der polnischen Bevölkerung<br />

gebrochen werden. »Die Luftwaffe sollte zum ersten<br />

Male in der Geschichte einen feindlichen Staat lebensgefährlich<br />

fassen, nicht nach alter Weise auf dem Schlachtfeld,<br />

sondern auch weitab davon und so fest, dass der<br />

Zusammenbruch dieses Staates zu einem wesentlichen<br />

Teil dem Wirken der Luftwaffe zuzuschreiben sei.« Mit<br />

diesen Worten beschrieb der Oberbefehlshaber der Luftflotte<br />

4, General der Flieger Alexander Löhr, die Strategie<br />

der Luftwaffe zu Beginn des Zweiten Weltkriegs. Dass<br />

zudem die Luftangriffe genutzt wurden, um Erfahrungen<br />

<strong>zur</strong> Wirkung von sogenannten Terrorangriffen für künftige<br />

Einsätze zu sammeln, belegt das vorliegende Dokument<br />

eindrücklich.<br />

Am 22. September 1939 waren große Teile Polens bereits<br />

erobert, lediglich Warschau und Modlin leisteten<br />

noch Widerstand. An diesem Tag hatte der Oberbefehlshaber<br />

der Luftwaffe, Hermann Göring, an die Luftflotten<br />

1 und 4 einen »Führerbefehl« weitergegeben, nach dem<br />

der anhaltende Widerstand zwischen Warschau und<br />

Modlin »unter Einsatz aller verfügbaren Kräfte so rasch<br />

als möglich zu brechen« sei. Richthofen kündigt in dieser<br />

Situation per Fernschreiben an, die polnische Hauptstadt<br />

durch die ihm unterstellten Geschwader völlig vernichten<br />

zu wollen und fordert unverhohlen die – angesichts<br />

28 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />

4<br />

Fernschreiben<br />

des Flieger-<br />

führers z.b.V.<br />

Generalmajor<br />

Wolfram Freiherr von Richthofen<br />

an die Luftflotte 4 <strong>zur</strong> Planung der Luftangriffe auf Warschau,<br />

22. September 1939, BArch, RL 2-II/51, Bl. 51.<br />

der absehbaren Kapitulation der Stadt – letzte Gelegenheit<br />

des Feldzugs zu einem »Brand- und Terrorangriff«<br />

zu nutzen, um taktische Erfahrungen zu sammeln.<br />

Zwar lehnte der Chef des Generalstabs der Luftwaffe<br />

Richthofens »groß angelegten Versuch« ab, doch drei<br />

Tage später flogen die Einheiten der Luftflotten 1 und 4<br />

wie befohlen »anhaltende Störungs- und Zermürbungsangriffe«<br />

auf Warschau. In einer der zahlreichen Meldungen<br />

zu den einzelnen Angriffen heißt es knapp: »Befohlener<br />

Stadtteil wirkungsvoll mit Bomben belegt. Riesige<br />

Brände beobachtet.« Warschau kapitulierte am 28. September<br />

1939. Die Stadt war in weiten Teilen zerstört und<br />

unter der Zivilbevölkerung hatten die Angriffe eine große<br />

Zahl von Opfern gefordert.<br />

Der Verfasser des Fernschreibens, Generalmajor von<br />

Richthofen, hatte ab 1936 der Legion Condor angehört<br />

und war als deren Stabschef verantwortlich für die Zerstörung<br />

der Stadt Guernica durch die deutsche Luftwaffe<br />

im Spanischen Bürgerkrieg. In den folgenden Kriegsjahren<br />

sollten zahlreiche weitere Städte wie Belgrad, Coventry<br />

und Rotterdam von der deutschen Luftwaffe zerstört<br />

werden.<br />

Christiane Botzet


Militärgeschichte kompakt<br />

September 9 n.Chr. 12. August 1759<br />

Die Varusschlacht Schlacht bei Kunersdorf<br />

Als »Varuskatastrophe« ist die Schlacht in die antike römische<br />

Geschichtsschreibung eingegangen. »Varus, gib die<br />

Legionen <strong>zur</strong>ück!«, soll denn auch Kaiser Augustus angesichts<br />

