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Politische Information im Ersten - ARD

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76<br />

<strong>Politische</strong> <strong>Information</strong> <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong><br />

Eine Innensicht<br />

Von Thomas Baumann<br />

Zwei Artikel über die Qualität der politischen Informa-<br />

tion in den Medien, speziell <strong>im</strong> Fernsehen, zwei Auto-<br />

ren – der eine als <strong>ARD</strong>-Chefredakteur zuständig für die<br />

Innen sicht, der andere als Medienwissenschaftler für<br />

den Blick von außen – zwei unterschiedliche Positionen.<br />

Einigkeit jedoch letztendlich über den Auftrag, den die<br />

Medien und die Journalisten für die Zuschauer erfüllen<br />

müssen: Politiker-Statements dechiffrieren, Floskeln ent-<br />

larven, das politische Geschehen transparent machen.<br />

Dies geschieht <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong> mit Nachrichtensendungen,<br />

politischen Magazinen, einer Vielzahl von Dokumenta-<br />

tionen und Gesprächssendungen. Damit die Qualität der<br />

Berichterstattung auch angesichts der <strong>im</strong>mer schneller<br />

fließenden <strong>Information</strong>en und der fortschreitenden<br />

Digitalisierung gewährleistet ist, fordert der zweite<br />

Beitrag eine hochwertige journalistische Ausbildung ein.<br />

Nur sie ermögliche, die Eigenlogik der Politik zu erken-<br />

nen und zu durchschauen.<br />

P<br />

olitischer Journalismus <strong>im</strong> Fernsehen«<br />

– die Thesen, die die Debatte darüber<br />

best<strong>im</strong>men, sind – sagen wir es<br />

so – ein wenig »deutsch«. Von einem<br />

Anpassungsdruck ans Gefällige und Seichte<br />

ist die Rede. So sorgt sich etwa Jens Jessen in<br />

der »ZEIT«, von der Politik <strong>im</strong> Fernsehen sei<br />

außer Nachrichten und Talkshows wenig übrig<br />

geblieben. Die Sendeplätze für investigativen<br />

Journalismus würden schlechter, die Beiträge in<br />

politischen Magazinsendungen kürzer. »Weniger<br />

<strong>Information</strong> – mehr Spektakel«, lautet die<br />

Generalkritik. Was daran »deutsch« ist? Einige<br />

Körnchen Wahrheit werden dramatisiert und<br />

zum Negativszenario hochstilisiert. Die Saat<br />

einiger »Reichsbedenkenträger« sprießt dort, wo<br />

der Boden dafür fruchtbar ist: in wissenschaftlichen<br />

Foren und auf Medienseiten großer Qualitätszeitungen.<br />

Ich will an dieser Stelle nicht<br />

zurückschlagen, sondern zum Nachdenken<br />

anhalten. Ist es um die »politische <strong>Information</strong>«<br />

<strong>im</strong> deutschen Fernsehen wirklich derart<br />

schlecht bestellt?<br />

_ Politik <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong>, quantitativ betrachtet<br />

Unstrittig sind die Fakten einer quantitativen<br />

Betrachtung. Die Monopolstellung der<br />

öffentlich-rechtlichen TV-Anbieter <strong>im</strong> Bereich<br />

der audiovisuellen <strong>Information</strong> ist gebrochen,<br />

seit sich kommerzielle Wettbewerber etabliert<br />

haben. Vom begrenzten Zeitbudget zum Abrufen<br />

politischer <strong>Information</strong>en schneiden sich<br />

überdies Internet-Anbieter ein <strong>im</strong>mer größer<br />

werdendes Stück des Kuchens ab. Insofern mag<br />

man die Beschreibung des Kollegen Heribert<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08


Prantl von der »Süddeutschen Zeitung« bedingt<br />

teilen, wenn er formuliert, die »Tagesschau« sei<br />

nicht mehr das große »Lagerfeuer«, um das sich<br />

die TV-Nation um 20.00 Uhr einmütig schart.<br />

Im Vergleich freilich haben sich unsere Angebote<br />

mehr als gut behauptet. In der Vielzahl<br />

der kleineren und größeren Feuer lodern unsere<br />

Flammen am höchsten. Die »Tagesschau« ist<br />

nach Reichweiten weiter mit großem Abstand<br />

die am meisten gesehene <strong>Information</strong>ssendung<br />

des deutschen Fernsehens, übrigens quer durch<br />

alle Altersgruppen. Die Hauptausgabe verfolgten<br />

<strong>im</strong> Jahr 2007 durchschnittlich 8,96 Millionen<br />

Menschen.<br />

Davon, dass sich das Publikum von politischer<br />

<strong>Information</strong> zunehmend abwende, kann<br />

keine Rede sein. Die politischen Magazine am<br />

Donnerstagabend, der »Bericht aus Berlin«, der<br />

»Weltspiegel« und »Plusminus« konnten <strong>im</strong> Jahr<br />

2007 gegenüber dem Vorjahr jeweils Zuwächse<br />

verzeichnen – nach Marktanteilen und Reich-<br />

weiten. Neue Formate wie »Anne Will« und<br />

»hart aber fair« finden ein Millionenpublikum,<br />

Letzteres hält sogar der Konkurrenz gegen Live-<br />

Übertragungen von Fußballspielen glänzend<br />

stand. Es gibt sie also nicht, die allgemeine<br />

Politikmüdigkeit in Zeiten der »Großen Koalition«<br />

<strong>im</strong> Bund. Und ebenso wenig hat Das<br />

Erste seine Anteile an politischer <strong>Information</strong><br />

verknappt. Natürlich war es schmerzhaft, die<br />

politischen Magazine <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong> um 15 Minuten<br />

zu kürzen. Auf der »Haben-Seite« steht hingegen,<br />

dass wir unsere »Tagesthemen« dem Publikum<br />

nun eine Viertelstunde früher anbieten.<br />

Überdies haben wir mit »hart aber fair« eine<br />

zusätzliche, politische Gesprächssendung in der<br />

Länge von 75 Minuten. Insofern mutet es etwas<br />

seltsam an, dass ausgerechnet einige, die sich<br />

um den Stellenwert der politischen Berichterstattung<br />

sorgen, die Zahl von sechs politischen<br />

Magazinen (»Fakt«, »Kontraste«, »Monitor«,<br />

»Panorama«, »Report Mainz« und »Report<br />

München«) für anachronistisch erachten und<br />

uns empfehlen, diese Zahl zu reduzieren. Markenstrategisch<br />

gesehen mag dieser Vorschlag erwägenswert<br />

sein. Er würde aber zweifelsfrei mit<br />

einer Beschneidung inhaltlicher Vielfalt und<br />

einer Reduzierung des politischen <strong>Information</strong>sangebots<br />

einhergehen.<br />

_ Politik <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong>: qualitativ betrachtet<br />

Und die mindestens ebenso wichtige Frage<br />

nach der Qualität? Nehmen wir zunächst wieder<br />

die Nachrichten. Natürlich spüren auch die<br />

»Tagesschau« und die »Tagesthemen« eine Art<br />

Anpassungsdruck an sich ändernde Informati-<br />

Der »Presseclub« <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong> wird während<br />

der gesamten Sendung in <strong>ARD</strong> Digital inter-<br />

aktiv begleitet. Die Zuschauer können<br />

Hintergrundinformationen und Publikationen<br />

zu den einzelnen Gästen der Sendung<br />

abrufen sowie live an einer Abst<strong>im</strong>mung<br />

zum Thema der Talkrunde teilnehmen.<br />

onsbedürfnisse des Publikums. Können, ja sollen<br />

und dürfen sie beispielsweise das Schicksal<br />

des »Problembären Bruno« unerwähnt lassen,<br />

wenn ganz Deutschland darüber spricht? Die<br />

Thematisierung von »soft news« erscheint uns<br />

zulässig, ja geboten zu sein, wenn Aufmachung<br />

und Platzierung st<strong>im</strong>men. Um es an einem<br />

<strong>Politische</strong> <strong>Information</strong> <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 77


»Das Schweigen der Quandts«: Herbert<br />

Quandt, der <strong>im</strong> Zweiten Weltkrieg als<br />

Personalvorstand des Batterieherstellers<br />

AFA für die Arbeitsbedingungen der<br />

Zwangsarbeiter mitverantwortlich war<br />

Beispiel zu verdeutlichen: Ein öffentlich-rechtlicher<br />

Mitbewerber des <strong>Ersten</strong> hat in seiner<br />

Hauptnachrichtenausgabe mit dem Prozess gegen<br />

Michael Jackson wegen angeblicher Kindesmisshandlung<br />

»aufgemacht«. Das käme für die<br />

»Tagesschau« nicht infrage. Wir haben über den<br />

Jackson-Prozess berichtet, <strong>im</strong> hinteren Viertel<br />

der Sendung. All jenen, die selbst das noch für<br />

verwerflich halten, sei die Frage gestellt, wie<br />

ernst sie es mit ihren Forderungen nehmen,<br />

wir sollten uns stärker anstrengen, jüngere Publikumsschichten<br />

zu halten beziehungsweise<br />

zurückzugewinnen. Behutsame Justierungen<br />

bei der Nachrichtenauswahl ändern nichts an<br />

der Tatsache, dass die Redaktionen von »Tagesschau«<br />

und »Tagesthemen« Kurs halten. Es bleiben<br />

eindeutig politische Sendungen. Nirgends<br />

ist der Anteil politischer Themen höher als in<br />

der »Tagesschau«.<br />

Zur weitverbreiteten Larmoyanz über den<br />

angeblichen Niedergang des <strong>Politische</strong>n <strong>im</strong><br />

Fernsehen gehört auch die Behauptung, unsere<br />

politischen Magazine versagten. Sie degenerierten<br />

zu Verbrauchermagazinen, es fehle der<br />

»journalistische Biss«. Von all den Anfechtungen,<br />

denen wir ausgesetzt sind, erscheint mir<br />

dieser Vorhalt am schwersten nachvollziehbar<br />

zu sein. Mag sein, dass hier die Verkürzung<br />

der Sendezeit auf 30 Minuten eine Art Phantomschmerz<br />

verursacht, der sich in qualitativer<br />

Kritik entlädt. Alle sechs politischen Magazine<br />

werden ihrem Auftrag nach wie vor auf das<br />

Theophilos Mylopoulos, KZ-Überlebender<br />

und ehemaliger Zwangsarbeiter<br />

in der Quandt’schen Batteriefabrik<br />

Beste gerecht. Sie berichten hintergründig,<br />

analytisch, kritisch. Und zwingen politisch<br />

Verantwortliche, sich mit ihren exzellenten Rechercheergebnissen<br />

zu beschäftigen. So haben<br />

sich der Bundestag und der Bundesrechnungshof<br />

mit einem »Monitor«-Bericht befasst, der<br />

den höchst fragwürdigen Einsatz von Lobbyisten<br />

in Bundesministerien aufgedeckt hat.<br />

Oder etwa »Report München«: Dessen Bericht<br />

über die krakenhafte Präsenz der italienischen<br />

Mafia auf deutschem Boden hat mittlerweile<br />

den Bund deutscher Kr<strong>im</strong>inalbeamter auf den<br />

Plan gerufen, der von der Politik eine härtere<br />

Gangart fordert. Dies sind nur zwei aktuelle<br />

Beispiele. Die Liste ließe sich mit Blick auf<br />

alle politischen Magazine beliebig verlängern.<br />

Tatsache ist: »Panorama« und »Monitor« sind<br />

nach Marktanteilen die am meisten gesehenen<br />

politischen Magazine des deutschen Fernsehens.<br />

Überdies sind es nicht nur die politischen<br />

Magazine, die über die reine Berichterstattung<br />

und <strong>Information</strong> des Publikums hinaus tatsächlich<br />

etwas bewirken. Die herausragende NDR-<br />

Dokumentation »Das Schweigen der Quandts«<br />

hat heutige Familienmitglieder dazu bewegt,<br />

ernsthafte Versuche zu unternehmen, die Verstrickungen<br />

ihrer Vorfahren in die Geschichte<br />

der NS-Diktatur aufarbeiten zu lassen.<br />

Die Qualität und der daraus resultierende<br />

Erfolg bewährter Nachrichten- und Magazinsendungen<br />

sowie Dokumentationen lassen<br />

einen interessanten Schluss zu. Genauso wenig,<br />

wie das Aufkommen des Radios die Nutzung<br />

von Zeitungen obsolet gemacht hat, und genauso<br />

wenig, wie die Existenz des Fernsehens<br />

78 Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08<br />

78


Hörfunk und Printmedien verdrängt hat, genauso<br />

wenig marginalisieren neue mediale<br />

Formen oder Formate <strong>im</strong> Fernsehen die eingeführten<br />

und bewährten Instrumente der <strong>Information</strong>.<br />

Das so genannte Rieplsche Gesetz der<br />

Kommunikationswissenschaft gilt also offenbar<br />

auch fernsehintern. In der Flut neuer TV-Angebote<br />

haben sich die Nachrichten und die politischen<br />

Magazine gut behauptet.<br />

_ Behutsame Veränderungen:<br />

Politik transparenter machen<br />

Dennoch wäre es unklug, sich auf Bewährtem<br />

auszuruhen. In Zeiten, in denen Politik zunehmend<br />

komplexer wird und in denen Jour nalisten<br />

zunehmend gefordert sind, Inszenierungen<br />

der Politik zu entlarven, justiert Das Erste seine<br />

Formate und stellt neue ein. Dass Medienkritiker<br />

von »Anne Will« nach wie vor eine Art revo-<br />

lutionäre Neuerfindung von Gesprächssen dungen<br />

<strong>im</strong> Fernsehen fordern, gehört zu den ärgerlichen<br />

Begleiterscheinungen unseres Geschäfts.<br />

Bedauerlicherweise bleibt dabei verbor gen oder<br />

jedenfalls unerwähnt, dass unsere Mode ratorin<br />

den Sendeplatz am Sonntagabend behutsam –<br />

und alles andere wäre unsinnig – in Richtung<br />

»<strong>Information</strong>« verschiebt. Ihre Art der Fragestellungen,<br />

ihre Art des »Sich-Einmischens«<br />

und Steuerns zielen eindeutig darauf ab, Politik<br />

transparenter zu machen. Mit Verwunderung ist<br />

wahrzunehmen, wie hartnäckig sich Kritiker an<br />

dem neuen Element der »Couch« abarbeiten,<br />

auf dem Gäste ihre Lebenswirklichkeit schildern.<br />

Dass deren Positionen <strong>im</strong> Einzelgespräch<br />

mit Anne Will eine wesentlich höhere Wirkung<br />

Werner Sonne interviewte für das <strong>ARD</strong>-<br />

»Morgenmagazin« Gesine Schwan, die für<br />

das Amt der Bundespräsidentin kandidiert.<br />

»Echtzeit« will vor allem jüngere Zuschauer<br />

mit Themen aus Politik und Gesellschaft<br />

erreichen. Im Mittelpunkt steht <strong>im</strong>mer die<br />

Frage: Wie wirken sich politische Entscheidungen<br />

<strong>im</strong> fernen Berlin und anderswo<br />

auf mein eigenes Leben aus?<br />

entfalten als in der Runde unter mehreren,<br />

wird beharrlich geleugnet. Ebenso, dass viele<br />

Couch-Gäste für eine Teilnahme in der Runde<br />

mit Politik-Profis gar nicht zur Verfügung stehen.<br />

Sowohl »Anne Will« wie auch »hart aber<br />

fair« zeigen, was Gesprächssendungen heute<br />

mehr denn je leisten müssen: Politiker-Statements<br />

dechiffrieren und Floskeln entlarven.<br />

Frank Plasbergs Motto bringt es auf den Punkt:<br />

»Wenn Politik auf Wirklichkeit trifft.« Mit intelligenten<br />

Provokationen <strong>im</strong> Gespräch und dem<br />

»Fakten-Check« nach der Sendung löst er diesen<br />

Anspruch ein. Unabhängig von den neuen<br />

Gesprächsformaten wagt Das Erste auch Exper<strong>im</strong>ente<br />

bei der Darstellung neuer Formen von<br />

politischer <strong>Information</strong>. Das Reportagemagazin<br />

»Echtzeit« wendet sich vorrangig an ein<br />

jüngeres Publikum. Junge Reporterinnen und<br />

Reporter präsentieren ihre Sicht zu politischen<br />

Themen, und sie tun es in ihrer Sprache. »Junge<br />

Köpfe« und »junge Sprache« – diese sind wohl<br />

die vielversprechendsten Instrumente, um Menschen<br />

zwischen 14 und 30 Jahren stärker für unsere<br />

Programme zu begeistern.<br />

_ Probleme: Wie erreiche ich ein junges Publikum?<br />

Und: Anpassungsdruck bei der Themenauswahl<br />

Also, alles bestens bestellt um die politische<br />

<strong>Information</strong> <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong>? Keine Probleme? Nein,<br />

natürlich gibt es auch Probleme, für die wir<br />

noch keine oder nur bedingt taugliche Antworten<br />

haben. Die erwähnte Sendung »Echtzeit«<br />

ist nur ein erster Versuch, jüngere Publikums-<br />

<strong>Politische</strong> <strong>Information</strong> <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 79


80<br />

schichten mit Angeboten politischer <strong>Information</strong><br />

wieder an Das Erste zu binden. Die Aufgabe<br />

ist strategischer Natur und bedarf neuer<br />

Konzepte für praktisch alle Sendeplätze. Ob<br />

dies in Zeiten gelingt, in denen in der Mehrzahl<br />

der deutschen Studentenhaushalte kein Fernsehgerät<br />

steht, bleibt fraglich. Es aber gar nicht<br />

erst zu versuchen, wäre sträflich.<br />

Dass unsere Nachrichtensendungen einem<br />

Anpassungsdruck bei der Themenauswahl widerstehen<br />

und sich einer gewissen Boulevardisierung<br />

verweigern, wurde oben erwähnt. Die<br />

Redlichkeit gebietet anzusprechen, dass es auch<br />

innerhalb des Genres »politischer <strong>Information</strong>«<br />

einen nicht unerheblichen Anpassungsdruck<br />

gibt. Er wird ausgelöst durch einen <strong>im</strong>mer größer<br />

werdenden Zeitdruck und einen <strong>im</strong>mer<br />

stärker werdenden Konkurrenzdruck zwischen<br />

den Nachrichtenangeboten. So kommt es beispielsweise<br />

vor, dass an eher nachrichtenarmen<br />

Tagen Referentenentwürfe aus irgendwelchen<br />

Schubladen irgendwelcher Ministerien zum<br />

Thema werden. Irgendeine Zeitung, irgendeine<br />

Agentur oder irgendein Sender hat das Papier<br />

exklusiv, prescht dann nach vorne, und fast alle<br />

anderen Medien »ziehen mit«. Besonders dann,<br />

»Berliner Gespräch«, Auftakt zur Themen-<br />

woche »Mehr Zeit zu leben – Chancen einer<br />

alternden Gesellschaft«, zum Thema<br />

»Chancen und Risiken des demographischen<br />

Wandels«: Moderatorin Sandra Maischberger,<br />

Cordula Tutt, Matthias Platzeck, Ursula<br />

von der Leyen, Jürgen Dressler und Margret<br />

Suckale (v. l.).<br />

wenn solche Entwürfe den Geldbeutel des so<br />

genannten kleinen Mannes betreffen. Dann<br />

gibt es – meistens an Wochenenden – über zwei<br />

Tage hinweg eine mehr oder weniger aufgeregte<br />

Debatte, bis der Referentenentwurf »einkassiert«<br />

wird. »Na also«, könnte man sagen: »Da<br />

hat Medienberichterstattung etwas bewirkt.« Ja,<br />

vielleicht. Die Frage, ob dieser Entwurf auch<br />

ohne mediale Beachtung jemals zum Gesetz<br />

geworden wäre, bleibt allerdings unbeantwortet.<br />

Das eigentliche Problem ist: Wir müssen uns<br />

fragen, ob wir unser Publikum stets ausreichend<br />

darüber informieren, in welcher Phase des parlamentarischen<br />

Prozesses sich ein politisches<br />

Vorhaben befindet. Oder ob es sich überhaupt<br />

schon um ein ernst zu nehmendes politisches<br />

Vorhaben handelt. Hier sind die Trennlinien<br />

an einigen Stellen schärfer zu ziehen, um mehr<br />

Orientierung zu geben. Manchmal wäre auch<br />

der Mut zum Verzicht angemessen.<br />

_ Im digitalen Zeitalter:<br />

Die Spannung zwischen Qualität und Aktualität<br />

Und es gibt ein weiteres Problem, das über das<br />

Erste Deutsche Fernsehen hinausgeht und auf<br />

das merkwürdigerweise selten aufmerksam<br />

gemacht wird: Wie können wir <strong>im</strong> digitalen<br />

Zeitalter die Qualität unserer <strong>Information</strong>sangebote<br />

in vollem Umfang aufrechterhalten?<br />

Nachrichten <strong>im</strong> Viertelstundentakt müssen<br />

auch erst einmal produziert werden, aktuelle<br />

Online-Angebote ebenso. Fest steht, dass auf<br />

Hörfunk- und Fernsehjournalisten von morgen<br />

völlig neue Anforderungen zukommen: Wie<br />

sollen Korrespondenten, vor allem Auslands-<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08


korrespondenten in Krisenregionen zu Krisenzeiten,<br />

<strong>im</strong> – wenn es erforderlich ist – Viertelstundentakt<br />

Nachrichtenbeiträge produzieren?<br />

Bei raschen Änderungen der Nachrichtenlage<br />

muss neu produziert oder aktualisiert werden.<br />

Täten wir es nicht, wären wir nicht mehr aktuell.<br />

Aktualität ist ein Merkmal von Qualität.<br />

Zur Qualität gehören aber mindestens ebenso<br />

Sommerinterview am 20. 7. 2008 <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong>:<br />

Bundeskanzlerin Angela Merkel<br />

<strong>im</strong> Gespräch mit Ulrich Deppendorf (r.) und<br />

Joach<strong>im</strong> Wagner<br />

sehr die zeitaufwändige, tiefe Recherche, das<br />

akribische Auswählen von Fakten, das richtige<br />

»In-Einen-Zusammenhang-Stellen« und das<br />

sorgfältige Formulieren. Teilweise wird von Korrespondenten<br />

heutzutage auch verlangt, ihre<br />

Beiträge selbst zu schneiden. Wenn ein Korrespondent<br />

das alles leisten soll, dann sind die<br />

Grenzen der Leistungsfähigkeit extrem schnell<br />

überschritten. Nun sprechen einige, die nie<br />

»draußen <strong>im</strong> Feld« waren, von Synergieeffekten.<br />

Da könne der Fernsehkorrespondent ja auch<br />

einmal fürs Radio arbeiten und umgekehrt. Ja,<br />

das mag in Einzelfällen möglich sein. Es wird<br />

aber bei Einzelfällen bleiben, weil der Hörfunk<br />

ebenso hohe Anforderungen stellt. Andere wiederum<br />

empfehlen, dass Berichte einfach in den<br />

Zentralredaktionen hergestellt werden müssten.<br />

Auf der Quellenbasis unterschiedlichster Bild-<br />

und Nachrichtenagenturen entsteht dann der<br />

Bericht eines Redakteurs oder einer Redakteurin,<br />

die nie am Ort des Geschehens waren. Ist<br />

eine solche Berichterstattung, vor allem wenn<br />

sie zur Regel wird, noch authentisch? Natürlich<br />

nicht. Wer prüft Beiträge vor deren Ausstrahlung<br />

unter diesem Zeitdruck auf Richtigkeit?<br />

Sind akribische Abnahmen überhaupt noch<br />

möglich? Die digitale Welt führt in jedem Fall<br />

zu einer ungeheuren Arbeitsverdichtung, die<br />

Qualitätseinbußen zur Folge haben kann. Diese<br />

Fragen münden letztlich in die entscheidende:<br />

Welchen Preis zahlen wir für Aktualität? Die<br />

Antwort ist ein Postulat: Aktualität und Tempo<br />

dürfen nie über dem Anspruch auf wahrheitsgemäße<br />

Berichterstattung stehen. Andernfalls<br />

verlören wir unsere Glaubwürdigkeit.<br />

_ Kostenexplosion durch Digitalisierung?<br />

Die Konsequenz ist klar: Es wird mit ziemlicher<br />

Sicherheit doch eigene Mitarbeiterinnen und<br />

Mitarbeiter für unsere digitalen <strong>Information</strong>sangebote<br />

geben müssen. Dies kaschieren zu<br />

wollen, wäre unredlich. Wird das Produzieren<br />

<strong>im</strong> digitalen Modus also teurer – auch für die<br />

Gebührenzahler? Nein, nicht unbedingt, weil<br />

digitale Produktionsformen an vielen Stellen<br />

auch erheblich kostengünstiger sein können.<br />

Ein Beispiel: Alleine die »Tagesschau« gibt<br />

jährlich Millionen Euro für Bild- und Tonleitungen<br />

von Satellitenübertragungen aus. Diese<br />

Leitungskosten haben sich in den letzten drei<br />

Jahren drastisch reduziert – um bis zu zwei Millionen<br />

Euro. Einfach deshalb, weil Bild- und<br />

Tondateien heute <strong>im</strong> Internet »transportiert«<br />

werden können. Auf Mausklick! In einer atemberaubend<br />

guten Bildqualität. Digitale Kameras<br />

speichern Bilder heute nicht mehr auf Bandkassetten,<br />

sondern auf »Chips«. Der Chip wird<br />

in den Laptop »geladen«. Und der Laptop ist<br />

gleichzeitig der »Schnittplatz«. Ausrüstung, die<br />

früher Hunderttausende von Euro verschlang,<br />

von den Transportkosten ganz zu schweigen,<br />

kostet heute so viel wie ein Kleinstwagen – um<br />

die 15 000 Euro. Finanziell dürften die zusätzlichen<br />

Aufwendungen also zu bewältigen sein.<br />

Wenn wir nicht nach dem Motto »learning by<br />

doing« in die digitale Welt marschieren wollen,<br />

braucht es aber dringend eine Strategie für die<br />

redaktionellen Herausforderungen.<br />

Thomas Baumann, Chefredakteur Erstes<br />

Deutsches Fernsehen,<br />

Koordinator Politik, Gesellschaft und Kultur<br />

<strong>Politische</strong> <strong>Information</strong> <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 81


82<br />

Journalisten sind nicht <strong>im</strong>mun<br />

Zur Inszenierung von Politik in den Medien<br />

Von Thomas Meyer<br />

Mehr als 20 Jahre alt ist die Kritik Neil Postmans an den<br />

Massenmedien, vor allem am Fernsehen. In seinem Buch<br />

»Wir amüsieren uns zu Tode« stellte er die These auf, das<br />

Fernsehen verdränge mit seinem Zwang zur Bebilderung<br />

die seriöse ausführliche <strong>Information</strong> und liefere den Zu-<br />

schauern statt der Realität ein Modell, wie die Welt aus-<br />

zusehen habe. Ist diese Medienkritik noch aktuell?<br />

Am Beispiel des Besuchs des Dalai Lama in Deutschland<br />

bejaht Thomas Meyer die Frage, entwickelt aber ein<br />

Modell für einen verantwortlichen, demokratischem<br />

Selbstverständnis verpflicheteten Journalismus, der das<br />

politische Geschehen mit seinen eigenen Strukturen<br />

und medialen Regeln transparent macht. Vorausset-<br />

zung dafür ist eine starke, unabhängige Medienkritik<br />

einerseits sowie das journalistische Handwerkszeug<br />

zur angemessenen medialen Inszenierung und das Ver-<br />

ständnis der Journalisten für die Eigenlogik der Politik<br />

andererseits.<br />

D<br />

on’t worry, be happy? Die in den Augen<br />

mancher Rundum-Verteidiger der<br />

Wirklichkeit politischer Berichterstattung<br />

in unseren Massenmedien »ein<br />

wenig deutsch« anmutende Medienkritik, die<br />

Gott sei Dank unter der erdrückenden Übermacht<br />

der faktischen Gegebenheiten in unseren<br />

Massenmedien noch nicht ganz verstummt ist,<br />

stammt in ihrer schärfsten Variante von dem<br />

New Yorker Medienwissenschaftler Neil Postman,<br />

der in den 80er Jahren den Begriff des<br />

»Infotainments« prägte. Sie war radikaler als<br />

das meiste, das in dieser Hinsicht hierzulande<br />

zur Sprache gebracht wird. Vieles daran ist <strong>im</strong>mer<br />

noch gültig, für die USA und mittlerweile<br />

auch für die meisten europäischen Länder, die<br />

Bundesrepublik Deutschland <strong>im</strong>mer weniger<br />

ausgenommen.<br />

Postmans Kernthese war, dass die vom Leitmedium<br />

Fernsehen best<strong>im</strong>mten Massenmedien<br />

der Gegenwart prinzipiell auf eine Verdrängung<br />

politischer <strong>Information</strong>sgehalte durch eine<br />

oberflächliche Entertainisierung festgelegt seien,<br />

von der sie aus Gründen, die in der Kommunikationslogik<br />

der Massenmedien selber liegen,<br />

nicht mehr loskämen. Empirische Untersuchungen<br />

des <strong>Information</strong>s- und Analysegehalts<br />

politischer Sendungen – <strong>Information</strong>s-, Talkshow-<br />

und Magazinformate eingeschlossen –<br />

belegen <strong>im</strong>mer wieder, dass dieser in höchstem<br />

Maße zu wünschen übrig lässt, freilich nicht<br />

auf der ganzen Linie, sondern mit einer Reihe<br />

bemerkenswerter Ausnahmen. Auch die Talkshows<br />

in der <strong>ARD</strong> und viele der politischen<br />

<strong>Information</strong>ssendungen sind von höchst<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08


durchwachsener Qualität. Zu einer allgemeinen<br />

Don’t-worry-be-happy-Haltung, die Kritik zur<br />

Marotte von »Reichsbedenkenträgern« degradieren<br />

und den politischen Journalismus auf diese<br />

Weise gewissermaßen <strong>im</strong>munisieren möchte,<br />

besteht wahrhaftig kein Anlass.<br />

Das hat etwas damit zu tun, dass Neil Postman<br />

zwar in der Beschreibung der allgemeinen<br />

Tendenz weitgehend recht hatte, aber in ihrer<br />

Zuspitzung auf eine prinzipielle Kulturkritik<br />

den entscheidenden Punkt verfehlte. Es lassen<br />

sich jeden Tag, besonders in der <strong>ARD</strong> und in<br />

anderen öffentlich-rechtlichen Sendern, eben<br />

auch gute Beispiele finden, die die prinzipielle<br />

Kulturkritik widerlegen, derzufolge die Logik<br />

der Massenmedien gar nichts mehr übrig lasse,<br />

als die Auflösung inhaltlich angemessener<br />

Formen der Repräsentation des <strong>Politische</strong>n zugunsten<br />

einer Entertainisierung, die allein dem<br />

Zweck der Aufmerksamkeitsmax<strong>im</strong>ierung gilt,<br />

und das <strong>Politische</strong> <strong>im</strong> eigentlichen Sinne dazu<br />

fast nur noch als Anlass benutzt.<br />

_ Eine beschämende Erfahrung<br />

Wer sich freilich die Mühe gemacht hat, die<br />

mediale Begleitung des Besuchs des Dalai Lama<br />

<strong>im</strong> Mai 2008 einmal genauer unter die Lupe zu<br />

nehmen, musste rasch zu dem Urteil gelangen,<br />

Postman habe <strong>im</strong>mer noch recht. Erlebten wir<br />

doch die Selbst-Abdankung des politischen<br />

Journalismus auf der ganzen Linie — jedenfalls<br />

<strong>im</strong> Fernsehen, <strong>ARD</strong> inklusive. Was dabei sichtbar<br />

geworden ist, war abermals die Tatsache,<br />

wie mächtig die von Postman postulierte Versuchung<br />

<strong>im</strong> Mediensystem ist und wie schwer<br />

es vielen Journalisten fällt, ihr zugunsten einer<br />

gehaltvollen, kritischen und ausgewogenen<br />

politischen Berichterstattung zu widerstehen.<br />

Dabei kann — entgegen der Thesen Postmans<br />

— keinerlei Zweifel daran bestehen, dass die<br />

Gesetze der Medienlogik, die Nachrichtenfaktoren<br />

und die Inszenierungsregeln eben auch<br />

so benutzt werden können, dass das Produkt<br />

zugleich medial attraktiv und politisch gehaltvoll<br />

ist. Gegenüber der steten Versuchung des<br />

leichten Weges, unterhaltsam zu inszenieren<br />

und Politik zum bloßen Anlass schrumpfen zu<br />

lassen, erscheint der journalistische Anspruch,<br />

die mediale Oberfläche zu nutzen, um auf angemessene<br />

Weise politische Inhalte, Analysen<br />

und Probleme zur Geltung kommen zu lassen,<br />

als eine Herkulesarbeit. Eine Arbeit, die vor<br />

allem viel Zeit, Ressourcen, Zivilcourage und<br />

nicht zuletzt eine inhaltliche Kompetenz der<br />

beteiligten Journalisten voraussetzt, die weit<br />

über die versierte Handhabung journalistischer<br />

Arbeitstechniken hinausreichen muss. Daher<br />

wohl ist sie eher selten.<br />

Die mediale Resonanz auf den Dalai-Lama-<br />

Besuch, die meisten Produkte der <strong>ARD</strong>-Sender<br />

eingeschlossen, war demgegenüber nichts anderes<br />

als das Versagen des kritischen Journalismus<br />

vor der Übermacht einer sich sozusagen<br />

von selbst aufdrängenden Inszenierungsorgie<br />

auf ganzer Linie. Wer nicht aus eigener umfassender<br />

Kenntnis und in der Einstellung eines<br />

akribischen Rechercheurs die verschiedenen<br />

Sendungen von den Nachrichten über die Interviews<br />

bis hin zu den Talkterminen daraufhin<br />

untersuchte, ob sie Spuren einer Kontextana-<br />

Der Dalai Lama und der hessische<br />

Ministerpräsident Roland Koch am<br />

Frankfurter Flughafen<br />

Politik in den Medien <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 83


lyse, des Hinterfragens vager politischer Deklarationen<br />

und der Aufklärung handfester Widersprüche<br />

enthielten, musste den Eindruck gewinnen,<br />

die zuständigen Journalisten hätten sich<br />

mit ganz wenigen Ausnahmen in den Dienst<br />

der PR-Abteilung des geistigen Oberhauptes der<br />

Tibeter gestellt.<br />

Das begann schon mit der Berichterstattung<br />

über die Vorgänge in Tibet <strong>im</strong> Frühjahr 2008<br />

und setzte sich in einer völlig kritiklosen Hinnahme<br />

der politischen Rhetorik des Dalai Lama<br />

fort, ohne so entscheidende Begriffe wie den<br />

der Autonomie auch nur annähernd aufzuhellen<br />

und beispielsweise einmal auf die gültige<br />

Verfassung seiner eigenen Exilregierung <strong>im</strong> indischen<br />

Dharamsala zu beziehen. Es manifes-<br />

tierte sich in der Bereitschaft, den ausschließlich<br />

politisch orientierten Besuch des Tibeters<br />

so zu vermitteln, wie er es selber begehrte, nämlich<br />

als ein irgendwie religiös-spirituelles Ereignis.<br />

Und es zeigte sich in einer Fülle von Stu-<br />

Inszenierung von Politik: »Anne Will« zum<br />

Thema »Explodierende Energiepreise –<br />

Wer kann das noch bezahlen?« am 13. 7.<br />

2008 <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong><br />

dioszenarien, in denen die Journalisten eher in<br />

eine befangene Haltung der Bewunderung abglitten,<br />

statt, wie es sich bei einem so hochbrisanten<br />

politischen Problem der Gegenwart von<br />

selbst verstehen sollte, ihres journalistischen<br />

Amtes professionell zu walten. Was wir stattdessen<br />

zu sehen bekamen, war ein tagelanger Bilderrausch,<br />

dessen <strong>Information</strong>sgehalt nicht nur<br />

gegen null tendierte, sondern in der Tendenz<br />

eher in die Irre führte.<br />

Wie ist das möglich? Welche Strukturen,<br />

welches Selbstverständnis und welche Defizite<br />

an interner Kritik und Kontrolle müssen sich<br />

eingeschliffen haben, wenn das alles, offenbar<br />

selbst <strong>im</strong> Nachhinein, als mediale Normalität<br />

durchgehen kann? Es st<strong>im</strong>mt schon, Alternativen<br />

sind vorhanden und sicher hätte es Frank<br />

Plasberg viel besser gemacht – doch schon der<br />

Gedanke an ihn erinnert uns, dass Respekt und<br />

Kritik, journalistische Professionalität und Anerkennung<br />

von Wert und Rang des Gegenübers<br />

einander keineswegs ausschließen: Im Gegenteil,<br />

sie verlangen sich gegenseitig, wenn der<br />

überwältigenden Unterhaltungsregie denn doch<br />

noch ein Fünkchen Informativität und Argumentativität<br />

abgerungen werden soll.<br />

_ Eine dauernde Versuchung<br />

Wo kämen wir eigentlich auf die Dauer hin,<br />

wenn die Medienkritik <strong>im</strong> Lande angesichts<br />

solcher Entwicklungen verstummen würde<br />

und stattdessen eine Mentalität einkehrt, die<br />

die s<strong>im</strong>ple Empfehlung resümiert, wir könnten<br />

getrost davon ausgehen, dass die Journalisten<br />

stets ihr Bestes geben, jedenfalls soweit dies <strong>im</strong><br />

Frank Plasberg (r.) in »hart aber fair«<br />

am 30. 4. 2008 <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong> zum Thema<br />

