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<strong>Stellungnahme</strong><br />

Berlin, den 9. Dezember 2009<br />

Empfehlung des Diakonischen Werkes der EKD und des DEVAP für eine geschlechtersensible<br />

Pflege in Einrichtungen der stationären Altenhilfe<br />

Das Diakonische Werk der EKD und der DEVAP 1 begrüßen die Regelung des Pflegeversicherungsgesetzes<br />

zur gleichgeschlechtlichen Pflege. Stationäre Altenhilfeeinrichtungen sollen jeden Wunsch nach<br />

einer Verrichtung pflegerischer Maßnahmen durch Pflegende des gleichen Geschlechts wahrnehmen und<br />

ihm im Rahmen der situativen Möglichkeiten entsprechen. Das Selbstbestimmungsrecht jedes Menschen<br />

gilt es seiner Menschenwürde und Gottesebenbildlichkeit entsprechend auch im Pflegeprozess zu achten<br />

und zu unterstützen. Diesem Anspruch fühlen sich die diakonischen Einrichtungen seit jeher verpflichtet.<br />

1. Rechtslage<br />

Das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz hat im Jahre 2008 die Regelung des § 2 Abs. 2 S. 3 neu in das SGB<br />

XI eingefügt. Demnach haben „Wünsche der Pflegebedürftigen nach gleichgeschlechtlicher Pflege [...]<br />

nach Möglichkeit Berücksichtigung zu finden.“ In der Begründung hebt der Gesetzgeber hervor, dass sich<br />

durch die Regelung kein Anspruch auf gleichgeschlechtliche Pflege ergebe, aber die Pflegeeinrichtung<br />

verpflichtet sei, „wo immer möglich dem Wunsch von Pflegebedürftigen nach gleichgeschlechtlicher Pflege<br />

Rechnung zu tragen“ 2 .<br />

Mit der Einfügung des § 2 Abs. 2 S. 3 SGB XI beschreibt der Gesetzgeber Eckpunkte für einen einzelfallbezogenen<br />

Ausgleich zwischen dem Wunsch des Pflegebedürftigen nach gleichgeschlechtlicher Pflege<br />

und den institutionellen Erfordernissen der Dienste und Einrichtungen. Die institutionellen Möglichkeiten<br />

sind durch die Zusammensetzung des Pflegepersonals begrenzt, das, so führt die Gesetzesbegründung<br />

aus, überwiegend aus Frauen besteht. Jedoch verlangt der Gesetzgeber, dass die Pflegeeinrichtungen<br />

das ihnen Mögliche zur Umsetzung des Wunsches nach gleichgeschlechtlicher Pflege tun, wobei er die<br />

Ausgestaltung im Einzelfall den Einrichtungen und Diensten überlässt.<br />

Auch ohne einen Anspruch des Pflegebedürftigen auf gleichgeschlechtliche Pflege zu formulieren, ist<br />

§ 2 Abs. 2 S. 3 SGB XI verfassungsgemäß. Er bringt betroffene Rechtsgüter, insbesondere das Interesse<br />

an einer bedarfsdeckenden Pflege als Ausfluss des Sozialstaatsgebots sowie die Berufsfreiheit der<br />

Pflegeeinrichtungen und der Pflegenden auf der einen Seite und das Recht auf Selbstbestimmung des<br />

Pflegebedürftigen auf der anderen Seite zu einem Ausgleich. Die Regelung des § 2 Abs. 2 S. 3 SGB XI<br />

respektiert die über Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG als Kernbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts<br />

geschützte Intimsphäre der Pflegebedürftigen in geeigneter und verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender<br />

Weise. Dem Gesetzgeber ist bei der Erfüllung seiner grundrechtlichen Schutzpflichten - hier<br />

gegenüber dem Pflegebedürftigen - ein Gestaltungsspielraum zuzubilligen, den er bei der Regelung des<br />