der fast vollständigen Vernichtung der Truppen seines<br />

Feldherren Publius Quinctilius Varus ausgerufen haben.<br />

Eigentlich war Varus an die Grenzen des Römischen<br />

Reiches geschickt worden, um den »Barbaren« die Zivilisation<br />

zu bringen. Er galt als Mann für schwierige Fälle – und<br />

zudem als Vertrauter des Augustus. Als Statthalter der römischen<br />

Provinz Syrien führte er zuletzt auch den Befehl<br />

über die riesige Orientarmee: Er wusste wohl politische<br />

und militärische Mittel gleichermaßen effizient einzusetzen.<br />

Den 50-Jährigen beorderte Augustus schließlich nach<br />

Germanien, um, so die Quellen, zwischen Rhein und Elbe<br />

eine römische Verwaltung zu etablieren.<br />

Die Schlacht selbst, oder zumindest ein Teil davon, hat,<br />

darin sind sich die meisten Historiker einig, in Kalkriese<br />

stattgefunden. Als Gegenspieler auf dem Schlachtfeld trat<br />

ein Tischgenosse des Varus an: der Cheruskerfürst Arminius,<br />

der aufgrund seiner Ausbildung in Rom zum Offizier<br />

über beste Kenntnisse des römischen Militärwesens verfügte.<br />

Dadurch konnte er die Römer auch schlagen. Zum<br />

Sieg gereichte dem Arminius, neben Guerillataktiken, des<br />

Weiteren eine im Römischen Imperium häufig eingesetzte<br />

Kriegslist: der Verrat. Über die Motivation des Arminius<br />

lässt sich zum Teil nur spekulieren, doch berichteten die<br />

Römer, dass er die höchste Stellung in seinem Stamm anstrebte<br />

– die eines Königs.<br />

Arminius griff den römischen Tross auf dem Weg aus dessen<br />

Sommerquartier, tief im Gebiet der Cherusker am Westufer<br />

der Weser gelegen, in das Winterquartier an. Die Streitmacht<br />

der Römer bestand aus bis zu 20 000 Soldaten, der<br />

Zug muss 15 bis 20 Kilometer lang gewesen sein. Arminius<br />

kämpfte mit abtrünnigen römischen Hilfstruppen germanischen<br />

Ursprungs und mit germanischen Kriegern; er wandte<br />

eine Ausweichtaktik an, welche die schwer bewaffneten römischen<br />

Krieger ermüdete und die Kampfformationen der<br />

Truppen unter Varus nach und nach aufrieb. Nach der Niederlage,<br />

die am vierten Tag der Schlacht besiegelt war, töteten<br />

sich Varus und seine Offiziere selbst. Den Kopf des Varus<br />

ließ Arminius dem Markomannenherrscher Marbod<br />

zukommen, dadurch sein Angebot für ein Bündnis gegen<br />

die Römer unterstreichend. Marbod jedoch lehnte ab und<br />

schickte das Haupt des Varus in die Kaiserresidenz. Germanien<br />

blieb in der Folge zu großen Teilen außerhalb des römischen<br />

Machtbereichs und nahm aufgrund dieser Tatsache<br />