»Familie ist da, wo das Geld fehlt: Kinder<br />

als Armutsrisiko«<br />

Rahmen von Massenmedien möglich ist, die<br />

nun einmal auf ein großes Publikum angewiesen<br />

sind.<br />

Zu empfehlen wäre stattdessen eine ganz<br />

andere Haltung. Die Realität der Massenmedien<br />

ergibt sich nun einmal aus dem täglichen<br />

Spannungsfeld zwischen den Versuchungen der<br />

schnell inszenierten medialen Oberfläche und<br />

den aufwändigen Anstrengungen, sie mit Inhalt<br />

angemessen zu füllen, die der Natur des <strong>Politische</strong>n<br />

gerecht werden. Daher ist das kritische<br />

Wechselspiel zwischen den journalistischen<br />

Akteuren, die die mediale Produktion zustande<br />

bringen und verantworten, und den Kritikern,<br />

die sie <strong>im</strong> Lichte gut begründeter Standards<br />

84 Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08<br />

84


und des tatsächlichen Möglichkeitsspielraums<br />

unter die Lupe nehmen, eine zentrale Bedingung<br />

dafür, dass die Massenmedien sich eher<br />

in Richtung der Ausschöpfung ihrer besseren<br />

Möglichkeit bewegen, statt sich in den selbstbezüglichen<br />

Routinen des medialen Geschäfts<br />

einzuigeln.<br />

Es gibt eine Reihe von Gründen dafür, dass<br />

eine starke, präsente und kundige Medienkritik<br />

für eine der Demokratie angemessene Kommunikationskultur<br />

der Massenmedien nicht<br />

weniger wichtig ist als verantwortungsvolle und<br />

kompetente Journalisten, die willens und in der<br />

Lage sind, Medienlogik und politische Logik<br />

produktiv miteinander zu verbinden. Gerade<br />

weil wir die Welt nur noch <strong>im</strong> Spiegel der Medien<br />

erfahren und der Spiegel, der uns die Welt<br />

zeigt, nicht Teil der gezeigten Welt ist, ist es<br />

umso notwendiger, dass wir das Scheinwerferlicht<br />

der öffentlichen Aufmerksamkeit auf die<br />

Medien, ihre Arbeitsweise, ihre Defizite und<br />

ihre Probleme mit der Wirklichkeit richten. Wie<br />

sollte auch es anders sein?<br />

Es ist doch merkwürdig, dass die Massenmedien,<br />

in letzter Zeit in unserem Lande teilweise<br />

in ungehemmter Form, die Politik und<br />

ihre Akteure fortwährend einer schonungslosen<br />

Kritik unterziehen und bei der Darstellung<br />

dessen, was am politischem Leben interessant<br />

und wichtig erscheint, häufig allein von ihren<br />

medialen Interessen geleitet sind. Manche seriöse<br />

Medien- und Politikwissenschaftler, sogar<br />

Journalisten der Qualitätsmedien selbst, sind<br />

sogar so weit gegangen, die Krise, um nicht zu<br />

sagen Verachtung, in die die Politik in unserem<br />

Land geraten ist, der zunehmenden Dominanz<br />

von Politikverächtern unter den maßgeblichen<br />

Journalisten des Landes zuzuschreiben. Ein<br />

Urteil, das man keineswegs teilen muss, auch<br />

wenn man die in diese Richtung weisenden<br />

Tendenzen nicht verkennt.<br />

Gleichzeitig reagieren nun dieselben Journalisten<br />

in einem verblüffenden Maße dünnhäutig,<br />

wenn Publizisten oder kritische Kollegen<br />

auf solche Entwicklungen und Missstände offen<br />

zu sprechen kommen. Was für ein Selbstverständnis<br />

liegt einem Journalismus zugrunde, der<br />

sich Kritik an der eigenen Arbeit, die in sämtlichen<br />

anderen gesellschaftlichen Bereichen<br />

gerade unter dem Einfluss des kritischen Journalismus<br />

gang und gäbe geworden ist, nicht<br />

anders vorstellen kann denn als ein <strong>im</strong> Prinzip<br />

stets unbegründeter Einmischungsversuch von<br />

»Reichsbedenkenträgern« in die Reviere einer<br />

über alle Einwände erhabenen vierten Gewalt?<br />

_ Ambivalenzen und Versuchungen<br />

Das Mediensystem ist in zunehmender Weise<br />

selbstbezüglich geworden, die anderen Medien<br />

und ihre Produkte sind das Maß aller Dinge.<br />

Die Journalisten müssen darauf achten, dass<br />

der Bezug ihrer oft nur aus anderen Medien<br />

entlehnten Konstruktion der Wirklichkeit zur<br />

außermedialen Erfahrungswelt des Publikums<br />

und zur Realität des <strong>Politische</strong>n außerhalb der<br />

eingespielten Medienrituale plausibel bleibt. In<br />

der Demokratie müssen die Produkte medialer<br />

Politikvermittlung das tatsächliche Geschehen<br />

in der politischen Welt transparent machen.<br />

Um diesen Zweck zu erfüllen, muss in den Inszenierungen<br />

von Politik in den Medien, die<br />

als solche abzubilden für das Mediensystem<br />

freilich unvermeidbar ist, auch die »Eigenlogik«<br />

des berichteten politischen Geschehens selber<br />

sichtbar werden, denn allein darauf können sich<br />

Urteils- und Handlungsfähigkeit in der Demokratie<br />

ja beziehen.<br />

Der lange unterstellte Gegensatz zwischen<br />

Inszeniertheit und Informativität ist in der<br />

jüngeren Forschung einer differenzierten<br />

Sichtweise des Verhältnisses beider Merkmale<br />

von Medienprodukten zueinander gewichen.<br />

Hochgradig inszenierte Medienprodukte können<br />

nach objektiv überprüfbaren Maßstäben<br />

zugleich hochgradig informativ sein, während<br />

schwach inszenierte Beiträge weitgehend uninformativ<br />

oder sogar irreführend sein können.<br />

Das Mediensystem mitsamt seinen Auswahl-<br />

und Inszenierungsregeln lässt es weitgehend<br />

offen, inwieweit Formen der Synthese zwischen<br />

den Regeln des Mediensystems und der Eigenlogik<br />

der Politik vollzogen werden, die ein<br />

ausreichendes Maß an Informativität und Argumentativität<br />

ermöglichen, oder ob die medialen<br />

Inszenierungen sachlich ins Leere laufen.<br />

Da das Publikum ansprechende Inszenierungen<br />

auch dann – an Quotenkriterien gemessen<br />

– zum Erfolg werden lassen kann, wenn die<br />

Sache, der die Inszenierung gilt, dabei nicht<br />

angemessen zum Ausdruck kommt, stellen die<br />

Massenmedien mit ihren konstitutiven Regeln<br />

insoweit auch eine stete Gelegenheitsstruktur<br />

für bloße, sachlich ganz abwegige Inszenierungen<br />

dar. Der Druck, sie in dieser Weise zu<br />

nutzen, hängt offenkundig von objektiven – in<br />

der Medienverfassung selbst liegenden – und<br />

von subjektiven – bei den Autoren der Medienprodukte,<br />

also den Journalisten – liegenden<br />

Faktoren ab. Zu den objektiven Faktoren gehören<br />

zweifellos der Grad des Quotendrucks<br />

der jeweiligen Medieneinheiten, die den Jour-<br />

Politik in den Medien <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 85


86<br />

nalisten gewährleisteten Recherche- und Produktionszeiten<br />

sowie die professionelle Kultur<br />

in diesen Einheiten und Redaktionen. Zu den<br />

subjektiven Faktoren gehören vor allem das<br />

Verantwortungsverständnis, die journalistische<br />

und die auf die jeweils berichteten Sachverhalte<br />

bezogene sachliche Kompetenz der einzelnen<br />

für das jeweilige Produkt verantwortlichen Journalisten.<br />

Während also die medialen Regeln der Auswahl<br />

und Präsentation als solche zu den strukturfunktionellen<br />

Eigenarten des Mediensystems<br />

selber gehören, entscheidet am Ende allein<br />

ihre Handhabung durch die verantwortlichen<br />

Journalisten über die informationelle und argumentative<br />

Angemessenheit des medialen Produkts<br />

an die Sache, um die es jeweils geht. Die<br />

Frage, ob die Synthese zwischen den Regeln des<br />

Mediensystems und der Eigenart ihrer Bezugsgegenstände<br />

gelingt, ob sie »angemessen« ist<br />

oder nicht, ist demnach weder durch die Geltung<br />

der Medienregeln selbst noch durch die<br />

weitgehende Selbstreferenz des Mediensystems<br />

entschieden. Das verkannt zu haben, war der<br />

Irrtum von Postman. Gerade darum aber, weil<br />

der Spielraum so groß ist und die Versuchung,<br />

ihn zugunsten der schnellen Inszenierung nach<br />

den Patentrezepten der Aufmerksamkeitsmax<strong>im</strong>ierung<br />

ungenutzt zu lassen, noch größer,<br />

brauchen die Massenmedien Kritik – und zwar<br />

nicht nur intern.<br />

_ Eine Kultur der Kritik tut not<br />

Mehr denn je kommt es also auf die Journalisten<br />

an, denn sie entscheiden und verantworten<br />

letztlich, was aus den Regeln, die ihnen<br />

vorgegeben sind, <strong>im</strong> Endprodukt wird. In ihrer<br />

Hand liegt es, ob ein Schein gefälliger Inszenierungen<br />

ohne Realitätsgehalt die Welt des<br />

<strong>Politische</strong>n überzieht oder ob diese Welt in einer<br />

medial angemessenen Form zum Ausdruck<br />

gebracht wird. Dies ist eine Grundfrage der<br />

Demokratie in der Mediengesellschaft. Es sind<br />

offenbar zwei, wenigstens zu einem guten Teil<br />

be<strong>im</strong> individuellen Journalisten selber liegende<br />

Schlüsselfaktoren, die über das Gelingen der<br />

medialen Synthesen entscheiden.<br />

Die Medienakteure müssen über die doppelte<br />

Kompetenz medialer Inszenierung und<br />

des Verständnisses der Eigenlogik des <strong>Politische</strong>n<br />

verfügen, damit sie die Regeln beider<br />

Elemente der Synthese beherrschen. Und sie<br />

müssen über den Willen, die Verantwortung<br />

und die Kompetenz verfügen, in der angemes-<br />

senen Synthese beider Bereiche das Kriterium<br />

des Erfolgs ihrer Arbeit zu sehen und nicht allein<br />

<strong>im</strong> Ausmaß der medialen Aufmerksamkeit.<br />

Es kommt daher für die inhaltlichen Qualitäten<br />

der medialen Kommunikation in beträchtlichem<br />

Maße auf die gesellschaftliche<br />

Kommunikationskultur an und darauf, was die<br />

Gesellschaft tut, um sie auch in den Massenmedien<br />

zur Geltung zu bringen. Neben einer guten<br />

Ausbildung der Journalisten bedarf es dazu<br />

vor allem auch neuer Wege der professionellen<br />

Selbstkontrolle und neuer Beziehungen zwischen<br />

Journalismus und Zivilgesellschaft, denn<br />

eine zuverlässige Verantwortungskultur entsteht<br />

und erhält sich nur in einer auf ihre Ziele bezogenen<br />

kommunikativen Praxis.<br />

Umdenken tut not. Sachliche Anlässe gibt es<br />

genug. Und gerade weil die Medien der Spiegel<br />

sind, in dem sich sämtliche andere Bereiche der<br />

Gesellschaft für sich selbst und für das große Publikum<br />

allein noch darstellen können, bedür fen<br />

die Massenmedien mindestens ebenso sehr wie<br />

alle anderen Funktionsbereiche der kritischen<br />

Aufmerksamkeit der Gesellschaft. Was heute zu<br />

beklagen ist, ist vielmehr, dass die Medienkritik,<br />

für die die Massenmedien selber sorgen, nach<br />

einem kurzen Aufschwung in den 1990er Jahren<br />

wieder bedenklich zurückgegangen ist.<br />

Vermutlich spielen dabei zwei Gründe die<br />

ausschlaggebende Rolle. Der eine besteht in<br />

einer überzogenen Bereitschaft zur Schonung<br />

der Konkurrenz unter Kollegen in der Erwartung,<br />

dann auf Dauer ebenso gl<strong>im</strong>pflich davonzukommen.<br />

Der andere dürfte in den Karrierebedingungen<br />

zu finden sein, die es jedem<br />

Journalisten ratsam erscheinen lassen, sich in<br />

dieser Hinsicht nicht allzu sehr zu profilieren,<br />

da keiner weiß, in welcher Redaktion und bei<br />

welchem Herausgeber er in nächster Zeit noch<br />

landen kann. Kritische Selbstreflexion der Journalisten<br />

und der Medienkritik tun also not. Der<br />

Journalismus sollte sich auf sie nicht nur offen<br />

und neugierig einlassen, sondern sie auch dann<br />

ernst nehmen, wenn deutlich wird, dass manches<br />

von dem, was da vorgebracht wird, in der<br />

Praxis nicht sofort weiterhilft. Ständige Selbstreflexion<br />

<strong>im</strong> Lichte beherzter Kritik kann dem<br />

politischen Journalismus sicher nicht schaden.<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08<br />

Prof. Dr. Thomas Meyer, Universität Dortmund,<br />

Mithrsg. und Chefredakteur der Zeitschrift<br />

Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte


Pressefreiheit ist eine Errungenschaft der modernen<br />

Demokratie, ein Privileg, das auch für die Berichterstat-<br />

tung in Hörfunk, Fernsehen und Internet gilt. Trotz ihrer<br />

Bedeutung für die Funktionsfähigkeit demokratischer<br />

Gesellschaften wurde sie <strong>im</strong>mer wieder von geschickten<br />

Politikern trickreich unterwandert. Staatliche Stellen,<br />

Polizei und Gehe<strong>im</strong>dienste sowie Presseabteilungen von<br />

Großkonzernen setzen auch heute noch auf ein restrik-<br />

tives Verhalten gegenüber Journalisten, auf gezielte<br />

Desinformation, auf Razzien in Redaktionen, auf Ein-<br />

schüchterung von Informanten, auf Abhörmaßnahmen<br />

gegen Redakteure und Autoren. Die jüngsten Pläne zur<br />

Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung<br />

werden daher von der <strong>ARD</strong> sehr kritisch gesehen, und<br />

ihr Vorsitzender, Fritz Raff, stellte <strong>im</strong> November 2007<br />

fest: » Man kann nicht die Freiheit schützen, indem man<br />

Grundrechte abschafft!« Das Abhören von Journalisten<br />

sei ein Angriff auf die freie Presse.<br />

Pressefreiheit unter Druck<br />

Recherche-Journalismus als Qualitätsanker<br />

Von Thomas Leif<br />

M<br />

an wundert sich. Darüber, dass der<br />

Journalismus in Deutschland offenbar<br />

so gleichgeschaltet ist, dass sich<br />

jeder alles gefallen lässt.« So lautete<br />

der derbe Kommentar von Michael Schmatloch,<br />

Chefredakteur des »Donaukuriers« in<br />

Ingolstadt, zu den insgesamt zurückhaltenden<br />

Reaktionen der Medien auf die Vorratsdatenspeicherung.<br />

Der Protest der bayerischen Regionalzeitung<br />

war unübersehbar. Am 3. 11. 2007<br />

erschien der »Donaukurier« mit einer schwarzen<br />

Titelseite und einem pointierten Leitartikel zur<br />

zunehmenden Gefährdung der Pressefreiheit.<br />

Ingolstadt war eine Ausnahme. Mitte April<br />

2007 beklagte der frühere NRW-Innenminister<br />

und Bundestagsvizepräsident, Burkhard Hirsch<br />

(FDP), das »Schweigen <strong>im</strong> Blätterwalde« (message<br />

2/2008): »Es scheint so, als ob der Berufsstand<br />

in kollektive Schreckstarre verfallen ist.«<br />

Dabei müsste eigentlich allen klar sein, welche<br />

fundamentale Freiheitseinschränkung mit<br />

der Daten-Sammelflut des Staates verbunden<br />

ist. Georg Mascolo, neuer Chefredakteur des<br />

»SPIEGEL«, spricht von einem »Kollateralschaden,<br />

dessen Ausmaß noch unübersehbar<br />

ist«. »Die Vorratsdatenspeicherung bedroht die<br />

Pressefreiheit vermutlich mehr als die allermeisten<br />

Gesetze wie etwa der so heftig umstrittene<br />

Große Lauschangriff.« (message 2/2008)<br />

Die gesetzlich abgesicherte Sammelwut des<br />

Staates sieht eine sechsmonatige Speicherung<br />

aller Telekommunikations-Verbindungsdaten vor.<br />

Nummern, Dauer, Datum und Uhrzeit werden<br />

gespeichert. Bei Mobilfunknutzern wird sogar<br />

der Standort bei Gesprächsbeginn registriert,<br />

aber auch die Identifikationsnummern der Han-<br />

Pressefreiheit unter Druck <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 87


88<br />

dys und des jeweiligen Teilnehmers sowie SMS-<br />

Verbindungsdaten. Polizei und Justiz dürfen <strong>im</strong><br />

Fall »schwerer Straftaten« auf die Daten zurückgreifen.<br />

Die Speicherung der Daten müssen die<br />

Telekommunikationsfirmen übernehmen.<br />

_ »Freie Presse <strong>im</strong> Fadenkreuz«<br />

Zuständig für diese »Dienstleistung« ist u. a. die<br />

Deutsche Telekom. Ausgerechnet der Konzern<br />

mit nach wie vor relevantem Staatseinfluss,<br />

der selbst mit großem Aufwand Aufsichtsräte<br />

des Unternehmens und Journalisten über Jahre<br />

ausspionieren ließ. Auf einzelne Wirtschaftsredakteure<br />

sollen sogar Spitzel angesetzt worden<br />

sein (DER SPIEGEL 23/2008, S. 20 f.). Um den<br />

größten Skandal der Telekom-Firmengeschichte<br />

aufzuarbeiten, wurde der frühere Vorsitzende<br />

des Bundesgerichtshofs, Gerhard Schäfer, als<br />

»Chefaufklärer« angeworben. Schäfer hat sich<br />

bereits als unabhängiger Ermittler bei der<br />

Auf arbeitung der BND-Affäre einen Namen<br />

gemacht. Im so genannten 175-seitigen Schäfer-<br />

Bericht vom April 2006 ist genau nachzulesen,<br />

wie der Gehe<strong>im</strong>dienst Journalisten systematisch<br />

ausforschte und warum best<strong>im</strong>mte Journalisten<br />

mit dem Gehe<strong>im</strong>dienst kooperierten. Selbst<br />

Magazine, die gerne mit »Fakten. Fakten. Fakten«<br />

werben, haben bis heute die Aufklärung<br />

ihrer nachgewiesenen Verstrickungen in diesen<br />

Skandal verhindert. Man darf also gespannt<br />

sein auf die internen Ermittlungen des »unbestechlichen«<br />

Juristen Schäfer <strong>im</strong> Telekom-Konzern<br />

und die (noch völlig unkalkulierbare) Ermittlungsbilanz<br />

der Staatsanwaltschaft in Bonn.<br />

Anfang August 2007 sorgte ein weiterer staatlicher<br />

Übergriff für Furore. Gegen 17 Journalisten<br />

wurde ermittelt, weil sie aus Gehe<strong>im</strong>akten<br />

des BND-Ausschusses zitiert hatten und sich<br />

damit des Gehe<strong>im</strong>nisverrats mitschuldig gemacht<br />

haben sollen. Der Vorsitzende des BND-<br />

Ausschusses, Siegfried Kauder (CDU), wollte<br />

ein Exempel statuieren: »Für mich war wichtig,<br />

die Schotten dicht zu halten <strong>im</strong> Ausschuss, weil<br />

die Ausschussarbeit deutlich behindert war.«<br />

Ziel des Ermittlungsverfahrens sei es, herauszufinden,<br />

»wo die undichten Stellen sind, und sicherzustellen,<br />

dass es in Zukunft so nicht läuft«<br />

(SZ, 4./5. 8. 2007). Ein Schlüsselzitat, das <strong>im</strong><br />

Kern die innere Haltung von Politikern gegenüber<br />

unangenehmen Medienveröffentlichungen<br />

dokumentiert.<br />

»Freie Presse <strong>im</strong> Fadenkreuz« titelte die<br />

»Frankfurter Rundschau«; sogar die Chefredakteure<br />

der betroffenen Medien verfassten eine<br />

Empörungs-Erklärung. Wie absurd und doppelbödig<br />

diese Intervention des Staates war, zeigt,<br />

dass <strong>im</strong> BND-Ausschuss selbst Zeitungsartikel<br />

als »gehe<strong>im</strong>« eingestuft wurden. Zudem ist jedem<br />

Politiker bekannt, dass in jedem Untersuchungsausschuss<br />

einzelne <strong>Information</strong>en und<br />

»vertrauliche Papiere« gezielt an Journalisten<br />

weitergeleitet werden. Im so genannten Visa-<br />

Untersuchungsausschuss gegen Joschka Fischer<br />

wurde die Instrumentalisierung der Medien zur<br />

Perfektion getrieben. Im Hintergrund bündelte<br />

ein hoch professioneller und medienerfahrener<br />

Mitarbeiter der CDU/CSU-Fraktion die gesamte<br />

Pressearbeit und führte Journalisten mit<br />

seinen <strong>Information</strong>en wie Marionetten. Auch<br />

frühere Untersuchungsausschüsse – etwa zur<br />

CDU-Spendenaffäre – wurden mit detailliert<br />

abgestuften Hintergrundrunden für ausgewählte<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08<br />

Der Vorsitzende des BND-Ausschusses, Siegfried<br />

Kauder (l.), und der Abgeordnete der<br />

Linksfraktion, Wolfgang Nesˇković (r. daneben),<br />

vor der Presse am 1. 3. 2007


Journalisten unterfüttert. Im Lichte dieser gängigen<br />

Praxis wirkt dieses publizistisch aufgeblasene<br />

»Ermittlungsverfahren« in der Rückschau<br />

etwas sonderbar. Ein Lehrstück <strong>im</strong> Fach »negative<br />

campaigning« und politischer Doppelmoral.<br />

Nur ein halbes Jahr zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht<br />

mit einem Urteil erneut die<br />

Pressefreiheit gestärkt. Die Richter erklärten die<br />

Durchsuchungsaktion be<strong>im</strong> Magazin »Cicero«<br />

und in den Privaträumen eines Autors für verfassungswidrig.<br />

»Cicero« hatte <strong>im</strong> April 2005 aus<br />

einem »vertraulichen« BKA-Dokument zitiert.<br />

In ihrem Urteil vom 27. 2. 2007 stellten die Richter<br />

fest, dass der Staat auch nicht über den Umweg<br />

der Durchsuchungsaktion an die »undichten<br />

Stellen« herankommen dürfe. »Auch wenn<br />

die betreffenden Angehörigen von Presse oder<br />

Rundfunk selbst Beschuldigte sind, dürfen in<br />

gegen sie gerichteten Ermittlungsverfahren wegen<br />

des Verdachts einer Beihilfe zum Dienstgehe<strong>im</strong>nisverrat<br />

Durchsuchungen sowie Beschlagnahmungen<br />

zwar zur Aufklärung der ihnen zur<br />

Last gelegten Straftat angeordnet werden, nicht<br />

aber zu dem Zweck, Verdachtsgründe insbesondere<br />

gegen den Informanten zu finden«, heißt<br />

der Leitsatz des Urteils.<br />

Obgleich dieses Urteil in seiner Eindeutigkeit<br />

den zentralen Mitarbeitern deutscher<br />

Sicherheitsbehörden bekannt sein dürfte, kommen<br />

sie in der täglichen Praxis offenbar <strong>im</strong>mer<br />

noch zu einer anderen Güterabwägung. Die<br />

Aushebelung des Informantenschutzes und<br />

die Identifikation von Hinweisgebern in den<br />

Behörden hat für viele Spitzenakteure in Fraktionen,<br />

Ministerien und Sicherheitsbehörden offenbar<br />

<strong>im</strong>mer noch einen höheren Stellenwert<br />

als die Akzeptanz von Schutzrechten der Medien.<br />

Im Lichte zahlreicher weiterer Fälle, die<br />

u. a. die Journalistengewerkschaften (vgl. www.<br />

djv.de) ausführlich dokumentiert haben, hat sich<br />

– trotz eindeutiger Urteile des Bundesverfassungsgerichts<br />

– an der Überprüfungsmentalität<br />

vieler Politiker nichts geändert.<br />

Im Juni 2008 wurde bekannt, dass <strong>im</strong> Saarland<br />

sogar die Telefonanschlüsse von Oppositionspolitikern<br />

und Journalisten ausgespäht<br />

wurden. Die damalige Innenministerin wurde<br />

frühzeitig über diesen Vorgang informiert (DER<br />

SPIEGEL 27/2008, S. 34 f.).<br />

Auch der BND zog offenbar weder aus dem<br />

BVerfG-Urteil vom Februar 2007 noch aus den<br />

Ergebnissen des »Schäfer-Berichts« ernsthafte<br />

Konsequenzen. Denn bereits kurz nach Vorlage<br />

dieser Expertise wurde der E-Mail-Verkehr<br />

der »SPIEGEL«-Journalistin Susanne Koelbl<br />

mit dem afghanischen Handelsminister Amin<br />

Farhang überwacht. Besonders pikant: Eine<br />

zentrale Konsequenz des »Schäfer-Berichts« war<br />

eine Weisung des Bundeskanzleramtes an den<br />

BND, Journalisten in Zukunft weder auszuspähen<br />

noch als Mitarbeiter anzuheuern. Offenbar<br />

ist der BND-Apparat nicht einmal für erfahrene<br />

und ambitionierte BND-Präsidenten wie Ernst<br />

Uhrlau (Foto links) kontrollierbar. Mitte Juni<br />

2008 bekannte der höchste »Gehe<strong>im</strong>dienstleister<br />

der Republik« auf einer Journalistenkonferenz<br />

in Hamburg, dass auch er sich aufgrund<br />

solcher nicht genehmigter Aktionen »auf einem<br />

Schleudersitz« befinde.<br />

Der Fall Koelbl legt die Interpretation nahe,<br />

dass Nachrichtendienste ein unkontrollierbares<br />

Eigenleben – jenseits der Hausleitung und jenseits<br />

der parlamentarischen Kontrolle – führen.<br />

Vor diesem Hintergrund gibt es begründete<br />

Zweifel an der BND-Theorie der vielen »Einzelfälle«.<br />

Die Fülle der Einzelbeispiele, die hier nur<br />

exemplarisch präsentiert werden können, legt<br />

einen Schluss nahe: Sicherheitsbehörden agieren<br />

bei der Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit<br />

oft <strong>im</strong> rechtsfreien Raum. Zum<br />

Teil agieren sie freihändig, zum Teil aber auch<br />

von jeweils verantwortlichen Politikern gestützt.<br />

Sie verfolgen mit ihren rechtswidrigen Aktionen<br />

zwei zentrale Ziele:<br />

<strong>Ersten</strong>s wollen sie die Informanten und ihr<br />

Kommunikationsnetz identifizieren, um hier<br />

interne Sanktionen zu veranlassen und das<br />

Leck »dicht zu machen«. Zweitens wollen sie<br />

durch zum Teil bewusst spektakuläre öffentliche<br />

Aktionen potenzielle Informanten in den Behörden<br />

abschrecken. Die Kombination der beiden<br />

strategischen Ziele soll helfen, staatliches<br />

Handeln vor allem in der Grauzone von Ge-<br />

Pressefreiheit unter Druck <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 89


90<br />

he<strong>im</strong>diensten, Polizei und privaten Dienstleistern<br />

des Sicherheitsgewerbes von öffentlicher<br />

Berichterstattung fernzuhalten. Angestrebt wird<br />

ein kontrollfreier Handlungskorridor des Sicherheitsapparats,<br />

der schon heute – <strong>im</strong> Fall der<br />

Gehe<strong>im</strong>dienste – von einer parlamentarischen<br />

Kontrollkommission begleitet, aber nicht effizient<br />

kontrolliert wird.<br />

Da dieser Befund von den wichtigsten Kontrolleuren<br />

von CDU und SPD selbst geteilt<br />

wird, erscheint eine freie Presse die letzte Instanz<br />

zu sein, die überhaupt ein Min<strong>im</strong>um an<br />

Transparenz auf dem Terrain der Sicherheitsbehörden<br />

garantieren könnte. Die Kritik- und<br />

Kontrollfunktion können die Medien jedoch<br />

nur einlösen, wenn sie sich auf ein fachlich<br />

fundiertes Informantennetz stützen können.<br />

Dies ist den Akteuren in den Diensten bekannt.<br />

Deshalb fokussieren sie ihre Aktivitäten auf die<br />

Abschreckung von Informanten und die Kr<strong>im</strong>inalisierung<br />

von Journalisten.<br />

_ Die privilegierte Sonderstellung von Informanten<br />

Kein relevanter Skandal der Nachkriegsgeschichte,<br />

kein Korruptionsfall und kein nachgewiesener<br />

Untreuefall wäre ohne die Mitwirkung<br />

von Informanten ans Tageslicht gekommen.<br />

Oder umgekehrt: Die Medien können ihre<br />

rechtlich geregelte Sonderstellung als »Vierte<br />

Gewalt« beziehungsweise als wirksame Kontrollinstanz<br />

in der Öffentlichkeit nur wahrnehmen,<br />

wenn sie auf das Wissen und die Quellen<br />

von Informanten zurückgreifen können. Informanten<br />

sind das Rückgrat für guten Journalismus.<br />

Ohne Informanten mit relevanten<br />

<strong>Information</strong>en, die eigentlich nicht für die Öffentlichkeit<br />

best<strong>im</strong>mt sind, würde der Journalismus<br />

auf ein »Generalanzeiger-Niveau« zurückfallen<br />

und seine Aufgaben <strong>im</strong> demokratischen<br />

Gemeinwesen nicht mehr erfüllen können. Die<br />

Privilegien der Medien, vor allem das Zeugnisverweigerungsrecht,<br />

verlieren aber ihren Sinn,<br />

wenn der Schutz von Informanten <strong>im</strong> Kern von<br />

staatlichen Stellen nicht mehr akzeptiert wird.<br />

Informanten verhalten sich wie »scheue<br />

Rehe«. Sie versiegen als Quellen, sobald sie<br />

nur die Spur einer Gefahr wittern oder das<br />

Vertrauen zu ihren Kooperationspartnern <strong>im</strong><br />

Journalismus verlieren. Der skizzierte Maßnahmenkatalog<br />

– von der Vorratsdatenspeicherung<br />

über Razzien bis hin zu Abhöraktionen – kann<br />

als groß angelegte Treibjagd auf Informanten<br />

gewertet werden. Reflektierte Informanten mit<br />

substanziellen <strong>Information</strong>en verstehen diese<br />

Signale und ziehen sich ins Unterholz der<br />

Urteilsverkündung des Bundesverfassungsgerichts<br />

<strong>im</strong> »Cicero-Prozess«<br />

Bürokratie oder die Nischen ihrer Unternehmen<br />

zurück. In diesem Sinne müssen die permanenten<br />

Abschreckungsrituale von Politik<br />

und Verwaltung als effizient, aber auch als<br />

schädlich für eine funktionierende Demokratie<br />

eingeschätzt werden. Die damit verbundene<br />

schleichende Veränderung der politischen Kultur<br />

besorgt aber offenbar weder Journalisten<br />

noch die Medienkommissionen der Parteien<br />

oder das aufgeklärte Bildungsbürgertum. Offenbar<br />

geht man davon aus, dass die Karlsruher<br />

Richter es schon richten werden . . .<br />

Das Motivationsspektrum von Informanten<br />

ist sehr unterschiedlich ausgeprägt. Oft geht<br />

es um fachliche und moralische Motive. Viele<br />

Informanten sind getrieben von einem Gerechtigkeitsgefühl.<br />

Viele können es offenbar nur<br />

schwer ertragen, wenn Willkür, Korruption oder<br />

Rechtsverstöße etc. »einfach so durchgehen«.<br />

Intern – in Behörden und Unternehmen – können<br />

sie Missstände aller Art kaum artikulieren,<br />

ohne Gefahr zu laufen, ihren Arbeitsplatz oder<br />

zumindest ihre Karriere aufs Spiel zu setzen.<br />

Zudem wissen sie, dass interne Kritik den Akteuren<br />

oftmals Gelegenheit gibt, Spuren zu<br />

vertuschen, die Verantwortung zu diffundieren<br />

oder Missstände rasch (präventiv) zu regulieren.<br />

Medienresonanz – so das Gefühl zahlreicher<br />

seriöser Informanten – ist die einzige Ressource,<br />

die überhaupt noch etwas bewegt. Da formal<br />

zuständige Kontrollgremien ihre Aufsichts- und<br />

Überwachungsfunktion oft nur auf dem Papier,<br />

aber selten wirksam durchführen, ist das Vertrauen<br />

in diese Institutionen nur begrenzt.<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08


Sicher gibt es für Informanten auch andere<br />

Motive. Rachebedürfnisse aufgrund von (ungerechtfertigten)<br />

Sanktionen, Karriere-Blockaden<br />

oder gar Mobbing-Aktionen können Triebfedern<br />

sein. Sicher spielt gelegentlich auch Rivalität<br />

eine Rolle; mitunter mögen auch wirtschaftliche<br />

Interessen <strong>im</strong> Spiel sein (Verkauf<br />

von Daten wie <strong>im</strong> Fall Liechtenstein). Einzelne<br />

PR-Agenturen haben sich zudem darauf spezialisiert,<br />

relevante Medien mit negativen <strong>Information</strong>en<br />

<strong>im</strong> Sinne ihrer Auftraggeber zu füttern.<br />

Marktvorteile erreicht man heute zum Teil auch<br />

durch die Verbreitung von »heiklen« <strong>Information</strong>en<br />

über die entsprechenden Akteure. In der<br />

Politik steht das Wachstums-Modell »negative<br />

campaigning«, inszeniert von PR-Agenturen<br />

oder professionellen »Gegner-Beobachtern«,<br />

vor einem Konjunkturhoch. Bereits <strong>im</strong> jüngsten<br />

Bundestagswahlkampf wurden wichtige »Kampagnen-Themen«<br />

von den Parteien über ausgewählte<br />

Journalisten erfolgreich in die Medien<br />

geschleust. Diese Aktionen werden mit Hilfe<br />

von »Informanten« gesteuert.<br />

Was später als »Recherche« der Medien präsentiert<br />

wird, ist heute oft professionell gesteuerte<br />

Kommunikation.<br />

Die Kontrolle, die Pflege und der Schutz<br />

von Informanten gehören also – <strong>im</strong> Spiegel dieser<br />

Entwicklungen – zu den Kernaufgaben professioneller<br />

Journalisten. Sie müssen vor allem<br />

die Motivlage der Informanten sauber sezieren,<br />

Daten und Fakten intensiv prüfen und in jedem<br />

Fall einem aufwändigen Gegencheck unterziehen.<br />

Dies gilt ganz besonders für die vorsätzlich<br />

selektive Informantenarbeit von Fraktionsmitarbeitern<br />

in den Untersuchungs-Ausschüssen. Diese<br />

Informanten wissen mittlerweile, wie man<br />

»investigativen Journalismus« inszenieren kann,<br />

welche Medien (Autoren) die Funktion von<br />

Leitmedien wahrnehmen und wie die Verwertungsketten<br />

von <strong>Information</strong>en über Agenturen<br />

etc. tatsächlich laufen.<br />

Zunehmend werden Autoren von ihren Vorgesetzten<br />

»angehalten«, ihre Informanten zu<br />

nennen, sozusagen als Qualitätsnachweis ihrer<br />

Recherchen. Allen Journalisten müsste bewusst<br />

sein, dass diese Methode der Anfang vom Ende<br />

eines Vertrauensverhältnisses mit Informanten<br />

wäre.<br />

Im Umkehrschluss suchen sich professionelle<br />

Informanten auch »ihre Journalisten« und<br />

»ihr Medium«. Der potenzielle Wirkungshorizont<br />

einer »Geschichte«, die Mechanik ihrer<br />

Verwertung, die Garantie der Anonymität, langjähriges<br />

Vertrauen sind nur einige Kriterien, die<br />

die Zusammenarbeit prägen oder ausschließen.<br />

Die Faustregel lautet: Je relevanter das Informanten-Material,<br />

umso vorsichtiger der Informant.<br />

Mit Blick auf die eingangs geschilderten<br />

staatlichen Maßnahmen heißt dies: Die gängige<br />

Kommunikation über Telefon und Internet<br />

ist nicht mehr sicher, sie gefährdet den einst<br />

geschützten Kommunikationsraum zwischen<br />

Journalisten und Informanten. Wahrscheinlich<br />

werden künftig persönliche Treffen mit wichtigen<br />

Informanten wieder wichtiger.<br />

_ Eine Antwort auf die Abschreckung von<br />

Informanten: besseres Quellenmanagement und<br />

intensivere Recherche<br />

Man kann die skizzierten Eingriffe beklagen,<br />

man kann – wie »DER SPIEGEL« <strong>im</strong> Fall<br />

Koelbl – rechtlich gegen Überwachungsmaßnahmen<br />

vorgehen. Den Rückzug von Informanten<br />

muss man wohl nüchtern registrieren.<br />

Dies beeinträchtigt die Recherche-Möglichkeiten,<br />

sollte aber gleichzeitig Ansporn sein, alle<br />

Anstrengungen bei der <strong>Information</strong>sbeschaffung<br />

zu verstärken. Denn viele Journalisten<br />

kommen offenbar auch ohne Informanten<br />

Ein Thema <strong>im</strong> Medienmagazin »Zapp« des<br />

NDR: die Telekom-Affäre<br />

aus. »80 Prozent der Journalisten haben gar<br />

keinen echten Informanten – sie glauben, der<br />

Pressesprecher sei ein Informant.« Diese nüchterne<br />

Lageeinschätzung von Kuno Haberbusch<br />

(NDR) in der »Welt am Sonntag« (11. 6. 2008),<br />

mit der Textzeile »Redaktionsleiter von Zapp<br />

kritisiert die Faulheit deutscher Journalisten«<br />

zugespitzt, rührte eigentlich an einem Tabu.<br />

Aber die pointierte These provozierte keine Gegenreaktionen,<br />

sondern wurde als Schlüsselzitat<br />

<strong>im</strong>mer wieder kommentarlos nachgedruckt.<br />

Pressefreiheit unter Druck <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 91


92<br />

Haberbusch weist auf Missstände <strong>im</strong> Journalismus<br />

hin, die auch der Medienforscher Lutz<br />

Hachmeister bei der Wächterpreis-Verleihung<br />

der Stiftung »Freiheit der Presse« Anfang Mai<br />

2008 in Frankfurt in einer bemerkenswerten<br />

Rede analysiert hat. Qualitäts-Journalismus<br />

müsse unabhängig von Ökonomie sein, unabhängig<br />

von Public Relations und den Standpunkten<br />

der eigenen Medienunternehmen.<br />

Guter Journalismus für alle Medien beruhe auf<br />

den »vier Faktoren Zeit, Geld, Recherche und<br />

Stil« (dpa, 7. 5. 2008). Weiter führte Hachmeister<br />

aus: Die »ungesunden Beschleunigungstendenzen<br />

<strong>im</strong> Online-Journalismus« seien fühlbar,<br />

»auch die verschärfte Konkurrenz um Pseudo-<br />

Nachrichten in der Hauptstadt, wo die wirklich<br />

entscheidenden politischen und legislativen<br />

Prozesse, die sich auf der Ebene von Ministerialbeamten<br />

und Lobbyisten abspielen, zu selten<br />

reportiert werden«.<br />

Zu den Säulen »Zeit, Geld, Recherche und<br />

Stil«, die in der Frankfurter Rede akzentuiert<br />

wurden, könnte noch eine fünfte Säule<br />

ergänzt werden. Von großer Bedeutung sind<br />

natürlich die Quellen von Journalisten, ohne<br />

die wahrscheinlich kein einziger Skandal von<br />

Relevanz in der Nachkriegsgeschichte die Öffentlichkeit<br />

erreicht hätte. »Quellen hat man,<br />

aber über Quellen redet man nicht.« Diese<br />

Journalisten-Weisheit hat leider auch ihre Gültigkeit,<br />

wenn die Informanten möglicherweise<br />

mit zweifelhaftem Material hantieren. Darüber<br />

schreibt etwa Bernhard Honnigfort in seinem<br />

bitteren Text »Kein Sumpf, nirgends. Die ›sizilianischen<br />

Verhältnisse‹ in Sachsen gab es nicht.<br />

Staatsanwälte stellen Ermittlungen ein.« (FR,<br />

30. 4. 2008). Wir erinnern uns: Vor etwa einem<br />

Jahr berichtete nicht nur »DER SPIEGEL« vom<br />

»Sächsischen Sumpf«; die »Leipziger Volkszeitung«<br />

war von »Kr<strong>im</strong>inellen Verstrickungen bis<br />

in höchste Kreise« alarmiert; und sogar renommierte<br />

Medien- und Politikmagazine ließen den<br />

»mafiösen Sumpf« von einem »Top-Experten«<br />

ausführlich vermessen. Nur: Der angebliche<br />

Sumpf war eine Erfindung von wenigen Verfassungsschutz-Mitarbeitern.<br />

Teile eines 10 000-Seiten-Konvoluts,<br />

das zwischen 2003 und 2006<br />

zusammengetragen wurde, dienten den »Experten«<br />

als Vorlage für »Hysterie und Leichtfertigkeit«.<br />

Der FR-Korrespondent schreibt: »Roth<br />

(einer der Autoren zum mafiösen Sumpf) und weitere<br />

Journalisten haben zwischenzeitlich strafbewehrte<br />

Unterlassungserklärungen bzw. eine<br />

entsprechende Presseerklärung abgegeben oder<br />

sich telefonisch bei dem betroffenen früheren<br />

Staatsanwalt entschuldigt.« Der ausführliche<br />

Bericht unabhängiger Experten zum »Sachsen-<br />

Sumpf« u. a. in der »Süddeutschen Zeitung«<br />

und der FAZ, aber auch der »Schäfer-Bericht«<br />

zur Bespitzelung und Kooperation von Journalisten<br />

mit dem BND sind wertvolle Dokumente<br />

für alle Journalisten, die sich mit dem Dunst<br />

der Dienste umgeben. Desinformation gehört<br />

in diesem Milieu offenbar zur Innenausstattung<br />

einer Profession. Rund um die Gehe<strong>im</strong>dienste<br />

wird viel fragwürdiges Material verbreitet, ohne<br />

Quellencheck, ohne Zweifel und ohne kritische<br />

Gegenposition.<br />

Die Problematik von (vermeintlichen) Experten<br />

als Quellen wird unter Journalisten oder<br />

auf Medienfachtagungen selten reflektiert.<br />

Zu diesem auch von der Medienkritik ignorierten<br />

journalistischen Tabu-Thema gibt es<br />

eine hochinteressante interne Anleitung der<br />

Nachrichtenagentur Associated Press (AP) zum<br />

»Umgang mit Quellen« (FH [Autorenkürzel]/<br />

Letzte Aktualisierung 2. 10. 2006). Hier werden<br />

alle Mitarbeiter auf die Regeln bei der Quellenprüfung,<br />

auf die Problematik von Blogs und<br />

Quellen <strong>im</strong> WWW, auf die Quellenaufbewahrung<br />

und Quellenhinweise aufmerksam gemacht.<br />

Besonders aufschlussreich ist das Kapitel<br />

»Experten/Schwarze Liste«. Hier heißt es: »In<br />

dieser – bislang noch sehr unvollständigen – Liste<br />

aufgeführte Experten oder Institutionen haben<br />

uns aus unterschiedlichen Gründen schon<br />

Probleme bereitet und werden daher in der<br />

AP-Berichterstattung nicht berücksichtigt. Alle<br />

AP-Mitarbeiter, die schlechte Erfahrungen mit<br />

Experten/Institutionen gemacht haben, mögen<br />

diese bitte per Mail an (. . .) mailen, damit wir<br />

sie ggf. in diese Liste aufnehmen können.« Nur<br />

ein Fallbeispiel: »Gehe<strong>im</strong>dienste: Udo Ulfkotte<br />

(nicht unumstrittener Gehe<strong>im</strong>dienstexperte, der<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08


inzwischen auch als ddp-Mitarbeiter firmiert<br />

und damit für uns endgültig nicht mehr in<br />

Frage kommt).« Die interne Liste der Nachrichtenagentur<br />

AP ist eine sehr wertvolle Quelle.<br />

Gleichwohl müssten nicht nur die großen<br />

Nachrichtenredaktionen diese Sensibilität pflegen,<br />

wenn interessengebundene »Rentenexperten«<br />

oder »Automobilexperten« die jeweilige<br />

Marktlage aus ihrer PR-Perspektive erklären.<br />

_ Wer schweigt, der bleibt – <strong>Information</strong>sblockaden<br />

staatlicher Stellen<br />

Formal sieht die Lage gegenüber Behörden und<br />

staatlichen Stellen zwar besser aus. Der überall<br />

gültige <strong>Information</strong>s-Ermittlungsanspruch leitet<br />

sich aus der Presse- und Rundfunkfreiheit ab.<br />

Der Grundkonsens: »Die Presse erfüllt eine öffentliche<br />

Aufgabe. Insbesondere dadurch, dass<br />

sie Nachrichten beschafft und verbreitet, Stellung<br />

n<strong>im</strong>mt, Kritik übt und auf andere Weise<br />

an der Meinungsbildung mitwirkt.« In fast allen<br />

Landespressegesetzen gibt es dementsprechend<br />

eine ausdrückliche Normierung: »Die Behörden<br />

sind verpflichtet, den Vertretern der Presse die<br />

der Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben dienenden<br />

Auskünfte zu erteilen«, heißt es etwa <strong>im</strong><br />

§ 4 Landespressegesetz NRW.<br />

Doch diese Auskunftspflicht der Behörden<br />

entwickelt sich in der Praxis <strong>im</strong>mer mehr zu<br />

einer Farce. Ministerien und Behörden mauern<br />

<strong>im</strong>mer dann, wenn es heikel wird. Die Ausnahmeregeln<br />

kennen die Pressesprecher auswendig.<br />

Schwebendes Verfahren, Vorschriften über die<br />

Gehe<strong>im</strong>haltung, Datenschutz oder schutzwürdige<br />

Interessen. Die Abschottung und die von<br />

manchen Ministerien – wie dem Gesundheitsministerium<br />

– sogar öffentlich eingeräumte<br />

»Auswahl« von <strong>Information</strong>en amputiert gezielt<br />

die Pressefreiheit und züchtet einen »Generalanzeiger-Journalismus«.<br />

Ein Beispiel: Immer wieder wurde die Öffentlichkeit<br />

zum Thema »NPD-Verbot« gezielt<br />

desinformiert. Führende Politiker versuchen<br />

den Konflikt mit dem Bundesverfassungsgericht<br />

allein auf die Rolle der zahlreichen NPD-V-<br />

Leute zu reduzieren. Tatsächlich haben aber die<br />

beiden von den Innenministerien eingesetzten<br />

Arbeitsgruppen von Verfassungsschützern und<br />

Staatsrechtsexperten gewichtige andere Gründe<br />

gegen ein NPD-Verbot aufgelistet. Sie haben<br />

die jahrelang abwartende, beobachtende Rolle<br />

der Politik kritisiert, die militante Gewaltbereitschaft<br />

der NPD infrage gestellt und die hohen<br />

Hürden des Parteienverbots begründet. All<br />

Rund 2 000 Menschen aus dem Südharz<br />

protestieren am 27. 9. 2007 in Bad Lauterberg<br />

gegen die rechtsextreme NPD.<br />

diese Argumente wurden aus dem öffentlichen<br />

Diskurs ausgeblendet, auch weil die Behörden<br />

die fundierten, aber unbequemen Berichte der<br />

beiden Beratungsgremien nicht herausgeben.<br />

Desinformation durch <strong>Information</strong>sverweigerung<br />

und gezielte Auslassung. Diese Technik<br />

funktioniert auch, weil zu viele Journalisten<br />

sich zu schnell von den Behörden abweisen<br />

lassen. Oft hilft in Konfliktfällen schon die Forderung<br />

einer schriftlichen Begründung für die<br />

<strong>Information</strong>s-Blockade. Solche Ablehnungen<br />

– die meist verweigert werden – könnten Journalisten<br />

sammeln und öffentlich machen. Dies<br />

wäre der wirksame Protest gegen die <strong>Information</strong>sverhinderung<br />

von Pressesprechern.<br />

Denn ihr Bild von einer funktionierenden<br />

Presse ist ganz einfach. Die Medien sollen das<br />

veröffentlichen, was die Pressestellen ihnen<br />

mitteilen. Rückfragen überflüssig, Nachfragen<br />

unnötig. Das rheinland-pfälzische Innenministerium<br />

sieht Medien sogar in der Rolle eines<br />

ausführenden Organs, wie ein entsprechendes<br />

Dokument zum Umgang der Polizei mit den<br />

Medien belegt. Wenn diese Praxis aber weiter<br />

klaglos hingenommen wird, verkümmert die<br />

Auskunftspflicht der Behörden bald und wird<br />

so praktiziert wie die rigide <strong>Information</strong>spolitik<br />

der Unternehmen. Offenbar verfahren<br />

auch Medienvertreter hier nach dem Motto des<br />

Broadway-Kolumnisten Walter Winchell, der<br />

den PR-Leuten aus dem Herzen sprach: »Zu<br />

viel Recherche macht die schönste Geschichte<br />

kaputt.«<br />

Der restriktive Umgang mit dem <strong>Information</strong>sfreiheitsgesetz<br />

auf Bundes- und Landesebene<br />

illustriert zudem – bezogen auf das Infor-<br />

Pressefreiheit unter Druck <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 93