§ 2 Abs. 2 S. 3 SGB XI nicht überschritten hat.<br />

Überdies konkretisiert § 2 Abs. 2 S. 3 SGB XI die im Rahmen des privatrechtlichen Pflegevertrags<br />

zwischen Pflegebedürftigem und Pflegeeinrichtung gemäß § 241 Abs. 2 BGB zu beachtenden Schutz-


pflichten. Das bedeutet, dass eine gleichgeschlechtliche Pflege zum Schutz der Rechtsgüter des Pflegebedürftigen<br />

nur im Rahmen der Möglichkeiten der Pflegeeinrichtung erfolgen muss. Nur so wird ein Unterlaufen<br />

der sozialrechtlichen Regelung vermieden und die Einheit der Rechtsordnung gewahrt. Ein einklagbarer<br />

Anspruch auf gleichgeschlechtliche Pflege besteht somit weder aus öffentlich- noch aus privatrechtlichen<br />

Vorschriften.<br />

2. Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen und das Memorandum für eine kultursensible<br />

Altenhilfe<br />

Die im Jahre 2005 erschienene Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen 3 beinhaltet<br />

keinen unmittelbaren Anspruch auf Gewährung von gleichgeschlechtlicher Pflege. Sie betont das Selbstbestimmungsrecht<br />

des hilfe- und pflegebedürftigen Menschen (Artikel 1) und hebt hervor, dass die an der<br />

Betreuung, Pflege und Behandlung beteiligten Personen den Willen beachten und ihr Handeln danach<br />

ausrichten müssen. In Artikel 3 führt die Charta weiter aus, dass der Pflegebedürftige erwarten kann, dass<br />

die pflegenden und behandelnden Personen ihm mit einem größtmöglichen Maß an Einfühlsamkeit und<br />

Diskretion begegnen. Das gilt im Besonderen für den Bereich der Körperhygiene. Die Charta, die sich<br />

direkt an den Pflegebedürftigen wendet, empfiehlt Bedenken direkt oder gegenüber anderen Mitarbeiterinnen<br />

oder Mitarbeitern zum Ausdruck zu bringen, wenn die Pflege oder Behandlung durch eine<br />

bestimmte Person als unangenehm erlebt wird. Die pflegebedürftige Person kann erwarten, dass in<br />

solchen Fällen seitens der Institutionen alle organisatorischen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, damit<br />

ihm Personen zugeteilt werden, durch die sie sich angemessen behandelt fühlt. Aus der Charta lässt sich<br />

keine privilegierte Behandlung eines Wunsches nach gleichgeschlechtlicher Pflege im Rahmen des<br />

Selbstbestimmungsrechts ableiten. Vielmehr subsummiert die Charta eine gleichgeschlechtliche Pflege<br />

unter das Postulat der Selbstbestimmung und verweist auch auf die begrenzten institutionellen Möglichkeiten.<br />

Im Memorandum für eine kultursensible Altenhilfe 4 vom Juni 2002 wird ebenfalls das Thema gleichgeschlechtliche<br />

Pflege nicht explizit aufgegriffen. Kultursensible Pflege wird vielmehr entscheidend durch<br />

eine biographiebezogene Pflegeplanung und durch das individuelle Beziehungsgeschehen zwischen<br />

Pflegenden und Pflegebedürftigen bestimmt. Eine Gefahr von Diskriminierung kann sich aus dem Prinzip<br />

der Gleichbehandlung ergeben, wenn damit Individualität übersehen und nivelliert wird.<br />

In theologischer Perspektive entspricht dies einem Verständnis des Individuums, das dessen Freiheit und<br />

Selbstbestimmung nicht als von allen Gemeinschaftsbezügen losgelöste Freiheit des Einzelnen auffasst.<br />

Das christliche Verständnis des einzelnen Menschen und seiner Selbstbestimmung impliziert eine individuelle<br />

Pflegeplanung, die durch die Perspektive auf das Handeln mit bzw. für das Individuum dominiert<br />

wird, in der es aber auch um die Gestaltung von Beziehungen im größeren Zusammenhang eines Sozialraums<br />

geht.<br />

3. Qualität der Pflegebeziehung<br />

Die Forderung nach gleichgeschlechtlicher Pflege kann nicht zur rechtlichen Verpflichtung für den Pflegeanbieter<br />

und zur Maßgabe für alle zu Pflegenden gleichermaßen gemacht werden. Vielmehr entscheidend<br />

ist das Wissen um geschlechtsspezifisches und geschlechtersensibles Verhalten in der Pflege 5 .<br />