eine andere Entwicklung als etwa das keltische Gallien.<br />

Bereits im 16. Jahrhundert wurde der Name Arminius in<br />

Hermann umgewandelt – daher auch der Name »Hermannsschlacht«,<br />

neben dem geografisch irreführenden Begriff<br />

»Schlacht im Teutoburger Wald«. Auch der Kult um den<br />

vermeintlichen Helden setzte um diese Zeit ein. Er geht u.a.<br />

<strong>zur</strong>ück auf das Lob der Germanen und ihrer Tapferkeit<br />

durch den römischen Historiker Tacitus. Nicht zuletzt seine<br />

Schriften dienten als Beweis: In der Varusschlacht kämpfte<br />

– und siegte – eine, so der Mythos, »geeinte Nation« gegen<br />

einen übermächtigen Feind. mt<br />

1759 ist das dritte Jahr des Siebenjährigen Krieges (1756 bis<br />

1763). Friedrich II. von Preußen ist gegenüber seinen Gegnern<br />

Österreich und Russland längst in der Defensive. Die<br />

Erfolge von Rossbach und Leuthen sind zwei Jahre her. Mit<br />

Mühe, knapper werdenden Ressourcen und defensiver<br />

Strategie erwehrt sich der preußische König seiner Feinde,<br />

die eine große zahlenmäßige Überlegenheit besitzen.<br />

Im Juli 1759 gelingt es der preußischen Armee nicht, die<br />

Vereinigung eines starken österreichischen Korps mit dem<br />

russischen Hauptheer zu verhindern. An der Oder stehen<br />

den 49 000 Preußen nun etwa 79 000 Österreicher und Russen<br />

gegenüber. Friedrich II., eine Entscheidung suchend,<br />

greift am 12. August das Lager der vereinigten feindlichen<br />

Armeen bei Kunersdorf an.<br />

Ähnlich wie in der Schlacht von Leuthen versucht der König<br />

einen Flügel der gegnerischen Armee mit überlegenen<br />

Kräften anzugreifen und so die Front auf<strong>zur</strong>ollen. Doch<br />

diesmal sollte die »schräge Schlachtordnung« scheitern.<br />

Durch eine notwendige Umgruppierung der Kräfte nach<br />

un<strong>zur</strong>eichender Erkundung geht das Überraschungsmoment<br />

verloren. In stundenlangem Kampf werden die preußischen<br />

Bataillone dezimiert, und die Schlacht wird zum<br />

blutigen Gemetzel. 19 000 Preußen fallen oder werden verwundet.<br />

Das Hasardspiel des Königs scheitert, er stürzt in<br />

eine tiefe psychische Krise.<br />

Doch die Feinde sind uneins und handeln zögerlich: Wie<br />

so oft in diesem Krieg nutzen sie ihre Siege strategisch nicht<br />

energisch genug aus und versäumen die völlige Vernichtung<br />

der preußischen Streitkräfte. So kann der preußische<br />

König seine Kräfte wieder sammeln und die kommenden<br />

Kriegsjahre bis <strong>zur</strong> Erschöpfung aller Kriegsparteien durchstehen.<br />