94<br />

mationsverhalten – das Kl<strong>im</strong>a des überholten<br />

Obrigkeitsstaates. Veröffentlicht wird nur das,<br />

was mit Hilfe der Ausnahmeregelungen nicht<br />

verhindert werden kann. Aber auch hier muss<br />

eingeräumt werden, dass nur wenige Journalisten<br />

an diesem Instrument der <strong>Information</strong>sbeschaffung<br />

interessiert sind.<br />

_ Das süße Gift der PR – Die Technik der<br />

gekauften Kommunikation<br />

Nick Davies, erfahrener Sonderkorrespondent<br />

der britischen Tageszeitung »The Guardian«,<br />

hat die britische Qualitätspresse einem aufwändigen<br />

Test unterzogen. Seine Ergebnisse sind<br />

niederschmetternd und vielleicht eine Folie für<br />

deutsche Kommunikationswissenschaftler, die<br />

ähnliche Tendenzen in der deutschen Medienlandschaft<br />

bislang nicht erkannt haben. »Ich<br />

war gezwungen, mir einzugestehen, dass ich in<br />

einer korrumpierten Profession arbeite«, so das<br />

Fazit des 400-seitigen<br />

Werks mit dem Titel<br />

»Flat Earth News«.<br />

»Die Journalisten<br />

seien <strong>im</strong> ›professionellen<br />

Käfig‹ ihrer<br />

›Nachrichtenfabriken‹<br />

gefangen und<br />

zu ›Churnalisten‹<br />

verkommen (nach »to<br />

churn out«: auswerfen).<br />

Sie schrieben Pressemitteilungen<br />

oder<br />

Agenturmeldungen<br />

nur noch schnell um,<br />

ohne selbst nachzuforschen. Dieser Zustand<br />

mache die Massenmedien äußerst anfällig für<br />

die Verbreitung von Falschmeldungen, irreführenden<br />

Legenden und Propaganda.«<br />

In seiner Buch-Rezension zitiert Henning<br />

Hoff in der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung«<br />

(www.faz.net) schockierende Zahlen<br />

einer empirischen Untersuchung von 2 000 Berichten<br />

(<strong>im</strong> Frühjahr 2006) der britischen Qualitätspresse.<br />

»Sechzig Prozent bestanden ausschließlich<br />

oder hauptsächlich aus PR-Material<br />

oder Berichten von Nachrichtenagenturen, die<br />

aber auch nur bei zwei Prozent als Quelle angegeben<br />

worden waren. (. . .) Nur zwölf Prozent<br />

der Texte ließen auf eigene Recherchen schließen.«<br />

Die Ursache für diese Entwicklung – die<br />

wohl keine britische Spezialität ist – sieht Davis<br />

so: »Das Grundproblem ist, dass eine kommerzielle<br />

Logik die journalistische abgelöst hat.«<br />

Nicht nur <strong>im</strong> Online-Markt wird heute nicht<br />

mehr von Journalismus, sondern von »Geschäftsmodellen«<br />

gesprochen. Journalismus als<br />

Ware, die mit möglichst geringem (personellen)<br />

Aufwand hergestellt werden soll? Nick Davies<br />

alarmierende Analyse endet mit einer erschütternden<br />

Botschaft: »Ich fürchte, ich beschreibe<br />

nur den Tumor, der uns umbringt, ohne eine<br />

Therapie anbieten zu können.«<br />

_ Auswege: Recherche-Journalismus<br />

als Qualitäts-Katalysator<br />

Die Kritik wirft die Frage nach dem Stellenwert<br />

des Qualitätsjournalismus und den Chancen<br />

der Recherche auf. Was aber kann eine intensive<br />

Vermittlung, Förderung und Pflege von<br />

Recherche in den Redaktionen zur Entfaltung<br />

eines Qualitätsjournalismus beitragen?<br />

_ <strong>Ersten</strong>s: Recherche muss von der Ausnahme<br />

zum Normalzustand in den Redaktionen werden.<br />

Recherche ist das Rückgrat für guten Journalismus.<br />

Sie kostet Zeit und Geld und verlangt<br />

von den Journalisten besonderes Engagement.<br />

Jedenfalls müssen sie mehr tun, als unbedingt<br />

von ihnen erwartet wird. Um die Normalität zu<br />

ermöglichen, sollte man Abschied von unproduktiven<br />

Mythen nehmen. Abschied vom Mythos<br />

des investigativen Journalismus. Denn den<br />

gibt es nur in seltenen Ausnahmefällen. Stattdessen<br />

sollte man sich hinwenden zu einem<br />

klassischen Recherche-Journalismus, der die<br />

wesentlichen Recherche-Qualifikationen ausbildet,<br />

pflegt und profiliert.<br />

Dieser Schritt zu mehr Bescheidenheit<br />

würde alle dementieren, die die (investigative)<br />

Recherche als unerreichbar, unbezahlbar – und<br />

deshalb nicht praktizierbar – klassifizieren.<br />

Gleichzeitig würden mit der Verankerung der<br />

Recherche in der Alltagspraxis breite Lernfelder<br />

für viele Medienmacher eröffnet, die heute<br />

meist brachliegen. Redaktionen, die sich konzentriert<br />

der Recherche widmen – bei NDR<br />

Info oder in der SWR-Hörfunk-Redaktion »Recherche<br />

und Reportage«, Sonder-Rechercheure<br />

selbst in Lokalzeitungen o. a. –, greifen diesen<br />

Grundgedanken erfolgreich auf und stützen die<br />

für die Entwicklung eines Qualitäts-Journalismus<br />

notwendige Recherchekultur. Auch die Leser<br />

goutieren offenbar – so mehrere Umfragen<br />

– hintergründigen Journalismus.<br />

_ Zweitens: Recherche darf nicht nur als Marketinginstrument<br />

und für das Branding von<br />

Magazinen missbraucht werden. Eine Umfrage<br />

unter Chefredakteuren des g+j-Verlags hat vor<br />

Jahren ergeben, dass sie die Recherche für das<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08


wichtigste Instrument zur Etablierung eines<br />

erfolgreichen Journalismus halten. Welche Konsequenzen<br />

diese Einschätzung nach sich ziehen<br />

müsste, blieb unbeantwortet. Investitionen in<br />

Recherche? Oft bleibt es bei folgenlosen Ankündigungen.<br />

Fast alle Magazine in öffentlichrechtlichen<br />

und privaten Medien schmücken<br />

sich bei ihren Auftritten mit Superlativen zur<br />

Recherche, auch wenn sie wissen, dass sie die<br />

selbst formulierten Ansprüche nur selten einlösen.<br />

Ziel sollte es sein, nicht nur von Recherche<br />

zu reden, sondern Recherche zu ermöglichen,<br />

zu fördern und finanziell abzusichern.<br />

_ Drittens: Recherche müsste eigentlich auf<br />

der Liste der aussterbenden Arten platziert werden.<br />

Der mögliche Nutzen der Recherche steht<br />

in einem ungünstigen Verhältnis zur Intensität<br />

der Weiterbildungsangebote. Im aktuellen<br />

Programm etwa der Akademie für Publizistik<br />

(Hamburg) gibt es einen Kurs mit dem Titel<br />

»Sauberes Handwerk – Recherche-Strategien«,<br />

der zwei Mal angeboten wird. Der Bereich Öffentlichkeitsarbeit<br />

und PR wird dagegen allein<br />

mit acht eigenständigen Seminar-Modulen<br />

bedient. Dies ist nur ein Fallbeispiel, das stellvertretend<br />

für die gesamte (Weiter)-Bildungslandschaft<br />

steht. Diese Diskrepanz zwischen<br />

Notwendigem und Überflüssigem in der Journalistenausbildung<br />

von Gelsenkirchen bis Hannover<br />

ist durchaus ein Spiegel des krisenhaften<br />

Zustands einer bedrohten Disziplin. Aber jede<br />

Krise birgt auch Chancen. Die in Deutschland<br />

vernachlässigte Recherche-Ausbildung hinterlässt<br />

ein riesiges, unausgeschöpftes Potenzial.<br />

_ Viertens: Dieses Potenzial müsste durchgehend<br />

in der Journalisten-Aus- und -Weiterbildung<br />

genutzt werden. Praxis darf nicht nur<br />

s<strong>im</strong>uliert werden, echte Praxis mit realistischen<br />

Aufgaben und konkreten, veröffentlichungsfähigen<br />

Geschichten muss der Werttreiber und<br />

Motor der Ausbildung sein. Recherche braucht<br />

Leidenschaft, Interesse, Antrieb und professionelle<br />

Begleitung. »Nichts ist erregender als<br />

Erfolge . . .« Diese leicht abgewandelte Formel<br />

des berühmten Journalisten Egon Erwin Kisch<br />

sollte das Leitmotiv für eine effiziente Recherche-Ausbildung<br />

sein. Elektrisieren, unterstützen,<br />

Grenzen überschreiten, der Abschied von<br />

der passiven Ergänzungsrecherche hin zu einer<br />

eigenständigen Rechercheleistung könnte viel<br />

bewirken und Motivation für Recherchejournalismus<br />

auslösen. In diesem Sinne kann eine solide,<br />

st<strong>im</strong>mig aufgebaute, theoretisch fundierte<br />

und praktisch inspirierte Recherche-Ausbildung<br />

Nutzwert-Journalismus <strong>im</strong> besten Sinne sein.<br />

Nutzwert-Journalismus für eine demokratische<br />

Öffentlichkeit.<br />

_ Fünftens: Folgt man den einschlägigen journalistischen<br />

Lehrbüchern, steht die Recherche<br />

am Anfang jeder journalistischen Produktion.<br />

Dass dieser Grundsatz längst aus der Praxis ausgewandert<br />

ist, wurde skizziert. Auffallend ist<br />

die zunehmende Trennung von zwei Produktionsstufen,<br />

vor allem in TV-Redaktionen. Die<br />

redaktionelle Vorbereitung (Konflikt-Szenario,<br />

Location, Protagonisten, Casting etc.) wird<br />

von einem Mitarbeiter übernommen. Diese<br />

Vor-Recherchen werden dann an den Produzenten<br />

übergeben, der das vorgegebene Thema<br />

nach Vorgabe umsetzt. Mit dem wenig überraschenden<br />

Ergebnis, dass die Recherche-Tiefe oft<br />

auf dem Niveau eines Anzeigenblattes stagniert.<br />

Das Wichtigste <strong>im</strong> Journalismus sollte also wie-<br />

der wichtig werden. Deshalb lohnt es sich, den<br />

bedrohten Qualitätsjournalismus mit dem Sauerstoff<br />

Recherche zu beleben.<br />

Zusammengefasst: Recherche kann den gewünschten<br />

und geforderten Qualitätsjournalismus<br />

beatmen, <strong>im</strong> Sinne der Mediennutzer und<br />

einer aufgeklärten Öffentlichkeit einen besseren<br />

Journalismus ermöglichen. Guter Recherche-<br />

Journalismus macht unabhängig(er) von Quellen,<br />

die eine gesteuerte Kommunikation anstreben.<br />

Das wäre dann eine erste Antwort auf<br />

den »Angriff auf die Vernunft«, von dem Kl<strong>im</strong>akämpfer<br />

Al Gore (Foto oben, mit Popstar Bono)<br />

kürzlich mit Blick auf die Entwicklung der<br />

amerikanischen Medien sprach, und auf den<br />

Angriff staatlicher Stellen, für die Pressefreiheit<br />

offenbar nur noch eine leere Formel ist.<br />

Dr. Thomas Leif, Chefreporter Fernsehen<br />

SWR Landessender Mainz,<br />

Vorsitzender von netzwerk recherche<br />

Pressefreiheit unter Druck <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 95


96<br />

Kontrolle, Propaganda und<br />

ein schönes Lächeln<br />

Journalistischer Alltag in China · Von Ariane Re<strong>im</strong>ers<br />

Im Vorfeld der Olympischen Spiele fanden –<br />

aus chinesischer Perspektive betrachtet – enorme<br />

Lockerungen der Pressefreiheit in China statt. Seit<br />

Januar 2007 können sich Berichterstatter frei <strong>im</strong> Land<br />

bewegen – allerdings beobachtet durch die Sicher-<br />

heitsbehörden. Tibet ist für ausländische Journalisten<br />

nur mit einer Sondergenehmigung zu bereisen, die<br />

Berichterstattung durch ausgewählte Journalisten geriet<br />

zur Farce. Bei kritischen Themen arbeiten ausländische<br />

Journalisten nach wie vor mit verdeckten Methoden und<br />

können nicht verhindern, dass chinesische Interview-<br />

partner und deren Angehörige Repressalien ausgesetzt<br />

sind. Über die Fortsetzung der Reisefreiheit, die bis<br />

Herbst dieses Jahres befristet war, entscheidet die chine-<br />

sische Regierung <strong>im</strong> Oktober 2008.<br />

D<br />

ie Scheinwerfer der Welt beleuchten<br />

China. Kaum ein Land stand <strong>im</strong> Jahr<br />

2008 so sehr <strong>im</strong> Blickpunkt der Medien.<br />

Kaum ein Monat, in dem Nachrichten<br />

aus dem Reich der Mitte nicht in die<br />

Schlagzeilen drängten: Erst Schneechaos, dann<br />

Unruhen in Tibet, der Fackellauf, die Erdbebenkatastrophe<br />

in Sichuan und schließlich die<br />

Olympischen Spiele. Für das <strong>ARD</strong>-Studio in<br />

Peking ist 2008 nicht nur ein arbeitsreiches Jahr,<br />

sondern auch ein äußerst widersprüchliches:<br />

Berichterstattungsfreiheit und nie dagewesene<br />

Offenheit auf der einen Seite, Hausbesuche von<br />

Polizei und Gehe<strong>im</strong>dienst, ermahnende Gespräche<br />

<strong>im</strong> Außenministerium und die weitere<br />

Einschränkung bürgerlicher Freiheiten auf der<br />

anderen.<br />

_ Schein und Sein<br />

Wer China und die Chinesen ein wenig kennengelernt<br />

hat, weiß, dass sie eines nicht wollen:<br />

in einem ungünstigen Licht erscheinen. In<br />

China muss alles perfekt aussehen, auch wenn<br />

es nicht perfekt ist. Und was nicht perfekt ist,<br />

wird eben perfekt gemacht – mit erklecklichem<br />

Aufwand. Doch die westliche journalistische<br />

Neugier bringt es mit sich, das Nicht-Perfekte<br />

entdecken zu wollen, die Welt hinter den Kulissen,<br />

die St<strong>im</strong>men der anderen. Diese Grundidee<br />

journalistischer Arbeit schafft die ersten Missverständnisse<br />

und ernstes Misstrauen bei vielen<br />

Chinesen: Warum berichtet Ihr <strong>im</strong>mer nur<br />

über unsere Probleme? Warum interviewt Ihr<br />

die, die sich beklagen? Warum filmt Ihr unsere<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08


Schmuddelecken statt unserer Vorzeigeprojekte?<br />

Aus Misstrauen und Missverständnissen werden<br />

schnell Verschwörungstheorien: Die westlichen<br />

Medien würden China nur schlechtmachen<br />

wollen, die positiven Entwicklungen des Landes<br />

negieren und China damit bewusst klein halten.<br />

Da in China Medien und besonders das<br />

Fernsehen in erster Linie als Sprachrohr von<br />

Partei und Regierung wahrgenommen werden<br />

und es de facto auch sind, werden ein <strong>ARD</strong>-<br />

Bericht oder ein »SPIEGEL«-Artikel gerne als<br />

Verlautbarung der deutschen Regierung verstanden.<br />

Gleiches gilt für die anderen westlichen<br />

Länder. Und auch deswegen zieht kritische<br />

Be richterstattung mitunter einen nationalen<br />

Aufschrei der Empörung nach sich, in der Regel<br />

intoniert durch Klein-Kampagnen in den<br />

chinesischen Medien. Mehr noch als die deutschen<br />

geraten die großen englischsprachigen<br />

Broadcaster wie die BBC oder CNN ins Visier<br />

wütender pro-chinesischer Blogger und Journalisten.<br />

Vor allem nach den Tibet-Unruhen und<br />

den Protesten be<strong>im</strong> Fackellauf müssen westliche<br />

Journalisten mit den Ressent<strong>im</strong>ents ihrer chinesischen<br />

Interviewpartner ringen.<br />

_ Kontrolle über alles<br />

Der beste Journalist aus chinesischer Sicht ist<br />

der kontrollierte Journalist, einer, den man rund<br />

um die Uhr beobachtet, dessen Interviewpartner<br />

man kennt, besser noch – dessen Interview-<br />

partner man selbst ausgewählt hat. Deswegen<br />

sind chinesische Behörden und Unternehmen<br />

große Fans von Pressereisen und Pressetouren.<br />

Keine Bewegungsfreiheit, ein straffes Programm<br />

und nur die »richtigen« <strong>Information</strong>en. In die-<br />

Vertreter des BOCOG, des Olympischen<br />

Organisationskomitees der Spiele in Peking,<br />

vor der Presse.<br />

ser Art finden alle journalistischen Reisen nach<br />

Tibet statt, so hat das BOCOG – das chinesische<br />

olympische Organisationskomitee – die<br />

Besuche der olympischen Baustellen und der<br />

Vorbereitungen für die olympischen Spiele organisiert,<br />

so zeigen chinesische Unternehmen,<br />

welche Fortschritte sie bereits in Sachen Umwelt-<br />

und Kl<strong>im</strong>aschutz erreicht haben.<br />

In dieser Kontrolltradition mussten bis zum<br />

1. 1. 2007 alle ausländischen Journalisten ihre<br />

Reisen in die Provinzen anmelden und genehmigen<br />

lassen. Dann bekamen sie einen kostenpflichtigen<br />

Aufpasser an die Seite gestellt, den<br />

so genannten Waiban. Gefiel dem ein Thema<br />

nicht oder ein Interviewpartner, wurde kurzerhand<br />

interveniert, meist nicht direkt – das wäre<br />

unchinesisch –, sondern mit einem ganzen<br />

Bündel an Ausflüchten. Die Lieblingsausrede<br />

der Chinesen ist die »Sicherheit« der westlichen<br />

Journalisten, die angeblich in Gefahr<br />

ist. Gemeint ist in der chinesischen Rhetorik,<br />

dass eine Grenze erreicht ist, die der westliche<br />

Journalist besser nicht überschreiten sollte. Eine<br />

sanfte Warnung vor Erfolglosigkeit, keine Drohung,<br />

sondern eher ein Hinweis, dass die Interviewpartner<br />

nicht mehr zur Verfügung stehen<br />

werden, das Auto eine Panne haben wird und<br />

der Tempel just an jenem Tag geschlossen ist.<br />

_ Neue Freiheiten dank Olympia<br />

Seit dem 1. 1. 2007 gibt es Reisefreiheit für ausländische<br />

Journalisten in China. Es gibt sie<br />

wegen der Olympischen Spiele, und sie ist ein<br />

großer Schritt in die richtige Richtung. Seit<br />

Januar 2007 dürfen also die Kamerateams und<br />

Journalisten des Pekinger <strong>ARD</strong>-Studios überall<br />

in China ausschwärmen und die vielen The-<br />

men von der Straße auflesen – ohne, dass <strong>im</strong><br />

Vorhinein Anmeldungen und Genehmigungen<br />

erforderlich wären. Trotzdem sollte man sich<br />

nicht der Illusion hingeben, dass dererlei Reisen<br />

den chinesischen Behörden verborgen bleiben.<br />

Gerade bei heikleren Themen warten schon<br />

Zivilbeamte der Staatssicherheit am Flughafen,<br />

werden die lokalen Mitarbeiter vom Gehe<strong>im</strong>dienst<br />

angesprochen, wollen Interviewpartner<br />

plötzlich doch nicht mehr, weil sie eingeschüchtert<br />

wurden.<br />

Aber es ist möglich, über die wunden Punkte<br />

zu berichten und etwa Dissidenten bzw. ihre<br />

Familien zu besuchen, Umweltaktivisten, Arbeitsrechtler.<br />

Je kritischer das Thema, desto<br />

komplizierter. Es erfordert viel Vorbereitung,<br />

Journalistischer Alltag in China <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 97


98<br />

manchmal konspirative Vortreffen und Telefongespräche<br />

über unbekannte Nummern. Und<br />

mitunter ist es auch gefährlich – nicht für die<br />

<strong>ARD</strong>-Mitarbeiter, sondern für die Interviewpartner.<br />

Vor allem in den Provinzen – dort,<br />

wohin der ordnende Arm der Zentralregierung<br />

nicht so ohne weiteres reicht – schicken korrupte<br />

Kader und Provinzfürsten auch schon<br />

einmal Schlägertrupps und Folterbanden zur<br />

Einschüchterung. Es ist schwierig einzuschätzen,<br />

wann Interviews den Interviewten schaden<br />

und wann eine Veröffentlichung des Sachverhalts,<br />

der Missstände, der Misshandlungen den<br />

Betroffenen nützt. Eine <strong>im</strong>mer unangenehme<br />

Verantwortung für ausländische Journalisten,<br />

die sich mit ihren westlichen Pässen auf bürgerliche<br />

Rechte verlassen können und nach erfolgter<br />

Drehreise unbesorgt nach Peking zurückkehren.<br />

Dennoch: Trotz aller Defizite haben<br />

ausländische Journalisten in den Jahren 2007<br />

und 2008 wesentliche größere Freiheiten als<br />

zuvor.<br />

_ Wendepunkt Tibet<br />

Die Auseinandersetzungen in Tibet brachten<br />

das Drehbuch des chinesischen Olympiajahrs<br />

gehörig durcheinander. Alles war so schön ge-<br />

plant, alles hätte so perfekt sein können, wären<br />

da nicht der 10. März und Tibet. Bilder von<br />

Unruhen gingen durch die Welt, von Aufstand<br />

war die Rede, von Toten, von Mönchen, die<br />

protestierten, von Festnahmen und Folter. Und<br />

Auch in technischer Hinsicht erschwerte<br />

Arbeitsbedingungen: Produktion eines Beitrags<br />

für die 20.00-Uhr-»Tagesschau« <strong>im</strong><br />

Hotelz<strong>im</strong>mer in Tingri in der Nähe des Basislagers<br />

am Mount Everest. Das Satellitenmodem<br />

für die Übertragung steht <strong>im</strong> Fenster.<br />

die chinesische Regierung schien die Situation<br />

nicht <strong>im</strong> Griff zu haben. Aber ein sorgfältiger<br />

journalistischer Blick auf das Ereignis blieb verwehrt,<br />

die neue Reisefreiheit gilt nicht für Tibet,<br />

und ausländische Journalisten dürfen nur mit<br />

einer Sondergenehmigung der Tibetischen Autonomiebehörde<br />

und <strong>im</strong> Rahmen einer Pressereise<br />

Tibet besuchen. In Moment der Unruhen<br />

wurde Tibet so oder so für alle ausländischen<br />

Besucher gesperrt. Die Handvoll Journalisten,<br />

die zufällig gerade dort war, wurde schnell ausgewiesen.<br />

Journalistische Berichterstattung war<br />

angewiesen auf he<strong>im</strong>liche Aufnahmen, die aus<br />

Tibet geschmuggelt wurden, auf Augenzeugenberichte<br />

und die Kontakte der Kontakte.<br />

Wer niemanden ins Land lässt, der hat etwas<br />

zu verbergen – getreu diesem Motto solidarisierte<br />

sich die Weltöffentlichkeit mit den tibetischen<br />

Demonstranten und schlug sich auf die<br />

Seite des Dalai Lama, der Persona non grata in<br />

China.<br />

Die Tibet-Berichterstattung war in China ein<br />

Wendepunkt in der Wahrnehmung der westlichen<br />

Medien. Für die chinesische Regierung<br />

aber auch für die meisten Chinesen ist jede Pro-<br />

Tibet-Haltung völlig unverständlich. Tibet ist<br />

ein Teil Chinas und die, die das bestreiten, sind<br />

in den Augen Chinas Separatisten. Die Urangst<br />

wird wach, dass China <strong>im</strong> Transitionsprozess<br />

auseinanderbrechen könnte wie einst die Sowjetunion.<br />

Schließlich sind die Tibeter nur eine<br />

von 55 so genannten Minderheiten, auch in<br />

anderen Landesteilen gibt es Unzufriedene und<br />

Unterdrückte, etwa die Uiguren.<br />

Arbeitsplatz <strong>im</strong> Freien: Im Erdbeben -<br />

gebiet von Sichuan haben Korrespondentin<br />

Ariane Re<strong>im</strong>ers (M.) und ihr Team<br />

ihr Equipment aufgebaut.<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08


_ Fackellauf auf das Dach der Welt<br />

Zu den beiden Pressereisen nach Tibet, die die<br />

chinesische Regierung in den Wochen nach den<br />

Unruhen organisierte, war das deutsche Fernsehen<br />

nicht eingeladen – wohl aber zum Fackellauf<br />

auf den Mount Everest. Nur eine Handvoll<br />

ausländischer Journalisten durfte dabei sein, als<br />

chinesische Bergsteiger das olympische Feuer<br />

auf den höchsten Berg der Welt trugen. Lange<br />

vor den Unruhen geplant und vorbereitet, gewann<br />

diese Reise eine andere Qualität, nachdem<br />

Tibet zur Quasi-Sperrzone erklärt worden<br />

war – nicht nur für die interessierten Journalisten,<br />

sondern auch für die organisierenden<br />

Behörden. Denen galt plötzlich die höchste<br />

Sicherheitsstufe.<br />

Das Ergebnis war aus journalistischer Sicht<br />

ernüchternd, denn die Reise fand zwar statt,<br />

aber unter äußerst unerfreulichen Bedingungen.<br />

Kein Besuch in Lhasa (aus Gründen der Sicherheit),<br />

ein derart vollgepackter Tagesablauf, dass<br />

keinerlei Unternehmungen auf eigene Faust<br />

möglich waren, Interviewpartner, die einzig die<br />

Errungenschaften der chinesischen Zentralregierung<br />

hervorzuheben wussten, und Mönche, die<br />

mit dem Dalai Lama nichts anfangen konnten,<br />

sondern nur den 11. Panchen Lama verehrten –<br />

den von Peking eingesetzten Vertreter des tibetischen<br />

Buddhismus. Soweit, so erwartbar, aber<br />

auch in dem 5 000 Meter hoch gelegenen Pressecamp<br />

bekamen die Journalisten die Kontrollwut<br />

und den Sicherheitswahn der chinesischen<br />

Organisatoren zu spüren. Aus Sicherheitsgründen<br />

durfte auf der täglichen Pressekonferenz<br />

nicht einmal der Wetterbericht vorgetragen wer-<br />

Am 8. 5., genau drei Monate vor Beginn der<br />

Olympischen Spiele, erreichte die olympische<br />

Flamme den Gipfel des Mount Everest (Foto l.).<br />

Unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen<br />

und vor sorgfältig ausgesuchten Zuschauern<br />

wurde am 21. 6. das olympische Feuer zum<br />

Potala-Palast, dem früheren Sitz des Dalai<br />

Lama, getragen (r.).<br />

den, geschweige denn der Aufenthaltsort von<br />

Bergsteigern und Fackel. Zwei Wochen lang war<br />

eigentlich nichts zu berichten, außer der Tatsache,<br />

dass die chinesischen Organisatoren zwar<br />

Journalisten eingeladen hatten, ihnen aber jegliche<br />

<strong>Information</strong>en vorenthielten.<br />

Als die Fackel dann nach zwei Wochen des<br />

Wartens endlich auf den Mount Everest getragen<br />

wurde, gab es die gewünschte Nachricht:<br />

Auf knapp 9 000 m Höhe zelebrierten chinesische<br />

und tibetische Bergsteiger gemeinsam einen<br />

Miniatur-Staffellauf mit dem olympischen<br />

Feuer. Eine sportliche Höchstleistung, bei der<br />

die Besteigung des Mount Everest aussah wie<br />

ein anstrengender Spaziergang. Den Organisatoren<br />

und Verantwortlichen für den reibungslosen<br />

und <strong>im</strong> propandistischen Sinne perfekten<br />

Ablauf fiel ein Stein vom Herzen: Keine<br />

Tibet-Fahnen, keine Aktivisten und die ausländischen<br />

Journalisten waren dabei und konnten<br />

als Augenzeugen des Erfolgs fungieren. Dass<br />

BBC, CNN, <strong>ARD</strong> und Reuters allerdings zwei<br />

Wochen über die desaströse <strong>Information</strong>spolitik<br />

berichteten, war aus chinesischer Sicht ein<br />

unwesentlicher Kollateralschaden – berichten<br />

westliche Medien nicht sowieso negativ über<br />

China?<br />

Journalistischer Alltag in China <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 99


100<br />

Einen guten Monat später wurde das Olympische<br />

Feuer erneut nach Tibet gebracht, diesmal<br />

nach Lhasa. »Jubel-Tibeter« säumten die<br />

Straßen, das Feuer war von Sicherheitskräften<br />

abgeschirmt und die geladenen ausländischen<br />

Journalisten wurden an ihren durchgeplanten<br />

Tagesablauf erinnert. Selbständige Exkursionen<br />

waren <strong>im</strong>merhin möglich, aber jeder Versuch,<br />

dann auch noch zu filmen, wurde unterbunden,<br />

sobald entdeckt.<br />

_ Chinesische Pressepolitik<br />

In Tibet wird ein Grundprinzip chinesischer<br />

Pressepolitik deutlich: Chinesische Behörden<br />

hindern nur <strong>im</strong> äußersten Notfall ausländische<br />

Journalisten aktiv an der Berichterstattung – sie<br />

bemühen sich vielmehr, <strong>Information</strong>en, Interviewpartner<br />

und (vermeintlich) sensible Orte<br />

vorzuenthalten, Genehmigungen zu verweigern<br />

und dafür mit ihrer Propaganda abzulenken.<br />

Auf dem Papier halten sie sich aber in der Regel<br />

an alle Gesetze und Regelungen, die für ausländische<br />

Journalisten gelten. Eine Strategie,<br />

die vor den Olympischen Spielen besonders<br />

oft Anwendung fand. Auch in Peking wurde<br />

plötzlich alles politisch und damit heikel: jeder<br />

Dreh <strong>im</strong> Stadtviertel, in der Schule nebenan<br />

oder auch einfach nur vom Dach eines Hotels.<br />

Die Nachbarschaftskomitees hatten ganze Arbeit<br />

geleistet und offensichtlich ihre Umgebung<br />

nicht ermuntert, mit ausländischen Journalisten<br />

zu sprechen. Wer nichts macht, macht keine<br />

Fehler – in der chinesischen Variante heißt das,<br />

wer nichts sagt, der kann auch nichts Falsches<br />

sagen. Für den journalistischen Alltag schafft<br />

das unangenehme Schwierigkeiten, denn wie<br />

soll man über das Peking vor den Olympischen<br />

Spielen berichten, wenn man in der Theorie<br />

zwar alles darf, in der Praxis sich aber niemand<br />

für Drehs und Interviews zur Verfügung stellt<br />

– außer Funktionären und ausgewählten Sprechern.<br />

Auch die Olympiastätten waren vor den<br />

Spielen nur <strong>im</strong> Rahmen organisierter Fahrten<br />

des BOCOG zu besuchen. Das hatte gleich<br />

mehrere Nachteile: Richtig nah ran durfte man<br />

nicht, das Wetter an den ausgewählten Tagen<br />

war leider meist schlecht und andere Aufnahmen<br />

wurden den Medien nicht und nur ungenügend<br />

zur Verfügung gestellt. Und als die<br />

Sportstätten dann fertig waren, durften Teams<br />

erstmal nur die völlig leeren Hallen abbilden.<br />

Keine Menschen, keine Bewegung.<br />

_ Schöne neue Olympiawelt<br />

Während der Olympischen Spiele war es dann<br />

ein wenig anders. Den vielen journalistischen<br />

Gästen, die nur für die Sportereignisse in die<br />

Stadt gekommen waren, sollte ein lächelndes<br />

und freundliches Bild präsentiert werden, keine<br />

Verbote oder Behinderungen. Und in der Tat –<br />

während der Spiele gab auch der gewöhnliche<br />

Pekinger bereitwillig Interviews, Journalisten<br />

konnten ohne jede Probleme auf dem Platz des<br />

H<strong>im</strong>mlischen Friedens drehen, selbst so mancher<br />

ausländischer Demonstrant wurde für ein<br />

paar Minuten geduldet – vor der Festnahme<br />

und Ausweisung.<br />

Aber welche kritischen St<strong>im</strong>men, hätten die<br />

Journalisten in dieser Zeit auch finden sollen:<br />

Dissidenten und selbst deren Verwandte wurden<br />

aus Peking weggeschafft, unter Hausarrest<br />

gestellt oder gleich <strong>im</strong> Gefängnis belassen. Wanderarbeiter<br />

ohne gültige Peking-Aufenthaltserlaubnis<br />

wurden aus der Stadt vertrieben, die<br />

»Beschwerdedörfer« der Petitionäre, derjenigen,<br />

die sich in Peking bei der Zentralregierung für<br />

in den Provinzen erlittenes Unrecht beschweren<br />

wollten, wurden abgerissen und die Petitionäre<br />

entweder interniert oder aber in ihre He<strong>im</strong>at<br />

verbracht.<br />

Um Peking herum waren mehrere Kontrollringe<br />

aufgebaut, um zu verhindern, dass<br />

unkontrolliert Bewohner der Provinzen nach<br />

Peking gelangten. Selbst die Bauern vom Land<br />

konnten ihr Gemüse nicht mehr auf die Märkte<br />

der Hauptstadt bringen. Die vom BOCOG<br />

angekündigten Protestzonen in drei Parks von<br />

Peking gerieten vollends zur Farce. In den 16<br />

Tagen der Olympischen Spiele gab es keinen<br />

Der <strong>ARD</strong>-Studioleiter in Peking, Jochen<br />

Graebert (M.), am 1. 8. bei Dreharbeiten in<br />

einem »Beschwerdedorf« vor Peking<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08


einzigen Protest, nicht weil es nicht Leute gegeben<br />

hätte, die protestieren wollten, sondern<br />

weil die Polizei alle 77 Anmeldungen ablehnte<br />

und in einigen Fällen die Anmelder auch gleich<br />

festnahm und mit Arbeitslager bedrohte. Und<br />

die vielen tausend Freiwilligen, die den ausländischen<br />

Journalisten gerne Interviews gaben,<br />

waren allesamt geschult und mit einem Leitfaden<br />

ausgestattet worden, in denen die »richtigen«<br />

Antworten für die möglichen Fragen der<br />

westlichen Medien schon vorgegeben waren.<br />

Das Peking der Olympischen Spiele war ein<br />

gesäubertes Peking, eines, das sich für die Augen<br />

der Weltöffentlichkeit <strong>im</strong> schönsten und<br />

strahlendsten Licht präsentieren wollte. Dazu<br />

passen auch die Fälschungen der Eröffnungsfeier:<br />

Das siebenjährige Mädchen mit der klaren<br />

St<strong>im</strong>me, das von einem Kader für zu hässlich<br />

befunden und von einem Kinder-Model ersetzt<br />

wurde. Oder die Minderheiten-Kinder der Eröffnungsfeier,<br />

die in Wahrheit Han-Chinesen in<br />

Kostümen waren. Oder das für das Fernsehen<br />

manipulierte Feuerwerk. Schein und Sein.<br />

Kameramann Dirk Vahldiek bei<br />

Aufnahmen in der völlig zerstörten Stadt<br />

Beichuan <strong>im</strong> Erdbebengebiet von Sichuan<br />

Dass eine inszenierte Wirklichkeit die Weltöffentlichkeit<br />

mehr stören könnte als die Wirklichkeit,<br />

daran glauben die chinesischen Kader<br />

nicht so recht, denn sie wissen um die Wirkungskraft<br />

ihrer Propaganda. Und sie könnte<br />

aufgegangen sein, sind nicht wenige der 20 000<br />

Journalisten abgereist mit dem Gedanken,<br />

dass man von einer Diktatur eigentlich nicht<br />

viel spüre, hauptsächlich mit zufriedenen und<br />

freundlichen Menschen in Kontakt gekommen<br />

sei und dass zu viel Kritik an China in der Tat<br />

ein falsches Bild schaffen würde.<br />

_ Exper<strong>im</strong>ent Pressefreiheit<br />

Tatsächlich hatte ein Ereignis in diesem Jahr<br />

Anlass zur Hoffnung gegeben, dass die Führung<br />

des Landes eine Öffnung aktiv vorantreibe:<br />

das Erdbeben in Sichuan am 12. 5. 2008. Mehr<br />

als 80 000 Menschen fanden den Tod unter<br />

Trümmern, Erdmassen und Felsbrocken. Und<br />

erstmals in der Geschichte Chinas waren die<br />

Journalisten der Welt eingeladen, offen über die<br />

Wahrheiten vor Ort zu berichten.<br />

Das <strong>ARD</strong>-Team traf gut 30 Stunden nach<br />

dem verheerenden Beben <strong>im</strong> Katastrophengebiet<br />

ein und stieß zunächst auf die übliche<br />

Ablehnung: Keine Bilder der zerstörten Häuser,<br />

keine Bilder von den aus Soldaten bestehenden<br />

Bergungstrupps. Auch am nächsten Morgen<br />

war alles so, wie es <strong>im</strong>mer in China war. Lokale<br />

Ordnungskräfte wollten das <strong>ARD</strong>-Team daran<br />

hindern, weiter ins Katastrophengebiet vorzu-<br />

stoßen, verknüpft mit der Drohung, ansonsten<br />

werde man die Kamera und das Equipment beschlagnahmen.<br />

Über Umwege ging es dennoch<br />

irgendwie dorthin, aber aus Sorge vor Beschlagnahmung<br />

filmte das Team erst einmal aus dem<br />

Auto und in weniger betroffenen Bereichen.<br />

Am Nachmittag erspähte das Team dann auch<br />

andere westliche Journalisten vor Ort, die offensichtlich<br />

ungehindert »draußen« arbeiten<br />

durften, und tat es nach; ohne Probleme, von<br />

diesem Moment an ging alles: Soldaten gaben<br />

bereitwillig Interviews, Straßensperren wurden<br />

eigens für die <strong>ARD</strong> geöffnet und selbst einen<br />

Satellitenwagen ohne Sendelizenz für Sichuan<br />

ließen die Chinesen ungehindert senden. Als<br />

Journalistischer Alltag in China <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 101


102<br />

Freiwillige Helfer bei den Olympischen<br />

Spielen, die von den chinesischen<br />

Organisatoren mit einheitlichen T-Shirts<br />

ausgestattet wurden<br />

drei Wochen nach dem Erdbeben die Eltern der<br />

in den zusammengestürzten »Tofuschulen« umgekommenen<br />

Kinder demonstrierten, selbst da<br />

wurden nur die Personalien überprüft und die<br />

Journalistenvisa kontrolliert.<br />

Bei aller Euphorie – frei von Überwachung<br />

war auch die Berichterstattung <strong>im</strong> Erdbebengebiet<br />

nicht. Kaum dort, wurde die chinesische<br />

<strong>ARD</strong>-Mitarbeiterin vom Gehe<strong>im</strong>dienst angesprochen<br />

und hatte dann Tag für Tag zu berichten,<br />

was das <strong>ARD</strong>-Team plant, welche Orte es<br />

besucht und wie lange die Reise noch andauern<br />

soll. Auch der lokale Fahrer bekam prompt einen<br />

Anruf.<br />

_ Die chinesischen Kollegen<br />

Es gehört in China zu den üblichen Methoden<br />

der Staatssicherheit, besonders bei heiklen<br />

Themen und Recherchen, die Mitarbeiter mit<br />

chinesischen Pässen unter Druck zu setzen: die<br />

schwächsten Glieder der Kette zuerst angreifen.<br />

So haben gerade die Fahrer, die von der <strong>ARD</strong><br />

vor Ort für ein paar Tage angemietet werden,<br />

berechtigte Angst, dass ihnen irgendwann die<br />

Lizenz und damit die Lebensgrundlage entzo-<br />

gen wird. Das muss man <strong>im</strong> journalistischen<br />

Alltag Chinas leider auch <strong>im</strong>mer wieder bedenken.<br />

Von den Freiheiten, die ausländische Journalisten<br />

<strong>im</strong> allgemeinen in China genießen, können<br />

die chinesischen Kollegen nur träumen.<br />

Die meisten leben mit der »Schere <strong>im</strong> Kopf«<br />

und geraten deswegen nicht in Schwierigkeiten.<br />

Aber sie haben ein untrügliches Gefühl dafür,<br />

wann die Politik Freiräume für Diskussion und<br />

Kritik öffnet. Sofort werden sie eingenommen<br />

und gefüllt, die chinesische Berichterstattung<br />

über das Erdbeben ist ein Beispiel. Soviel Offenheit<br />

die chinesische Regierung den ausländischen<br />

Journalisten gewährte, soviel Freiheit<br />

schenkte sie auch zunächst den chinesischen<br />

Kollegen. Aber viel früher als bei den westlichen<br />

Journalisten wurden die Zügel wieder angezogen.<br />

Kritik an Korruption und Baumängeln<br />

wurde über die Wochen <strong>im</strong>mer seltener. Heute<br />

sind vor allem Berichte über die eingestürzten<br />

Schulen nicht mehr erwünscht. Einer, der <strong>im</strong><br />

Internet Fotos der vielen Tausend zerstörten<br />

Schulen systematisch sammelte und veröffent-<br />

lichte, wurde Ende Juli für ein Jahr ins Arbeitslager<br />

verschleppt. Eine deutliche Warnung an<br />

die anderen.<br />

_ Nach-olympische Zukunft<br />

Chinas jüngere Geschichte ist reich an politischen<br />

Richtungswechseln. Was heute gilt, ist<br />

morgen verpönt und umgekehrt. Freiheiten,<br />

die einmal gewährt wurden, können jederzeit<br />

widerrufen werden. Die Reisefreiheit für ausländische<br />

Journalisten ist bis Mitte Oktober 2008<br />

begrenzt, dann muss die chinesische Regierung<br />

entscheiden, ob sie weiter diesen aus ihrer<br />

Sicht riskanten Weg der Offenheit beschreitet.<br />

Sie tun sich sehr schwer damit, bedeutet doch<br />

Freiheit gleichzeitig auch Kontrollverlust. Es<br />

ist auch eine Frage, wer sich in der politischen<br />

Führung eher durchsetzen kann – die Hardliner,<br />

die Falken, oder die Reformer, die Tauben.<br />

Die Reisefreiheit ist eine der wichtigsten Fragen<br />

der näheren journalistischen Zukunft in China,<br />

man kann nur hoffen, dass sie bleibt.<br />

Ariane Re<strong>im</strong>ers, Redakteurin in der<br />

NDR-Auslandsredaktion<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08


Mit einem Großaufgebot an Technik und Manpower<br />

berichteten <strong>ARD</strong> und ZDF über die Olympischen<br />

Sommerspiele vom 8. bis 24. August und die Para lympics<br />

vom 6. bis 17. September 2008 in Peking. Marktanteile<br />

von zeitweise mehr als 40 Prozent, beispielsweise<br />

be<strong>im</strong> Kunsttturnen der Frauen (41,0 Prozent) und dem<br />

Reckfinale der Männer (45,1 Prozent), zeugten<br />

trotz der Zeitverschiebung von sechs Stunden von dem<br />

heraus ragenden Zuschauerinteresse.<br />

Olympia <strong>im</strong> Bild<br />

Die Sommerspiele und Paralympics in Peking<br />

Von Walter Johannsen<br />

N<br />

ach Tokio 1964 und Seoul 1988 wurden<br />

die Olympischen Sommerspiele<br />

der Neuzeit zum dritten Mal in<br />

Asien ausgetragen. Bei den Produktionen<br />

in China handelte es sich um ein besonders<br />

großes und aufwändiges Projekt. Wie bereits<br />

für die Spiele in Montreal 1976, Seoul 1988<br />

und Sydney 2000 war dem NDR die Federführung<br />

übertragen worden. Damit lagen alle Planungen<br />

für Technik, Produktion und Programm<br />

<strong>im</strong> Auftrag der <strong>ARD</strong> be<strong>im</strong> NDR. Wie <strong>im</strong>mer<br />

wurde Personal für Technik und Produktion<br />

gemeinsam von <strong>ARD</strong> und ZDF genutzt. Die<br />

Ausnahme bildeten jeweils die getrennt operierenden<br />

Sportredaktionen beider Häuser.<br />

BOB (Beijing Olympic Broadcasting) erstellte<br />

das Signal von den Wettkampfstätten mit<br />

insgesamt rund 60 Ü-Wagen. <strong>ARD</strong> und ZDF<br />

ergänzten das so genannte Weltbild mit 40 unilateralen<br />

Kameras, die in den drei Studios sowie<br />

be<strong>im</strong> Rudern, der Leichtathletik, dem Schw<strong>im</strong>men<br />

und den Reiterwettbewerben, die in Hongkong<br />

stattfanden, eingesetzt wurden. Außerdem<br />

standen mobile Kamera-Teams in den Mixed-<br />

Zonen am Bahnrad-Oval, be<strong>im</strong> Straßen-Radrennen,<br />

Turnen und Tischtennis.<br />

Im IBC (International Broadcasting Center)<br />

verfügten <strong>ARD</strong> und ZDF auf mehr als 2 300 m²<br />

über gemeinsame Studios, Schnitt- und Sendekapazitäten,<br />

die <strong>im</strong> Wechsel genutzt wurden.<br />

Die Programm- und Produktionszentrale sowie<br />

die technische Schaltzentrale von <strong>ARD</strong> und<br />

ZDF waren <strong>im</strong> IBC in Peking untergebracht.<br />

Der Hauptschaltraum hat aus den verschiedenen<br />

Wettkampfstätten (Venues) täglich bis<br />

Olympia <strong>im</strong> Bild <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 103