Es ist zwischen einer gleichgeschlechtlichen und einer geschlechtersensiblen Pflege zu unterscheiden.<br />

Letztere umfasst das Wissen um geschlechtsspezifische Unterschiede in Krankheits- und Pflegesituationen<br />

(gender care) und wird hier ausdrücklich befürwortet, so dass der Wunsch des Einzelnen nach<br />

gleichgeschlechtlicher Pflege ausdrücklich respektiert und ihm weitmöglichst entsprochen wird. Eine<br />

normativ festgelegte geschlechtergetrennte Pflege, die einer beziehungsorientierten Pflegeethik widerspricht,<br />

kann hingegen nicht befürwortet werden.<br />

<strong>Stellungnahme</strong> – Seite 2 von 4


Die Qualität der Pflegebeziehung zwischen professioneller Pflegekraft und pflegebedürftigem Menschen<br />

hat wesentlichen Einfluss auf das persönliche Wohlbefinden und die Zufriedenheit des pflegebedürftigen<br />

Menschen. Die subjektiv empfundene Qualität der Pflegebeziehung wird durch unterschiedliche Faktoren<br />

beeinflusst. Für das subjektive Qualitätsempfinden des pflegebedürftigen Menschen kann das Geschlechterverhältnis<br />

aber beispielsweise auch persönliche Sympathie und Antipathie gegenüber der Pflegeperson<br />

ein wichtiger Einflussfaktor für eine vertrauensvolle Pflegebeziehung sein.<br />

Die Wünsche und Erwartungen von Pflegebedürftigen an Pflegekräfte sind individuell sehr unterschiedlich<br />

und stehen im Kontext der biographischen Erfahrung und der persönlichen Werteorientierung. Dies trifft<br />

auch auf den persönlichen Umgang mit körperlicher Intimität und Schamgefühl zu. Eine Reduzierung der<br />

Pflegebeziehung auf das Geschlechterverhältnis wird dem komplexen Bedingungsgefüge einer vertrauensvollen<br />

Pflegebeziehung nicht gerecht. So traten beispielsweise in den 1990er Jahren in Berlin auf<br />

Wunsch eines rein männlich zusammengesetzten Pflegeteams einer ambulanten Pflegestation zwei<br />

Nonnen mit in die Pflege von an Aids erkrankten Männern ein. Andererseits waren am Ende des Zweiten<br />

Weltkriegs viele Frauen Opfer traumatisierender Missbrauchserfahrungen, die durch intime Verrichtungen<br />

in der Pflege aktualisiert werden können. Trotzdem lässt sich der Wunsch nach gleichgeschlechtlicher<br />

Pflege, so sehr er auch nachvollziehbar und berechtigt erscheint, nicht generalisieren. Vielmehr kommt es<br />

darauf an, die Wünsche, Erwartungen und Befürchtungen gegenüber den Pflegepersonen im Einzelfall zu<br />

ermitteln, ernst zu nehmen und darauf mit Respekt aber auch unter Berücksichtigung der institutionellen<br />

Möglichkeiten zu reagieren.<br />

4. Die institutionellen Möglichkeiten<br />

85 % der in der stationären Altenhilfe Beschäftigen waren im Jahr 2007 weiblich 6 . Hier besteht erheblicher<br />

Handlungsbedarf, um die Pflegeberufe auch für Männer noch attraktiver zu machen. Der hohe Anteil weiblicher<br />

Pflegekräfte in den Einrichtungen erschwert die Realisierung einer gleichgeschlechtlichen Pflege<br />

besonders für männliche Pflegebedürftige. In kleinen Einrichtungen und bei geringer personeller Besetzung<br />

einzelner Dienste etwa in der Nacht oder an Wochenend- und Feiertagen ist eine ausnahmefreie<br />