Marcus von Salisch<br />

5Friedrich II. in der Schlacht bei Kunersdorf.<br />

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009 29<br />

Süddeutsche Zeitung Photo / Scherl


� Aalen<br />

»Der Macht ein<br />

Gesicht geben ...«<br />

Römische Kaiserbilder<br />

am Limes<br />

Limesmuseum Aalen<br />

St.-Johann-Straße 5<br />

73430 Aalen<br />

Telefon:<br />

0 73 61 / 52 82 87 0<br />

www.museen-aalen.de<br />

23. April bis<br />

4. Oktober 2009<br />

10.00 bis 17.00 Uhr<br />

(montags geschlossen)<br />

Eintritt: 4,00 Euro<br />

ermäßigt: 3,00 Euro<br />

� Bramsche-<br />

Kalkriese<br />

Varusschlacht. Konflikt<br />

Museum und Park<br />

Kalkriese<br />

Venner Str. 69<br />

49565 Bramsche-Kalkriese<br />

Tel.: 0 54 68 / 92 04-20 0<br />

www.imperium-konfliktmythos.de<br />

16. Mai bis<br />

25. Oktober 2009<br />

Täglich<br />

9.00 bis 18.00 Uhr<br />

Samstag<br />

9.00 bis 20.00 Uhr<br />

Eintritt: 9,00 Euro<br />

ermäßigt: 6,00 Euro<br />

� Detmold<br />

Varusschlacht. Mythos<br />

Lippisches<br />

Landesmuseum<br />

Ameide 4<br />

32756 Detmold<br />

Telefon:<br />

0 52 31 / 99 25-40 9<br />

www.imperium-konfliktmythos.de<br />

16. Mai bis<br />

25. Oktober 2009<br />

Dienstag bis Freitag<br />

9.00 bis 18.00 Uhr<br />

Samstag<br />

10.00 bis 20.00 Uhr<br />

Sonntag<br />

10.00 bis 18.00 Uhr<br />

Eintritt: 9,00 Euro<br />

ermäßigt: 6,00 Euro<br />

Service<br />

� Dresden<br />

Krieg und Medizin.<br />

150 Jahre Leben und<br />

Sterben<br />

Deutsches Hygiene-<br />

Museum<br />

Lingnerplatz 1<br />

01069 Dresden<br />

Telefon:<br />

03 51 / 48 46 40 0<br />

www.dhmd.de<br />

4. April bis<br />

9. August 2009<br />

10.00 bis 18.00 Uhr<br />

(montags geschlossen)<br />

Eintritt: 6,00 Euro<br />

ermäßigt: 3,00 Euro<br />

� Kossa<br />

Ausstellungen<br />

Dauerausstellung <strong>zur</strong><br />

NVA-Geschichte<br />

Dahlenberger Str. 1<br />

04849 Kossa/Söllichau<br />

Telefon:<br />

03 42 43 / 2 21 20<br />

www.bunker-kossa.de<br />

Dienstag bis Sonntag<br />

9.00 bis 16.00 Uhr<br />

(Führungen jeweils<br />

10.00 und 13.00 Uhr)<br />

Eintritt 5,00–10,00 Euro<br />

� Kummersdorf<br />

Historisch-Technisches<br />

Museum<br />

Versuchsstelle<br />

Ständige Ausstellung<br />

und Geländeführungen<br />

Konsumstrasse 5<br />

15838 Am Mellensee OT<br />

Kummersdorf-Gut<br />

Telefon:<br />

03 37 03/ 77 04 8<br />

www.museumkummersdorf.de<br />

Sonntag<br />

13.00 bis 17.00 Uhr<br />

Führungen nur nach<br />

Anmeldung<br />

� Ludwigsburg<br />

Die Garnison in der<br />

Fotografie<br />

Garnisonmuseum<br />

Ludwigsburg<br />

Asperger Straße 52<br />

71634 Ludwigsburg<br />

Telefon:<br />

0 71 41 / 9 10 24 12<br />

www.garnisonmuseumludwigsburg.de<br />

18. April bis<br />

20. Dezember 2009<br />

Mittwoch<br />

15.00 bis 18.00 Uhr<br />

Sonntag<br />

13.00 bis 17.00 Uhr<br />

(und auf Anfrage)<br />

Eintritt: 2,00 Euro<br />

ermäßigt: 1,00 Euro<br />

� Peenemünde<br />

Dauerausstellung<br />

<strong>zur</strong> Geschichte der<br />

Raketentechnik<br />

Historisch-Technisches<br />

Informationszentrum<br />

Peenemünde<br />

Im Kraftwerk<br />

17449 Peenemünde<br />

Telefon: 03 83 71 / 505-0<br />

www.peenemuende.de<br />

Dauerausstellung<br />

April bis September<br />

10.00 bis 18.00 Uhr<br />

(montags geschlossen)<br />