104<br />

zu 25 parallel geführte Fernsehsignale des Hostbroadcasters<br />

BOB sowie die Bilder der eigenen<br />

Kameras empfangen. In der angeschlossenen<br />

Senderegie wurde daraus dann das für unsere<br />

Zuschauer wichtige Sendesignal für Das Erste<br />

und das ZDF zusammengestellt.<br />

Für den federführenden NDR bildeten die<br />

Übertragungen der Spiele in Peking die größte<br />

Herausforderung in seiner über 50-jährigen Geschichte.<br />

Zweieinhalb Jahre hatte sich das Team<br />

von <strong>ARD</strong> und ZDF auf die Spiele in Peking<br />

vorbereitet. Vom Tagfahrverbot für LKW, über<br />

erhebliche Zollbeschränkungen bis hin zu Problemen<br />

bei der Akkreditierung von Mitarbeitern<br />

gab es erhebliche Hürden, die bis zum Beginn<br />

der Spiele genommen werden mussten.<br />

Britta Steffen (M.) <strong>im</strong> Interview mit<br />

Ralf Scholt und Franziska van Almsick<br />

nach ihrem Sieg über 100 m Freistil-<br />

Schw<strong>im</strong>men<br />

Jan Frodeno gewann in Peking das<br />

erste Olympia-Gold für Deutschlands<br />

Triathleten, hier bei der zweiten<br />

Disziplin, dem 180-km-Radrennen.<br />

Anders als bei Olympischen Spielen auf<br />

dem europäischen Kontinent wurden keine eigenen<br />

oder angemieteten Ü-Wagen eingesetzt.<br />

Sowohl Import-Beschränkungen als auch Anmietzeiträume<br />

schlossen dies aus. Jede Kamera,<br />

jeder Schnittplatz und weitere Fernseh- und<br />

Kommunikationstechnik musste mit dem<br />

Schiff oder per Luftfracht nach China transportiert<br />

werden. Erstmals bei Olympischen Spielen<br />

erfolgte die komplette Signalerstellung und Verarbeitung<br />

ausschließlich digital.<br />

<strong>ARD</strong> und ZDF wechselten sich, wie üblich<br />

bei Sportereignissen dieser Größenordnung,<br />

täglich bei der Berichterstattung ab. Die Eröffnungsfeier<br />

wurde am 8. 8. 2008 <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong> übertragen,<br />

die <strong>ARD</strong> war dann auch zuständig für<br />

den ersten Wettkampftag. Am 10. 08. übernahm<br />

turnusgemäß das ZDF und dann folgte ein täglicher<br />

Wechsel zwischen <strong>ARD</strong> und ZDF bis zur<br />

Schlussfeier am 24. 8. 2008.<br />

Den Auftakt der umfassenden Berichterstattung<br />

aus Peking bildete die Übertragung der<br />

Eröffnungsfeier <strong>im</strong> Nationalstadion von Peking.<br />

Monica Lierhaus (<strong>im</strong> Stadion) und Reinhold<br />

Beckmann (<strong>im</strong> IBC) moderierten, Sandra<br />

Maischberger und Ralf Scholt kommentierten<br />

die Sendung von 13.00 bis 18.45 Uhr. 7,7 Millionen<br />

Zuschauer (52,3 Prozent Marktanteil) verfolgten<br />

die Übertragung, be<strong>im</strong> Einmarsch der<br />

Deutschen Nationalmannschaft waren es sogar<br />

9,1 Millionen.<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08


_ Umfassende Berichterstattung<br />

Und so sah das Programmkonzept der <strong>ARD</strong><br />

aus:<br />

_ Im Vordergrund der Berichterstattung standen<br />

natürlich die Live-Übertragungen der diversen<br />

Sportarten. »Olympia live« begann in der<br />

Regel gegen 2.00 Uhr MESZ (8.00 Uhr in Peking)<br />

und dauerte bis etwa 17.30 Uhr. In der<br />

Moderation wechselten sich Monica Lierhaus<br />

(Foto unten r.) und Michael Antwerpes (Foto<br />

unten l.) <strong>im</strong> von <strong>ARD</strong> und ZDF gemeinsam<br />

genutzten Studio <strong>im</strong> IBC ab. Die Live-Übertragungen<br />

aus Peking erreichten zusammen <strong>im</strong><br />

Schnitt einen Marktanteil von 27,6 Prozent bei<br />

einer Zuschauerzahl von 2,1 Millionen.<br />

_ Anschließend an die Liveberichterstattung<br />

folgte die Zusammenfassung mit den Höhepunkten<br />

des jeweiligen Olympiatags. Sie war vor<br />

allem auf jene Zuschauer zugeschnitten, die<br />

tagsüber keine Gelegenheit fanden, die Be richterstattung<br />

aus Peking zu verfolgen. »Olym pia extra«<br />

wurde von Reinhold Beckmann moderiert.<br />

An den fünf Wochentagen endete diese Sendung<br />

um 19.45 Uhr, an den drei Wochenendtagen<br />

z. B. wegen der regulä ren »Sportschau«<br />

(mit Fußball) etwas früher. »Olympia extra«<br />

sahen durchschnittlich 2,5 Millionen Menschen<br />

pro Ausgabe.<br />

_ Den Abschluss des Tages bildete das Gespann<br />

»Waldi und Harry«, das die Zuschauer<br />

aus einem zum Studio umfunktionierten Ball-<br />

saal <strong>im</strong> Hotel Kempinski auf humorvolle Weise<br />

über die Ereignisse des Tages informierte.<br />

»Waldi und Harry« lockten zu später Stunde <strong>im</strong><br />

Durchschnitt noch einmal 1,7 Millionen Zuschauer<br />

vor die Geräte.<br />

_ An insgesamt sechs Sendetagen, beginnend<br />

mit dem 13. 8., blickte Michael Dittrich auf die<br />

Olympischen Sommerspiele von 1896 bis 2004<br />

zurück. Die »Olympischen Geschichte(n)« erinnerten<br />

an herausragende Leistungen und ließen<br />

auch erfolgreiche deutsche Olympia-Teilnehmerinnen<br />

und -Teilnehmer zu Wort kommen.<br />

Die Beiträge liefen jeweils nach dem »Nachtmagazin«<br />

und vor Beginn der Live-Übertragungen.<br />

_ Zusätzlich wurden die Zuschauer <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong><br />

ausführlich durch die Kollegen von »Morgenmagazin«,<br />

»Mittagsmagazin« und <strong>ARD</strong>-aktuell<br />

auf dem Laufenden gehalten. Das Sendevolumen<br />

<strong>im</strong> <strong>Ersten</strong> betrug damit etwas mehr als 150<br />

Stunden.<br />

Hinzu kommt die Berichterstattung auf den<br />

Digitalkanälen von <strong>ARD</strong> und ZDF. Insgesamt<br />

wurden aus Peking 40 Stunden pro Tag auf<br />

EinsFestival, EinsPlus sowie auf ZDFDoku und<br />

ZDFInfo gesendet. Dabei standen die vielen<br />

sportlichen Entscheidungen, über die in den<br />

Hauptprogrammen wegen der großen Anzahl<br />

von Wettbewerben nicht ausführlich berichtet<br />

werden konnte, <strong>im</strong> Mittelpunkt.<br />

_ Fazit<br />

Die <strong>ARD</strong> zieht eine positive Bilanz ihrer Berichterstattung<br />

von den Olympischen Spielen<br />

2008 in Peking. NDR-Intendant Lutz Marmor<br />

verwies auf das herausragende Zuschauerinteresse<br />

trotz der Zeitverschiebung von sechs Stunden.<br />

»Die Übertragungen der Wettbewerbe <strong>im</strong><br />

<strong>Ersten</strong> haben Marktanteile von mehr als 40 Prozent<br />

erzielt – bis zu fünf Millionen Zuschauer<br />

fieberten mit, wenn die Deutschen Athleten<br />

um Medaillen kämpften«, so Marmor. In ei-<br />

Olympia <strong>im</strong> Bild <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 105


106<br />

ner gemeinsam von <strong>ARD</strong> und ZDF in Auftrag<br />

gegebenen Begleitstudie zu den Olympischen<br />

Spielen wurden 1 000 repräsentativ ausgewählte<br />

Bundesbürger vom IFAK-Institut um ihre Meinung<br />

zu den Übertragungen aus Peking befragt.<br />

Dabei bewerteten die Befragten die Berichterstattung<br />

insgesamt sehr positiv.<br />

Bundespräsident Horst Köhler (M.)<br />

während der Paralympics zu Besuch <strong>im</strong><br />

International Broadcast Centre IBC,<br />

mit Moderator Andreas Käckell (l.) und<br />

Regisseur Markus Verhall<br />

70 Prozent der Olympia-Zuschauer vergaben<br />

die beiden Bestnoten »sehr gut« oder »gut«. Die<br />

14- bis 29-jährigen waren besonders zufrieden.<br />

Bei ihnen lag der Anteil der Bestnoten sogar bei<br />

75 Prozent. Ausschlaggebend für das positive<br />

Gesamturteil war demnach in erster Linie die<br />

Machart der Berichterstattung, die einmütig<br />

als »professionell« bewertet wurde. Über 90<br />

Prozent lobten in dieser Studie die umfassende<br />

<strong>Information</strong>sleistung und die Bildauswahl.<br />

Außerdem würdigten die Befragten den Balanceakt<br />

zwischen kritischer Berichterstattung und<br />

Vermittlung der emotionalen Komponente. Die<br />

Die beinamputierte Schw<strong>im</strong>merin Natalie<br />

du Toit aus Südafrika hatte sich sowohl<br />

für die Olympischen Spiele als auch für die<br />

Paralympics qualifiziert. Im olympischen<br />

Langstreckenschw<strong>im</strong>men errang sie den 16.<br />

Platz, bei den Paralympics gewann sie drei<br />

Goldmedaillen.<br />

große Mehrheit lobte die distanzierte Perspektive<br />

und konnte sich trotzdem von der olympischen<br />

St<strong>im</strong>mung anstecken lassen.<br />

Über die knapp zwei Wochen später stattfindenden<br />

Paralympics (6. bis 17. 9 .2008) berichteten<br />

Das Erste und EinsFestival in täglichem<br />

Wechsel mit dem ZDF in einem bisher nicht da<br />

gewesenen Umfang. Zum ersten Mal boten die<br />

chinesischen Veranstalter die Möglichkeit, aus<br />

fünf Sportstätten live zu berichten. Insgesamt<br />

erreichte die <strong>ARD</strong> mit einer Mischung aus Live-<br />

und Magazinsendungen <strong>im</strong> Hauptprogramm<br />

und auf EinsFestival ein Sendevolumen von<br />

mehr als 100 Stunden.<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08<br />

Walter Johannsen, Olympia-Teamchef <strong>ARD</strong>/<br />

ZDF, Sportchef Fernsehen be<strong>im</strong> NDR


Mehr als 26 Millionen Menschen haben sich täglich<br />

<strong>im</strong> Radio über die Olympischen Spiele in Peking<br />

informiert. Das <strong>ARD</strong>-Reporterteam produzierte für<br />

den Hörfunk rund 4 500 Reportagen, Beiträge,<br />

Interviews, Nachrichtenstücke, Collagen und Live-<br />

Gespräche – eine eindrucksvolle Bilanz. Das <strong>ARD</strong>-<br />

Olympiaangebot www.peking.<strong>ARD</strong>.de wurde seit sei-<br />

nem Start mehr als 11,7 Millionen Mal angeklickt, der<br />

Fernseh-Livestream mehr als 1,7 Millionen Mal ange-<br />

sehen.<br />

Olympia zum Hören<br />

Die Sommerspiele in Peking <strong>im</strong> Radio und Online<br />

Von Alexander Bleick<br />

U<br />

we Castner ist in seinem Element.<br />

Mit den Augen fixiert der erfahrene<br />

Regisseur des SWR die Studiouhr<br />

und lauscht der Reportage von Turnreporter<br />

Volker Hirth (HR), der beschreibt, wie<br />

Europameister Fabian Hambüchen blass und<br />

zusammengesunken auf seinem Stuhl sitzt und<br />

darum bangt, ob seine Kür am Reck zu einer<br />

Medaille gereicht hat. Gleichzeitig dringt die<br />

St<strong>im</strong>me von Günther Schroth (SWR) aus dem<br />

Lautsprecher. Gewichtheber Matthias Steiner<br />

schickt sich an, Olympiasieger in der Klasse<br />

über 105 kg zu werden. 258 kg hat der Hüne aus<br />

Chemnitz auflegen lassen. Bringt er das Gewicht<br />

zur Hochstrecke, dann hat er Gold. Günther<br />

Schroth will mit seiner Reportage beginnen,<br />

aber noch steht die Entscheidung in der<br />

Turnhalle aus. Aus Hongkong meldet sich Jörg<br />

Tegelhütter: »Gleich kommt Isabell Werth«,<br />

meldet der Reitsportexperte des NDR. Auch für<br />

sie geht es um eine Medaille.<br />

19. 8. 2008: In der Live-Regie des <strong>ARD</strong>-<br />

Hörfunkteams ist die Spannung fast mit Händen<br />

greifbar. Vor Uwe Castner steht ein grauer<br />

Kasten in der Größe eines Schuhkartons mit<br />

Mikrofon und zahlreichen gelb leuchtenden<br />

Knöpfen. Hinter jedem verbirgt sich eine Kommandoleitung<br />

zu einer Wettkampfstätte. Es ist<br />

kurz nach 19.00 Uhr in Peking. Innerhalb weniger<br />

Minuten entscheiden sich drei aus deutscher<br />

Sicht sehr wichtige Wettbewerbe bei den<br />

Olympischen Sommerspielen. Mit kurzen, präzisen<br />

Kommandos steuert Castner die Reporter,<br />

damit die Programme in Deutschland sich exakt<br />

auf die mit Spannung erwarteten Reportagen<br />

aufschalten können.<br />

Olympia zum Hören <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 107


108<br />

_ Von Hamburg nach Peking<br />

Szenenwechsel: Im Studio 2 des NDR hört<br />

Moderator Björn Lindert das Kommando aus<br />

Peking. »In 60 Sekunden ab jetzt« beginnt die<br />

nächste Live-Konferenz der Reporter vom Turnen,<br />

Gewichtheben und Dressurreiten. Lindert<br />

ist einer der drei Moderatoren des <strong>ARD</strong> Olympiaradios.<br />

Er kündigt die Konferenzschaltung<br />

an und behält dabei den Sekundenzeiger der<br />

Uhr <strong>im</strong> Auge. Um exakt 13.24 Uhr und 59 Sekunden<br />

ist er mit seiner Moderation fertig.<br />

Eine Sekunde später beginnt Reporter Günther<br />

Schroth in Peking.<br />

Das »<strong>ARD</strong> Olympiaradio« war ein Teil des<br />

umfangreichen Angebots der Berichterstattung<br />

von den Olympischen Sommerspielen in Peking.<br />

Vom 9. bis 24. 8. wurde dieses vom NDR<br />

verantwortete Programm täglich zwischen 5.00<br />

und 18.00 Uhr vom NDR (NDR Info Spezial,<br />

der Mittelwelle), WDR (WDR Event), BR<br />

(B5plus), HR, Radio Bremen, SR (Antenne<br />

Saar), Deutschlandfunk und Deutschlandradio<br />

Kultur über Mittel- oder Langwelle, DVB-S<br />

Radio und DAB gesendet. Verbreitet wurde<br />

das »<strong>ARD</strong>-Olympiaradio« außerdem als Live-<br />

Stream <strong>im</strong> Internet über www.peking.ard.de.<br />

Während der Sommerspiele in Peking fielen<br />

die meisten Entscheidungen wegen der Zeitdifferenz<br />

in den frühen Morgen-, Mittags- oder<br />

Nachmittagsstunden. Viele Menschen waren<br />

daher nur punktuell in der Lage, sich live <strong>im</strong><br />

Fernsehen über die Wettbewerbe zu informieren.<br />

Dem Radio kam damit eine besondere Bedeutung<br />

zu. Mit spannenden Live-Reportagen,<br />

Hintergrundberichten, Interviews, regelmäßigen<br />

Zusammenfassungen und Weltnachrichten zur<br />

vollen Stunde hat das »<strong>ARD</strong> Olympiaradio«<br />

eine Lücke <strong>im</strong> Angebot geschlossen.<br />

_ Täglich 26 Millionen Hörer<br />

Zurück in Peking: Am zentralen Redaktionstisch,<br />

dem sogenannten »Desk«, beraten die<br />

Redakteure Holger Gerska (NDR) und Marcus<br />

Tepper (WDR) darüber, wie die Schwerpunkte<br />

der Beiträge für den Abend und – noch wichtiger<br />

– den frühen Morgen in Deutschland, die<br />

Radio-Pr<strong>im</strong>e T<strong>im</strong>e, gewichtet werden. Reporterin<br />

Andrea Otto (BR) wird beauftragt, sich an<br />

die Fersen des Olympiasiegers Matthias Steiner<br />

zu heften. Wie wird er feiern, wer wird ihm gratulieren,<br />

welche Interviews wird er geben? Ein<br />

Porträt des »stärksten Mannes der Welt« ist bereits<br />

vorbereitet und wird umgehend der <strong>ARD</strong><br />

angeboten. Auch der erneute Patzer des großen<br />

Favoriten Fabian Hambüchen am Reck soll<br />

»weitergedreht« werden. Der geplatzte Traum<br />

vom Gold, so lautet der Arbeitstitel. Holger<br />

Gerska bespricht Stoßrichtung und Details der<br />

Geschichte mit Felix Mansel (SWR), der Fabian<br />

Hambüchen während der Wettbewerbe in der<br />

olympischen Turnhalle begleitet hat. Aus dem<br />

Fußballstadion meldet Jens Wolters (NDR) cha-<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08<br />

Das International Braodcast Centre (IBC)<br />

in Peking, mit einer Gesamtfläche von<br />

140 000 m 2 das größte in der bisherigen<br />

Olympia-Geschichte, bot Platz für rund 12 o00<br />

Mitarbeiter der Rundfunkanstalten aus der<br />

ganzen Welt (Foto l.).<br />

Drangvolle Enge auf der Reportertribüne<br />

<strong>im</strong> Nationalen Wassersport-Zentrum Peking,<br />

bekannt als der »Water Cube«


otische Zustände bei der Halbfinalpartie zwischen<br />

Brasilien und Argentinien. Auch dieses<br />

Thema wird in das Angebot mit aufgenommen,<br />

das alle zehn Minuten aktualisiert <strong>im</strong> Internet<br />

veröffentlicht wird. Sieben Beiträge werden<br />

noch am Abend produziert, weitere sechs Storys<br />

für den nächsten Morgen fertiggestellt.<br />

Die Nachfrage nach Beiträgen, Gesprächen<br />

und Reportagen von den Olympischen Sommerspielen<br />

in den Hörfunkprogrammen der<br />

<strong>ARD</strong> war außergewöhnlich groß. Mehr als 50<br />

Programme haben über Olympia berichtet. Bis<br />

zu 26 Millionen Menschen haben sich täglich<br />

<strong>im</strong> Radio über die Olympischen Spiele informiert.<br />

Damit wurden deutlich mehr Menschen<br />

erreicht, als über das Fernsehen.<br />

Schwerpunkte der Berichterstattung waren<br />

sowohl aktuelle als auch sportliche Themen.<br />

Während <strong>im</strong> Vorfeld der Spiele die Menschenrechte,<br />

Pressefreiheit und die Sicherheit in<br />

Peking <strong>im</strong> Vordergrund standen, änderte sich<br />

der Nachfrageschwerpunkt bei den meisten<br />

Programmen mit Beginn der Spiele. Das <strong>ARD</strong>-<br />

Hörfunkteam hat aus Peking mehr als 600<br />

Beiträge und Kommentare angeboten. Hinzu<br />

kamen 1 245 Nachrichtenstücke.<br />

_ Exklusivgespräche <strong>im</strong> Akkord<br />

Während die Redakteure am Desk am Angebot<br />

feilen, hat Sabine Töpperwien die Tür hinter<br />

sich geschlossen. Die erfahrene Reporterin des<br />

WDR sitzt <strong>im</strong> Exklusivstudio, auf 1,5 qm. Vor<br />

sich zwei Fernsehmonitore, einen Ergebnisbildschirm,<br />

eine O-Ton-Datenbank, ein Telefon,<br />

Kopfhörer und Mikrofon. Routiniert und fröhlich<br />

begrüßt sie auf der Leitung den nächsten<br />

Sender. 20 Sekunden noch, dann beginnt das<br />

Gespräch: »Warum haben Fabian Hambüchen<br />

die Nerven versagt?«, »Was hat es mit dem Foto<br />

auf sich, das Gewichtheber Matthias Steiner<br />

bei der Siegerehrung hochgehalten hat?«, »Wie<br />

kommen die Pferde mit der Hitze in Hongkong<br />

zurecht?« und »Wie geht es den Tibet-<br />

Aktivisten, die zwei Tage zuvor festgenommen<br />

worden sind?« – das sind die Fragen, die Frau<br />

Töpperwien innerhalb von drei Minuten beantwortet.<br />

Dann ist die gebuchte Zeit vorbei. Im<br />

Fünf-Minuten-Rhythmus wechseln sich die Programme<br />

auf der Leitung ab. Der nächste Sender,<br />

die Welle Nord des NDR, möchte wissen<br />

wie die Kieler Volleyballerinnen Okka Rau und<br />

Stephanie Pohl abgeschnitten haben. Die <strong>im</strong><br />

Reporter Edgar Endres be<strong>im</strong> Beachvolleyball<br />

(Foto o.); Sprint-Olympiasieger Usain Bolt be<strong>im</strong><br />

Radio interview (M.); Marcus Tepper und Holger<br />

Gerska am Redaktionsdesk <strong>im</strong> IBC<br />

Olympia zum Hören <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 109


110<br />

peking.<strong>ARD</strong>.de<br />

Olympische Spiele <strong>im</strong> Netz<br />

Dabei sein ist alles? Dem gemeinhin als<br />

olympisch bezeichneten Motto folgend<br />

hat der NDR als <strong>ARD</strong>-Federführer für die<br />

Berichterstattung zu den Olympischen<br />

Spielen unter peking.<strong>ARD</strong>.de auch <strong>im</strong> Netz<br />

für eine umfassende Begleitung des größten<br />

Sportfestes der Welt gesorgt. »Live<br />

dabei sein« genau genommen, denn die<br />

vom IOC neben den Fernseh- und Radiorechten<br />

erworbenen weitreichenden Online-Verwertungsrechte<br />

ließen Live- und<br />

On-Demand-Streams zu Highlights der<br />

Website werden.<br />

Live gestreamt wurden sämtliche<br />

»Olympia live«-Sendungen <strong>im</strong> Hauptpro-<br />

gramm der <strong>ARD</strong> sowie das Olympia-Pro-<br />

gramm auf den beiden Digitalkanälen<br />

EinsPlus und EinsFestival. Die Kultsendung<br />

»Waldi und Harry« <strong>im</strong> »Best of«-Zusammenschnitt,<br />

das stündlich aktualisierte<br />

Olympia-Telegramm sowie ausgewählte<br />

Entscheidungen in den olympischen Kern-<br />

sportarten wie Leichtathletik, Schw<strong>im</strong>-<br />

men, Rudern, Radsport und Kanu standen<br />

als Video on Demand zur Verfügung.<br />

Elf Stunden und bei Bedarf noch länger<br />

war das <strong>ARD</strong> Olympiaradio auch <strong>im</strong> Netz<br />

auf Sendung. Geboten wurden Live-Reportagen<br />

aller wichtigen Wettbewerbe, dazu<br />

Interviews, Hintergrundberichte, Porträts,<br />

Gespräche mit Olympiaexperten und zu<br />

jeder vollen Stunde Nachrichten. Ein Liveticker<br />

informierte darüber hinaus in Kürze<br />

über alles Wichtige des olympischen Wettkampftags.<br />

Gut angenommen wurde auch der <strong>ARD</strong><br />

Olympia-Blog, für dessen Realisierung sich<br />

der NDR be<strong>im</strong> IOC stark gemacht hatte.<br />

Die Protagonisten, Ex-Zehnkämpfer Frank<br />

Busemann, die aus China stammende<br />

Badminton-Europameisterin Huaiwen Xu<br />

sowie die jungen deutschen Beachvolleyball-Europameisterinnen<br />

Sara Goller und<br />

Laura Ludwig, warteten täglich mit ganz<br />

persönlichen Notizen aus der chinesischen<br />

Hauptstadt auf.<br />

Jürgen Werwinski<br />

Schichtdienst arbeitenden Reporterinnen Martina<br />

Knief (HR), Sabine Töpperwien (WDR)<br />

und Reporter Martin Roschitz (NDR) haben<br />

auf jede Frage die passende Antwort.<br />

Die Exklusivgespräche erfreuen sich <strong>im</strong>mer<br />

größerer Beliebtheit. Insgesamt 48 Radiowellen<br />

haben bei den Spielen in Peking die Möglichkeit<br />

zum direkten Gespräch mit den Experten<br />

vor Ort genutzt. Mehr als 1 400 Gespräche<br />

wurden geführt. Die Nachfrage der Radioprogramme<br />

hat <strong>im</strong> Vergleich zur Fußball-Europameisterschaft<br />

oder zu den vorangegangenen<br />

Spielen 2004 in Athen nochmals deutlich zugenommen.<br />

Quantitativ und qualitativ hat das Hörfunkangebot<br />

aus Peking Maßstäbe gesetzt. Fast 4 500<br />

Reportagen, Beiträge, Interviews, Nachrichtenstücke,<br />

Collagen und Live-Gespräche wurden<br />

für die <strong>ARD</strong> produziert. Die Qualität der Beiträge<br />

war durchweg sehr hoch. Dies lag auch an<br />

den hervorragenden Arbeitsbedingungen, die<br />

ein erfahrenes Team aus Produktion und Technik<br />

aus mehreren Landesrundfunkanstalten der<br />

<strong>ARD</strong> <strong>im</strong> Internationalen Radio- und Fernsehzentrum<br />

(IBC) auf engstem Raum geschaffen<br />

hatte. »So macht das Arbeiten Spaß«, reibt sich<br />

Regisseur Uwe Castner die Hände, als die nächste<br />

Konferenzschaltung fehlerfrei geklappt hat.<br />

»Diese Spiele werden unvergesslich bleiben.«<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08<br />

Eva Polter, NDR-Toningenieurin, am Mischpult<br />

Alexander Bleick, <strong>ARD</strong>-Teamchef Hörfunk,<br />

Sportchef Hörfunk be<strong>im</strong> NDR


Ein deutsch-afghanischer Hauptkommissar aus Düs-<br />

seldorf, der neben Deutsch auch Arabisch spricht, eine<br />

burschikose Hauptkommissarin aus Bremen, allein-<br />

erziehend mit Tochter, der bayerische Polizeiober meister<br />

Rudi Egger und seine junge Kollegin aus Bruck am Inn,<br />

der wortkarge Südbadener Kr<strong>im</strong>inaloberrat Xaver<br />

Finkbeiner in Stuttgart, die Hamburger Kr<strong>im</strong>inalhaupt-<br />

kommissarin Bettina Breuer und ihr Team, der eigen-<br />

brötlerische Jost Fischer, Hauptkommissar in Magdeburg<br />

– das sind einige der Ermittler in den ersten Folgen der<br />

Reihe »<strong>ARD</strong> Radio Tatort«.<br />

Seit sich vor über 150 Jahren die Kr<strong>im</strong>inalliteratur als<br />

eigenes Genre etablierte, wuchs die Begeisterung des<br />

Publikums für spannende Geschichten, in denen das<br />

Verbrechen und seine Aufklärung <strong>im</strong> Mittelpunkt der<br />

Handlung stehen, stetig. Seit Beginn des Jahres können<br />

sich die Kr<strong>im</strong>i-Fans nun über ein neues anspruchsvolles<br />

Hörspielprojekt in den <strong>ARD</strong>-Kulturwellen freuen.<br />

Ein »Tatort« für die Ohren<br />

Ein Zwischenbericht vom Gemeinschaftsprojekt »<strong>ARD</strong> Radio Tatort«<br />

Von Ekkehard Skoruppa<br />

K<br />

r<strong>im</strong>inalhörspiele sind populär. Das<br />

zeigen Hörerpost und Einschaltquoten,<br />

Erfolge auf dem Hörbuchmarkt<br />

und die Besucherzahlen bei öffentlichen<br />

Vorführungen. Dennoch hat die Anzahl<br />

der Sendeplätze für den Radiokr<strong>im</strong>i in der <strong>ARD</strong><br />

über die Jahre eher abgenommen. Die zugänglichste<br />

Spielform des Hörspiels war nicht mehr<br />

ganz so häufig und prominent platziert wie in<br />

früheren Zeiten. Ganz anders das Fernsehen:<br />

Ob es öffentlich-rechtliche oder private Sender<br />

sind – in ihren Programmangeboten nehmen<br />

Kr<strong>im</strong>i-Stoffe eine wichtige Position ein. Sie zählen<br />

zu den bedeutendsten Elementen der Programmgestaltung.<br />

_ Eine ganz spezielle Kr<strong>im</strong>i-Reihe brauchte ihre Zeit<br />

Seit Januar 2008 hat das populäre Genre auch<br />

<strong>im</strong> Hörfunk wieder an Bedeutung und Breitenwirkung<br />

gewonnen. Erstmals ging der »<strong>ARD</strong><br />

Radio Tatort« in einer zeitgleichen Ausstrahlung<br />

von neun Kultur- und Wortprogrammen der<br />

<strong>ARD</strong> auf Sendung. Seither kommt die gemeinschaftlich<br />

von allen Landesrundfunkanstalten<br />

getragene Reihe monatlich mit einer neuen<br />

Folge in die Programme. Nicht zeitgleich, wie<br />

zum Auftakt, aber doch innerhalb eines kurzen<br />

Zeitraums. Sendeplätze sind die regulären<br />

Kr<strong>im</strong>i- bzw. Hörspieltermine auf Bayern 2, hr2,<br />

MDR FIGARO, NDR Info, SR 2 KulturRadio,<br />

Radio Tatort <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 111


112<br />

Die Sendetermine des <strong>ARD</strong> Radio Tatorts<br />

Stand September 2008<br />

Der »<strong>ARD</strong> Radio Tatort« wird einmal monatlich<br />

ausgestrahlt. Die neuen Folgen<br />

starten zumeist in der dritten Woche eines<br />

Monats und sind innerhalb von fünf Tagen<br />

auf den jeweiligen Kr<strong>im</strong>i- bzw. Hörspiel-<br />

Sendeplätzen der beteiligten Programme<br />

zu hören:<br />

Bayern 2: mittwochs, 20.30 Uhr, Wiederholung:<br />

donnerstags, 21.30 Uhr<br />

hr2-kultur: sonntags, 22.00 Uhr<br />

MDR FIGARO: sonntags, 22.00 Uhr<br />

NDR Info: samstags, 21.05 Uhr<br />

Nordwestradio (Radio Bremen/NDR):<br />

mittwochs, 19.05 Uhr<br />

Bremen Vier: mittwochs, 23.05 Uhr<br />

Kulturradio (RBB): montags, 22.04 Uhr<br />

Radioeins (RBB): dienstags, 20.05 Uhr<br />

SR 2 KulturRadio: donnerstags, 20.04 Uhr<br />

SR 1 Europawelle: montags, 21.03 Uhr<br />

SWR2: donnerstags, 21.03 Uhr<br />

DASDING (SWR): donnerstags, 22.00 Uhr<br />

WDR 5: samstags, 10.05 Uhr, Wiederholung:<br />

samstags, 23.05 Uhr<br />

SWR2 und WDR 5 sowie eigens eingerichtete<br />

Zusatztermine auf Nordwestradio (Radio Bremen/NDR)<br />

und <strong>im</strong> Kulturradio des RBB. Die<br />

meisten Häuser senden zudem kurzfristig Wiederholungen,<br />

auch auf anderen Wellen.<br />

Das Gemeinschaftsprojekt ist ein Novum <strong>im</strong><br />

Radio – und doch ein Projekt, über das schon<br />

vor vielen Jahren diskutiert wurde. Lange ging<br />

ich davon aus, ich sei der Erste gewesen, der<br />

auf die Idee kam. 1988 stellte ich erstmals ein<br />

Konzept den Hörspielleitern vor. Vor kurzem<br />

habe ich erfahren, dass auch mein Vorvorgänger<br />

in Baden-Baden, Hermann Naber, und die<br />

Hörfunk-Unterhaltungschefs von RIAS Berlin,<br />

BR und SDR davon unabhängig schon Mitte<br />

der 70er Jahre ähnliche Überlegungen angestellt<br />

hatten. So unterschiedlich die Anläufe auch<br />

gewesen sein mögen, gemeinsam war ihnen die<br />

Bauchlandung: Nie fanden sich genug Bündnispartner.<br />

Die redaktionelle Autonomie zählte in<br />

jenen Jahren offenbar mehr als ein großes Gemeinschaftsunternehmen.<br />

Zwei Gründe hatten mich angeregt: Zum<br />

einen die Überzeugung, dass aus der kreativen<br />

Zusammenarbeit der verschiedenen Hörspiel-<br />

Dramaturgien eine besonders spannende, vielfarbige<br />

Kr<strong>im</strong>ireihe aus den Ländern entstehen<br />

könne, und zum anderen eine Erfahrung, die<br />

ich noch als freier Journalist und Kritiker mit<br />

einer bundesweiten Wochenzeitung gemacht<br />

hatte: Ihr bot ich regelmäßige Hörspiel-Kritiken<br />

an, was nicht sonderlich interessierte. Für die<br />

Käufer des Blatts mache es nur wenig Sinn, von<br />

Hörspielen zu lesen, die gar nicht überall zu<br />

hören wären. Gern wolle man neu überlegen,<br />

wenn einmal ein gemeinsames Hörspielprojekt<br />

von Stuttgart bis Hamburg anstünde. An<br />

Zeiten, in denen dieselbe Zeitung regelmäßig<br />

auch das Hörspiel, neben Theater und Literatur,<br />

Film und Fernsehen, kritisch begleitet hatte, hat<br />

man sich offenbar nicht mehr so genau erinnern<br />

können.<br />

_ Hörspiele: konkurrenzlose <strong>ARD</strong>-Kulturleistungen<br />

Am Mangel eines öffentlichen Diskurses hat<br />

sich für Radio und Hörspiel über die Jahre<br />

nicht sehr viel geändert. Sonst aber hat sich<br />

manches bewegt in der Radiolandschaft. Die<br />

Anzahl der Angebote hat erheblich zugenommen,<br />

Privatradios sind aufgekommen und<br />

machen mit auf Verwechslung angelegten Formatprogrammen<br />

den öffentlich-rechtlichen<br />

Anbietern Konkurrenz. Während neue Medien<br />

und Verbreitungswege die rundfunkpolitischen<br />

Diskussionen best<strong>im</strong>men, scheint sich die junge<br />

MP3-Generation ganz vom klassischen Radio<br />

abwenden zu wollen. In der Frage der Rundfunkgebühren<br />

ist der Ton schärfer geworden.<br />

Das Bundesverfassungsgericht hat nochmals<br />

die Bestands- und Entwicklungsgarantie für<br />

den öffentlich-rechtlichen Rundfunk bekräftigt.<br />

Aber niemand kann heute mit Best<strong>im</strong>mtheit<br />

sagen, wie sich die Finanzierung dieses<br />

Rundfunks über eine mittlere Frist hinaus wird<br />

sichern lassen. Die Kassen sind knapper geworden,<br />

die Politik sucht nach Synergiepotenzialen.<br />

Rundfunkänderungsstaatsverträge fordern die<br />

Landesrundfunkanstalten auf, stärker zu kooperieren.<br />

Wandelt sich der föderale Charakter dieses<br />

öffentlich-rechtlichen Rundfunks? Bezogen<br />

auf das Hörspiel liegen seine Vorzüge auf der<br />

Hand: Ermöglicht er doch eine Vielfalt, um die<br />

uns Kollegen aus anderen Ländern beneiden.<br />

In der <strong>ARD</strong> und <strong>im</strong> Deutschlandradio entstehen<br />

pro Jahr rund 350 Hörspiele. Nur die BBC<br />

bringt es auf eine wesentlich höhere Anzahl.<br />

Vom reichen Angebot profitieren in erster Linie<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08