Realisierung gleichgeschlechtlicher Pflege nur mit erheblichem organisatorischen und zeitlichen Mehraufwand<br />

zu ermöglichen. Dieser Mehraufwand ist von den Einrichtungen unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen<br />

zumindest nicht ausnahmslos zu realisieren, 7 und er ist in der aktuellen Kostenkalkulation<br />

nicht berücksichtigt. Auch müssten Spielräume für eine mitarbeiterfreundliche Arbeitszeitgestaltung<br />

gewährleistet bleiben.<br />

5. Schlussbemerkung<br />

Das in der Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen postulierte Recht auf Selbstbestimmung<br />

realisiert sich vor allem in der Kommunikation zwischen Pflegekraft und Pflegebedürftigem. Neben<br />

anderen wichtigen Faktoren für eine vertrauensvolle Pflegebeziehung kann auch das Geschlechterverhältnis<br />

für das subjektive Wohlbefinden und die Zufriedenheit des pflegebedürftigen Menschen bedeutend<br />

sein. Eine generelle gesetzliche Verpflichtung zu einer ausschließlich gleichgeschlechtlichen Pflege würde<br />

jedoch das breite Spektrum persönlicher Vorlieben und Abneigungen leugnen und der biographischen<br />

Individualität älterer Menschen nicht gerecht werden. Gute Pflege erfordert einen respektvollen Umgang<br />

mit den individuellen Bedürfnissen und Wünschen hilfebedürftiger Menschen, dem sich das Diakonische<br />

Werk der EKD und der DEVAP seit jeher verpflichtet fühlen.<br />

1 Deutscher Evangelischer Verband für Altenarbeit und Pflege e.V. (DEVAP).<br />

2 Bundestagsdrucksache 16/7439, Seite 45.<br />

3 Die Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen geht zurück auf die Arbeiten des im Herbst 2003 vom<br />

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und dem Bundesministerium für Gesundheit initiierten "Runden Tisches<br />

Pflege". Chartatext siehe: www.bmfsfj.de/Kategorien/Publikationen/Publikationen,did=92830.html.<br />

<strong>Stellungnahme</strong> – Seite 3 von 4


4 www.kultursensible-altenhilfe.de.<br />

5 Vgl. dazu: „Eigene Rollenbilder kritisch hinterfragen“ - Interview mit Ulrike Nigl-Heim, in: Krankenpflege Nr 11 / 2006. Vgl. auch<br />

Bobbert, Monika, Patientenautonomie und Pflege. Begründung und Anwendung eines moralischen Rechts, Campus-Verlag Frankfurt<br />

/ New York 2002, S. 316 –321: „Die meisten Pflegetheorien, Pflegekonzepte, Leitlinien und Pflegeverständnisse wollen unter<br />

Absetzung von einer rein somatischen Pflege den Patienten als Leib-Seele-Einheit verstehen und streben deshalb eine pflegerische<br />

Versorgung an, die auch die psychische und existentielle Verfassung des Patienten berücksichtigen. [...] Inzwischen gibt es<br />

pflegerische Entwürfe, die Pflege in erster Linie als „Beziehungspflege“ verstehen. [...] Pflegende müssen also<br />

verständigungsorientierte Interaktionskonzepte aufnehmen und umsetzen, die sowohl die Art der „Beziehung“, also die in allen<br />

sozialen Berufen zentrale Frage von Nähe und Distanz zum Gegenstand haben, als auch die psychischen „Wünsche“ und<br />

„Bedürfnisse“ des Patienten sowie die Bereitschaft und das Vermögen der Pflegenden, darauf einzugehen.“ Vgl. ebenso: Seidel-<br />

Großklaus, Marion, 4.1. Autonomie des Patienten und das Fürsorgeprinzip in der Pflege, in: Ethik im Pflegealltag, Kohlhammer<br />

Stuttgart 2002, 141-154; vgl. auch Lachmann, Mareike, Gelebtes Ethos in der Krankenpflege, Kohlhammer Stuttgart 2005, S. 60:<br />

„Untrennbar von Pflege ist die Achtung der Menschenwürde, einschließlich dem Recht auf Leben, auf Würde und auf respektvolle<br />

Behandlung. Sie wird ohne Wertung des Alters, eine Behinderung oder Krankheit, des Geschlechts, des Glaubens, der Hautfarbe,<br />

der Kultur, der Nationalität, der politischen Einstellung, der Rasse oder des sozialen Status ausgeübt.“ Und vgl. die Expertise der<br />

Friedrich-Ebert-Stiftung zu „Gender in der Pflege – Herausforderungen für die Politik“, August 2008.<br />

6 Pflegestatistik des Statistisches Bundesamts 2007.<br />

<strong>Stellungnahme</strong> – Seite 4 von 4

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