Eintritt: 6,00 Euro<br />

ermäßigt: 4,00 Euro<br />

� Rastatt<br />

30 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />

Kunst oder Militärkitsch?<br />

Reservistika und soldatischeErinnerungsstücke<br />

bis zum Ersten<br />

Weltkrieg<br />

Vorankündigung:<br />

Ab 17. Juli 2009<br />

Sonderausstellung<br />

»Gang durch die<br />

Geschichte.<br />

75 Jahre WGM und<br />

50 Jahre Vereinigung<br />

der Freunde des WGM«<br />

Wehrgeschichtliches<br />

Museum Rastatt<br />

Herrenstr. 18<br />

76437 Rastatt<br />

Telefon: 0 72 22 / 34 24 4<br />

www.wgm-rastatt.de<br />

10.00 bis 16.30 Uhr<br />

(montags geschlossen)<br />

Eintritt: 5,00 Euro<br />

ermäßigt: 2,50 Euro<br />

Heft 3/2009<br />

Militärgeschichte<br />

Zeitschrift für historische Bildung<br />

� Vorschau<br />

In diesem Jahr jährt sich zum 20. Mal der Fall<br />

der »Berliner Mauer« am 9. November 1989,<br />

der zu dem Symbol der Beendigung des Kalten<br />

Krieges schlechthin wurde. Das nächste<br />

Heft der Militärgeschichte befasst sich daher<br />

schwerpunktmäßig mit deutsch-deutschen<br />

Themen im Kontext des Kalten Krieges.<br />

Die Nachkriegskarriere des ehemaligen<br />

<strong>Wehrmacht</strong>generals und obersten Feindlageanalysten<br />

an der Ostfront Reinhard Gehlen<br />

ist ohne den aufziehenden Ost-West-Konflikt<br />

undenkbar. Jens Wegener untersucht die Hintergründe,<br />

warum die US-Amerikaner ab<br />

Sommer 1945 Know-how, Personal und Aktenmaterial<br />

des überzeugten Antikommunisten<br />

und später in westlichen Medien zum<br />

»Jahrhundertspion« verklärten ersten Präsidenten<br />

des Bundesnachrichtendienstes (BND)<br />

in ihren Dienst stellten.<br />

Gehlens weitere Karriere im westlichen<br />

Bündnis war unter dem Vorzeichen seiner<br />

Tätigkeit im Zweiten Weltkrieg auch Thema<br />

der DDR-Propaganda, die damit Kontinuitätslinien<br />

von <strong>Hitler</strong>s <strong>Wehrmacht</strong> zu Bundeswehr<br />

und BND offenlegte und propagandistisch<br />

für sich ausnutzte. Rouven Wauschkies<br />

thematisiert einen Ausschnitt dieser auf beiden<br />

Seiten erbittert ausgefochtenen Presseschlacht<br />

im geteilten Deutschland, indem er<br />

die Bundeswehr als Feindbild der Nationalen<br />

Volksarmee in den 1950er- und 1960er Jahren<br />

in den Blick nimmt.<br />

Volker Koop bilanziert die materielle und<br />

personelle »Abwicklung« der DDR-Streitkräfte<br />

nach 1990 und spart dabei auch nicht<br />

die Probleme aus, die bei der Integration von<br />

NVA-Angehörigen in die sich zu gesamtdeutschen<br />

Streitkräften wandelnde Bundeswehr<br />

auftraten.<br />

Über den operationsgeschichtlichen Verlauf<br />

und die Auswirkungen der zwischen osmanisch-deutschen<br />

und alliierten Truppen<br />

auf der Halbinsel Gallipoli an den Dardanellen<br />

1915 ausgetragenen Schlacht informiert<br />

Klaus Wolf. Die strategisch bedeutsame bewaffnete<br />

Auseinandersetzung um die Vorherrschaft<br />

über die Meerengen zwischen dem<br />

Schwarzen und dem Ägäischen Meer war die<br />

erste und einzige Schlacht im Ersten Weltkrieg,<br />

die auf beiden Seiten im multinationalen<br />

Rahmen und im engen Zusammenwirken<br />

von Land-, See- und Luftstreitkräften<br />

ausgefochten wurde. Besonderes Augenmerk<br />

richtet der Autor auf den überwiegend in<br />