»Radio Tatort: Verhandlungssache« (WDR) von<br />

Peter Meisenberg: Der Düsseldorfer Kr<strong>im</strong>inalbeamte<br />

Nadir Taraki (Baki Davrak, l.) wird von<br />

Abdel Maliki ( Ozan Akhan) gefoltert.<br />

unsere Hörer, sie können viele neue Stücke und<br />

unterschiedlichste Spielformen kennen lernen.<br />

Von erheblicher Bedeutung sind die vorhandenen<br />

Möglichkeiten für Autoren, Bearbeiter,<br />

Regisseure, Sprecher und viele andere. Als einer<br />

der größten Kulturproduzenten <strong>im</strong> Land bietet<br />

ihnen der öffentlich-rechtliche Rundfunk wichtige<br />

Arbeitsfelder.<br />

_ Ein gemeinsames Konzept für verschiedene<br />

Regionen, Dialekte, Mentalitäten<br />

Der »<strong>ARD</strong> Radio Tatort« entspricht in vorzüglicher<br />

Weise dem föderalen Gedanken des<br />

öffentlich-rechtlichen Rundfunks. In seiner angestrebten<br />

Vielfalt kann er nur entstehen, wenn<br />

alle Hörspielredaktionen der <strong>ARD</strong> mitwirken.<br />

Die kleineren Anstalten tragen mit einem Hörspiel<br />

pro Jahr dazu bei, die größeren mit zwei.<br />

Die Grundkonstruktion – Ermittlerstücke, die<br />

in der Regel <strong>im</strong> Polize<strong>im</strong>ilieu spielen – wurde<br />

gemeinsam festgelegt, sie lässt jeder Redaktion<br />

genügend Raum, ihre je eigenen Figuren zu entwickeln<br />

und mit ihnen spannende und unerhaltende<br />

Geschichten zu erzählen. Die zu Anfang<br />

diskutierte Idee, durchgehende Hauptfiguren<br />

für alle Folgen und Produzenten zu etablieren,<br />

wurde aufgegeben zugunsten eines Modells, das<br />

den Hörern eine größere Bandbreite an Storys<br />

und Figuren und den Redaktionen die Möglichkeit<br />

bietet, mit je eigener Produktionshandschrift<br />

aufzuwarten.<br />

Vor allem aber sollen die Kr<strong>im</strong>inalhörspiele<br />

erkennen lassen, wo sie spielen. Die Bezüge<br />

zur Region, den dort lebenden Menschen, zu<br />

ihren Mentalitäten und ihrer Sprache sind dem<br />

»Radio Tatort« wichtig. Dass dazu regionalsprachliche<br />

Färbungen und Dialekte eingesetzt<br />

werden können, liegt auf der Hand. Allerdings<br />

müssen sie verstehbar sein von Ravensburg bis<br />

Rostock. Niki Stein, der Drehbuchautor und<br />

»Tatort«-Regisseur, der auch den ersten »Radio<br />

Tatort« des HR inszenieren wird, freut sich darauf,<br />

<strong>im</strong> Radio etwas wiederzubeleben, das <strong>im</strong><br />

Fernsehen zurückgegangen sei: die Bindung<br />

an die Regionen, an die Sprache der Leute, die<br />

Umgebung, in der sie leben.<br />

_ Kooperationen opt<strong>im</strong>ieren die Ergebnisse<br />

Der Nutzen von Kooperationen ist den Radio-<br />

und Hörspielprogrammen schon lange bekannt:<br />

aus aufwändigen Hörspielproduktionen,<br />

aus »Langen Nächten« oder Schwerpunktprogrammen.<br />

Ohne Kooperationen und zusätzliche<br />

Produktions-Übernahmen würden die<br />

Spielpläne der meisten Hörspiel-Redaktionen<br />

lückenhaft bleiben. Sie wären, auch unter Kostengesichtspunkten,<br />

kaum zu gestalten. Wenn<br />

es trotz guter Kooperations-Erfahrungen nicht<br />

jeder Redaktion gleich leichtgefallen ist, sich<br />

der festen Produktions- und Sendevereinbarung<br />

zum »<strong>ARD</strong> Radio Tatort« anzuschließen, liegt<br />

das an der D<strong>im</strong>ension des Projekts: Jeden Monat<br />

einen Platz für die Reihe auf den eigenen<br />

Regelterminen zu blockieren – das kann eigene<br />

Pläne und Projekte tangieren. Zumal für jene<br />

Radio Tatort <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 113


114<br />

Als Ermittler waren u. a. bereits <strong>im</strong> Einsatz:<br />

Marie-Lou Sellem und André Jung, Kommissare<br />

in SR 2 KulturRadio.<br />

Redaktionen, die über vergleichsweise wenige<br />

Sendeplätze verfügen. Radio Bremen und der<br />

RB haben aus der Not eine Tugend gemacht<br />

und für den »Radio Tatort« Zusatztermine eingerichtet.<br />

Damit bekommt der Kr<strong>im</strong>i, den es<br />

dort schon nicht mehr gegeben hatte, in beiden<br />

Häusern wieder einen Platz.<br />

Das Radio, hat Gerhard Polt einmal gesagt,<br />

ist wie das Wasser: Man dreht den Hahn auf,<br />

und es fließt raus – eins schwemmt das andere<br />

weg. Besonders die Kultur- und Wortprogramme<br />

stehen <strong>im</strong>mer wieder vor der Frage,<br />

wie sie sich behaupten und vernehmbarer machen<br />

können in der Schwemme der Angebote,<br />

die beileibe nicht auf das Radio begrenzt sind.<br />

Das Zeitbudget unserer Hörer ist l<strong>im</strong>itiert. Sie<br />

lesen, sehen fern, gehen ins Theater, ins Kino<br />

oder nutzen das Internet. Wie kann man besser<br />

an den Mann, die Frau, den Jugendlichen<br />

bringen, was besonders aufwändig produziert<br />

ist und mehr als ein Nebenbei-Hören verlangt?<br />

Hörspiele, Feature-Sendungen, anspruchsvolle<br />

Wortangebote.<br />

Es gibt deutliche Indizien dafür, dass<br />

herausgehobene Programmereignisse, überlegt<br />

eingesetzte Schwerpunkte, gemeinsame<br />

Großprojekte, die entsprechend kommuniziert<br />

werden können und die die originären<br />

Leistungen dieses Radios betonen, zunehmend<br />

Sinn ergeben. Das Radio ist mehr als eine<br />

Nachrichten- und Musikmaschine, aber große<br />

Hörerschichten scheinen das fast schon vergessen<br />

oder noch nie richtig wahrgenommen zu<br />

haben.<br />

Ueli Jäggi als Kr<strong>im</strong>inaloberrat Xaver Finkbeiner<br />

und Karoline Eichhorn als Kr<strong>im</strong>inalhauptkommissarin<br />

Nina Brändle in SWR2<br />

Ergebnisse der Medienforschung etwa zu<br />

den <strong>ARD</strong>-Schwerpunktwochen »Krebs« und<br />

»Kinder sind Zukunft« zeigen, dass beide<br />

Sendewochen ein hohes Zust<strong>im</strong>mungsniveau<br />

hatten. 81 Prozent der Hörer fanden die konzertierten<br />

Angebote von Fernsehen und Radio<br />

gut oder sehr gut. Vor allem Jugendliche von<br />

14 bis 29 Jahren haben sie mit 83 Prozent noch<br />

stärker begrüßt als der Durchschnitt. Aus beiden<br />

Schwerpunktwochen bleiben hohe Erinnerungswerte;<br />

zahlreiche Presseberichte sorgten<br />

mit dafür, dass die Themen von der Medienflut<br />

nicht weggeschwemmt wurden, sondern Gesprächswert<br />

hatten und die Markenzeichen des<br />

öffentlich-rechtlichen Rundfunks unterstrichen.<br />

Eine gemeinsame Marke gab es in der <strong>ARD</strong>-<br />

Hörspiellandschaft bisher nicht. Natürlich<br />

ist damit nichts über die hohe Qualität sehr<br />

vieler Produktionen aus den einzelnen Landesrundfunkanstalten<br />

gesagt. Hörer wissen sie zu<br />

schätzen, und bei vielen nationalen und internationalen<br />

Wettbewerben wurde und wird sie<br />

gewürdigt. Dennoch ist eine größere Publizität<br />

und Breitenwirkung für das Hörspiel vonnöten.<br />

So manche Reaktion auf den »Radio Tatort«<br />

zeigt, dass das Hörspiel gedanklich zuweilen<br />

schon in die Mottenkiste gepackt war. Insbesondere<br />

für junge Hörer zählt es inzwischen viel zu<br />

selten zu den wichtigen Radioerfahrungen, mit<br />

denen sie groß werden.<br />

_ Außerordentlich positive Resonanz<br />

Weit über alle Hoffnungen und Erwartungen<br />

hinaus hat die Startphase des »<strong>ARD</strong> Radio<br />

Tatort« gezeigt, was das Gemeinschaftsunternehmen<br />

zu leisten <strong>im</strong>stande ist. Die öffentliche<br />

Aufmerksamkeit für die Kr<strong>im</strong>ireihe hat schlicht<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08


In MDR FIGARO spricht Hilmar<br />

Eichhorn den ermittelnden Kommissar<br />

Jost Fischer.<br />

alles in den Schatten gestellt, was bisher über<br />

Hörspiel geschrieben wurde: »Zeit«, »Frankfurter<br />

Allgemeine Zeitung«, »Süddeutsche<br />

Zeitung«, »taz«, »Stuttgarter Zeitung«, »Hamburger<br />

Abendblatt«, »Westdeutsche Allgemeine<br />

Zeitung«, »Brigitte« und »Focus« – und viele<br />

andere, quer durch die Bundesrepublik, aber<br />

auch in Österreich und der Schweiz, haben die<br />

Reihe nicht nur beachtet, sondern außerordentlich<br />

freundlich aufgenommen. »Nie zuvor haben<br />

Hörspiele in Deutschland dauerhaft eine so<br />

große Bühne bekommen«, schrieb der »SPIE-<br />

GEL«, »die neue Serie ist ein Paukenschlag für<br />

das ebenso alte wie legendäre Genre.«<br />

Schon jetzt ist festzuhalten, dass der Auftakt<br />

der Reihe, die auf gutem Wege ist, sich als<br />

Marke zu etablieren, das Interesse und die Begeisterung<br />

für das Hörspiel insgesamt gesteigert<br />

hat. »Vielleicht«, meint die »taz«, wird das »einst<br />

schon totgesagte Hörspiel (. . .) dank der neuen<br />

Kr<strong>im</strong>ireihe nun ganz einfach etwas populärer«.<br />

Aber es ist nicht nur die Presse, die den Reiz<br />

des Hörens in der Welt der Bilder wiederentdeckt,<br />

es sind auch viele Hörer, die uns bestärken.<br />

Eine große Zahl begrüßt die Serie in<br />

Zuschriften, Mails und <strong>im</strong> Internet, das sämtliche<br />

Folgen mit einem eigenen Angebot über<br />

radio-tatort.<strong>ARD</strong>.de begleitet. Alle Produktionen<br />

stehen nach den Sendungen für sieben<br />

Tage als Stream <strong>im</strong> Netz, darüber hinaus konnten<br />

fünf Stücke des ersten Jahrgangs zum kostenfreien<br />

Download angeboten werden. Eine<br />

sehr große Anzahl von Kr<strong>im</strong>ifans hat sich ein<br />

Hörspiel auf den PC oder MP3-Spieler gezogen.<br />

Der Bedarf nach zeit- und ortsunabhängiger<br />

Nutzung ist unübersehbar.<br />

Sandra Borgmann als Hamburger<br />

Kr<strong>im</strong>inalhauptkommissarin Bettina Breuer<br />

in NDR Info<br />

_ Der »Radio Tatort« nur als Original-Hörspiel<br />

Was nach schlichtweg fulminantem Auftakt<br />

auf die Redaktionen nun zukommt, ist eine<br />

dramaturgische Herausforderung. Es gilt, die<br />

hohen Erwartungen bei Hörern und Presse<br />

mit weiteren originellen Stoffen und Stücken<br />

zu erfüllen. Das Kr<strong>im</strong>inalhörspiel, das in den<br />

vergangenen Jahren zu sehr zu einem Adaptionsgenre<br />

geworden ist, muss sich <strong>im</strong> Fall des<br />

»Radio Tatorts« ausschließlich mit Originalarbeiten<br />

beweisen. Will man eigene Serienfiguren<br />

entwickeln und sie in neuen, an der Realität<br />

orientierten Geschichten etablieren, können<br />

fertige Buchvorlagen nicht helfen. Der »Radio<br />

Tatort« will eigenwillige, markante Typen ins<br />

Radioleben setzen. Er kann es nur, indem er<br />

das Originalhörspiel fördert und mit guten Autoren<br />

Entwicklungsdramaturgie betreibt.<br />

»Irmis Ehre«, »Radio Tatort« des BR, mit Winfried<br />

Frey (Betz), Stephan Murr (Hubert) und<br />

Florian Karlhe<strong>im</strong> in der Rolle des Kommissars<br />

Rudi Egger (v. l.)<br />

Radio Tatort <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 115


116<br />

»Schrei der Gänse«, »Radio Tatort« von Radio<br />

Bremen: Heike Langguth (Ton), Christiane<br />

Ohaus (Regie), Marion Breckwoldt als Hauptkommissarin<br />

Claudia Evernich, Markus Meyer<br />

als Staatsanwalt Dr. Kurt Gröninger (v. l.)<br />

Für die erste Staffel wurden solche Autoren<br />

gefunden: Roland Sch<strong>im</strong>melpfennig, John von<br />

Düffel, Tom Peuckert, Frank Göhre, Peter Meisenberg,<br />

Christine Lehmann, Robert Hültner<br />

und andere. Und auch bei den Schauspielern<br />

herrscht großes Interesse: Karoline Eichhorn<br />

und Ueli Jäggi spielen für den SWR, der WDR<br />

hat u. a. Baki Davrak, Hauptdarsteller <strong>im</strong> Oscarnominierten<br />

Film »Auf der anderen Seite« von<br />

Fatih Akin, Meriam Abbas und Rudolf Kowalski<br />

verpflichtet, Hilmar Eichhorn und Nele<br />

Rosetz ermitteln für den MDR, Martin Reinke<br />

und Sandra Borgmann fahnden für den NDR.<br />

Sie alle lösen Kr<strong>im</strong>inalfälle nach einer Idee,<br />

die anfangs noch nichts mit dem »Tatort«-<br />

Modell des Fernsehens zu tun hatte. Und auch<br />

am Ende einer langen Konzeptionsphase war es<br />

mitnichten der Gedanke an eine nachgereichte<br />

Radio-Version, der uns bewog, den auch für den<br />

<strong>ARD</strong>-Hörfunk freien Titel zu wählen. Natürlich<br />

ist er geradezu unbezahlbar. Als Qualitäts- und<br />

Markensignal, das sofort klarmacht, worum es<br />

sich handelt.<br />

Eine Verwechslung mit den TV-Produktionen<br />

kann und wird nicht entstehen: Das Hörspiel<br />

hat völlig eigenständige Mittel, seine Geschichten<br />

zu erzählen. Und was die Hörergunst<br />

angeht, darf man getrost darauf setzen, dass das<br />

gespannte Hinhören auch in einer gewandelten<br />

Medienlandschaft seinen Reiz entfaltet. Lange<br />

bevor sich Sch<strong>im</strong>anski & Co über die Bildschirme<br />

prügelten, waren original für das Radio<br />

geschriebene Kr<strong>im</strong>is schon Publikumsrenner.<br />

Francis Durbridges »Paul Temple« etwa oder<br />

Rolf und Alexandra Beckers »Gestatten, mein<br />

Name ist Cox«. Stücke und Reihen, die bis<br />

heute gefragt sind. Auch wenn es Unsinn wäre,<br />

nach den damaligen Quoten zu schielen: Die<br />

Beliebtheit des Radiokr<strong>im</strong>is ist ungebrochen.<br />

Der SWR ist mit der Koordination der<br />

neuen <strong>ARD</strong>-Reihe beauftragt. Was vor allem<br />

bedeutet, grundlegende organisatorische und<br />

dramaturgische Überlegungen <strong>im</strong> Blick zu behalten<br />

und zu kommunizieren: die Dubletten-<br />

Prüfung etwa oder die Abst<strong>im</strong>mung in Fragen<br />

der Besetzung, Regie und Autorenschaft, der<br />

Terminplanung und möglicher Presse- und Marketing-Initiativen,<br />

die <strong>im</strong> Anschluss an die vom<br />

SWR koordinierte Startkampagne jedes Haus<br />

für seine Produktionen durchführt.<br />

_ Perspektiven<br />

Ob sich mit dem »Radio Tatort« eine Perspektive<br />

für weitere Gemeinschaftsprojekte der <strong>ARD</strong><br />

andeutet? Wo es sinnvoll erscheint, zu umfangreicheren<br />

Kooperationen zu kommen, liegt der<br />

Gedanke nahe. Überzeugende Beispiele gibt es<br />

ja bereits: die »<strong>ARD</strong> Buchnacht« und die »<strong>ARD</strong><br />

Hörbuchnacht«. Oder die »Günter-Eich-Nacht«<br />

und die »<strong>ARD</strong> Radionacht für Kinder«, <strong>im</strong> letzten<br />

Jahr zu Ehren von Astrid Lindgren. Über<br />

4 000 Schulen haben sich an ihr beteiligt. Auch<br />

das jüngste Projekt, das unter Federführung<br />

von SWR2 gemeinsam mit Radio Bremen für<br />

die <strong>ARD</strong> entstanden ist, gilt als sehr geeigneter<br />

Kooperations-Fall: die umfangreiche Audio-<br />

Ausgabe der wichtigsten Sammlung deutschsprachiger<br />

Gedichte, des »Großen deutschen<br />

Gedichtbuchs« von Karl Otto Conrady, dessen<br />

1 100 aufgenommene Gedichte nun unter dem<br />

Titel »Lauter Lyrik. Der Hör-Conrady« auf viele<br />

Jahre die Programme der <strong>ARD</strong> bereichern können.<br />

Ekkehard Skoruppa<br />

Leiter Künstlerisches Wort in SWR2<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08


»Leuchtturmprojekte«, Eventprogrammierung,<br />

»Amphibienfilme« – Schlagworte, die für die aktuelle<br />

Entwicklung des Fernsehfilms <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong> stehen.<br />

Dass dabei Qualität und Quote kein Widerspruch sein<br />

müssen, haben Filme wie »Contergan«, »Die Flucht«<br />

und »Der Untergang« bewiesen. Historische und zeit-<br />

geschichtliche Großprojekte, sorgfältig inszenierte<br />

Stücke für den FilmMittwoch, Literaturverfilmungen,<br />

Biografien, emotionale und spannende Unterhaltung<br />

am Freitag- bzw. Sonntagabend bilden das Repertoire<br />

des Fernsehfilmangebots – mehr als 150 Fernsehfilme<br />

<strong>im</strong> Jahr 2008. Höhepunkte sind u. a. das Drama um die<br />

Entführung der Lufthansamaschine Landshut 1977 unter<br />

dem Titel »Mogadischu« und der oscarprämierte Film<br />

»Das Leben der Anderen«.<br />

Vom »Boot« bis zum<br />

»Baader-Meinhof-Komplex«<br />

Zur Situation des Fernsehfilms <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong> · Von Verena Kulenkampff<br />

E<br />

in guter Film ist ein guter Film. In<br />

diesem Sinne haben die Fernsehfilm-<br />

Redaktionen der <strong>ARD</strong>-Landesrundfunkanstalten<br />

<strong>im</strong>mer ihre Arbeit<br />

begriffen – sei es an ihren originären Fernsehfilmen,<br />

sei es an den Kino-Koproduktionen, an<br />

denen sie sich beteiligen: als ein Arbeitsfeld mit<br />

unterschiedlichen, aber sich doch weitgehend<br />

auch überschneidenden Aufgabenstellungen.<br />

Der Input der Redakteurinnen und Redakteure<br />

in die Filme ist in beiden Fällen ihre kreative<br />

Mit-Arbeit, die besonderer inhaltlicher und<br />

ästhetischer Qualität verpflichtet ist. Aktualität<br />

der Fragestellungen, gesellschaftliche Relevanz,<br />

vor allem aber die St<strong>im</strong>migkeit von Geschichte,<br />

Besetzung und Regie sind die Fragen, die glücklicherweise<br />

jenseits kommerzieller Interessen<br />

hier <strong>im</strong> Vordergrund stehen, ungeachtet aller<br />

Debatten über einen behaupteten Gegensatz<br />

von Kino und Fernsehen. Die Pflege einer<br />

zeitgemäßen Erzählkultur und einer ästhetisch<br />

reflektierten Bildsprache auf hohem Niveau ist<br />

ein Hauptanliegen – sei es bei den Fernsehfilmen<br />

des FilmMittwochs der <strong>ARD</strong>, sei es bei<br />

den Kinofilmen.<br />

Andererseits sind die zahlreichen preisgekrönten<br />

und mitunter auch an der Kinokasse<br />

erfolgreichen Kinofilme, die in Koproduktion<br />

mit <strong>ARD</strong>-Sendeanstalten entstanden sind,<br />

durchaus auch um 20.15 Uhr am FilmMittwoch<br />

oder an einem Feiertagstermin erfolgreich: wie<br />

»Good Bye, Lenin!« oder »Lola rennt« (beide<br />

WDR/ARTE), »Sophie Scholl« (BR/SWR/<br />

ARTE), »Das Leben der Anderen« (BR/ARTE),<br />

Fernsehfilm <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 117


118<br />

»Mein Führer« (WDR/BR/ARTE), »Wer früher<br />

stirbt, ist länger tot« (BR), »Emmas Glück«<br />

(SWR), »Der freie Wille« (WDR/ARTE), »Requiem«<br />

(WDR/SWR/BR/ARTE), »Gegenüber«<br />

(WDR) oder »Auf der andren Seite« (NDR).<br />

Umgekehrt haben <strong>im</strong>mer einmal wieder relativ<br />

»kleine« Fernsehfilme Überraschungserfolge <strong>im</strong><br />

Kino gefeiert wie – fast schon legendär – »Nach<br />

fünf <strong>im</strong> Urwald« (SWF/BR/ARTE), mit dem<br />

Franka Potente berühmt wurde, oder in etwas<br />

jüngerer Zeit Dani Levys »Alles auf Zucker!«<br />

(WDR/BR/ARTE). Die Unterscheidung zwischen<br />

dem Kino-Erlebnis einerseits und dem<br />

Film <strong>im</strong> Fernsehen andererseits ist also komplexer,<br />

als manche Filmkritik und manche öffentliche<br />

Debatte über den Einfluss des Fernsehens<br />

nahelegt.<br />

_ »Amphibienfilme« und originäre Fernseh-Highlights<br />

Eine aktuelle Entwicklung hat dieser Debatte<br />

neuen Zündstoff geliefert. Bereits Wolfgang Petersens<br />

berühmtes »Boot« entstand zugleich als<br />

Kinofilm und als Fernseh-Mehrteiler. Das war<br />

aber weitgehend vergessen, bis »Der Untergang«<br />

als Kinofilm und zugleich als Fernsehzweiteiler<br />

hergestellt wurde. Weitere, nach einem<br />

solchen »amphibischen« Produktions- und Finanzierungsmodell,<br />

bei dem ein Kinofilm und<br />

zugleich eine originäre Fernsehfassung – zumeist<br />

ein Zweiteiler – unter hoher finanzieller<br />

Beteiligung der Fernsehsender entstehen, sind<br />

zur Zeit in Arbeit oder gerade fertiggestellt: die<br />

Romanverfilmungen »Buddenbrooks« (WDR/<br />

NDR/SWR/BR/Degeto/ARTE) von Heinrich<br />

Breloer, »Henri Quatre« (WDR/BR/SWR/Degeto/NDR/MDR)<br />

von Jo Baier und Uli Edels<br />

RAF-Film »Der Baader-Meinhof-Komplex«<br />

(NDR/BR/WDR/Degeto). Vorbereitet wird u. a.<br />

die filmische Biografie von »Ludwig II.«. Dabei<br />

rechtfertigt der »Mehrwert« in Form eines aufwändigen<br />

Fernsehzweiteilers, der den Kinofilm<br />

in Länge und damit höherem Aufwand und<br />

größerer inhaltlicher Ausführlichkeit übertrifft,<br />

den Einsatz hoher Etatmittel, die in diese Kino-<br />

Koproduktionen investiert werden. Solche<br />

historischen, höchst aufwändigen Kinofilme<br />

wären ohne diese extrem hohen Fernsehmittel<br />

kaum realisierbar.<br />

»Mein Führer«, in der Titelrolle Helge<br />

Schneider, »Emmas Glück« mit Jördis Triebel<br />

und Regisseur Lars Kraume (r.) bei den<br />

Dreharbeiten zum Film »Guten Morgen,<br />

Herr Grothe« mit Sebastian Blomberg,<br />

Darsteller des Lehrers Grothe (v. o.)<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08


Der Fernsehfilm der <strong>ARD</strong> ist allerdings auch<br />

ohne diese Großproduktionen um originäre<br />

Highlights nicht verlegen: Der Zweiteiler »Die<br />

Flucht« (WDR/SWR/HR/BR/RBB/Degeto/<br />

ARTE) unter der Regie von Kai Wessel mit Maria<br />

Furtwängler in der Hauptrolle war einer der<br />

erfolgreichsten Filme der <strong>ARD</strong> in den letzten<br />

Jahren: Durchschnittlich knapp elf Millionen<br />

Zuschauer verfolgten die Geschichte von Flucht<br />

und Vertreibung, die rund 60 Jahre nach dem<br />

historischen Geschehen zum ersten Mal fiktiv<br />

erzählt wurde. Auch die Zweiteiler »Die Frau<br />

vom Checkpoint Charlie« (MDR/BR/RBB/Degeto)<br />

von Miguel Alexandre und »Contergan«<br />

(WDR/Degeto) von Adolf Winkelmann haben<br />

historische Ereignisse und Befindlichkeiten<br />

für ein breites Publikum aufbereitet. Filmisch<br />

auf hohem Niveau haben sie Geschichte nacherlebbar<br />

gemacht, gerade auch für die jüngeren<br />

Zuschauer, die überdurchschnittlich stark vertreten<br />

waren.<br />

Themenschwerpunkte werden durch übergreifende<br />

Programmierung möglich: Dokumentationen<br />

und Talkformate als Ergänzung zu<br />

»Die Flucht« haben das Thema »Vertreibung«<br />

aufgearbeitet und fanden beste Resonanz be<strong>im</strong><br />

Publikum. Und auch bei »Die Frau vom Checkpoint<br />

Charlie« blieb das Publikum dabei: Die<br />

sich anschließenden Dokumentationen und<br />

Gesprächssendungen erzielten eine sehr hohe,<br />

die übliche Akzeptanz dieser Sendungen weit<br />

übersteigende Aufmerksamkeit.<br />

Im Anschluss an den zweiten Teil von »Contergan«,<br />

»Der Prozess« (Foto r.), am 8. 11. 2007 lief<br />

die Dokumentation »Contergan – Die Opfer,<br />

die Anwälte und die Firma«. Zu Wort kam u. a.<br />

der Contergan-Geschädigte Klaus Becker (u.).<br />

_ Public Value <strong>im</strong> besten Sinne<br />

Der nicht zuletzt durch die vorhergegangenen<br />

Gerichtsprozesse von großer publizistischer Aufmerksamkeit<br />

begleitete Zweiteiler »Contergan«<br />

(WDR/Degeto) schließlich, mit dem die <strong>ARD</strong><br />

ein sehr sensibles wie bewegendes Thema aufgegriffen<br />

hat, stieß nicht nur selbst auf ein überwältigendes<br />

Zuschauerinteresse. Die <strong>im</strong> Anschluss<br />

an Teil 1 ausgestrahlte Diskussionsrunde<br />

bei »hart aber fair« mit Frank Plasberg erreichte<br />

ihre bis dahin höchste Quote <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong>, <strong>im</strong> Anschluss<br />

an Teil 2 konnte der Dokumentarfilm<br />

»Contergan – Die Opfer, die Anwälte und die<br />

Firma« einen Spitzenwert erzielen! Mit weiteren<br />

zahlreichen Hörfunk- und Fernsehbeiträgen<br />

wurde hier ein »öffentlich-rechtliches Qualitätsprogramm<br />

par excellence« geschaffen, berichtete<br />

die »Funkkorrespondenz« in ihrer Ausgabe<br />

46/2007.<br />

So ist es der <strong>ARD</strong> gelungen, mit dieser<br />

Themensetzung durch Bündelung und Sonderprogrammierung<br />

von zweiteiligem Spielfilm,<br />

Talksendungen und Dokumentationen 50 Jahre<br />

nach der Markteinführung des Medikaments<br />

Contergan die Betroffenen und ihre Schicksale<br />

in den Mittelpunkt zu stellen und schließlich<br />

sogar ihre gesellschaftliche und finanzielle Situation<br />

in Bewegung zu bringen.<br />

Mit diesen »Leuchtturm«-Projekten hat die<br />

<strong>ARD</strong> die komplexen Möglichkeiten des Mediums<br />

Fernsehen auf das Beste und <strong>im</strong> öffentlichrechtlichen<br />

Sinn ausgeschöpft. Der große Publikumserfolg<br />

der prominent besetzten und hoch<br />

emotionalen Filme wurde genutzt, um in den<br />

verschiedensten nonfiktionalen Sendungen und<br />

Genres daran anzuknüpfen.<br />

Hinzu kommen für alle erwähnten so genannten<br />

»Event-Filme« zahlreiche Preise und<br />

Fernsehfilm <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 119


120<br />

Auszeichnungen in allen Kategorien – Qualität<br />

und Quote, so sahen es auch die Kritiker und<br />

die Jurys aller wichtigen Fernsehfestivals und<br />

Fernsehpreise, müssen keineswegs ein Widerspruch<br />

sein.<br />

_ Grundversorgung durch Vielfalt<br />

Dabei ist der Fernsehfilm der <strong>ARD</strong> nicht auf<br />

best<strong>im</strong>mte Genres festgelegt (Ausnahme sind<br />

die »Ermittler-Kr<strong>im</strong>is« à la »Tatort«, die dem<br />

Sonntag vorbehalten sind). Neben aufwändigen<br />

historischen Mehrteilern und sozialkritischen<br />

und zeitgeschichtlichen Dramen gehören Familienfilme,<br />

Komödien, Thriller und Psychothriller<br />

der anspruchsvolleren Art zur Vielfalt<br />

der <strong>ARD</strong>. Erwartbar ist <strong>im</strong>mer das Besondere,<br />

die herausragende Machart, die erstklassige Besetzung.<br />

Die verschiedenen »Senderfarben« der<br />

regionalen <strong>ARD</strong>-Anstalten tragen bei zu einem<br />

Kaleidoskop, in dem der Zuschauer mit Sicherheit<br />

überraschendes Fernsehen, gute Filme und<br />

Unterhaltung auf höchstem Niveau findet. Jenseits<br />

einer »Quoten«-Erwartung auf dem Mittwochs-Sendeplatz<br />

ist dennoch die Ambition da,<br />

so viele Zuschauer wie möglich auch für ästhetisch<br />

und erzählerisch unkonventionelle Filme<br />

zu interessieren. Dabei ist erfreulich, dass jüngere<br />

Zuschauer die breite Mischung schätzen.<br />

So wurden zahlreiche Fernsehfilme der <strong>ARD</strong><br />

auf dem FilmMittwoch für wichtig und preis-<br />

würdig erachtet und werden als das allwöchentliche<br />

Filmangebot und damit als die öffentlichrechtliche<br />

»Grundversorgung« des Publikums<br />

mit emotionalen, erholsamen, erschütternden,<br />

spannenden und komischen Filmen auch von<br />

den Redaktionen weiterhin wichtig genommen:<br />

Ergänzend zum Themenschwerpunkt rund um<br />

den 3. Oktober 2007 zeigte Das Erste »He<strong>im</strong>weh<br />

nach drüben« (MDR) mit Wolfgang Stumph<br />

unter der Regie von Hajo Gies, ein eher heiterer<br />

Film, der das Leben vor 1989 mit einem<br />

Augenzwinkern betrachtete. »Guten Morgen,<br />

Herr Grothe« (WDR, Regie: Lars Kraume) gewann<br />

alle wichtigen deutschen Fernsehpreise<br />

von Baden-Baden bis Marl, »Rose« (BR, Regie:<br />

Alain Gsponer) wurde als bester Fernsehfilm<br />

mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet.<br />

Dieter Pfaff konnte weiterhin als Psychotherapeut<br />

»Bloch« (WDR/SWR) überzeugen.<br />

Einen der ersten Fernsehpreise des Jahres 2008,<br />

den Bayerischen Fernsehpreis, bekam Hermine<br />

Huntgeburth für ihren Zweiteiler »Teufelsbraten«<br />

(WDR/NDR/Degeto/ARTE), die Verfilmung<br />

von Ulla Hahns Roman »Das verborgene<br />

Wort«. Manfred Stelzer inszenierte das Drama<br />

»Meine fremde Tochter« (WDR/ARTE) mit<br />

Götz George in der Hauptrolle des Vaters, der<br />

sich in einem leidvollen Prozess der Selbsterkenntnis<br />

auf Spurensuche begibt, um den<br />

Tod seiner Tochter aufzuklären. Götz George<br />

kann in seinem 70. Lebensjahr ebenfalls in der<br />

modernisierten Neuverfilmung des George-S<strong>im</strong>enon-Romans<br />

»Die Katze« begeistern (NDR,<br />

Regie: Kaspar Heidelbach).<br />

Seit acht Jahren zeigt Das Erste nun schon<br />

ausgewählte Debütfilme seiner Landesrundfunkanstalten<br />

in der Reihe »Debüt <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong>«.<br />

Der letztjährige Gewinner des Deutschen Fernsehpreises<br />

– »Rose« (BR) von Alain Gsponer –<br />

»Rose« (Corinna Harfouch) und ihr Freund<br />

Bernd (Torben Liebrecht)<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08


ist vielleicht das beste Beispiel für die Ziele,<br />

die sich Das Erste <strong>im</strong> Jahr 2001 bei der Einführung<br />

der Reihe gesetzt hat: Vielfältig sollten<br />

die Filme sein, die Erstlingsregisseure und ihre<br />

Filme bekannter werden. Den Debütanten<br />

sollte eine breitere Plattform gegeben werden,<br />

und sie sollten die Chance bekommen, einen<br />

Sendeplatz <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong> zu erhalten und darauf<br />

aufbauen zu können. Diese Ziele sind <strong>im</strong> Fall<br />

von »Rose« sogar in mehrfacher Hinsicht erreicht,<br />

denn Alain Gsponer kann nicht nur mit<br />

»Das wahre Leben« schon seinen zweiten Film<br />

nach einer erfolgreichen Kinoauswertung in<br />

»Debüt <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong>« zeigen, sondern hat inzwischen<br />

auch einen »Polizeiruf 110« gedreht und<br />

arbeitet an seinem nächsten Kinofilm.<br />

Weitere Regisseure, die nach einem Debüt<br />

<strong>im</strong> <strong>Ersten</strong> erfolgreich weitergearbeitet haben,<br />

sind u. a. Hans Weingartner, dessen Film »Die<br />

fetten Jahre sind vorbei« (SWR) in Cannes für<br />

Aufsehen sorgte und dieses Jahr in »Debüt <strong>im</strong><br />

<strong>Ersten</strong>« zu sehen sein wird, Züli Aladag, der mit<br />

seinem Fernsehfilm »Wut« (WDR) zahlreiche<br />

Preise gewinnen konnte, oder Sylke Enders,<br />

deren neuester Kinofilm »Mondkalb« (WDR/<br />

RBB) gerade be<strong>im</strong> Festival des deutschen Films<br />

in Mannhe<strong>im</strong> eine besondere Auszeichnung<br />

der Jury erhielt.<br />

Und auch dieses Jahr war für die Filme<br />

der Reihe »Debüt <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong>« bereits erfolgreich.<br />

So wurde z. B. die WDR-Koproduktion<br />

»Mein Freund aus Faro« be<strong>im</strong> Filmfestival Max<br />

Ophüls Preis mit dem SR/ZDF-Drehbuchpreis<br />

ausgezeichnet, »Novemberkind« (SWR) gewann<br />

dort den Publikumspreis und Alice Dwyer<br />

wurde für ihre Rolle in »Höhere Gewalt« (HR)<br />

mit dem Darstellerpreis ausgezeichnet. Auf der<br />

diesjährigen Berlinale reüssierte <strong>im</strong> Internationalen<br />

Forum des Jungen Films der Beitrag<br />

»Nacht vor Augen« (SWR) sowie in der Reihe<br />

»Perspektiven Deutsches Kino« »Die Besucherin«<br />

(WDR).<br />

_ Die kommenden Highlights<br />

Auch auf die kommenden Kino- und Fernseh-<br />

filme darf man gespannt sein: Im Weihnachts-<br />

programm 2008 wird »Liesl Karlstadt und Karl<br />

Valentin« (BR) zu sehen sein, Regie: Jo Baier,<br />

mit Hannah Herzsprung in der Hauptrolle. Der<br />

Film erzählt die Geschichte des Komikerpaares,<br />

die geprägt war von Eifersucht, Tränen, Erfolgen,<br />

Nervenzusammenbrüchen und von einer<br />

Liebe, die über den Tod hinaus bleibt. Vom<br />

NDR kommt »Es liegt mir auf der Zunge«, ein<br />

dokumentarisches Drama über den Aufstieg<br />

und Fall des Fernsehkochs Clemens Wilmenrod,<br />

gespielt von Jan Josef Liefers.<br />

Einen großen Film zum 20. Jubiläum des<br />

Mauerfalls 2009 dreht Friedemann Fromm mit<br />

Katja Flint, Edgar Selge, Herbert Knaup und<br />

Ulrike Krumbiegel noch in diesem Jahr (WDR/<br />

MDR), Teile der Autobiografie von Marcel<br />

Reich-Ranicki (Foto links, l.) wird Dror Zahavi –<br />

mit Mathias Schweighöfer (r.) in der Rolle des<br />

jungen Marcel – verfilmen, nach dem Drehbuch<br />

von Michael Gutmann.<br />

»Romy Schneider« (SWR/WDR/ORF, Regie:<br />

Torsten C. Fischer), »Mogadischu« (Degeto/SWR/BR),<br />

»Glanz und Gloria« von Dieter<br />

Wedel (Degeto/WDR), die achtteilige Serie »Im<br />

Angesicht des Verbrechens« von Rolf Basedow<br />

und Dominik Graf für den späteren Freitagabend<br />

(WDR/Degeto/SWR/BR/NDR), der<br />

Kinofilm »Du bist nicht allein« (RBB/WDR)<br />

von Bernd Böhlich kommen ins Fernsehen. Die<br />

neuen Kinofilme von Mathias Glasner, Hans<br />

Christian Schmid und vielen anderen werden<br />

gemeinsam mit <strong>ARD</strong>-Sendern produziert.<br />

Es ist der Anspruch des Fernsehfilms am<br />

Mittwoch in der <strong>ARD</strong>, Woche für Woche ein<br />

hochwertiges Repertoireprogramm zusammenzustellen,<br />

das Bestand hat jenseits der Tagesaktualität,<br />

dessen Ideenreichtum sich nicht erschöpft<br />

<strong>im</strong> Kopieren von Plots amerikanischer<br />

Kinoerfolge, das renommierten wie aufstrebenden<br />

Filmkünstlern ein Forum bietet, ihre<br />

Geschichten zu erzählen.<br />

Verena Kulenkampff, WDR, Fernsehdirektorin,<br />

<strong>ARD</strong>-Koordinatorin Fernsehfilme<br />

Fernsehfilm <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 121


122<br />

»Männer und Frauen sind<br />

gleichberechtigt«<br />

Quote, Qualität und Gleichstellung in der <strong>ARD</strong><br />

Von Barbara Lessel-Waschbüsch<br />

Im Sommer 2008 erinnerten zahlreiche Medien an<br />

»50 Jahre Gleichberechtigung«. Der Anlass: Am 1. 7. 1958<br />

war das »Gleichberechtigungsgesetz« in Kraft getreten,<br />

welches das damals geltende Ehe- und Familienrecht<br />

an den <strong>im</strong> Grundgesetz Artikel 3 Absatz 2 postulierten<br />

Gleichheitsgrundsatz anglich. Einer von vielen Schritten<br />

in Richtung Gleichstellung. Die neue Frauenbewegung<br />

gab der Entwicklung in den 70er und 80er Jahren ent-<br />

scheidenden Schub. Auch in der Medienbranche wurde<br />

heftig diskutiert, wie und wo Frauen in den Sendern<br />

und <strong>im</strong> Programm vertreten sind – zunächst mit ernüch-<br />

ternder Bilanz. 1978 fand das erste Treffen der Medien-<br />

frauen von <strong>ARD</strong> und ZDF statt; 1989 wurde die erste<br />

Gleichstellungsbeauftragte etabliert – be<strong>im</strong> WDR. Bis<br />

1998 folgten die anderen Sender. Eine (Zwischen-)Bilanz<br />

zum Thema Frauenförderung in der <strong>ARD</strong>.<br />

Foto oben: Podiumsdiskussion<br />

be<strong>im</strong> Herbsttreffen 2006<br />

H<br />

art aber fair: 50 Jahre Gleichberechtigung<br />

– wann kommt der Männerbeauftragte?«,<br />

fragt Frank Plasberg<br />

am 11. 6. 2008 zur besten Sendezeit.<br />

Die Gesprächsrunde geschlechterparitätisch fast<br />

ausgewogen: drei Männer und zwei Frauen.<br />

Und am Ende der Sendung wird dann zu Caren<br />

Miosga geschaltet, die die »Tagesthemen« moderiert.<br />

Frauen vor der Kamera, am Mikrofon und<br />

als Gesprächspartnerinnen: heute eine Selbstverständlichkeit.<br />

Auch <strong>im</strong> renommierten<br />

»Presseclub«. Schon 1995 fragte der damalige<br />

WDR-Intendant Fritz Pleitgen: »Mit Power<br />

zur Gleichheit?«, und diskutierte die Ergebnisse<br />

der 4. Weltfrauenkonferenz in Peking mit<br />

fünf Fachjournalistinnen. Die Medienfrauen<br />

von <strong>ARD</strong> und ZDF brachte seine Moderation<br />

allerdings auf: Für »seine Dienste um den väterlichen<br />

Journalismus« verliehen sie ihm auf<br />

ihrem jährlichen Herbsttreffen die »Saure<br />

Gurke« für diskr<strong>im</strong>inierende Berichterstattung.<br />

Insgesamt hatte sich 1995 be<strong>im</strong> Mühen um<br />

berufliche Gleichstellung schon einiges getan:<br />

bei der Zahl der Frauen in den Unternehmen,<br />

der Präsenz von Frauen <strong>im</strong> Programm und auch<br />

bei der innerbetrieblichen Auseinandersetzung<br />

mit dem Thema Frauenförderung.<br />

_ Die Anfänge<br />

20 Jahre zuvor hatte die Studie des Münsteraner<br />

Medienwissenschaftlers Erich Küchenhoff über<br />

»Die Darstellung der Frau und die Behandlung<br />

der Frauenfrage <strong>im</strong> Fernsehen« das Programmangebot<br />

von <strong>ARD</strong> und ZDF analysiert und<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08


estätigt, was Kritikerinnen längst beklagten:<br />

Frauen waren <strong>im</strong> deutschen Fernsehen erheblich<br />

unterrepräsentiert, die gezeigten Frauenrollen<br />

überwiegend unpolitisch, die Behandlung<br />

von Frauenfragen wurde vernachlässigt. Über<br />

Politik, Wirtschaft und Sport berichteten ganz<br />

selbstverständlich und vor allem Männer. Die<br />

Küchenhoff-Studie zog damals folgendes Fazit:<br />

»Das Muster, Männer handeln, Frauen kommen<br />

vor, wird durch das Fernsehen entscheidend<br />

zementiert. Der aufklärerische Anspruch<br />

der öffentlich-rechtlichen Sender bleibt <strong>im</strong><br />

Hinblick auf die Frauen eine leere Formel.« Ein<br />

Missstand, der sich ähnlich auch intern <strong>im</strong> Arbeitsalltag<br />

der Frauen in den Sendern spiegelte.<br />

Auch wenige Jahre später waren be<strong>im</strong> WDR<br />

nur rund 15 Prozent aller Redaktionspositionen<br />

mit Frauen besetzt. Und nur fünf Prozent der<br />

WDR-Frauen befanden sich <strong>im</strong> oberen Drittel<br />

der Einkommenshierarchie, wohl aber 24 Prozent<br />

der Männer.<br />

Leitbild Hausfrau und Mutter: Die Frauen<br />

in der erfolgreichen HR-Serie »Familie Hesselbach«<br />

(Szenenfoto aus Folge 37)<br />

Die gesamtgesellschaftliche Realität zu dieser<br />

Zeit? Die Gleichberechtigung von Männern<br />

und Frauen war seit zweieinhalb Jahrzehnten<br />

<strong>im</strong> Grundgesetz festgeschrieben. Die Bildungschancen<br />

für Mädchen und Frauen hatten sich<br />

seit den 60er Jahren deutlich verbessert. Das<br />

Ehereformgesetz hielt allerdings erst 1977 verbindlich<br />

fest, dass »beide Ehegatten berechtigt<br />

sind, erwerbstätig zu sein«. Die politisch enttäuschten<br />

und unzufriedenen Frauen hatten<br />

sich die Emanzipation auf die Fahnen geschrieben<br />

und sorgten mit ihren Forderungen nach<br />

einem selbstbest<strong>im</strong>mten und erfüllenden<br />

Berufs- und Privatleben für gesellschaftlichen<br />

Sprengstoff.<br />

_ Quote und Qualität<br />

Die Frauen <strong>im</strong> öffentlich-rechtlichen Rundfunk<br />

wollten nicht länger »in der zweiten Reihe« sitzen.<br />

Ihre Themen für die kommenden Jahre:<br />

eine verbindliche Frauenquote in den Sendern,<br />

bessere Ein- und Aufstiegschancen, gerechte<br />

Entlohnung, qualifizierte berufliche Fort- und<br />

Weiterbildung, die Chance auf Teilzeitarbeit,<br />

das »Babyjahr« und flexiblere Arbeitszeiten.<br />

Familie und Beruf sollten einander nicht mehr<br />

ausschließen, sondern endlich vereinbar werden.<br />

Die Forderungen richteten sich aber nicht<br />

nur auf die Veränderung der innerbetrieblichen<br />

Wirklichkeit. Die Küchenhoff-Studie hatte<br />

ja wissenschaftlich belegt, was die Frauen <strong>im</strong><br />

und am Rundfunk kritisierten, und die verantwortlichen<br />

Männer konnten diese Mängel nun<br />

nicht mehr so einfach wegdiskutieren. Den<br />

Kämpferinnen für die Gleichstellung ging es<br />

auch um die Inhalte und die gesellschaftlichen<br />

Auswirkungen der journalistischen Arbeit. Sie<br />

drängten entschlossen auf die Veränderung der<br />

üblichen Standards und Formen: Die reine<br />

Männersicht und die typischen Männerfragen<br />

nach nur scheinbar objektiven und aussagekräftigen<br />

Fakten und Zahlen ohne Blick auf die<br />

Lebenswirklichkeit sollten verschwinden. Ziele<br />

waren ferner, in Gesprächsrunden kompetente<br />

Expertinnen zu Wort kommen zu lassen und<br />

Schluss zu machen mit der ständigen Wiederholung<br />

der bekannten Klischees von aktiven<br />

Entscheidern und passiven Familien-Frauen.<br />

Gesucht wurde eine präzise und differenzierte<br />

Geschlechtersicht. Frauen wollten auch als<br />

Kommentatorinnen, Moderatorinnen und Autorinnen<br />

präsent und meinungsprägend werden.<br />

Frauenförderung <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 123


Mitte der 90er Jahre wurde für diesen Denkansatz,<br />

der anerkennt, dass es keine geschlechtsneutrale<br />

Wirklichkeit gibt und Männer und<br />

Frauen in sehr unterschiedlicher Weise von politischen<br />

und administrativen Entscheidungen<br />

betroffen sein können, der Begriff »Gender<br />

Mainstreaming« geprägt. Die EU machte dazu<br />

Vorgaben, Bund und Länder zogen nach.<br />

Bald wurde auch in der <strong>ARD</strong> »gegendert«. Die<br />

Frauenbeauftragten gaben Impulse in die journalistische<br />

Arbeit und die Ausbildung. Ihre<br />

Erkenntnis: Geschlechtersensibilität ist ein<br />

wesentliches Kriterium für guten Journalismus.<br />

Geschlechtergerechte Sprache übrigens auch!<br />

Viele hausinterne Texte und Formulare wurden<br />

daraufhin überarbeitet, Moderationstexte ebenfalls!<br />

_ Vorreiterinnen mit Beharrungsvermögen<br />

Frauen in der <strong>ARD</strong>: Vor rund 30 Jahren hieß<br />

das rund ein Drittel weibliche Beschäftigte, von<br />

denen wiederum etwa 80 Prozent <strong>im</strong> unteren<br />

Gehaltsgefüge angesiedelt waren. Ganz anders<br />

die Situation der Männer. Rund 80 Prozent<br />

von ihnen wurden in der oberen Hälfte der<br />

Vergütungsgruppen bezahlt. Der Einstieg ins<br />

Unternehmen bot Männern in der Regel kontinuierliche<br />

Aufstiegschancen. Kein Sender in der<br />

<strong>ARD</strong> wurde von einer Frau geführt. Nur be<strong>im</strong><br />

SDR gab es 1978 eine Frau in der Geschäftsleitung,<br />

und zwar als Justiziarin.<br />

Heute schwankt der Frauenanteil in den<br />

einzelnen Häusern zwischen 44 und 55,2 Prozent.<br />

Die Einkommenssituation hat sich für die<br />

Frauen deutlich verbessert. Sie sind <strong>im</strong> Mittelbau<br />

der Gehaltshierarchie angekommen. Frauen<br />

sind Direktorinnen, Chefredakteurinnen,<br />

Auslandskorrespondentinnen; sie berichten<br />

von der Front und von der Fußball-Europameisterschaft,<br />

sind als Kamera- und Tonfrauen<br />

tätig und prägen die Verwaltungen. Dagmar<br />

Re<strong>im</strong> ist Intendantin be<strong>im</strong> RBB, und Monika<br />

Piel steht an der Spitze des WDR. Der Blick<br />

auf die Geschäftsleitungsebenen der einzelnen<br />

Rundfunkanstalten ergibt ein differenziertes<br />

Bild: Bei BR, HR und SR ist hier keine einzige<br />

Frau zu finden. Be<strong>im</strong> RBB gibt es <strong>im</strong>merhin<br />

zwei Frauen gegenüber vier Männern, be<strong>im</strong><br />

NDR zwei Frauen gegenüber sieben Männern.<br />

Be<strong>im</strong> SWR schließlich steht eine Direktorin<br />

neben sieben Männern, während be<strong>im</strong> MDR<br />

vier Frauen fünf Männern gegenüberstehen und<br />

be<strong>im</strong> WDR die Geschäftsleitung je zur Hälfte<br />

mit Frauen und Männern besetzt ist.<br />

Inge von Bönninghausen (l.) und Ute Remus<br />

Der Weg dahin war ein mühsamer Gang<br />

durch die Institution öffentlich-rechtlicher<br />

Rundfunk. Motor waren der Veränderungswille<br />

der Frauen, die gesamtgesellschaftlichen Prozesse<br />

und gesetzliche Vorgaben. Jeder Sender<br />

entwickelte sein eigenes Tempo be<strong>im</strong> Willen,<br />

sich zu verändern und Frauen zu fordern und<br />

zu fördern. An der Spitze: der WDR. Eine<br />

aktive Frauengruppe gab den Anstoß zum<br />

Handeln und kämpfte <strong>im</strong> Unternehmen für<br />

Chancengleichheit <strong>im</strong> Innern und für die angemessene<br />

Umsetzung des Themas <strong>im</strong> Programm.<br />

Inge von Bönninghausen, langjährige Redaktionsleiterin<br />

und Moderatorin von »Frauen-<br />

Fragen«, später »frauTV«, und Ute Remus,<br />

frühere Redaktionsleiterin des Hörfunk-Frauenmagazins<br />

»abwasch«, gehören zu den Frauen,<br />

die für diesen Aufbruch stehen. Ihr Blick ist<br />

nicht nur auf den WDR oder die <strong>ARD</strong> gerichtet:<br />

Sie erkennen, dass die »Frauenfrage in den<br />

Medien« auch eine relevante Frage für und in<br />

Europa ist, und vernetzen sich <strong>im</strong> Europäischen<br />

Steering Committee zur Chancengleichheit in<br />

den Medien. Von dort fließen später wichtige<br />

Anregungen aus den skandinavischen Rundfunkanstalten<br />

und der BBC in den deutschen<br />

Medienalltag ein.<br />

Auch be<strong>im</strong> HR sind die Frauen sehr aktiv<br />

und werden vom Personalrat unterstützt. 1984<br />

wird be<strong>im</strong> HR eine erste Dienstvereinbarung<br />

zur Frauenförderung geschlossen. Grundlage<br />

dafür war das hessische Personalvertretungsgesetz.<br />

Der Deutschlandfunk denkt schon seit<br />

Mitte der 70er Jahre um. Hier macht man das<br />

Thema zunächst an der beruflichen Fort- und<br />

Weiterbildung fest. Marlies Hesse, die später<br />

124 Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08<br />

124


den Journalistinnenbund mit gründet, setzt als<br />

persönliche Referentin mit dem Intendanten<br />

Richard Becker die Impulse.<br />

Ab Ende der 70er Jahre heißt das »Zauberwort«<br />

der Gleichstellungsarbeit »Frauenförderpläne«.<br />

Die Medienfrauen diskutieren lebhaft<br />

auf ihren Herbsttreffen, was darin festgehalten<br />

werden soll: die statistische Analyse der Situation<br />

der Frauen <strong>im</strong> Unternehmen, Frauen-Quoten<br />

für die Unternehmensbereiche mit Unterrepräsentanz,<br />

die Quote für Besetzungsverfahren<br />

und für die Ausbildung, die Regelung von<br />

Teilzeitbeschäftigung. Das Thema »Teilzeit in<br />

Führungspositionen« erweist sich für viele Jahre<br />

als besonders harter Brocken. Führungskräfte<br />

sollten eigentlich rund um die Uhr, zumindest<br />

aber während der gesamten Arbeitszeit verfügbar<br />

sein, lautet der Anspruch. Dieser Männermythos<br />

scheint viele Jahre unveränderlich – wo<br />

Frauen die Chance erhalten, sich Arbeit und<br />

Führung teilen, wird das zunächst kritisch-staunend<br />

zur Kenntnis genommen. Dass Frauen anders<br />

als Männer oft keine durchgängige Berufsbiografie<br />

haben, Kinder erziehen und Kranke<br />

pflegen, benachteiligt sie <strong>im</strong> beruflichen Alltag<br />

und in der Folge bei der Rente. Auch das ist ein<br />

Gleichstellungsthema. Es muss sorgfältig informiert<br />

und beraten werden, am besten in Zusammenarbeit<br />

mit dem Personalmanagement.<br />

_ Deutsch-deutsche Wirklichkeiten<br />

Die deutsche Einheit verändert die Medienlandschaft.<br />

Die Sender der DDR werden aufgelöst.<br />

1992 werden ORB und MDR gegründet.<br />

Die Medienfrauen erleben den Fall der<br />

Mauer während ihres Herbsttreffens <strong>im</strong> November<br />

1989 bei den Berliner Sendern SFB<br />

und RIAS hautnah mit und müssen danach<br />

gelegentlich mühsam begreifen, dass für die<br />

Kolleginnen <strong>im</strong> Osten die Frauenfrage und<br />

Gleichstellung längst abgehakt scheinen. Die<br />

Berufstätigkeit der Frauen war in der DDR<br />

gesellschaftspolitisch verankert und selbstverständlich.<br />

So spricht man oft nicht die gleiche<br />

Sprache. Be<strong>im</strong> ORB gehören eine Dienstanweisung<br />

zur Gleichstellung und die Berufung einer<br />

Beauftragten zu den ersten Amtshandlungen<br />

des Intendanten Hansjürgen Rosenbauer. Innerhalb<br />

von 18 Monaten steigt der Frauenanteil<br />

Barbara Dickmann, eine der ersten<br />

»Tagesthemen«-Frauen, bis Sommer 2008<br />

Redaktionsleiterin von »ML Mona Lisa«<br />

<strong>im</strong> ZDF<br />

von 40 auf 50 Prozent. Der MDR verordnet<br />

sich schon bei der Gründung eine »Dienstvereinbarung<br />

zur Förderung der beruflichen<br />

Gleichstellung«. Wo weniger Männer als Frauen<br />

arbeiten, heißt der MDR in Ausschreibungen<br />

Männer »besonders willkommen«.<br />

1989, <strong>im</strong> Jahr der Wende, wird Rita Z<strong>im</strong>mermann<br />

die erste hauptamtliche Gleichstellungsbeauftragte<br />

des WDR und der <strong>ARD</strong>. Auch die<br />

Besetzung von Führungspositionen fällt in ihren<br />

Zuständigkeitsbereich. Auch das ist möglich,<br />

denken da Frauen erstaunt in den Sendern, in<br />

denen die Entwicklung langsamer vorangeht.<br />

Die Beteiligung an Einstellungs- und Besetzungsverfahren<br />

ist der Schlüssel zur Verbesserung<br />

der Frauenquote. Als Gleichstellungsgesetze<br />

oder Dienstvereinbarung den Frauen- und<br />

Gleichstellungsbeauftragten das Recht einräumen,<br />

von Anfang an an Besetzungsverfahren<br />

Die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten<br />

von <strong>ARD</strong> und ZDF tagten am 29./30. 4. 2008<br />

be<strong>im</strong> SR in Saarbrücken. SR-Intendant Fritz Raff<br />

(M.) war be<strong>im</strong> Fototermin dabei.<br />

Frauenförderung <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 125


126<br />

mitzuwirken, gewinnt die Personal- und Einstellungspolitik<br />

zunehmend an Transparenz und<br />

Nachvollziehbarkeit.<br />

_ Neue Maßstäbe, bessere Personalentscheidungen<br />

Es wird heftig darum gerungen, wie viele<br />

Frauen überhaupt zu Vorstellungsgesprächen<br />

eingeladen werden (müssen). In Bereichen, in<br />

denen eine Frauenquote für Einstellungen festgelegt<br />

ist, müssen Stellenprofile eindeutig definiert<br />

und die daran geknüpften Anforderungen<br />

<strong>im</strong> Gespräch nachvollziehbar abgeklopft werden.<br />

Entscheidungen zugunsten von Männern<br />

müssen nun qualifiziert begründet werden. Das<br />

Verfahren ist aufwändig und zwingt die Perso-<br />

nalverantwortlichen, gut vorbereitet in die Besetzungsverfahren<br />

zu gehen. So gewinnen Auswahlverfahren<br />

und die Personalentscheidungen<br />

insgesamt auf Dauer an Güte, ein nicht zu unterschätzendes<br />

Plus für alle Sender.<br />

_ Gemeinsam stärker sein – Netzwerkarbeit<br />

Die Institutionalisierung erleichtert auch den offiziellen<br />

Kontakt unter den engagierten Frauen.<br />

1992 lädt der WDR zum »<strong>Ersten</strong> Treffen der mit<br />

der beruflichen Gleichstellung der Frauen in<br />

<strong>ARD</strong> und ZDF befassten Frauen« nach Köln<br />

ein. Gewerkschaftlich aktive Personalrätinnen<br />

und Sprecherinnen der Frauengruppen nutzen<br />

die Möglichkeit zum Erfahrungsaustausch.<br />

Die <strong>ARD</strong>/ZDF-Gleichstellungskonferenz wird<br />

zur festen Einrichtung. Inzwischen finden die<br />

Treffen regelmäßig zwe<strong>im</strong>al <strong>im</strong> Jahr statt. Auf<br />

der Tagesordnung stehen die jeweils aktuellen<br />

Entwicklungen und die Frage, wie man von den<br />

Erfahrungen in den anderen Häusern profitieren<br />

kann. Wichtige Stichworte dazu: die Neuen<br />

Medien, Digitalisierung in Hörfunk und Fernsehen,<br />

das Entstehen neuer Berufsbilder, Chancen<br />

und Risiken von Teilzeitarbeit, Telearbeit,<br />

die Fortbildung von Frauen, und zwar auch in<br />

der Elternzeit, Frauenförderung durch Mentoringprojekte<br />

und Führungskräfte-Schulungen,<br />

die kritische Begleitung entscheidender Veränderungen<br />

und Entwicklungen <strong>im</strong> Programm.<br />

Zurück zu der Institutionalisierung der<br />

Frauenbeauftragten: Ingrid Schindler, die erste<br />

Frauenbeauftragte des SFB, wird nach einer<br />

Wahlanfechtung zunächst vom Intendanten<br />

Günther von Lojewski des Amtes enthoben.<br />

Mithilfe des Verwaltungsgerichts erreicht sie<br />

ihre Wiedereinsetzung. Solch ein heftiges Ringen<br />

ums Amt bleibt allerdings die Ausnahme.<br />

Nach und nach erhalten alle Sender Frauenbeauftragte:<br />

1990 ist es bei Radio Bremen so<br />

weit, 1992 bestellt der neu gegründete ORB eine<br />

Frauenbeauftragte; der NDR erlässt in diesem<br />

Jahr eine Dienstvereinbarung zur beruflichen<br />

Gleichstellung von Frauen und Männern. Die<br />

erste hauptamtliche Gleichstellungsbeauftragte<br />

ist dem Intendanten in einer Stabsstelle der<br />

Unternehmensleitung unterstellt, <strong>im</strong> Jahr darauf<br />

erhält das Landesfunkhaus Hannover eine<br />

eigene Beauftragte. Die DW betreibt von 1995<br />

an Gleichstellungsarbeit nach den Regelungen<br />

des Frauenfördergesetzes des Bundes.<br />

Dienstvereinbarungen, Frauenförderpläne,<br />

Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte gewählt<br />

oder ins Amt berufen: 1998 ist der Prozess abgeschlossen:<br />

Schlusslichter sind der SR und der BR.<br />

Be<strong>im</strong> SR dürfen nach dem Landesgleichstellungsgesetz<br />

auch die festen freien Frauen die<br />

Beauftragte wählen, das ist sonst nur noch bei<br />

Radio Bremen möglich. Mehr noch: Im ersten<br />

Frauenförderplan übern<strong>im</strong>mt die Geschäftsleitung<br />

die Anregung der Frauenbeauftragten, und<br />

die festen freien Frauen können sich künftig<br />

auf alle Regelungen <strong>im</strong> SR-Frauenförderplan<br />

berufen.<br />

Als SDR und SWF 1998 zum SWR fusionieren,<br />

wird auch ein neuer Frauenförderplan<br />

fällig. In Baden-Baden, Stuttgart und Mainz<br />

gibt es danach Gleichstellungsbeauftragte, die<br />

jeweils zu 50 Prozent freigestellt sind.<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08


_ Frauenförderung: Das Erreichte bewahren<br />

und sich neuen Erfordernissen stellen<br />

Eine wichtige Etappe ist damit kurz vor der<br />

Jahrhundertwende erreicht. Grund zur Zufriedenheit?<br />

Mündet die Geschichte der<br />

Gleichstellungsbeauftragten mit nun verbrieften<br />

Rechten und Pflichten endgültig in eine<br />

Erfolgsgeschichte für die Gleichstellung <strong>im</strong><br />

öffentlich-rechtlichen Rundfunk? Doch neue<br />

Probleme tauchen auf. Die Wachstumsjahre<br />

gehen zu Ende: Der <strong>ARD</strong>-Finanzausgleich in<br />

seiner bisherigen Form fällt. Die Sender stehen<br />

<strong>im</strong> Wettbewerb mit privaten Anbietern, <strong>im</strong>mer<br />

lauter wird die Akzeptanzfrage bei der Rundfunkgebühr<br />

gestellt. Sparen ist angesagt. Die<br />

Keine Angst vor Technik: Schülerinnen be<strong>im</strong><br />

Girls’ Day, links: be<strong>im</strong> RBB-Jugendprogramm<br />

Fritz, rechts: be<strong>im</strong> SR hinter der Kamera<br />

Sender verringern ihr Personal, schicken die<br />

Beschäftigten in Altersteilzeit und in den Vorruhestand.<br />

Das verbessert dort, wo mehr Männer<br />

als Frauen gehen, zunächst die Frauenquote.<br />

Allerdings zeigt sich schnell ein anderes Problem:<br />

Wer Personal abbaut, verzichtet zwangsläufig<br />

auf Neueinstellungen. Mehr Frauen in<br />

die Sender! Bei dieser Maßgabe ist das kaum<br />

noch zu realisieren. Es bleibt nur die interne<br />

Qualifizierung von Kolleginnen, doch die sind<br />

ja beispielsweise in best<strong>im</strong>mten technischen Bereichen<br />

bislang kaum vertreten.<br />

Allerdings: Gleichstellung ist kein Fremdwort<br />

mehr, Intendanten bekennen sich zu einer<br />

aktiven Förderpolitik. Gleichstellung wird als<br />

Ziel in Unternehmensleitlinien proklamiert.<br />

Trotzdem muss weiter gekämpft werden: Bei<br />

der Fusion von ORB und SFB fordern die<br />

Mitarbeiterinnen <strong>im</strong> Vorfeld der Zusammenlegung,<br />

keine Rückschritte bei dem Bemühen um<br />

Gleichstellung zuzulassen und <strong>im</strong> neuen Unternehmen<br />

»Gender Mainstreaming als Instrument<br />

für Geschlechtergerechtigkeit anzuwenden«.<br />

2003 schließlich ist die <strong>ARD</strong>-Intendantenrunde<br />

kein reiner Männerclub mehr. Dagmar<br />

Re<strong>im</strong> wird Gründungsintendantin des RBB, bevor<br />

Angela Merkel zwei Jahre später erste Bundeskanzlerin<br />

in Deutschland wird.<br />

Aus Sicht der Gleichstellungsbeauftragten<br />

war die Entscheidung für eine Intendantin längst<br />

überfällig. Das wurde auch in Briefen dokumentiert,<br />

die die <strong>ARD</strong>/ZDF-Gleichstellungskonferenz<br />

an die wahlberechtigten Gremien schrieb<br />

und sie aufforderte, sich um qualifizierte Kandidatinnen<br />

zu bemühen. Be<strong>im</strong> 23. Herbsttreffen<br />

<strong>im</strong> Jahr 2000 in Köln, bei dem Fritz Pleitgen<br />

sagte, die Zeit sei »überreif für eine Intendantin«,<br />

hatten übrigens die meisten Frauen gewettet,<br />

dass der WDR als Sieger aus dem Intendantinnenrennen<br />

hervorgehen würde.<br />

_ Und die Ergebnisse?<br />

Die <strong>ARD</strong> hat sich durch 30 Jahre Gleichstellungspolitik<br />

für Frauen und Männer spürbar verändert:<br />

Die Frauenquote ist insgesamt deutlich<br />

besser geworden. Die gläserne Decke bremst<br />

aber <strong>im</strong>mer noch den Weg nach ganz oben.<br />

Die Journalistinnen haben das Getto typischer<br />

Frauenressorts verlassen und prägen die unterschiedlichsten<br />

Sendeplätze. 2007 stehen auf der<br />

Kommentarliste der »Tagesthemen« 46 Männer<br />

und 14 Frauen. Das entspricht einer Frauenquote<br />

von 23,3 Prozent. Einmal <strong>im</strong> Jahr werden<br />

die Ergebnisse der Gleichstellungsarbeit den<br />

zuständigen Gremien präsentiert. Hier hören<br />

dann allerdings außer bei NDR, WDR und<br />

Radio Bremen <strong>im</strong>mer noch deutlich mehr Männer<br />

als Frauen zu.<br />

Frauenförderung <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 127


128<br />

Bundesfamilienministerin Ursula von der<br />

Leyen mit einigen Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten<br />

der <strong>ARD</strong><br />

Die Gleichstellungsarbeit ist als Querschnittsaufgabe<br />

etabliert, die Beauftragten sind<br />

anerkannte Gesprächspartnerinnen <strong>im</strong> Vorfeld<br />

relevanter Unternehmensentscheidungen.<br />

Be<strong>im</strong> journalistischen Nachwuchs punkten<br />

die Frauen <strong>im</strong>mer stärker. Kritisch wird es aber<br />

oft <strong>im</strong>mer noch, wenn Kinder ins Spiel kommen.<br />

Sie können nach wie vor zur Karrierebremse<br />

werden. Dass Frauen wie Männer besser<br />

arbeiten, wenn ihre Kinder gut betreut werden,<br />

haben inzwischen viele Sender erkannt und eigene<br />

(Notfall-)Angebote entwickelt bis hin zur<br />

sendereigenen Ferienbetreuung. Reduzierte und<br />

flexible Arbeitszeiten sind inzwischen gängige<br />

Modelle, und Unterstützung bei der Rückkehr<br />

aus der Erziehungszeit ist selbstverständlich.<br />

Auch in der Ausbildung gilt die Frauenquote.<br />

Die Gleichstellungsbeauftragten haben sich<br />

jahrelang in ihren Sendern und in der <strong>ARD</strong> für<br />

mehr Frauen in Technik und Produktion stark-<br />

gemacht und darauf reagiert, dass in Besetzungsverfahren<br />

oft qualifizierte Bewerberinnen<br />

fehlten. Sie knüpften u. a. Kontakte mit den<br />

Technischen Hochschulen. 2005 hat der NDR<br />

mit seiner Gleichstellungsbeauftragten Sabine<br />

Knor ein Projekt in Angriff genommen, das<br />

nun gemeinschaftlich in der gesamten <strong>ARD</strong><br />

betrieben wird. Unter der Überschrift »Frauen<br />

in die Technik – Für die Besten <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong>«<br />

präsentiert sich die <strong>ARD</strong> mit ihren familienfreundlichen<br />

Maßnahmen als attraktive Arbeitgeberin<br />

für Studentinnen aus den Bereichen<br />

Medientechnik, Medienbetriebstechnik, Infor-<br />

matik und Elektrotechnik. Über Praxissemester,<br />

Studien- und Abschlussarbeiten soll der erste,<br />

hoffentlich entscheidende Kontakt geknüpft<br />

werden. Auf dem Fachkongress WoMenPower<br />

2008 während der Hannover Messe warben die<br />

Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten von<br />

NDR, SWR, WDR und BR für diese Initiative.<br />

Die Bundesfamilienministerin Ursula von der<br />

Leyen war begeistert. Ein eigener Förderpreis<br />

»Frauen und Medientechnologie« von <strong>ARD</strong><br />

und ZDF soll das Projekt ab Herbst 2008 vervollständigen.<br />

Zielgerichtete Gleichstellungsarbeit bleibt<br />

also weiter eine Herausforderung für die<br />

Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten und<br />

die Verantwortlichen in den Funkhäusern. Die<br />

Unternehmenskultur wird maßgeblich von der<br />

Unternehmensführung geprägt. Der Konkurrenzkampf<br />

zwischen Männern und Frauen darf<br />

nicht zulasten der Frauen ausgehen, das weibliche<br />

Qualifikationspotenzial nicht ungenutzt<br />

bleiben. Berufstätigkeit muss flexibler gestaltet<br />

werden und auch an den Erfordernissen der<br />

Familie orientiert sein. Nicht nur zum Wohl<br />

der Frauen, sondern auch <strong>im</strong> Sinne eines wandlungsfähigen<br />

und erfolgreichen Medienunternehmens<br />

<strong>ARD</strong>.<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08<br />

Barbara Lessel-Waschbüsch, Frauenbeauftragte<br />

des SR und Leiterin der Programmgruppe Kirche,<br />

Religion und Gesellschaft Hörfunk /Fernsehen<br />

Dank an alle Beauftragten, besonders an Angelika<br />

Lipp-Krüll, SWR, und Ute Mies-Weber, DW, für Zahlen<br />

und Fakten.


In der Medienbranche zählt die <strong>ARD</strong> zu den größten<br />

Ausbildern in Deutschland. Die Qualität der journalis-<br />

tischen Aus- und Fortbildung in den Rundfunkanstalten<br />

ist unbestritten hoch; Volontariate und Praktika sind<br />

heiß begehrt.<br />

Das Spektrum der Berufe, in denen die <strong>ARD</strong>-Anstalten<br />

ausbilden, ist aber sehr viel breiter: Vom Koch über den<br />

Kaufmann für Bürokommunikation, vom Maler bis zum<br />

Mediengestalter, vom Feinmechaniker bis zum Film-<br />

und Videoeditor – insgesamt 20 Ausbildungsberufe<br />

nach dem Berufsbildungsgesetz (BBiG) stehen zur Wahl.<br />

Hinzu kommen Traineeprogramme und Praktika für<br />

Schüler und Studenten sowie Ausbildungsinitiativen für<br />

so genannte benachteiligte Jugendliche. Hier sieht sich<br />

die <strong>ARD</strong> in einer besonderen gesellschaftlichen Verant-<br />

wortung, denn nicht zuletzt die Gebühren der<br />

Allgemeinheit verpflichten zu einer verantwortungs-<br />

vollen Personalpolitik.<br />

Über den eigenen Bedarf hinaus<br />

Nachwuchsförderung und Ausbildung in der <strong>ARD</strong><br />

Von Helmut Reitze<br />

I<br />

n der Großküche der HR-Kantine herrscht<br />

routinierte Betriebsamkeit. Bis zu 1 300<br />

Essen werden hier jeden Tag ausgegeben.<br />

Die Vorbereitung für das Mittagessen beginnt<br />

bei dieser logistischen Herausforderung<br />

bereits früh am Morgen, während vorne <strong>im</strong><br />

Kantinenbereich das Frühstück für die HR-Mitarbeiter<br />

angeboten wird: Rührei, belegte Brötchen,<br />

süße Teilchen. »Business as usual« und<br />

doch liegt heute eine gewisse Aufregung in der<br />

Luft: Ist die Milch in der Kaffeemaschine aufgefüllt?<br />

Liegen die gekochten Eier in der Auslage?<br />

Ist die Kasse besetzt?<br />

An diesem Montagmorgen haben die Auszubildenden<br />

des Kasinos die Betriebsabläufe in<br />

der Hand. Eine ganze Woche lang werden sie<br />

dafür sorgen, dass in der Kantine, dem Restaurant<br />

und dem Café des HR alles reibungslos<br />

klappt. Die rund 30 angehenden Köche und<br />

Restaurantfachleute haben den Speiseplan zusammengestellt<br />

und eingekauft, nun werden sie<br />

die Gerichte kochen und verkaufen. »In dieser<br />

Woche zeigen unsere Auszubildenden, was sie<br />

bei uns gelernt haben, dass sie in der Lage sind,<br />

einen Betrieb <strong>im</strong> Gastgewerbe selbständig zu<br />

organisieren und zu führen. Diese jährlich stattfindende<br />

Woche ist ein besonderes Highlight in<br />

unserer Ausbildung«, erzählt Lutz Reigber, der<br />

Leiter des HR-Kasino-Betriebs.<br />

Von den Kunden, den HR-Mitarbeitern,<br />

würde die »Azubi-Woche« kaum jemand bemerken,<br />

wenn nicht die Auszubildenden mit einem<br />

gewissen Stolz auf Plakaten und Handzetteln<br />

darauf aufmerksam gemacht hätten, dass in<br />

<strong>ARD</strong> als Ausbilder <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 129


130<br />

Kai-Oliver Graf, Koch-Auszubildender<br />

be<strong>im</strong> HR, schmeckt den Fleisch-Fond ab.<br />

dieser Woche alles in ihrer Verantwortung liegt,<br />

denn an der Qualität des Essens und des Service<br />

hat sich nichts geändert.<br />

Unter den Auszubildenden <strong>im</strong> HR-Kasino<br />

sind junge Mitarbeiter, denen eine so selbständige<br />

Leistung vor zwei Jahren noch kaum<br />

jemand zugetraut hätte, denn sie verließen die<br />

Schule ohne Hauptschulabschluss. Die Chance,<br />

eine Lehrstelle zu finden, ist gerade für diese Jugendlichen<br />

sehr gering; der Weg in die Arbeitslosigkeit<br />

in vielen Fällen die direkte Folge. Um<br />

das zu verhindern, bemüht sich die Industrie-<br />

und Handelskammer (IHK) Frankfurt darum,<br />

besonders für diese Gruppe der Schulabgänger<br />

die zweijährigen Ausbildungsberufe wieder zu<br />

beleben. Eines der größten Unternehmen in<br />

Frankfurt, das sich an dieser Initiative beteiligt,<br />

ist der HR: Mit der zweijährigen Ausbildung<br />

zur »Fachkraft <strong>im</strong> Gastgewerbe« bietet er den<br />

Jugendlichen ohne Schulabschluss eine Perspektive:<br />

Wer sich in den zwei Jahren bewährt,<br />

erhält die Chance, ein drittes Lehrjahr anzuschließen,<br />

um sich dann als Koch oder Restaurantfachkraft<br />

ausbilden zu lassen. »Rund 80<br />

Prozent der Auszubildenden haben das dritte<br />

Lehrjahr gemacht«, zieht Lutz Reigber eine<br />

positive Bilanz, »denn nicht jeder, der in der<br />

Schule schwach war, muss auch in der Praxis<br />

schwach sein.«<br />

Rund sieben Prozent aller Frankfurter Schüler<br />

verlassen die Schule ohne einen Abschluss.<br />

Mehr als die Hälfte dieser Jugendlichen stammt<br />

aus Familien mit Migrationshintergrund. Sie<br />

in den Arbeitsmarkt zu integrieren, ist für die<br />

Stadt Frankfurt eine besondere Herausforderung:<br />

»Natürlich ist es unser erstes Ziel, dass<br />

alle Schüler die Schule mindestens mit einem<br />

Hauptschulabschluss verlassen«, erklärt Frankfurts<br />

Oberbürgermeisterin Petra Roth das Vorgehen<br />

der Stadt bei der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit,<br />

»<strong>im</strong> zweiten Schritt müssen wir<br />

uns darum bemühen, dass allen Jugendlichen<br />

in Frankfurt der Start ins Berufsleben gelingt.<br />

Das ist für die betroffenen jungen Menschen<br />

die entscheidende Weichenstellung für eine<br />

Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Der HR<br />

ist hier ein wichtiger Partner für uns. Nicht nur<br />

weil er vielen jungen Menschen jedes Jahr eine<br />

berufliche Perspektive bietet, sondern auch weil<br />

er die Schüler bei der Berufsorientierung durch<br />

das Angebot von Schulpraktika unterstützt.«<br />

_ Schüler lernen mit der <strong>ARD</strong><br />

Insgesamt bietet die <strong>ARD</strong> jedes Jahr fast 2 000<br />

Schülern durch ein Praktikum einen ersten Einblick<br />

ins Berufsleben. Das leistet kein anderes<br />

Medienunternehmen in Deutschland. Der<br />

Aufwand bei den Schülerpraktika ist hoch, der<br />

Nutzen für die Unternehmen jedoch schwer<br />

zu kalkulieren. Daher scheuen viele Unternehmen<br />

davor zurück, Schüler für zwei bis drei<br />

Wochen aufzunehmen. Für Schüler und Lehrer<br />

ist es daher nicht <strong>im</strong>mer leicht, ausreichend<br />

Praktikumsplätze zu finden. Der <strong>ARD</strong>-Senderverbund<br />

entscheidet sich ganz bewusst für diese<br />

Form gesellschaftlichen Engagements, denn<br />

das Praktikum ist wichtig, weil es den Übergang<br />

zwischen Schule und Lehre erleichtert. Hier<br />

bekommen die Schüler wertvolle Impulse für<br />

ihre Berufsorientierung, und sie sammeln erste<br />

Erfahrungen, sich bei einem Unternehmen zu<br />

bewerben und zu präsentieren. Eine wichtige<br />

Vorbereitung für den schwierigen Wettbewerb<br />

um eine Lehrstelle.<br />

Das »Hamburger Hauptschulmodell« rückt<br />

deshalb Berufsorientierung und Bewerbungstraining<br />

in den Mittelpunkt seiner Aktivitäten. Die<br />

Arbeitsstiftung Hamburg hatte festgestellt, dass<br />

weniger als zehn Prozent der Hauptschul-Abgänger<br />

unmittelbar nach Beendigung der Schule<br />

einen ungeförderten betrieblichen Ausbildungsplatz<br />

gefunden hatten. Über Patenschaften<br />

mit mehr als 60 Hamburger Betrieben, die die<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08


109 Schulen mit Hauptschulzweig eingingen,<br />

sollten die Chancen der Hauptschüler verbessert<br />

werden. Der NDR hat gleich zwei Patenschaften<br />

übernommen, mit der Gesamtschule<br />

»Alter Teichweg« und mit der Haupt- und Realschule<br />

»Luruper Hauptstraße«. Diese Schule<br />

liegt in einem der so genannten Problemviertel<br />

in Hamburg, mit hoher Arbeitslosigkeit und<br />

Bürgern mit Migrationshintergrund.<br />

Der NDR versucht, mit verschiedenen<br />

Veranstaltungen die Schüler zu stärken, sie<br />

vorzubereiten auf die Berufswelt und ihre Anforderungen.<br />

So können die Teilnehmer eine<br />

Probebewerbung be<strong>im</strong> NDR abgeben, die dann<br />

von den Fachleuten der Aus- und Fortbildung<br />

kritisch begutachtet wird. »Die nehmen wir<br />

richtig auseinander und geben pädagogisch gut<br />

verpackt, aber klar und deutlich Feedback, damit<br />

die Schüler möglichst viel lernen dabei«,<br />

berichtet Otfried Krüer-Bürgermann, der das<br />

Hauptschulprojekt be<strong>im</strong> NDR betreut. Die<br />

Schüler können mit dem Feedback ihre Bewerbungsunterlagen<br />

für den Ernstfall opt<strong>im</strong>ieren.<br />

Außerdem stehen Trainings-Bewerbungsgespräche<br />

auf dem Programm: Die NDR-Experten<br />

geben Tipps zu Themen wie Kleidung, Auftreten<br />

und Wortwahl <strong>im</strong> Bewerbungsgespräch.<br />

Die Übungen bewirken, dass sich die Schüler<br />

sicherer fühlen und sich besser darstellen können.<br />

Zum Gesamtpaket der Patenschaft gehören<br />

neben dieser individuellen Beratung der Schüler<br />

zusätzlich noch Unterrichtseinheiten in den Patenschulen<br />

und Besuche von Klassen <strong>im</strong> NDR.<br />

Drei Auszubildende des NDR für den<br />

Beruf Mediengestalter Bild und Ton bei einem<br />

Dreh vor Ort<br />

Natürlich können sich die Schüler des Projekts<br />

auch be<strong>im</strong> NDR um eine Lehrstelle bewerben.<br />

Dabei müssen sie sich allerdings <strong>im</strong> ganz<br />

normalen Bewerbungsverfahren auch gegen Realschüler<br />

und Abiturienten durchsetzen. Doch<br />

durch die Vorbereitung gelingt dies <strong>im</strong>mer<br />

wieder. So bildet der NDR auch <strong>im</strong> aktuellen<br />

Ausbildungsjahrgang einen Schüler aus dem<br />

Hamburger Hauptschulmodell zum Kaufmann<br />

für Bürokommunikation aus.<br />

Mit 72 Ausbildungsplätzen <strong>im</strong> Jahr 2007<br />

stellen die angehenden Kaufleute für Bürokommunikation<br />

die größte Gruppe unter den<br />

Auszubildenden be<strong>im</strong> NDR. An zweiter Stelle<br />

folgen die Mediengestalter in Bild und Ton mit<br />

46 Auszubildenden.<br />

_ Mitgestaltung bei neuen Lehrberufen<br />

Der Mediengestalter ist ein Lehrberuf, der vom<br />

NDR mit entwickelt wurde. Das heißt, die<br />

<strong>ARD</strong> ist nicht nur ein großer und qualifizierter<br />

Ausbilder in Deutschland, die Landesrundfunkanstalten<br />

schaffen mit ihrer Kompetenz<br />

vielmehr neue Berufe und damit neue Möglichkeiten<br />

für den Arbeitsmarkt. Bis diese Impulse<br />

allerdings wirken können, bedarf es zuvor eines<br />

langen und aufwändigen Verfahrens.<br />

In enger Zusammenarbeit mit dem Bundesinstitut<br />

für Berufsbildung hat Gerald Mechnich,<br />

Leiter der produktionstechnischen Aus- und<br />

Fortbildung des NDR, den neuen Lehrberuf<br />

ent wickelt. »Wir benötigten damals dringend<br />

einen Ausbildungsberuf, weil uns unsere<br />

Tech ni ker seit dem Start des dualen Rundfunksystems<br />

<strong>im</strong>mer wieder von privaten Medienunternehmen<br />

abgeworben wurden«, erklärt<br />

Mechnich den damaligen Facharbeitermangel.<br />

»Die Entwicklung des neuen Ausbildungberufes<br />

nahm vier Jahre in Anspruch. Eine Expertenkommission<br />

arbeitete den Beruf bis ins Detail<br />

aus: best<strong>im</strong>mte Inhalte, Dauer und Lehrplan<br />

der Ausbildung«, erinnert sich Mechnich. Anschließend<br />

stellte das Bundesinstitut für Berufsbildung<br />

einen Antrag be<strong>im</strong> Bundesbildungsministerium<br />

auf Zulassung des neuen Berufes.<br />

Da Bildung in der föderalen Bundesrepublik<br />

aber Sache der Bundesländer ist, musste auch<br />

die Konferenz der Kultusminister zust<strong>im</strong>men.<br />

1996 wurden schließlich die ersten Auszubildenden<br />

zum Mediengestalter eingestellt – be<strong>im</strong><br />

NDR. Inzwischen wurde die Ausbildung noch<br />

einmal gründlich »renoviert«, berichtet Mechnich.<br />

Die technologische Basis hat sich weitgehend<br />

gewandelt. Bandmaschinen und Magnet-<br />

<strong>ARD</strong> als Ausbilder <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 131


132<br />

bänder gehören der Vergangenheit an, die<br />

Medienproduktion ist in Hörfunk und Fernsehen<br />

weitgehend digitalisiert, entsprechend<br />

mussten die Ausbildungspläne modernisiert<br />

werden.<br />

Heute ist der Beruf des Mediengestalters, der<br />

vom NDR mit aus der Taufe gehoben wurde,<br />

der maßgebliche für die Produktion in der Medienbranche.<br />

Der Mediengestalter wird sowohl<br />

bei der Vertonung von Spielfilmen eingesetzt<br />

als auch bei der digitalen Bildgestaltung wie<br />

be<strong>im</strong> Schnitt von Radiobeiträgen bzw. der Produktion<br />

von Hörfunkprogrammen insgesamt.<br />

Dazu kommt der gesamte Bereich der Außenübertragungen,<br />

von Fußballspielen <strong>im</strong> Stadion<br />

bis zu großen Konzerten. Das Spektrum der<br />

möglichen Tätigkeiten nach der Ausbildung ist<br />

groß und vielfältig.<br />

Das dürfte ein Grund sein, warum der Ausbildungsberuf<br />

so beliebt geworden ist. »Wir<br />

haben bundesweit mit 600 Lehrlingen für den<br />

neuen Beruf begonnen – <strong>im</strong> Jahr 2006 waren es<br />

über 1 600.« Auf diese Bilanz ist Gerald Mechnich<br />

besonders stolz, denn sie zeigt, dass von<br />

der Entwicklungsarbeit der <strong>ARD</strong> heute die<br />

gesamte Medienbranche profitiert. Zahlreiche<br />

neue Arbeitsplätze konnten dank dieser Initiative<br />

geschaffen werden, vielen Jugendlichen<br />

wurde ein Weg in ihren Traumberuf geebnet.<br />

Allein die <strong>ARD</strong> bildete 2007 164 angehende<br />

Mediengestalter aus, die meisten für den eigenen<br />

Bedarf.<br />

_ Die <strong>ARD</strong> – ein verlässlicher Partner<br />

be<strong>im</strong> Pakt für Ausbildung<br />

Neben den Kaufleuten für Bürokommunikation,<br />

den Mediengestaltern, den Film- und Videoeditoren<br />

kann man innerhalb der <strong>ARD</strong> aber<br />

auch zum Fachinformatiker ausgebildet werden<br />

oder zur Fachkraft für Veranstaltungstechnik.<br />

Ebenso ist die Ausbildung zum Tischler <strong>im</strong><br />

Angebot, zum Bühnenmaler oder Kfz-Mechatroniker.<br />

Insgesamt 20 Ausbildungsberufe nach<br />

dem Berufsbildungsgesetz (BBiG) bieten die<br />

Landesrundfunkanstalten an. Die <strong>ARD</strong> hat in<br />

den vergangenen Jahren über den »Nationalen<br />

Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs«<br />

nicht nur intensiv berichtet, sondern auch ihr<br />

eigenes Ausbildungsangebot kontinuierlich ausgebaut:<br />

Von 1998 bis 2007 wurde die Zahl der<br />

Ausbildungsplätze von 560 auf 936 fast verdoppelt.<br />

Allein der BR erweiterte das Angebot seiner<br />

Ausbildungsplätze in 2007 um ein Viertel,<br />

der WDR führte sein Projekt »3 x 10 Prozent«<br />

konsequent zu Ende. Das heißt, <strong>im</strong> dritten Jahr<br />

Ausbildung zum Messingenieur be<strong>im</strong><br />

MDR: Messingenieur Jochen Nofftz mit<br />

Azubi Christiane Sachse<br />

in Folge erhöhte der WDR die Zahl der neuen<br />

Ausbildungsverhältnisse um mindestens zehn<br />

Prozent: In 2007 nahmen 70 neue Auszubildende<br />

ihre Arbeit be<strong>im</strong> WDR auf, <strong>im</strong> Jahr 2006<br />

waren es 63.<br />

Angesichts des Lehrstellenmangels bildet die<br />

<strong>ARD</strong> über den eigenen Bedarf hinaus aus und<br />

gibt dadurch vielen Jugendlichen eine Chance<br />

zum Einstieg in das Berufsleben. Die Rundfunkanstalten<br />

unterstützen die Absolventen,<br />

die die Häuser verlassen, intensiv bei der Suche<br />

nach einem Arbeitsplatz: Das Angebot reicht<br />

von Bewerbungstrainings über die Vermittlung<br />

von Kontakten bis zu Zeitverträgen, um erste<br />

Berufserfahrung zu sammeln. Als Vorteil erweist<br />

sich be<strong>im</strong> Angebot der Ausbildungsplätze die<br />

föderale Struktur des <strong>ARD</strong>-Senderverbunds.<br />

Die Lehrstellen sind über das gesamte Bundesgebiet<br />

verteilt, in strukturschwachen Regionen<br />

sind die <strong>ARD</strong>-Anstalten ein wichtiger Ausbildungsbetrieb.<br />

Die öffentlich-rechtlichen Sender der <strong>ARD</strong><br />

haben eine wichtige Funktion für die Gesellschaft,<br />

deshalb nehmen sie auch die Aufgabe<br />

der Ausbildung sehr ernst. Die durchgängig guten<br />

bis sehr guten Prüfungsergebnisse der Auszubildenden<br />

sind Beleg für die hohe Qualität<br />

der Ausbildung. Das wird der <strong>ARD</strong> jährlich mit<br />

vielen Auszeichnungen bestätigt: So wurde bei<br />

der »Nationalen Bestenehrung in IHK-Berufen«<br />

in Berlin eine Auszubildende des SWR als beste<br />

deutsche Prüfungsteilnehmerin <strong>im</strong> Ausbildungsberuf<br />

Mediengestalterin Bild und Ton ausgezeichnet.<br />

Der SWR errang diese Auszeichnung<br />

zum zweiten Mal in Folge.<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08