Vergessenheit geratenen deutschen Anteil<br />

am gemeinsamen Sieg.<br />

mp


Kriegsbeginn<br />

September 1939<br />

Der Einmarsch deutscher Truppen<br />

in Polen am Morgen des 1. September<br />

1939 und die darauffolgende<br />

Kriegserklärung Großbritanniens und<br />

Frankreichs an das Deutsche Reich<br />

vom 3. September bedeuteten vor siebzig<br />

Jahren den Beginn des Zweiten<br />

Weltkrieges. Die große Zahl deutscher<br />

Angriffsdivisionen mit raumfassenden<br />

Panzerverbänden führte in Verbindung<br />

mit dem Einsatz der deutschen<br />

Luftwaffe schon nach wenigen Wochen<br />

zum Zusammenbruch Polens.<br />

Die Brüder Gottfried und Franz Ehrle<br />

aus Wangen im Allgäu waren als Angehörige<br />

der 1. Gebirgs-Division seit<br />

dem Ausbruch der Kämpfe im<br />

Kriegseinsatz. Ihre unmittelbaren<br />

Kriegseindrücke hielten sie auf zahlreichen<br />

Fotografien fest, die nach Auskunft<br />

einer noch lebenden Verwandten<br />

für eine Fotoausstellung nach dem<br />

Kriege Material bieten sollten. Überliefert<br />

sind 41 Filme, die den Polenfeldzug<br />

von 1939, den Einsatz in Frankreich<br />

1940 sowie in Rumänien und<br />

Russland 1941 und 1942 dokumentieren.<br />

Die hier gezeigten Aufnahmen entstanden<br />

unmittelbar nach Kriegsausbruch:<br />

Eingebunden in das XVIII. Gebirgs-Armee-Korps,<br />

überschritten die<br />

Gebirgsjäger-Regimenter 98, 99 und<br />

100 die slowakisch-polnische Grenze<br />

am 5. September mit dem Befehl, den<br />

5 Gefallene. Aufnahme der Brüder Ehrle vom September 1939.<br />

Militärgeschichte im Bild<br />

strategisch wichtigen Eisenbahnknotenpunkt<br />

Lemberg einzunehmen. Bis<br />

<strong>zur</strong> endgültigen Einnahme der Stadt<br />

am 21. September fielen 405 Soldaten<br />

der 1. Gebirgs-Division, 918 wurden<br />

verwundet. Über 10 000 polnische Soldaten<br />

gerieten in Gefangenschaft; <strong>zur</strong><br />

hohen Zahl polnischer Verwundeter<br />

und Gefallener gibt es keine zuverlässigen<br />

Angaben.<br />

Der Beginn des Zweiten Weltkrieges<br />

mit seinen katastrophalen Folgen für<br />

das gesamte Europa ist in der Literatur<br />

unzählige Male geschildert worden.<br />

Welches Bild Gottfried und Franz Ehrle<br />

mit der beabsichtigten Fotoausstellung<br />

genau zeichnen wollten, muss offen<br />

bleiben; beide fielen während des<br />

Krieges. Das offizielle Berlin versäumte<br />

es jedenfalls nicht, noch 1939 eine Dokumentation<br />

vorzulegen, mit der die<br />

vermeintliche Schuld Polens am Kriegsausbruch<br />

belegt werden sollte. Dem<br />

amtlichen »Weißbuch« zum Kriegsausbruch<br />

folgte noch im Dezember 1939<br />

eine Sammlung der »Dokumente <strong>zur</strong><br />

Vorgeschichte des Krieges‹, zu denen<br />

Außenminister Joachim von Ribbentrop<br />

in seinem Vorwort schrieb, dass<br />

»sie den systematischen Ausrottungskampf,<br />

den die Polen seit dem Weltkrieg<br />

gegen das Deutschtum in Polen<br />

und gegen Danzig geführt haben«, bewiesen.<br />

Zahlreiche weitere »Dokumente<br />

polnischer Grausamkeit« (so der<br />

Privat<br />

Titel einer im Auftrag des Auswärtigen<br />

Amtes herausgegebenen Quellensammlung<br />

mit zahlreichen Bilddokumenten)<br />

folgten, deren Zielsetzung in<br />

der Rückschau nur zu offensichtlich<br />