Dem MDR wurde von der IHK Leipzig der<br />

Titel »Ausgezeichneter Ausbildungsbetrieb«<br />

verliehen, drei ehemalige Azubis des MDR<br />

wurden zu den »besten sächsischen Jugendfacharbeitern«<br />

gekürt. Der NDR erreichte bei der<br />

ver.di-Jugend Hamburg den zweiten Preis als<br />

bester Ausbildungsbetrieb.<br />

_ WDR-Projekt<br />

für Journalisten mit Migrationshintergrund<br />

Eine besondere Auszeichnung erhielt die Talentwerkstatt<br />

»WDR grenzenlos«. Das Ausbildungsangebot<br />

für angehende Journalisten<br />

mit Migrationshintergrund schaffte es be<strong>im</strong><br />

Wettbewerb »Grenzüberschreitungen: Chancengleichheit<br />

in Europa – eine Chance für<br />

Nordrhein-Westfalen« unter die zehn »Best-<br />

Practice«-Projekte. NRW-Integrationsminister<br />

Armin Laschet begründete die Auszeichnung<br />

mit den Worten: »Das Projekt ›grenzenlos‹ des<br />

WDR gehört zu den Initiativen, die sich in hervorragender<br />

Weise für Vielfalt, Integration und<br />

Chancengleichheit einsetzen. In der Talentwerkstatt<br />

erhalten junge Frauen und Männer<br />

mit Zuwanderungsgeschichte die Gelegenheit,<br />

in den Redaktionen des WDR ihr journalistisches<br />

Talent zu erproben und unter Beweis zu<br />

stellen.«<br />

Die Talentwerkstatt für angehende Journalisten<br />

mit Migrationshintergrund umfasst ein<br />

inzwischen siebenwöchiges Programm. Nach einer<br />

Einführungswoche in der Hörfunkakademie<br />

Oberhausen folgt eine vierwöchige Hospitanz<br />

in einer der WDR-Redaktionen.<br />

»Uns ist besonders wichtig, dass die Hospitanzen<br />

nicht nur in ›Spartenprogrammen‹<br />

wie Funkhaus Europa oder Cosmo TV absolviert<br />

werden, sondern auch in den regionalen<br />

Studios und den hörer- und zuschauerstarken<br />

Gruppenfoto von »WDR grenzenlos« 2007<br />

Zwei Teilnehmer des WDR-Projekts 2007:<br />

Blessen Kizhakkethottam und Murat Isboga<br />

be<strong>im</strong> Interviewtraining<br />

›Mainstream-Programmen‹«, erklärt Rainer<br />

Assion, der Leiter der WDR-Aus- und -Fortbildung.<br />

Am Ende der Werkstattphase verfassen<br />

die zehn Projektteilnehmer eine Präsentation<br />

über ihre Arbeit. Der Erfolg der Talentwerkstatt<br />

rechtfertigt den hohen Aufwand: Von den 30<br />

Teilnehmern erhielten anschließend sechs ein<br />

Programmvolontariat, wobei sie sich wie alle<br />

anderen <strong>im</strong> normalen Bewerbungsverfahren<br />

durchsetzen mussten. Aber auch ohne Volontariat<br />

blieben rund 80 Prozent der Teilnehmer<br />

dem WDR treu und arbeiten inzwischen als<br />

freie Mitarbeiter in den verschiedensten Redaktionen.<br />

_ Learning by doing:<br />

Journalistische Praktika und Volontariate<br />

Das Praktikum, sei es nun in Form dieser Talentwerkstatt<br />

oder in traditioneller Form, ist<br />

nach wie vor ein wichtiger Baustein auf dem<br />

Weg in den Journalismus. Die <strong>ARD</strong> gab in 2007<br />

fast 3 000 jungen Menschen die Gelegenheit,<br />

in einer Redaktion oder in der Hörfunk- und<br />

133


134<br />

Fernsehproduktion erste Berufserfahrungen<br />

zu sammeln, Kontakte zu knüpfen und in vielen<br />

Fällen die notwendige Voraussetzung zur<br />

Fortsetzung des Studiums zu erwerben. Allein<br />

das Bewerbungsverfahren für die Praktikumsstellen<br />

bedeutet einen erheblichen Aufwand<br />

für die neun Landesrundfunkanstalten, den sie<br />

bewusst erbringen, denn die Praktika sind ein<br />

zentraler Baustein für die Nachwuchsförderung<br />

der <strong>ARD</strong>. Vielen Praktikanten gelingt es, in der<br />

Zeit der Hospitanz auf sich aufmerksam zu machen<br />

und <strong>im</strong> Anschluss eine erste Beschäftigung<br />

als freie Mitarbeiter oder sogar ein Volontariat<br />

zu erreichen. Die <strong>ARD</strong> ist der größte Ausbildungsanbieter<br />

für angehende Journalisten in<br />

Deutschland: 340 Programm-Volontäre bilden<br />

den journalistischen Nachwuchs für den größten<br />

Arbeitgeber in der Medienbranche.<br />

Dass bei der Vielfalt der Hörfunk- und Fernsehprogramme<br />

gut ausgebildete Journalistinnen<br />

und Journalisten benötigt werden, ist naheliegend.<br />

_ Attraktive Arbeitsplätze auch <strong>im</strong> IT-Bereich<br />

Weit weniger bekannt ist, dass die <strong>ARD</strong> auch<br />

in der IT-Branche ein attraktiver Arbeitgeber<br />

ist, der interessante Tätigkeitsfelder zu bieten<br />

und wachsenden Bedarf an Fachkräften hat. So<br />

werden beispielsweise Softwareentwickler, Systemingenieure<br />

oder Netzwerk-Administratoren<br />

gesucht. Um sich möglichen Bewerbern vorzustellen,<br />

war der HR erstmals auf der »konaktiva«<br />

in Darmstadt präsent, einer der größten<br />

studentisch organisierten Unternehmenskontaktmessen<br />

Deutschlands. Unter dem Motto<br />

»Studenten treffen Unternehmen« vermittelt<br />

die Messe Kontakte zwischen jungen Akademikern<br />

und Vertretern renommierter nationaler<br />

und internationaler Unternehmen. »›Was macht<br />

ihr denn hier?‹, war oft die überraschte Frage<br />

von den Studenten, wenn sie zu unserem Stand<br />

kamen«, erzählt Lothar Basche, Leiter des IT-<br />

Bereichs des HR. Wie die meisten anderen<br />

denken die angehenden Informatiker bei der<br />

<strong>ARD</strong> zuerst an Hörfunk und Fernsehen. »Noch<br />

überraschter waren sie, als sie von den Möglichkeiten<br />

erfuhren, die wir ihnen zu bieten<br />

haben«, fasst Basche die positiven Reaktionen<br />

der Messebesucher zusammen. Durch die Digitalisierung<br />

der Medienproduktion bis hin zur<br />

Sendeabwicklung, durch die rasante Entwicklung<br />

des Internets und die dadurch entstehende<br />

zunehmende Konvergenz von Systemen ist die<br />

Zahl der IT-Arbeitsplätze in der <strong>ARD</strong> kontinuierlich<br />

gestiegen, obwohl die Rundfunkanstalten<br />

insgesamt Stellen abbauen müssen.<br />

Dennoch ist die <strong>ARD</strong> weiterhin ein großer<br />

Arbeitgeber in Deutschland: Rund 22 000 Festangestellte<br />

und Tausende von freien Mitarbeitern<br />

sind für ein umfassendes und informatives<br />

Programmangebot tätig. Zudem ist die <strong>ARD</strong> an<br />

den jeweiligen Standorten ein Wirtschaftsfaktor,<br />

der Auftragsmöglichkeiten für zahlreiche,<br />

freie Produktionsfirmen schafft. So gibt die<br />

<strong>ARD</strong> u. a. maßgebliche Impulse für die Filmwirtschaft<br />

in Deutschland, als Auftraggeber und<br />

Förderer.<br />

_ Verantwortungsvolle Personalpolitik<br />

»Schwerbehinderte Menschen werden bei<br />

gleicher Eignung bevorzugt berücksichtigt«,<br />

heißt es in den Stellenausschreibungen etwa<br />

des HR. Nach wie vor engagieren sich die<br />

öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten für<br />

die Integration behinderter Menschen schon<br />

in der Ausbildung und arbeiten hierzu mit den<br />

entsprechenden Trägern und Institutionen eng<br />

zusammen. Die gesetzliche Pflichtquote für die<br />

Ausbildung und Beschäftigung schwerbehinderter<br />

Menschen wird in der <strong>ARD</strong> z. B. vom HR<br />

regelmäßig übertroffen.<br />

Vor dem Hintergrund der sich rasant weiterentwickelnden<br />

Produktions- und Verbreitungstechnik<br />

sind die <strong>ARD</strong>-Anstalten auf engagierte<br />

und gut ausgebildete Mitarbeiterinnen und<br />

Mitarbeiter angewiesen. Nur so wird die <strong>ARD</strong><br />

in der digitalen Medienwelt von morgen bestehen<br />

können. Deswegen haben die Rundfunkanstalten<br />

ein hohes Interesse daran, weiterhin<br />

größter Ausbildungsbetrieb in der deutschen<br />

Medienbranche zu sein. Doch die Gebühren<br />

der Allgemeinheit verpflichten zu einer besonders<br />

verantwortungsvollen Personalpolitik.<br />

Daher wird es auch weiterhin ein wichtiger Bestandteil<br />

der Ausbildungsprogramme sein, den<br />

Menschen eine Chance am Arbeitsmarkt einzuräumen,<br />

die es von ihren Startbedingungen<br />

schwerer haben als andere. Sei es, weil sie ein<br />

körperliches Handicap haben, weil sie von ihrer<br />

Herkunft benachteiligt sind oder einfach nur zu<br />

spät den »Ernst des Lebens« begriffen haben.<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08<br />

Dr. Helmut Reitze,<br />

HR-Intendant und in der <strong>ARD</strong><br />

federführend für Aus- und Fortbildung


Gute Programme brauchen gute Mitarbeiter.<br />

Den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten war und<br />

ist der hohe Stellenwert gut ausgebildeter Mitarbeiter<br />

stets bewusst. Bereits 1963 gründeten sie die Schule<br />

für Rundfunktechnik (srt), 1977 kam – unter Beteiligung<br />

des ZDF – die Zentrale Fortbildung Programm-Mitarbei-<br />

ter (ZFP) hinzu. Fortwährende Qualifizierung ist unum-<br />

gänglich für die Qualität des Programms. Dies gilt umso<br />

mehr in Zeiten tief greifenden technologischen Wandels,<br />

wo die Grenzen zwischen Produktion und Technik<br />

einerseits und der redaktionell-journalistischen Arbeit<br />

andererseits <strong>im</strong>mer durchlässiger werden. Die rasant<br />

fortschreitende Digitalisierung stellt die Mitarbeiter des<br />

Rundfunks vor täglich neue Herausforderungen.<br />

Da ist es nur folgerichtig, dass auch die Fortbildungsin-<br />

stitutionen von <strong>ARD</strong> und ZDF die alte Trennung zwischen<br />

Technik und Programm zugunsten einer neuen inte-<br />

grierenden Struktur aufgeben.<br />

Reise zu den Synapsen<br />

Weiter bilden – weiter denken: die <strong>ARD</strong>.ZDF medienakademie.<br />

Von Stefan Hanke<br />

E<br />

rinnern Sie sich an Ihren ersten Arbeitstag?<br />

Alle Gehirnzellen waren auf Aufnahme<br />

geschaltet, der Puls erhöht. Es<br />

gab kleine und große Missverständnisse,<br />

aber Ihre Motivation lag bei 100 Prozent. Nach<br />

vier Wochen stellt sich eine Vorahnung von Sicherheit<br />

ein. Sie erkennen Licht am Ende des<br />

Tunnels. Drei Monate später sind Sie integriert<br />

und leistungsstark. Sie treffen den Nerv. Die<br />

Arbeit macht Spaß. Ihr Geist ist schnell und<br />

wendig wie der Blitz. Wie lange bleibt das so?<br />

Früher oder später stellt sich <strong>im</strong> Arbeitsalltag<br />

bei (fast) allen Routine ein: Die Ideen fürs<br />

Programm oder neue Projekte sind nicht mehr<br />

so zahlreich und kreativ, Ausdruckskraft und<br />

Wortwitz nicht so sprudelnd wie zu Beginn.<br />

Die Synapsen wollen nicht reagieren, und womöglich<br />

wächst auch noch der Stapel auf dem<br />

Schreibtisch. Die anstehenden Aufgaben türmen<br />

sich zu einem mittelhohen Berg . . .<br />

In einer solchen Situation ist es sinnvoll, an<br />

die eigene Fortbildung zu denken, sich Abstand<br />

zu gönnen und sich innerlich auf eine Reise zu<br />

begeben, um mit wiedergewonnener Neugierde<br />

an die Sache herangehen zu können. Gerade<br />

für Menschen, die täglich Ideen haben und<br />

Themen setzen müssen, für Menschen, die mit<br />

Sprache jonglieren und die Spannung erzeugen<br />

sollen. Menschen, die routiniert Nachrichten<br />

machen und verbreiten, aber nicht zu Routinemenschen<br />

werden sollen. Menschen, die sprechen<br />

oder Regie führen, schneiden, aufnehmen<br />

– aufnahmefähige Menschen –, die wirklich<br />

dabei sind. Mit Abstand. Die Bilder erzeugen.<br />

Rundfunken. Brillante Techniker, Producer<br />

<strong>ARD</strong>.ZDF medienakademie <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 135


136<br />

Eröffnungsfeier der <strong>ARD</strong>.ZDF medienakademie<br />

am 8. 3. 2007 in der Friedrich-Alexander-<br />

Universität Nürnberg. Auf dem Podium:<br />

Karlheinz Weber, Ruth Blaes, Helge Haas,<br />

Markus Schächter und Helmut Reitze (v. l.)<br />

und Planer. Teamarbeiter. Vor und hinter der<br />

Kamera. Vor und hinter den Mikrofonen. In<br />

Studios, Redaktionen, Werkstätten. Medienmenschen<br />

eben.<br />

Genau für jene Medienschaffenden ist die<br />

<strong>ARD</strong>.ZDF medienakademie entstanden – sozusagen<br />

als ganz persönliches »Reisebüro«.<br />

_ Gemeinsam reisen:<br />

die neue <strong>ARD</strong>.ZDF medienakademie<br />

Die neue <strong>ARD</strong>.ZDF medienakademie ist die<br />

größte Fortbildungseinrichtung der Medienbranche<br />

in Deutschland; entstanden am<br />

1. 1. 2007 aus der Schule für Rundfunktechnik<br />

(srt) und der Zentralen Fortbildung der Programm-Mitarbeiter<br />

von <strong>ARD</strong> und ZDF (ZFP).<br />

Der Vorteil dieser Fusion für die Sendeanstalten:<br />

Sie bekommen einen Ansprechpartner<br />

für Weiterbildung in den Bereichen Fernsehen,<br />

Hörfunk und Online.<br />

In der <strong>ARD</strong>.ZDF medienakademie verschmelzen<br />

Redaktion, Journalismus und Rundfunktechnik<br />

zu einem integrierten Angebot.<br />

Gebündelte Kompetenz aus 45 Jahren srt und<br />

30 Jahren ZFP bilden die Zukunft. Immerhin:<br />

75 Jahre Erfahrung. Die Standorte Nürnberg,<br />

Wiesbaden und Hannover sind jetzt in der<br />

neuen Medienakademie vernetzt und somit<br />

noch näher dran an den Rundfunkanstalten.<br />

Die gebündelte Kompetenz sorgt für schnellere<br />

Wege und besseren Zugriff auf konzeptionelle<br />

und opt<strong>im</strong>ale technische Ressourcen.<br />

Gleich <strong>im</strong> ersten Jahr hat die medienakademie<br />

2 532 Seminare veranstaltet und 18 640 Teilnehmerinnen<br />

und Teilnehmer an 40 000 Teilnehmertagen<br />

trainiert – eine Steigerung von 18,7<br />

Prozent gegenüber den zusammengenommenen<br />

Leistungen der vorherigen »Einzelkämpfer«.<br />

Das ist, wenn man so möchte, eine Bestätigung<br />

in Zahlen.<br />

Wer die Medien kennt, weiß aber: Da muss<br />

nicht nur Kompetenz zusammenkommen, da<br />

müssen auch zwei unterschiedliche Kulturen<br />

zusammenwachsen, zwei Kulturen, die es von<br />

jeher nicht leicht miteinander hatten: Die sorgfältige,<br />

präzise, vorsichtige, rationale Kultur von<br />

Technik und Produktion und die st<strong>im</strong>ulierende,<br />

exper<strong>im</strong>entierfreudige, erfinderische, schnelle<br />

der Redaktion und des Programms. Das war<br />

und ist die zentrale Herausforderung der Medienakademie,<br />

Produktion, Technik und Programm<br />

zusammenwachsen zu lassen. Sie ist der<br />

Spiegel der Prozesse in den Rundfunkanstalten:<br />

Videojournalismus, Bi-, Tr<strong>im</strong>edialität, Konvergenz.<br />

Diese neue Verschaltung der Synapsen<br />

in den Köpfen der Medienmacher n<strong>im</strong>mt die<br />

Medienakademie vorweg und begleitet sie. Am<br />

Ende unserer Reise steht ein neues Denken.<br />

Unsere Erfahrungen und Erkenntnisse be<strong>im</strong><br />

Neuverschalten geben wir konsequent weiter.<br />

So wie sich die Synapsen mit jeder Wahrnehmung<br />

bewegen, wird das auch die Medienakademie<br />

tun.<br />

_ Verreisen und Konvergenz erkunden:<br />

die Geschäftsbereiche<br />

Die <strong>ARD</strong>.ZDF medienakademie ist in vier Geschäftsbereiche<br />

gegliedert: »Programm«, »Produktion<br />

und Technik«, »Überfachliches Angebot«<br />

und schließlich »Integrierendes Angebot«.<br />

Die drei ersten Bereiche greifen Kompetenz<br />

und Funktion der Vorgängerinstitutionen srt<br />

und ZFP auf. Das integrierende Angebot ist<br />

neu und steht für das absehbar Zukünftige; es<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08


führt zusammen, was zusammengeführt werden<br />

muss: Denken und Arbeitsweise des Programms<br />

mit jenen von Produktion und Technik.<br />

Die vier Bereiche <strong>im</strong> Einzelnen:<br />

_ Programm<br />

Qualität ist Programm. Und darum geht es hier.<br />

Programm inhaltlich entwickeln, Programm<br />

gestalten, Programm präsentieren. Sowohl<br />

handwerkliche Grundlagen als auch hörfunk-,<br />

fernseh- und onlinespezifische Kommunikation<br />

für Fortgeschrittene und Vollprofis werden<br />

trainiert, perfektioniert und auf den neuesten<br />

Stand gebracht. Das Angebotsspektrum in diesem<br />

Ressort reicht von Recherche-Strategien<br />

für Journalisten über Interview- und Gesprächstechniken<br />

bis zu Grundlagen journalistischer<br />

Darstellungsformen. Ferner umfasst es Seminare<br />

zum Thema Sprache und Sprechen sowie<br />

Angebote, die zielgruppengenaue Präsentation<br />

und Moderation üben.<br />

Sach- und Medienwissen-Seminare liefern<br />

Kenntnisse zu Themen, die in der aktuellen Berichterstattung<br />

eine Rolle spielen (werden). Im<br />

Angebot 2008 stehen hier beispielsweise Info-<br />

Veranstaltungen zur EU, zur Rolle der NATO<br />

oder zur Börsen- und Wirtschaftsberichterstattung.<br />

Hier finden Programm-Mitarbeiter, die<br />

Programm für alle Zielgruppen inhaltlich gestalten<br />

und verantworten, nachhaltiges Fachwissen.<br />

Newcomer und »alte Hasen« qualifizieren sich<br />

für die speziellen Anforderungen des sich kontinuierlich<br />

wandelnden Medienmarktes.<br />

_ Produktion und Technik<br />

Sie ist nicht alles, aber ohne sie ist alles nichts<br />

– die richtige Technik. Die Angebote <strong>im</strong> Bereich<br />

Produktion und Technik zielen darauf, das<br />

Handwerk für Hörfunk, Fernsehen und Online<br />

zu verfeinern. Die Teilnehmer bekommen<br />

Impulse in Sachen Produktion und Hightech<br />

und bringen sich auf den aktuellen Stand der<br />

Systeme, Technologien und Methoden. Alles<br />

dreht sich um die Aufgabe, audiovisuelle Medien<br />

wirtschaftlich in der erwarteten Qualität<br />

zu produzieren und zu verbreiten. Damit diese<br />

Medien begreifbar bleiben, bietet der größte<br />

Standort in Nürnberg alles, was moderne<br />

Produktions- und Sendetechnik ausmacht, in-<br />

Die drei Standorte der medienakademie:<br />

Trainingszentrum Nürnberg, Geschäftssitz,<br />

(linke Seite), Trainingszentrum Hannover (o.)<br />

und Trainingszentrum Wiesbaden (u.)<br />

klusive der Profis, die die Tricks, Kniffe und<br />

Plug-ins kennen, um <strong>im</strong> Arbeitsalltag schnell,<br />

effizient und kreativ zu sein. Die <strong>ARD</strong>.ZDF<br />

medienakademie unterstützt mit diesem Angebot<br />

den erfolgreichen Einsatz von aktuellen<br />

Systemen und Technologien sowie effizienten<br />

Workflows und Methoden.<br />

Diese Angebote richten sich an Mitarbeiter<br />

aus Produktion, Technik, Distribution, Betrieb,<br />

Programm und angrenzenden Bereichen.<br />

_ Das überfachliche Angebot<br />

Medien sind Unternehmen. Sie müssen verwaltet,<br />

kalkuliert, gesteuert werden. Managementaufgaben<br />

sind deshalb in einem überfachlichen<br />

Angebot der Akademie zusammengefasst. Hier<br />

bietet die Medienakademie alles, was hinter<br />

den Kulissen eines Großunternehmens gekonnt<br />

werden muss, damit die Programm-Macher arbeiten<br />

können.<br />

<strong>ARD</strong>.ZDF medienakademie <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 137


138<br />

Spitzentrainer und -berater vermitteln<br />

Know-how von IT-Vernetzung über Honorarabrechnung<br />

bis zu Management- und Verwaltungsprozessen.<br />

Sie bieten umfassende,<br />

ergänzende Methoden und Technologien zur<br />

Steuerung und Opt<strong>im</strong>ierung von Prozessen.<br />

Angebote zum Projektmanagement sind in<br />

diesem Bereich ebenso zu finden wie Kurse zu<br />

Marketing und Öffentlichkeitsarbeit oder Seminare<br />

zur Persönlichkeits- und Teamentwicklung.<br />

Die Teilnehmer profitieren von diesem<br />

zusätzlichen Management- oder Verwaltungs-<br />

Know-how und sind in der Lage, ihre spezifischen<br />

Aufgaben wirtschaftlicher, produktiver<br />

und kreativer zu erfüllen.<br />

_ Integrierendes Angebot<br />

Das Motto: zusammen arbeiten, zusammen<br />

trainieren. Das Ziel: ein starkes Team für nachhaltig<br />

erfolgreiche Medienprodukte. Das Integrierende<br />

geht von der Erfahrung aus, dass<br />

Schulung am Tonmischpult<br />

nachhaltiges Lernen, nachhaltige Veränderung<br />

vor allem be<strong>im</strong> Zusammenwirken der Gewerke<br />

geschieht. Hier werden Themen und Projekte<br />

angeboten, für deren Umsetzung die Kompetenz<br />

von Mitarbeitern der Bereiche Programm,<br />

Online, Produktion und Technik gleichermaßen<br />

gefordert ist. Das Integrierende Angebot bringt<br />

die unterschiedlichen Berufsgruppen an einen<br />

Tisch und eröffnet damit allen Beteiligten neue,<br />

kreative Perspektiven. Hier wird Konvergenz<br />

erkundet. Die Teilnehmer begreifen die Zukunft<br />

der Medienwelt.<br />

Das geschieht in Trainings zu Videojournalismus,<br />

bei der Zusammenarbeit <strong>im</strong> Studio,<br />

bei Live-Reportagen, der Fernseh- und Hörfunkgestaltung<br />

und der (Weiter-)Entwicklung<br />

von Formaten, inklusive deren Positionierung<br />

<strong>im</strong> Markt. Das Integrierende Angebot wird<br />

wachsen und das Gesicht der Medienakademie<br />

verändern – der Entwicklung in den Medien<br />

<strong>im</strong>mer eine Nervenbahn-Länge voraus.<br />

_ Zwei Reiserouten bieten sich an:<br />

offene und Auftragsseminare<br />

Interessenten haben die Möglichkeit, die <strong>im</strong><br />

Katalog oder auf der Homepage der <strong>ARD</strong>.ZDF<br />

medienakademie angebotenen offenen Veranstaltungen<br />

zu besuchen. Dort treffen sie auf<br />

Teilnehmer aus allen Medienunternehmen und<br />

-organisationen. Neben dem fachlichen Input<br />

der <strong>ARD</strong>.ZDF-medienakademie-Experten gibt<br />

es hier somit Gelegenheit zur Vernetzung und<br />

zum Erfahrungsaustausch zwischen Einsteigern,<br />

Umsteigern und Profis, mit den Kollegen aus<br />

anderen Häusern.<br />

Die zweite Möglichkeit, die Kompetenz<br />

dieser Fortbildungseinrichtung zu nutzen, besteht<br />

darin, ein Seminar in Auftrag zu geben.<br />

Das wird genau so maßgeschneidert konzipiert<br />

und durchgeführt, wie es die spezielle Situation<br />

erfordert. Die <strong>ARD</strong>.ZDF medienakademie<br />

entwickelt das passende Konzept, engagiert die<br />

richtigen Trainer, koordiniert die Termine und<br />

sorgt mit dem Auftraggeber für die geeignete<br />

Seminarumgebung. Der unmittelbare Bezug auf<br />

die konkrete Arbeitssituation ermöglicht eine<br />

noch stärke Fokussierung auf die Bedürfnisse<br />

der Teilnehmer.<br />

Wir arbeiten an den Themen unter den Bedingungen<br />

des jeweiligen Auftraggebers. 2007<br />

haben wir das über 1 700 Mal getan. Übrigens:<br />

Fast alle Veranstaltungen, die <strong>im</strong> offenen Angebot<br />

zu finden sind, können auch als Auftragsseminare<br />

gebucht werden. Und was dort nicht zu<br />

finden ist, erfinden wir.<br />

_ Kurz- oder Langstrecke möglich:<br />

die Projekte<br />

Unsere Routen gibt es als Kurzstrecken, aber<br />

auch als längere gemeinsame Reise, denn wir<br />

begleiten Entwicklungs- und Innovationsprozesse<br />

in den Sendeanstalten. Dabei ist es<br />

hilfreich, dass wir uns auskennen in den Rundfunkanstalten,<br />

dass wir die Arbeitsweisen von<br />

Redaktion, von Produktion und Technik kennen,<br />

und zwar mit allen Besonderheiten des<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08


Schulungssituationen <strong>im</strong> Seminarraum<br />

(Motiv oben und rechte Spalte)<br />

öffentlich-rechtlichen Auftrags. Das macht es<br />

leichter, passende Konzepte zu entwickeln, die<br />

Vorgehensweise und den entsprechenden Trainer<br />

oder ein ganzes Team zu empfehlen. Zwei<br />

Beispiele hierfür:<br />

Beispiel Netzwerk-Radio: Im »Netzwerk-Radio«<br />

hat die <strong>ARD</strong>.ZDF medienakademie Fachleute<br />

aus allen Bereichen der Hörfunk-Programmgestaltung<br />

zusammengebracht. In mehreren<br />

Programmen unterstützt die Medienakademie<br />

mit diesen Experten Opt<strong>im</strong>ierungsprozesse.<br />

Wir begleiten so beispielsweise die Programmreform<br />

einer Welle. Die Analyse der Situation<br />

hat es nahegelegt, zunächst auf handwerklicher<br />

Ebene einzusteigen: mit dem Training und der<br />

Weiterbildung der Moderatoren. Wir liefern<br />

konkrete Hilfestellung bei der Umsetzung der<br />

neuen Leitgedanken, bei der Opt<strong>im</strong>ierung der<br />

Themenauswahl, der Beitragsgestaltung sowie<br />

An- und Abmoderation. Bei solchen Veränderungsprozessen<br />

tauchen häufig Störungen und<br />

Widerstände auf, die nicht <strong>im</strong> Handwerk begründet<br />

liegen. Team- und Kommunikationsstrukturen<br />

müssen daher überprüft und erneuert<br />

werden. Das Netzwerk bringt flankierend<br />

einen weiteren Experten ins Spiel, der diese<br />

Aufgabe übern<strong>im</strong>mt. Die Übergabe ist schneller<br />

und einfacher, weil sie einer best<strong>im</strong>mten Struktur<br />

folgt, die das Netzwerk erarbeitet hat. All<br />

das geschieht in enger Abst<strong>im</strong>mung mit dem<br />

Projektleiter der Medienakademie, der Aus- und<br />

Fortbildung des Hauses und der Wellenleitung.<br />

Dieser inzwischen bewährte Netzwerk-<br />

Gedanke, wie eben am Beispiel des Radios<br />

geschildert, wird gerade <strong>im</strong> Integrierenden An-<br />

gebot auf das Fernsehen übertragen. Ein Team<br />

»Formatweiterentwicklung« aus Trainerinnen<br />

und Trainern der Bereiche Redaktion, Regie,<br />

Kamera, Schnitt bis hin zur Positionierung des<br />

Programms <strong>im</strong> Fernsehmarkt befindet sich <strong>im</strong><br />

Aufbau.<br />

Beispiel b<strong>im</strong>ediale Studios be<strong>im</strong> WDR: Im Bereich<br />

Produktion und Technik begleitet die <strong>ARD</strong>.<br />

ZDF medienakademie die Rundfunkanstalten<br />

bei der Einführung neuer b<strong>im</strong>edialer Produktionstechnik:<br />

So wurden seit 2005 in einer Qualifizierungsmaßnahme<br />

250 Mitarbeiter des WDR<br />

geschult, die künftig in den Regionalstudios<br />

des WDR in der neuen technischen Umgebung<br />

arbeiten. Das gesamte Qualifizierungsprojekt<br />

gliedert sich in zwei Teile:<br />

Phase eins umfasst die Vermittlung von Basiskenntnissen<br />

aus dem Bereich des Fernsehens<br />

für die Hörfunkmitarbeiter sowie den Erwerb<br />

von Hörfunkkompetenz für die Fernsehleute.<br />

Diese Maßnahmen werden sowohl von der<br />

<strong>ARD</strong>.ZDF medienakademie als auch von der<br />

WDR-eigenen Aus- und Fortbildung veranstaltet.<br />

So erhalten die Teilnehmer die erforderlichen<br />

Basiskenntnisse für die neuen Workflows<br />

und Arbeitsweisen der Rundfunkanstalt.<br />

In Phase zwei geht es dann an die Einarbeitung<br />

der Mitarbeiter in die neuen Produktions-<br />

und Sendekomplexe in den jeweiligen Regionalstudios.<br />

Insgesamt werden sukzessive zehn<br />

Regionalstudios neu ausgestattet, die Qualifizierungsmaßnahme<br />

für die Mitarbeiter dauert bis<br />

zum Jahr 2010.<br />

<strong>ARD</strong>.ZDF medienakademie <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 139


140<br />

_ Weiterbildungsexperten begleiten die Reise<br />

Ob offene Veranstaltung, Auftragsseminar oder<br />

Projekt, alle Routen führen über die Aus- und<br />

Fortbildung der Rundfunkanstalten, die den<br />

Prozess in Gang setzt.<br />

Das Reise-Abenteuer heißt Programm, Produktion<br />

und Technik. Aber wer sind die Reisebegleiter?<br />

Hoch spezialisierte und qualifizierte<br />

Trainer aus Medienpraxis, Kommunikation,<br />

Wirtschaft, Kultur, Politik und Wissenschaft.<br />

Die Fachleute und Weiterbildungsexperten der<br />

Kameratraining <strong>im</strong> Fernsehstudio<br />

Medienakademie fungieren als Reiseleitung.<br />

Sie haben einen gemeinsamen Auftrag, und sie<br />

sind Stellvertreter für eine Garantie der »Auffrischung«.<br />

Sie geben Workshops, sie führen<br />

Trainings durch, sie gestalten Roundtables und<br />

Symposien für die inhaltliche und kreative Programmgestaltung,<br />

für Produktion, Technik und<br />

Distribution oder für Verwaltung und Management.<br />

Und gerade weil sie hoch spezialisierte<br />

Fachleute sind, haben sie den Überblick, wissen<br />

zum Beispiel, dass journalistisches Handwerk<br />

nur in guten, kreativen Teams gedeihen kann,<br />

dass beides unterstützt werden muss, um erfolgreich<br />

zu arbeiten.<br />

Am Ende der Seminare steht die Be- und<br />

Auswertung: Wenn die Reise vorbei, das Seminar<br />

gelaufen ist, sind die Berichte und Erzählungen<br />

der Stoff, aus dem das Lernen wird.<br />

Lesen und Zuhören lohnt also. Die Bewertungsbögen<br />

der Teilnehmer unserer Trainings, Symposien,<br />

Roundtables sind selten schön getextet,<br />

aber authentisch. Da steht etwa geschrieben:<br />

_ »Technische Einrichtung müsste besser/<br />

schneller bereit sein.«<br />

_ »Das Seminar war zu kurz, oder man sollte<br />

die Themen splitten.«<br />

_ »Warum sind wir nicht mehr alle in demselben<br />

Hotel untergebracht? Da geht das Seminar<br />

doch weiter.«<br />

Das sind die »Fälle«, die die Medienakademie<br />

braucht, aus denen sie das (Weiter-)Gehen lernt.<br />

Da steht aber auch geschrieben:<br />

_ »Endlich mal wieder Zeit für den Austausch<br />

mit Kollegen anderer Häuser.«<br />

_ »Praxisnähe, viele Übungsmöglichkeiten,<br />

praktische Tipps für die eigene Arbeit.«<br />

_ »Ich habe einen neuen Blick auf meine Arbeit<br />

bekommen und bin inspiriert für ein ganzes<br />

Jahr.« _ »Hochinteressante <strong>Information</strong>en von hochkarätigen<br />

Referenten.«<br />

Das sind die Kommentare, die die Medienakademie<br />

ebenfalls braucht, zeigen sie doch,<br />

dass die eingeschlagene Richtung oder »Reiseroute«<br />

st<strong>im</strong>mt.<br />

_ Die Reise-Philosophie:<br />

Wandel und Veränderung als Grundlage des Lernens<br />

Manche Werte lassen sich nur durch Veränderung<br />

bewahren. In der neuen <strong>ARD</strong>.ZDF medienakademie<br />

ist es ausdrücklich erlaubt, Fehler<br />

zu machen. Niemand ist perfekt. Nur den gleichen<br />

Fehler zwe<strong>im</strong>al zu machen, ist blöd. Gar<br />

nichts tun auch und <strong>im</strong>mer dasselbe denken<br />

ebenfalls.<br />

Warum sonst sollten <strong>ARD</strong> und ZDF ihre<br />

Weiterbildungshe<strong>im</strong>at – srt und ZFP – verlassen<br />

und zu einem neuen Kontinent, der medienakademie,<br />

aufbrechen? Etwas Neues wagen<br />

heißt <strong>im</strong>mer, Unerwartetes zu entdecken, heißt<br />

auch, mit all dem Unbekannten <strong>im</strong> Wandel<br />

umgehen zu lernen. Das machen wir Menschen<br />

von Kindesbeinen an. Denn wie lernt unser<br />

Kopf zu gehen? Von Fall zu Fall. Be<strong>im</strong> Hinfallen<br />

und wieder Aufstehen. Wer stehen bleibt<br />

und den Sturz zu vermeiden sucht, lernt es nie.<br />

Die Fusion war und ist die Chance, Veränderung<br />

am eigenen Leib zu erkunden, neue<br />

Grenzen auszuloten, Stillstand zu vermeiden.<br />

Der Aufbruch ist auch ein Beweis der tiefen<br />

Überzeugung unserer »Eltern« <strong>ARD</strong> und ZDF<br />

von der Fähigkeit, Neues, Unbekanntes zu<br />

wagen.<br />

Dr. Stefan Hanke, Geschäftsführer<br />

der <strong>ARD</strong>.ZDF medienakademie<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08


Im November 1999 beschlossen die Ministerpräsi-<br />

denten der Länder eine Neuregelung des <strong>ARD</strong>-<br />

Finanzausgleichs. Diese sah vor, die Finanzausgleichs-<br />

summe von damals rund zwei Prozent des Netto-<br />

Gebührenaufkommens innerhalb von fünf Jahren linear<br />

auf ein Prozent zu reduzieren. Für die kleinen<br />

<strong>ARD</strong>-Anstalten Radio Bremen und SR war dies – durch<br />

die mittelfristige Reduzierung des Etats um rund<br />

ein Drittel – eine existenzbedrohende Entscheidung,<br />

die zu drastischen Sparmaßnahmen und<br />

radikalen Umstrukturierungen zwang und zwingt.<br />

Den Prozess des radikalen Um- und Neudenkens,<br />

der Planung und der Hindernisse, aber auch der Soli-<br />

darität unter den <strong>ARD</strong>-Anstalten bis hin zu einem<br />

Neubeginn Radio Bremens skizziert der nachfolgende<br />

Artikel.<br />

Ein Neubau fällt nicht vom H<strong>im</strong>mel<br />

Zur Vorgeschichte von Radio Bremen Neu<br />

Von Heinz Glässgen<br />

E<br />

in Neubau fällt nicht vom H<strong>im</strong>mel.<br />

Ob, was und wie gebaut wird, ergibt<br />

sich nicht einfach von selbst. Die Planungsphase<br />

ist wesentlich, sie ist ebenso<br />

wichtig und spannend wie strapaziös. Die<br />

Umsetzungsphase ist es freilich nicht minder.<br />

Wer aber bis zum Beginn der Umsetzung nicht<br />

genau überlegt hat, wer und was er selber ist<br />

und vor allem was er wie will, wird von solchen<br />

Versäumnissen sehr schnell und vor allem sehr<br />

schmerzlich eingeholt.<br />

Schon die Ausschreibung eines Vorhabens<br />

verlangt eine fast unendlich tiefe (vorherige!)<br />

Reflexion von Gegenwart und Zukunft, von<br />

Vorstellung und Möglichkeit: Wer sind wir?<br />

Wer wollen wir sein oder werden? Was benötigen<br />

wir? Wie groß soll das werden, was wir wollen?<br />

In welchem Verhältnis steht das eine zum<br />

anderen und zum Ganzen? Und leider auch:<br />

Was können wir uns max<strong>im</strong>al leisten? Welche<br />

Grenzen sind uns gesetzt? Ist in diesen Grenzen<br />

der Rundfunkauftrag auch in Zukunft noch zu<br />

erfüllen, und wenn ja, mit welchen Prioritäten?<br />

_ Ein Ministerpräsidentenbeschluss und seine Folgen<br />

Der Neubeginn bei Radio Bremen stand <strong>im</strong><br />

Kontext rigider Sparauflagen. Die Vorgabe aller<br />

Überlegungen war, innerhalb von nur fünf<br />

Jahren ein Drittel der dem Sender noch <strong>im</strong> Jahr<br />

2000 zur Verfügung stehenden regulären Etatmittel<br />

einzusparen. Es lag auf der Hand: Ein<br />

Drittel der Ausgaben ist nicht einfach durch<br />

lineare Kürzungen zu »erwirtschaften«, da sind<br />

heftige strukturelle Veränderungen, die auf<br />

Dauer angelegt sind, unabdingbar. Die Lage<br />

Radio Bremen Neu <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 141


142<br />

Der geschmückte Eingangsbereich des neuen<br />

Funkhauses in Bremen bei der Eröffnung<br />

<strong>im</strong> Juli 1950. Nach Mitteilung des Intendanten<br />

Walter Geerdes handelte es sich mit 750 000<br />

DM Baukosten um das billigste Funkhaus<br />

Deutschlands.<br />

war durchaus dramatisch, denn ohne Veränderungen<br />

hätte Radio Bremen <strong>im</strong> Jahre 2003<br />

gerade mal noch die Gehälter und Ausfallentschädigungen<br />

für eigentlich anstehende Honorare<br />

zahlen, aber keine direkten Aufwendungen<br />

mehr leisten können. Die Mitarbeiter wären<br />

morgens pünktlich zur Arbeit gekommen, hätten<br />

dann aber nichts mehr zu tun gehabt. Und<br />

man hätte nichts mehr von Radio Bremen gehört<br />

und gesehen.<br />

Es ging also schlicht um das Überleben des<br />

Senders. Vor diesem Hintergrund stellte sich<br />

bei jeder Maßnahme die Frage: Wie wirkt sich<br />

das, was gedacht wird, auf die Etatsituation von<br />

Radio Bremen aus? Und zugespitzt: Welche<br />

Summe ist mit dieser und jener Aktion einzusparen?<br />

Zusätzliche Dauerbelastungen standen<br />

definitiv nicht zur Diskussion. Konkret ging es<br />

um die Frage, wie der Sender durch eventuelle<br />

Baumaßnahmen mittel- und langfristig Kosten<br />

sparen kann; ferner, ob angesichts der als<br />

notwendig erachteten Personalkürzungen eine<br />

Reduzierung der Betriebsflächen und damit<br />

der Betriebskosten realisierbar ist und ob eine<br />

Zusammenlegung der beiden weit voneinander<br />

entfernten Betriebsstätten eine Reduzierung<br />

von Planstellen erlaubt.<br />

_ Neue Denkansätze wagen<br />

Man muss sich für die Bewältigung einer solchen<br />

Aufgabe von vielem, vielleicht sogar von<br />

allem frei machen. Eine solche Herausforderung<br />

verlangt radikales Denken. Wie würde man<br />

heute eine Rundfunklandschaft »bauen«? Was<br />

wäre, wenn man keine Rücksicht auf gewachsene<br />

Strukturen, herkömmliche Vorstellungen,<br />

auf Verträge, Bindungen und Rechtsansprüche<br />

zu nehmen bräuchte? Was wäre, wenn sich<br />

einem kein Denkverbot in den Weg stellte und<br />

auch kein apodiktisches »Das geht nicht, weil<br />

. . .«, ein »Undenkbar«, ein »Nicht realisierbar«<br />

den Blick auf Alternativen behinderte? Wie<br />

würde man gut 60 Jahre nach Gründung der öffentlich-rechtlichen<br />

Rundfunkanstalten in den<br />

Ländern der Bundesrepublik Deutschland auf<br />

einer zumindest halbwegs vertretbaren min<strong>im</strong>alen<br />

Basis ein zeitgemäßes öffentlich-rechtliches<br />

Medienunternehmen organisieren?<br />

Die bestehenden Rundfunkanstalten sind –<br />

wie jedermann weiß – Summationsphänomene.<br />

Sie gleichen einem kleinen Haus, an das <strong>im</strong>mer<br />

wieder ein Stück nach dem anderen angebaut<br />

wurde: dort eine Ecke, da ein Stockwerk, dort<br />

ein Vordach. Immer wieder kam ein neuer Bereich,<br />

ein kleiner oder ein großer, hinzu.<br />

Geplant waren diese Rundfunkanstalten<br />

für eine einzige Welle, die Mittelwelle, für ein<br />

Programm also, aus Not für die einen und als<br />

Tugend für die anderen. Frequenzmangel war<br />

der eine Grund, die Not. Die Chance, alle an<br />

einem Tisch, um ein Gerät, um alle Themen,<br />

die aus diesem Gerät kamen, zu versammeln,<br />

der andere, die Tugend. Binnenplural sollte<br />

das Unterfangen organisiert werden. Auf einer<br />

Welle sollte sich alles abspielen, jede Meinung,<br />

jede Position, jeder gesellschaftlich relevante<br />

Gedanke sollte sich dort wiederfinden.<br />

Schon wenige Jahre später – Anfang der<br />

50er Jahre – sah die binnenplurale Welt ganz<br />

anders aus. Der Start der UKW-Programme<br />

1950 ermöglichte eine deutliche Vermehrung<br />

des Angebots. Es musste (innerlich und äußerlich)<br />

angebaut werden. Und kaum war die Programmvermehrung<br />

<strong>im</strong> Radio mehr oder weniger<br />

verkraftet, stand das Fernsehen vor der Tür,<br />

– ab Dezember 1952 zunächst als Angebot des<br />

Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR), aus<br />

dem dann <strong>im</strong> Herbst 1954 das gemeinsam von<br />

den Landesrundfunkanstalten der <strong>ARD</strong> betriebene<br />

(Erste) Deutsche Fernsehen entstand.<br />

Zwei Jahre zuvor war die <strong>ARD</strong> gegründet<br />

worden – jene beispielhafte Einrichtung von<br />

Gemeinschaft, Arbeitsteilung, gegenseitiger<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08