ist: Die Propaganda von dem »uns aufgezwungenen<br />

Kampf« – so die Worte<br />

Ribbentrops – sollte den verbrecherischen<br />

Charakter des Angriffskrieges<br />

auf Polen verschleiern.<br />

Die Aufnahmen der Gebrüder Ehrle<br />

sind frei von solchen Intentionen. Sie<br />

zeigen den oft banalen Alltag im<br />

Kriege; sie zeigen die Opfer des<br />

Krieges. Vielleicht liegt für uns Nachgeborene<br />

hierin der eigentliche Quellenwert<br />

solcher Bildersammlungen,<br />

wie sie in großer Zahl erhalten sind. Sie<br />

vermitteln auch siebzig Jahre nach dem<br />

Kriegsende eine Wirklichkeit, die gerade<br />

den Jüngeren kaum mehr als eine<br />

solche erscheint – wurde doch durch<br />

die Aussöhnung Deutschlands mit seinen<br />

Nachbarn, die Integration Europas<br />

und das Ende des Kalten Krieges eine<br />

neue Wirklichkeit geschaffen. Aufnahmen<br />

dieser Art sind eine stete Mahnung<br />

daran, den 1945 eingeschlagenen<br />

Weg fortzusetzen, im Wissen um die<br />

Schrecken der Vergangenheit, wie sie<br />

die wohl meisten Beteiligten der<br />

Kriegsparteien – Zivilisten wie Soldaten<br />

gleichermaßen – erleiden mussten.<br />

Die Gebrüder Ehrle erlebten das<br />

Kriegsende und den Frieden nicht<br />

mehr, doch ist ein schriftliches Dokument<br />

erhalten, das den nur allzumenschlichen<br />

Wunsch auf eine andere,<br />

bessere Zukunft zum Ausdruck bringt.<br />

Im Felde schrieb Franz Ehrle am<br />

10. Oktober 1943 eine Feldpostkarte an<br />

seine Mutter, in der es heißt: »Liebes<br />

Manterle! Zu Deinem kommenden Namenstage<br />

wünscht Dir alles, alles Gute,<br />

vor allem Gesundheit, ein langes Leben<br />

und den nächsten Namenstag im<br />

Frieden und zuletzt den Himmel! Von<br />

Herzen Dein Sohn Franz.«<br />

Alexander Jaser<br />

Literaturtipp<br />

Hermann Frank Meyer, Blutiges Edelweiß. Die 1. Gebirgs-<br />

Division im Zweiten Weltkrieg. Berlin 2008 (als Lesetipp<br />

auf S. 27).<br />

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />

31


���������������������������<br />

��������������������������������������������������������������������������<br />

����������������������������������������������������������������<br />

������������������������������������������������������������������������������<br />

����������������������<br />

�������������������������������������������������������������������������������������<br />

����������������������������������������������������������������������������������<br />

�������������������������������������������<br />

����������������������������������������������<br />

����������������������<br />

�����������������������������������������������������������������������<br />

������������������������������������������������������������������������<br />

��������������������������������������������������������������������������<br />

�����������������������������������������������������������<br />

����������������������<br />

������������������������������������������������������������������������������<br />

�����������������������������������������������������������������<br />

������������������������������������������������������������������������������������������<br />

���������������������<br />

����������������������<br />

www.mgfa.de

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!