Ab hängigkeit und Eigenständigkeit. Jede der<br />

einzelnen Landesrundfunkanstalten beteiligte<br />

sich, gemeinsam war jede von ihnen größer,<br />

erlangte nationale Bedeutung. Dank der Zusammenarbeit<br />

kam die große, weite Welt in die he<strong>im</strong>ischen<br />

Gefilde, selbst in die eines abgelegenen<br />

Weilers, und jedes Land konnte auf nationaler<br />

Ebene seine Themen, Ereignisse und Sichtweisen<br />

präsentieren, seine Akzente setzen.<br />

Zum <strong>Ersten</strong> Programm kamen die Dritten,<br />

später die Spezial-Kanäle wie ARTE, PHOENIX,<br />

3sat und Kinderkanal dazu und danach die digitalen<br />

TV-Angebote EinsFestival, EinsPlus und<br />

EinsExtra sowie parallel dazu <strong>im</strong>mer wieder<br />

neue Hörfunkprogramme. Die Erwartungen des<br />

Publikums und nicht selten die Forderungen<br />

der Politik zwangen zu Erweiterungen, zur Differenzierung,<br />

zur Verfeinerung der Programmangebote.<br />

Die Idee, alles in einem Programm zu verhandeln,<br />

war längst Vergangenheit. Und jede<br />

Erweiterung bedeutete zusätzliches Personal,<br />

zusätzliche Mittel, neue Redaktionsräume, weitere<br />

Studios, auch mehr Verwaltung. Die Veränderungen<br />

in der Technik – unvorstellbar schnell<br />

und vielfältig – waren selbst für Eingeweihte<br />

nur schwer zu verfolgen und nachzuvollziehen.<br />

Sie bildeten die Begleiterscheinungen, mitunter<br />

die Grundlage für die Schaffung von Redaktionen<br />

und Programmen. Technisch war <strong>im</strong>mer<br />

mehr machbar – und wurde zumindest teilweise<br />

realisiert, obwohl manchmal die neuen Generationen<br />

der Technik so schnell aufeinander<br />

folgten, dass es nur noch mit Anstrengungen<br />

möglich war, auch nur jede dritte zu berücksichtigen.<br />

Das ehemalige Fernsehgelände von Radio<br />

Bremen in Osterholz: Das rund 70 000 m 2<br />

große Grundstück nahe der Autobahn hat<br />

Radio Bremen 1962 erworben, die Einweihung<br />

des Studios fand am 21. 3. 1967 statt.<br />

In der Verwaltung ging es nicht weniger turbulent<br />

zu. Immer mehr Vorschriften, <strong>im</strong>mer<br />

differenziertere Anforderungen und ebenfalls<br />

viele neue technische Möglichkeiten machten<br />

auch hier Umbau, Ausbau und Erweiterungen<br />

unumgänglich. Und schließlich: Tarifverträge,<br />

Arbeitsrecht, Rechtsprechung und daraus folgende<br />

Maßnahmen. Auch sie trugen zum Aus-<br />

und Anbau bei. Immer ein weiteres Z<strong>im</strong>mer,<br />

ein Flur, ein neues Stockwerk, ein neues Haus.<br />

Was wäre, wenn man einen Augenblick<br />

»rücksichtslos« (<strong>im</strong> recht verstandenen Sinne)<br />

sein, alle Bindungen und Abhängigkeiten vergessen<br />

dürfte? Wenn man sich »nur« der Frage<br />

zu stellen hätte, welcher Auftrag für eine Rundfunkanstalt<br />

letztlich best<strong>im</strong>mend, was von einer<br />

Rundfunkanstalt zu erwarten, was ihr Sinn und<br />

Zweck ist und wie Auftrag und Erwartungen <strong>im</strong><br />

21. Jahrhundert zu konkretisieren sind?<br />

Nach solchen grundsätzlichen Reflexionen<br />

dürfen einen dann die Rahmenbedingungen<br />

und Zwänge wieder einholen, vor allem auch<br />

die Frage, was mit dem vorhandenen Geld zu<br />

machen ist. Denn wenn nicht alles geht, muss<br />

man sich auf Prioritäten, auf eine Reihenfolge<br />

einlassen. Eins nach dem anderen, doch was<br />

zuerst und was danach? Wenn zehn Themen<br />

möglich sind, streitet man sich weniger um den<br />

ersten oder dritten Platz als um die letzten beiden<br />

oder die grundsätzliche Reihenfolge. Alle<br />

diese Diskussionen müssen notgedrungen lange<br />

Radio Bremen Neu <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 143


144<br />

<strong>im</strong> Vorfeld einer baulichen Konzeption geführt<br />

und entschieden werden. Der Neubau selbst ist<br />

dagegen dann eine vergleichsweise fast einfache<br />

Angelegenheit.<br />

_ Der Finanzrahmen<br />

Die Veränderungen bei Radio Bremen, die<br />

einer baulichen Entscheidung vorausgingen,<br />

waren – wie bereits angedeutet – gravierend.<br />

Radio Bremen war durch den Rückgang des<br />

Finanzausgleichs gezwungen, in nur fünf Jahren<br />

auf ein Drittel seines Etats und auf weitere<br />

Reduzierungen u. a. durch Gebührenausfälle,<br />

zusammen fast 40 Prozent seiner Einkünfte,<br />

zu verzichten. 2006 war von Anfang an das<br />

entscheidende Jahr. Dann war nämlich der Tiefpunkt<br />

der Einnahmen erreicht – und damit der<br />

Maßstab für ein Überleben, für die Zukunft des<br />

Senders.<br />

Die Aufgabe war einfach zu beschreiben:<br />

Die Ausgaben des Senders in diesem Jahr<br />

durften seine Einnahmen nicht überschreiten.<br />

Wenn dies für 2006 gelingen sollte und wenn<br />

die Einsparungen bis dahin strukturell und damit<br />

dauerhafter Natur sein sollten, würde der<br />

Sender auf der dann erzielten Basis eine Zukunft<br />

haben. Und damit stellt sich die Frage:<br />

Wie ist der Sender bis zu diesem Zeitpunkt so<br />

umzugestalten, zu verschlanken, dass er in das<br />

Zwangskorsett 2006 passt und dennoch »funktioniert«?<br />

Radio Bremen Neu:<br />

Jetzt <strong>im</strong> Stadtzentrum<br />

Radio<br />

Bremen<br />

Neu<br />

Hörfunk alt<br />

(Vahr)<br />

Fernsehen alt<br />

(Osterholz)<br />

Ziel war es naturgemäß, möglichst viel Geld<br />

in das Programm – die einzige Legit<strong>im</strong>ation<br />

einer Rundfunkanstalt – zu transferieren. Dies<br />

wiederum heißt: Best<strong>im</strong>mung des leistbaren<br />

Programmvolumens sowie der einzelnen Programmaktivitäten<br />

in Hörfunk und Fernsehen<br />

sowie Definition des dafür notwendigen Auf-<br />

wands für Personal, Technik und Verwaltung.<br />

Einfache Fragen, jedoch außerordentlich schwer<br />

zu berechnen und noch viel schwerer zu realisieren.<br />

Auch die Frage des Standorts wurde kritisch<br />

beleuchtet, analysiert und berechnet. Was<br />

brächte die Reduktion von zwei Standorten<br />

auf einen? Statt zwei Standorten mit je einem<br />

Empfang und Hausmeister, je einer Fahrbereitschaft,<br />

Kantine, Küche usw. alles nur noch ein<br />

Mal. Und noch viel mehr: an einem Standort<br />

nur noch eine Programmdirektion, eine Chefredaktion,<br />

integrierte Redaktionen für Politik,<br />

Wirtschaft, Regionales, Kultur, Wissenschaft,<br />

Musik, Sport – alles nur noch einmal und tr<strong>im</strong>edial<br />

gleichzeitig, Fachredaktionen, welche<br />

alle Programme in Hörfunk, Fernsehen und<br />

Internet mit Inhalten belieferten. Konkret also<br />

zum Beispiel: nur noch eine Nachrichtenredaktion<br />

für alle Programme statt einer für jede<br />

der vier Hörfunkwellen, für das Fernsehen und<br />

für das Internet. Und dann dies alles nicht am<br />

Rande der Stadt, sondern mittendrin, bei den<br />

Menschen, ihren Themen, ihren Sorgen und<br />

Anliegen, ihren Freuden und Leiden.<br />

Zurück zur Schilderung der »Anbauten«.<br />

Ganz typisch bei Radio Bremen abzulesen: der<br />

Hörfunk in Schwachhausen/Vahr. Später kam<br />

das Fernsehen hinzu. Man dachte groß und an<br />

Entfaltungsmöglichkeiten und setzte deshalb<br />

das Fernsehen in Osterholz auf ein Gelände,<br />

das keine Entwicklung verhindern würde. Der<br />

Stadtrand war für solche Planungen ideal; dazu<br />

der schnelle Autobahnanschluss mit raschen<br />

Verbindungen zur Welt.<br />

Der Nachteil: Die Lage des Fernsehens<br />

zwischen Einkaufszentren und Baumärkten,<br />

definitiv kein Medienstandort, und zwei weit<br />

auseinanderliegende Betriebsstätten für Radio<br />

Bremen, eine für den Hörfunk und eine für<br />

das Fernsehen, förderten nicht unbedingt die<br />

Zusammenarbeit. Faktisch wurden zwei Betriebsteile<br />

eines Unternehmens geschaffen, die<br />

so gut wie nichts miteinander zu tun hatten,<br />

weshalb notgedrungen vieles doppelt vorgehalten<br />

und zweifach organisiert werden musste:<br />

Dubletten in der Verwaltung und der Produktion<br />

und selbstverständlich auch <strong>im</strong> Programm:<br />

zwei Direktoren, einer für Hörfunk und einer<br />

für Fernsehen, zwei Chefredakteure, zwei Mal<br />

Fachleute <strong>im</strong> Hörfunk und <strong>im</strong> Fernsehen für<br />

dasselbe Regionale, dieselben Fragen von Wirtschaft,<br />

Gesellschaft und Kultur für Hörfunk<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08


und Fernsehen. Die Vorteile einer Zusammenlegung<br />

der beiden Standorte waren also schon auf<br />

den ersten Blick nicht von der Hand zu weisen.<br />

Die größere Nähe der Mitarbeiter und die Möglichkeit<br />

der Vereinfachung <strong>im</strong> eben beschriebenen<br />

Verständnis. Und natürlich drängte sich die<br />

Frage auf, wie sich die geplante drastische personelle<br />

Verkleinerung des Senders auf die Größe<br />

der Betriebsfläche auswirken würde.<br />

Das Ergebnis langer und intensiver Berechnungen<br />

und Planungen war: Bei äußerster<br />

Sparsamkeit könnte die Hälfte der bisherigen<br />

Betriebsfläche eingespart werden. Gesagt, ge-<br />

plant: eine Reduzierung der Fläche von ehemals<br />

rund 33 000 m 2 auf circa 17 000 m 2 , statt zwei<br />

Standorten nur ein Komplex. Einsparungen in<br />

Millionenhöhe wurden auf diese Weise identifiziert,<br />

die spätestens in 20 Jahren die Kosten für<br />

den Neubau einschließlich der neuen Technik<br />

amortisieren. Nicht verschwiegen werden soll<br />

an dieser Stelle, dass erst jetzt – durch die Digitalisierung<br />

– die technischen Voraussetzungen<br />

gegeben waren, die diese radikale Umstrukturierung<br />

hin zu tr<strong>im</strong>edialen Arbeitsprozessen<br />

ermöglichen.<br />

Apropos Technik: Diese war bei Radio Bremen<br />

in vielen Bereichen so gut wie museumsreif.<br />

Nicht selten gab es Engpässe, weil nicht<br />

einmal mehr Ersatzteile am Markt zu finden<br />

waren. Doch Rücklagen für die Beschaffung<br />

von Ersatzgeräten waren nicht (mehr) vorhanden.<br />

Eine fatale Situation, die mit absoluter<br />

Sicherheit schon in naher Zukunft zum technischen<br />

Kollaps geführt hätte und damit zum<br />

programmlichen Aus.<br />

Eine Rundfunkanstalt mit Programm-Ideen,<br />

die aber nicht zu den Menschen gebracht werden<br />

können, weil sie nicht mehr über technische<br />

Möglichkeiten verfügt! Das wäre nicht das<br />

gewesen, was dem Sinn und Zweck einer solchen<br />

Einrichtung entsprochen hätte.<br />

_ Die Idee des Neubaus setzt sich durch<br />

Nur ein Befreiungsschlag – ein neues, kleineres,<br />

aber funktionsgerechtes Haus mit moderner<br />

Technik – konnte helfen. Und dieser Befreiungsschlag<br />

wurde versucht. Auch wenn der<br />

Grat, sich dem Spott eines Senders, seiner Gremien<br />

oder gar einer Stadt auszusetzen, sehr<br />

schmal ist. Radio Bremen und ein neuer Bau!<br />

Mit welchen Mitteln denn nur? Haben die<br />

den Verstand verloren und jedes Augenmaß?<br />

Dem Gedanken mussten umfangreiche Berechnungen<br />

von Mindestgröße und dafür erforderlichen<br />

Min<strong>im</strong>alinvestitionen folgen. Starker<br />

Glaube, dass es vielleicht doch gehen könnte,<br />

war gefragt und die Hoffnung, dass die erforderlichen<br />

Mittel auf irgendeine Weise doch zu »organisieren«<br />

wären – auch wenn die langfristigen<br />

Einsparungen und Vorteile zunächst niemand<br />

sehen konnte, vor allem sogar glauben mochte.<br />

Die Untersuchungen und Modelle mit ihren<br />

jeweiligen Kostenplänen, die unzähligen Ideen<br />

und Versuche, Unterstützung zu erhalten, füllen<br />

inzwischen viele Aktenordner. Es galt, Menschen<br />

und Gremien davon zu überzeugen, dass<br />

ein Neubau auf Zukunft gesehen die bessere<br />

(beste) Lösung sein würde. Und vor allem galt<br />

es nachzuweisen, dass sich der Sender dieses<br />

waghalsige Unterfangen würde leisten können.<br />

Grundsteinlegung für das neue Funkhaus<br />

von Radio Bremen am 13. 6. 2005: Bremens<br />

Bürgermeister Henning Scherf (l.) mit Jens<br />

Eckhoff (r.), Senator für Bau, Umwelt und Verkehr.<br />

Heinz Glässgen (2. v. l.) und Thomas<br />

Gruber, <strong>ARD</strong>-Vorsitzender, schauen ihnen zu.<br />

_ <strong>ARD</strong>-Solidarität führt zum Erfolg<br />

Den Durchbruch brachte eine <strong>ARD</strong>-Entscheidung.<br />

Es gelang, die anderen Landesrundfunkanstalten<br />

von der Notwendigkeit einer Hilfe<br />

für Radio Bremen und den SR zu überzeugen.<br />

Eine wunderbare Dokumentation der Solidarität<br />

und des Zusammenhalts innerhalb der<br />

<strong>ARD</strong>, deren Mitglieder Radio Bremen (und<br />

dem SR) schließlich Prioritäten <strong>im</strong> Bereich der<br />

Investitionen zubilligten und eigene Wünsche<br />

und Vorhaben nach hinten verschoben. Die<br />

Neuorganisation und der Neubeginn von Radio<br />

Bremen erhielten Vorrang. Ein großartiger<br />

Beweis der Loyalität, hervorgerufen durch die<br />

Erkenntnis, dass die politisch verordnete dras-<br />

Radio Bremen Neu <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 145


146<br />

tische Reduzierung der Senderfinanzen und<br />

die einschneidenden Reformvorhaben der<br />

kleineren Rundfunkanstalten von diesen allein<br />

nicht zu bewältigen sein würden. Gleichzeitig<br />

drückt sich darin die Anerkennung für diesen<br />

unbedingten Reformwillen und die bisher geleisteten<br />

Anstrengungen aus. Be<strong>im</strong> Sparen hatte<br />

Radio Bremen bei sich selber angefangen und<br />

nicht pr<strong>im</strong>är auf die Gemeinschaft der Rundfunkanstalten<br />

gelauert. Sparen kostet in vielen<br />

Fällen zuerst Geld, sei es durch Personalabbau,<br />

sei es bei Haus und Technik.<br />

Erst wenn diese neu und verändert vorhanden<br />

sind, können sich nach einiger Zeit Einspareffekte<br />

zeigen. Die <strong>ARD</strong> rechnete alle<br />

Modelle akribisch nach – und ließ sich von<br />

den Vorteilen überzeugen. Ein großer Teil der<br />

erforderlichen Mittel, genauer die errechneten<br />

Gesamtkosten für Bau und Technik abzüglich<br />

der durch Veräußerung der Altstandorte zu<br />

erzielenden Einnahmen, wurde als verlorener<br />

Zuschuss zugesagt. Ein großes Geschenk. In<br />

der ansonsten fast aussichtslosen Situation des<br />

Senders in Bremen ein kleines (großes) Wunder.<br />

Zur Rest-Finanzierung der Zukunft war dann<br />

»nur« noch die Veräußerung der alten Grundstücke<br />

notwendig – ein gleichwohl aufwändiger<br />

und nervenaufreibender Vorgang. Doch<br />

wenn alles gut geht, ist die Zukunft von Radio<br />

Bremen – nach der langen und dennoch vergleichsweise<br />

äußerst schnellen Phase der Veränderungen<br />

– bis auf weiteres gesichert.<br />

_ Was fehlt in der Beschreibung<br />

Dies sind in kürzesten Verweisen nur einige Beispiele<br />

der notwendigen Vor-Vor-Überlegungen<br />

und Vor-Entscheidungen, die Radio Bremen<br />

Neu vorauszugehen hatten, die unerlässlich<br />

sind für die Konzeption eines Bau-Vorhabens.<br />

Erst wenn die Frage, was man überhaupt und<br />

wie wollen kann, geklärt ist, stellen sich solche<br />

nach einem konkreten Ort, nach den Kriterien,<br />

die dieser zu erfüllen hat, nach den städtebaulichen<br />

Gegebenheiten und Vorschriften. Fragen<br />

eines Gesamtkonzepts, das einem Wettbewerb<br />

von Architekten und Generalplanern vorausgehen<br />

muss, der Gestaltung der Kosten, ihre Aufteilung<br />

auf Bau und Medientechnik, der Prinzipien<br />

eines Raum- und Funktionskonzepts, der<br />

Grundsätze einer medientechnischen Ausgestaltung<br />

sind danach ebenso grundsätzlich wie<br />

detailliert anzugehen und zu lösen.<br />

Wer bauen will, muss viele Hürden nehmen.<br />

Auch solche der Vorschriften von Politik und<br />

Behörden. Ein eigenes Kapitel. Viele weitere<br />

Haus Diepenau (o.), das Herz des neuen Gebäudekomplexes,<br />

mit Fachredaktionen, Programmredaktionen<br />

und Geschäftsführung.<br />

Weser-Haus (u.): Hier sind Programmredaktionen<br />

(Hörfunk), Studios und Produktionseinheiten<br />

untergebracht.<br />

Kapitel wären zu schreiben, um den Gang der<br />

Dinge vom Beginn bis zur Gegenwart nachzuzeichnen.<br />

Kapitel über:<br />

_ Planung, Ausschreibung, Wettbewerb;<br />

_ Einrichtung von Arbeitsstrukturen, Erstellen<br />

von Leistungsverzeichnissen, Beauftragung von<br />

Firmen;<br />

_ Mittelplanung und -beschaffung;<br />

_ Erarbeitung von Raum- und Funktionskonzepten;<br />

_ Arbeit von Projektgruppe, Lenkungsausschuss<br />

und vielen anderen Gruppen;<br />

_ Auseinandersetzungen und Zusammenarbeit<br />

mit Behörden, Gremien und Mitarbeiterschaft<br />

und viele tägliche Entscheidungen, tägliche<br />

Überraschungen und ein paar Erfolgserlebnisse.<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08


Ein Schlaglicht beleuchtet das Ausmaß der<br />

gesamten Aktivitäten bei Radio Bremen: In den<br />

letzten Jahren der Reformen auf allen Ebenen<br />

und in allen Bereichen des Senders wurden<br />

bei Radio Bremen weit mehr Tarifverträge und<br />

Dienstvereinbarungen erdacht, verhandelt und<br />

geschlossen als in den vorherigen fast 60 Jahren<br />

seiner Geschichte zusammengenommen: Veränderungen<br />

nach außen und nach innen, neue<br />

Programme, eine neue Situationsbest<strong>im</strong>mung<br />

innerhalb der <strong>ARD</strong>, eine tief greifende neue<br />

Organisation innerhalb des Senders und insbesondere<br />

durch die Ausgliederung der gesamten<br />

Produktion und Technik in das Beteiligungsunternehmen<br />

Bremedia Produktion, in das Tochterunternehmen<br />

Radio Bremen Media sowie in<br />

die Firma Bremer Bühnenhaus.<br />

_ Eines der modernsten Funkhäuser Europas:<br />

die Architektur<br />

Mit Beton wird nicht selten eine Entwicklung<br />

fixiert, eine Bedeutung postuliert. Die Neu-<br />

Konzeption von Radio Bremen wurde mit<br />

Augenmaß und einer größtmöglichen Berücksichtigung<br />

zukünftiger Optionen ersonnen und<br />

umgesetzt. Mit dem Neubau ist für die Zukunft<br />

nichts verbaut. Die Eigenständigkeit Radio<br />

Bremens kann hier ebenso gelebt werden wie<br />

eine verstärkte Kooperation. Diese Kooperation<br />

<strong>im</strong> Norden zwischen NDR und Radio Bremen<br />

existiert bereits auf zahlreichen Ebenen: Das<br />

gemeinsame dritte Fernsehprogramm und das<br />

Nordwestradio, das gemeinsame Hörfunk-Programm<br />

aus Bremen für die Region Bremen-Oldenburg,<br />

dokumentieren diese Zusammenarbeit<br />

beispielhaft. Gleichwohl kann diese Kooperation<br />

noch ausgebaut werden.<br />

Der Neubau Radio Bremens <strong>im</strong> Stephaniviertel<br />

war seit August 2007 bezugsfertig. Über<br />

200 Handwerker sorgten mit Hochdruck Tag<br />

und Nacht dafür, dass der gesetzte Termin eingehalten<br />

werden konnte. Die drei Häuser zeigen,<br />

wie sich das Viertel zwischen Faulenstraße<br />

und Weser künftig präsentieren wird. Vergleicht<br />

man die architektonisch anspruchsvollen Bauten<br />

mit dem, was vorher dort stand, ist der<br />

deutliche Gewinn für den Stadtteil, manchen<br />

als »Faulenquartier« bekannt, von niemandem<br />

zu leugnen.<br />

Radio Bremen hat durch seine Entscheidung,<br />

in diesem Stadtteil zu investieren, zu<br />

einer unbestreitbaren städtebaulichen Verbesserung<br />

beigetragen. Denn in Folge dieser Entscheidung<br />

wurden nicht nur drei neue Gebäude<br />

errichtet. Gemeinsam mit dem renovierten und<br />

erweiterten Bamberger Haus und dem neuen<br />

Stephani-Parkhaus, dem schönsten Parkhaus<br />

der Stadt, sind fünf neue, in jeder Hinsicht<br />

vorzeigbare Objekte entstanden. Sie werden<br />

einen Aufbruch eines bislang vernachlässigten<br />

Stadtviertels bewirken, der von den bereits ansässigen<br />

und den »neuen« Institutionen getragen<br />

wird.<br />

Am 13. 6. 2005, sechs Jahre nach der Kündigung<br />

des Finanzausgleichs, fand die Grundsteinlegung<br />

des neuen, modernen Funkhauses<br />

<strong>im</strong> Stephaniviertel statt. Zwei Jahre später bereichern<br />

drei neue, architektonisch wertvolle<br />

Gebäude ein vergessen geglaubtes Viertel. Das<br />

Haus Diepenau ist das »Redaktionshaus«, das<br />

Weser-Haus ist das »Produktionshaus« mit den<br />

Hörfunkwellen Bremen Eins, Bremen Vier und<br />

Nordwestradio, dem Funkhaus Europa sowie<br />

der Bremedia Produktion und den Studios.<br />

Im Stephani-Haus befinden sich das Radio-<br />

Bremen-Archiv, die Musikredaktion und die<br />

Fernseh-Hauptschaltraum <strong>im</strong><br />

neuen Radio-Bremen-Funkhaus<br />

Verwaltung des Senders. Alles ist nicht nur technisch<br />

miteinander verbunden, sondern auch<br />

gut zu erreichen über die Brücken, die zwischen<br />

den Häusern gespannt sind. In der zweiten<br />

Hälfte des Jahres 2007 fand schließlich der<br />

große Umzug statt. Seit Ende 2007 kommen<br />

alle Sendungen aus dem neuen Haus.<br />

_ Die technische Ausstattung<br />

und die veränderten Arbeitsbedingungen<br />

Es ist allgemein viel von Konvergenz der Technik<br />

die Rede: Die Technik wächst zusammen<br />

und verändert die gesamte Medienwelt. Bei<br />

Radio Bremen Neu <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 147


148<br />

Radio Bremen wird die Konvergenz der Technik<br />

durch die Konvergenz der Redaktionen komplettiert.<br />

Integration ist angesagt, radikale Steigerung<br />

der Effizienz und der Flexibilität. Unverzichtbare<br />

Faktoren zur Sicherung der Zukunft<br />

des Senders <strong>im</strong> Nordwesten der Republik. Und<br />

dies alles wird ermöglicht durch einen Neubau,<br />

der dieser Konzeption entspricht, der diese inneren<br />

Strukturen architektonisch umsetzt.<br />

Das Vorhaben, zwei bislang getrennte Betriebsteile<br />

an einem Standort zusammenzuführen,<br />

bot die Chance einer tief greifenden inneren<br />

Veränderung der Organisation des Senders.<br />

Was bislang schon aus Gründen getrennter<br />

Standorte doppelt »vorgehalten« werden musste,<br />

konnte jetzt an einem Ort zusammengefasst<br />

werden: nur noch eine Programmdirektion<br />

für Hörfunk, Fernsehen und Internet und<br />

damit eine Vereinfachung und Verbesserung<br />

der Zusammenarbeit der unterschiedlichen<br />

Programme und Redaktionen. Nur noch eine<br />

Bremen-Eins-Moderatorin<br />

am Moderationspult <strong>im</strong> neuen Funkhaus<br />

von Radio Bremen<br />

Chefredaktion und vor allen Dingen medien-<br />

und programmübergreifende Fachredaktionen,<br />

die ihre Inhalte tr<strong>im</strong>edial in unterschiedlicher<br />

Weise allen Programmen zur Verfügung stellen.<br />

Selbst wenn dabei naturgemäß ein einzelner Reporter<br />

die Beiträge nicht gleichzeitig für unterschiedliche<br />

Hörfunkprogramme, das Fernsehen<br />

und das Internet gestalten kann, sind Kompetenz<br />

und Wissen einer Fachredaktion für alle<br />

Programmredaktionen in Hörfunk, Fernsehen<br />

und Internet verfügbar.<br />

Die neue Technik wurde auf diese Konzeption<br />

hin maßgeschneidert: ein für Hörfunk,<br />

Fernsehen und Internet gemeinsames Redaktionssystem,<br />

das für alle zugänglich ist, in das<br />

alle Vorgänge, Planungen, Aufnahmen und<br />

Ausspielungen eingespeist werden. Dieses System<br />

leistet und garantiert höchste Transparenz,<br />

schafft die Möglichkeit der Mehrfachnutzung<br />

von Erkenntnissen und Materialien, die sich<br />

orientiert am unterschiedlichen Bedarf hinsichtlich<br />

der Hörer- und Zuschauergewohnheiten<br />

und -erwartungen. Die Zukunft des öffentlichrechtlichen<br />

Rundfunks entscheidet sich an der<br />

Frage der inhaltlichen Kompetenz, der Qualität<br />

der <strong>Information</strong>, seines Umgangs mit Themen.<br />

Die Organisation einer Rundfunkanstalt muss<br />

sich in ihrer Gesamtorganisation einschließlich<br />

ihrer technischen Ausstattung diesem Unternehmensziel<br />

und -zweck unterordnen.<br />

_ Ausblick<br />

Die Zukunft ist gewonnen. Radio Bremen ist<br />

von den Voraussetzungen des Programms, der<br />

Organisation und der Technik gerüstet. Die<br />

Zukunft wird freilich dem Sender nicht automatisch<br />

und ein für alle Mal geschenkt. Um sie<br />

muss weiterhin gekämpft werden, nach außen,<br />

aber auch nach innen. Lösungen für eine für<br />

<strong>im</strong>mer garantierte rosige Zukunft, eine Zukunft<br />

ohne Probleme gibt es nicht. Allerdings ist<br />

nicht zu bestreiten: Wenn Radio Bremen die<br />

hohen Hürden der vergangenen Jahre nicht genommen<br />

und die Probleme nicht mithilfe des<br />

<strong>ARD</strong>-Verbundes gemeistert hätte, könnten die<br />

Herausforderungen der nächsten Jahre nicht angegangen<br />

werden. Nur wer den einen Berg hinter<br />

sich gelassen hat, kann sich dem nächsten<br />

zuwenden. Und wer große Probleme erfolgreich<br />

bestanden hat, wird auch kleinere bewältigen.<br />

Prof. Dr. Heinz Glässgen,<br />

Intendant von Radio Bremen<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08


Als SDR und SWF 1998 zum SWR fusionierten, war das<br />

ein Meilenstein in der fast 50-jährigen Geschichte der<br />

<strong>ARD</strong>. In der schwieriger werdenden wirtschaftlichen<br />

Situation stellten die beiden <strong>ARD</strong>-Anstalten mit diesem<br />

Schritt die Reformfähigkeit des öffentlich-rechtlichen<br />

Rundfunks unter Beweis. Der Mut zur Neuordnung<br />

hatte nicht nur Signalwirkung auf andere Bereiche und<br />

Rundfunkanstalten, er setzte auch Mittel für einen<br />

Modernisierungsprozess frei, der Programm und Produk-<br />

tion gleichermaßen zugutekommt. Und nicht zuletzt<br />

veränderte die Fusion das Kräfteverhältnis innerhalb des<br />

<strong>ARD</strong>-Verbundes.<br />

Steiniger Weg<br />

Eine (Zwischen-)Bilanz über zehn Jahre SWR, die den<br />

bisherigen Prozess reflektiert und zugleich zeigt, dass<br />

Beweglichkeit Voraussetzung bleibt für die Zukunfts-<br />

fähigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.<br />

Das erste Fusionskind des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, der SWR,<br />

wird zehn Jahre alt<br />

Von Peter Boudgoust<br />

D<br />

ieser Weg wird kein leichter sein,<br />

dieser Weg wird steinig und schwer<br />

. . .«, singt Xavier Naidoo in einem bekannten<br />

Lied. Naidoo, als Mannhe<strong>im</strong>er<br />

<strong>im</strong> Sendegebiet des SWR groß geworden,<br />

hat mit dem »Weg« nicht die Fusion von SDR<br />

und SWF gemeint. Aber mir geht es so, dass<br />

ich, wenn ich das Lied bei SWR3 höre, unwillkürlich<br />

daran denken muss.<br />

»Eine Fusion macht man nur einmal <strong>im</strong><br />

Leben«, sagte mir einmal einer ihrer Väter, der<br />

SWR-Gründungsintendant Peter Voß. Auch<br />

die Gründungsmütter und -väter, die später den<br />

SFB und den ORB zum RBB verschmolzen,<br />

könnten von ihrem steinigen Weg ein Lied singen<br />

. . .<br />

Weshalb war die Geburt des SWR, die nunmehr<br />

zehn Jahre zurückliegt, so schwer? Vor<br />

allem kam sie spät. In 50 Jahren mehr oder minder<br />

friedlicher Koexistenz hatten sich der SDR<br />

und der SWF zu zwei eigenständigen, angesehenen<br />

<strong>ARD</strong>-Häusern entwickelt. Beide setzten<br />

in Radio und Fernsehen unterschiedliche Akzente,<br />

was das Angebotsspektrum in der <strong>ARD</strong><br />

nur reicher machte. An Rhein, Neckar und Oos<br />

wurde für Baden-Württemberg und Rheinland-<br />

Pfalz – und <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong> für die ganze Republik<br />

– attraktives Radio und Fernsehen gemacht –,<br />

nicht zuletzt weil die Konkurrenz von SDR<br />

und SWF den Sportsgeist anstachelte: »Wollen<br />

wir doch einmal sehen, ob wir das nicht besser<br />

können!«<br />

Um es klar zu sagen: Die Fusion kam nicht,<br />

weil die Programmqualität von SDR und SWF<br />

zu wünschen übrig ließ. Die Fusion kam, da-<br />

Zehn Jahre SWR <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 149


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mit gute Journalisten weiter dasselbe Geld zum<br />

Produzieren ihrer Programme haben. Und in<br />

schlankeren Strukturen arbeiten, die weniger<br />

Geld kosten und weniger Energie binden. Das<br />

wiederum hat eine Rückwirkung auf das Programm,<br />

es wird noch besser. So konnte <strong>im</strong> Falle<br />

des SWR die regionale Berichterstattung <strong>im</strong><br />

Vergleich zu den Möglichkeiten der Vorgängeranstalten<br />

deutlich verstärkt werden.<br />

_ Künstliche Nachbarschaft<br />

So angesehen SDR und SWF als jeweils eigenständige<br />

Häuser waren, sie blieben – anders als<br />

etwa der HR und der SWF, bei denen Landes-<br />

und Sendergrenze deckungsgleich sind – künstliche<br />

Nachbarn. Bedingt durch die Aufteilung<br />

Deutschlands 1945 in Besatzungszonen, teilten<br />

ihre Sendegebiete das Bundesland Baden-Württemberg;<br />

zugleich schloss das Sendegebiet des<br />

SWF neben diesem halben Land das komplette<br />

Bundesland Rheinland-Pfalz ein. Und weil Radio<br />

nicht an einer Autobahn, der A 8 zwischen<br />

Karlsruhe und Stuttgart als ehemaliger Zonengrenze,<br />

haltmacht, waren die Programme des<br />

SWF in weiten Teilen des SDR-Sendegebietes<br />

zu empfangen – und umgekehrt. Politik und<br />

Rundfunk haben sich diese künstliche Nachbarschaft<br />

50 Jahre lang geleistet, in einem doppelten<br />

Sinn. Außer fürs Programm-Machen<br />

floss viel Geld und Energie in Selbsterhaltung.<br />

»Wer baut, der bleibt«, hieß ein süffisanter Leitspruch<br />

<strong>im</strong> SWF. Der SDR wuchs mit dem Anspruch,<br />

von einer Landeshauptstadt aus zu senden.<br />

Und baute ebenfalls. Zwei große Schiffe<br />

kreuzten in einem überschaubaren Gewässer.<br />

Als das Geld weniger wurde, drohte eine Umverteilung<br />

gegen den Anspruch und Willen des<br />

Gebührenzahlers: Weniger Geld für das »An<strong>im</strong>ationsprogramm«<br />

auf dem Deck, mehr Geld<br />

für Kombüse und Diesel.<br />

Hermann Fünfgeld und Peter Voß, die Intendanten<br />

von SDR und SWF, aber auch schon<br />

Voß’ Vorgänger Willibald Hilf hatten bereits<br />

Felder der Zusammenarbeit geschaffen, um<br />

das Geld, wie der Mannhe<strong>im</strong>er Fünfgeld sagen<br />

würde, »zusammenzuhalten«: das gemeinsame<br />

Fernsehprogramm (an dem auch der SR mitwirkt),<br />

ein gemeinsames Kulturradio und ein<br />

Hörfunkprogramm mit regionalen Fenstern.<br />

Aber die Hebe- und Tauchversuche reichten<br />

nicht aus. Mit der Einführung des dualen<br />

Rundfunksystems in Deutschland Anfang der<br />

80er Jahre war es – auch – be<strong>im</strong> öffentlichrechtlichen<br />

Rundfunk mit Zuwachsraten wie<br />

in den 70ern vorbei. Seit vielen Jahren fangen<br />

die Erhöhungen der Rundfunkgebühren die<br />

medienspezifische Teuerungsrate nur noch teilweise<br />

auf.<br />

Es ist das rundfunkhistorische Verdienst<br />

von Hermann Fünfgeld und Peter Voß, seinerzeit<br />

erkannt zu haben: Wenn SDR und SWF<br />

jetzt nicht fusionieren, könnten die Häuser in<br />

zehn, zwanzig Jahren zwar noch die Gehälter<br />

der Mitarbeiter zahlen, müssten jedoch mit<br />

weniger Programm auskommen. Oder mit weniger<br />

Programmqualität! Das würde – und hier<br />

liegt der Schlüssel zur damaligen weitsichtigen<br />

Motivation von Fünfgeld und Voß – SDR und<br />

SWF die Gebührenakzeptanz entziehen und<br />

das öffentlich-rechtliche System, Garant unseres<br />

demokratisch verfassten Zusammenlebens, als<br />

Ganzes gefährden.<br />

Zu diesem Schritt gehörte aber nicht nur<br />

Weitsicht, sondern auch Mut, denn die Politik<br />

hatte das Thema »Neuordnung des öffentlichrechtlichen<br />

Rundfunks <strong>im</strong> Südwesten« nach<br />

diversen Versuchen, die alle gescheitert waren,<br />

von der Tagesordnung genommen – wenigstens<br />

einstweilen. Die Ministerpräsidenten Erwin<br />

Teufel und Kurt Beck gaben aber das Signal:<br />

Wenn die Intendanten ein gemeinsames Konzept<br />

vorlegen, können wir darüber sprechen!<br />

Nach dieser Voraussetzung sah es zunächst<br />

nicht aus. Hermann Fünfgeld trat mit dem<br />

Konzept eines »Landessenders« an, die Ländergrenzen<br />

sollten auch Sendegebietsgrenzen<br />

sein. Peter Voß entwickelte zusammen mit dem<br />

damaligen SWF-Hauptabteilungsleiter Produktion,<br />

Hermann Eicher, das Konzept einer »bei-<br />

Die »Väter« der Fusion <strong>im</strong> Südwesten:<br />

SDR-Intendant Hermann Fünfgeld (l.) mit<br />

Peter Voß, damals noch SWF-Intendant<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08


trittsoffenen Zwei-Länder-Anstalt«, sprich eines<br />

Rundfunkhauses für – mindestens – Baden-<br />

Württemberg und Rheinland-Pfalz. Dass sich<br />

Voß’ Konzept durchsetzte, lag nicht am legendären<br />

Temperament des Vollblutjournalisten,<br />

sondern an der rationalen Einsicht aller Beteiligten<br />

in Sendern und Politik, dass eine eigene<br />

<strong>ARD</strong>-Anstalt für Rheinland-Pfalz, wo ja schon<br />

das ZDF seinen Sitz hatte, die Probleme ganz<br />

wörtlich verschieben und nicht lösen würde.<br />

Man hätte, um das marit<strong>im</strong>e Bild zu bemühen,<br />

das Gewässer geteilt, aber die Zahl der Schiffe<br />

belassen.<br />

_ Fusionseffekt für das Programm<br />

Rein rechnerisch ging mit der SWR-Gründung<br />

Programm <strong>im</strong> Hörfunk verloren – SDR und<br />

SWF verfügten über jeweils zwei eigene Programme<br />

und gestalteten zwei weitere Programme<br />

gemeinsam. Nach dem 1. 9. 1998 gab<br />

es vier Radioprogramme, SWR1 bis SWR4.<br />

Zugleich hat diese Fusion aber auch Programm<br />

geschöpft – die Entwicklung von DASDING,<br />

dem mult<strong>im</strong>edialen Jugendangebot des SWR,<br />

und von SWR cont.ra, dem digitalen <strong>Information</strong>sradio,<br />

wäre ohne sie nicht möglich gewesen.<br />

Hier wurden Menschen und Geld frei, um das<br />

Hörfunkangebot des SWR gemäß dem Programmauftrag<br />

des SWR und den Ansprüchen<br />

der Hörer entsprechend neu zu justieren. Das<br />

bedeutete nicht Expansion, wie Kritiker des<br />

öffentlich-rechtlichen Systems gern behaupten,<br />

sondern Diversifizierung.<br />

Im Fernsehen standen die Effekte der Fusion<br />

schon bald – ganz wörtlich – vor aller Augen.<br />

Der SWR startete mit zwei gestärkten Landesprogrammen<br />

in einem gemeinsamen Dritten<br />

Programm, und das in dem Bewusstsein, dass<br />

regionale Berichterstattung für die Zuschauer<br />

<strong>im</strong>mer wichtiger wird. Durch die Bündelung<br />

von Produktionskapazitäten gelang es, die Marken<br />

von SDR und SWF in der <strong>ARD</strong> mit neuen<br />

Impulsen zu versehen. Und ganz neue Marken<br />

zu setzen – das »<strong>ARD</strong>-Buffet« zum Beispiel gehört<br />

zu den programmlichen Neuschöpfungen,<br />

die aus der deutschen Fernsehlandschaft wegen<br />

ihres großen Erfolges nicht mehr wegzudenken<br />

sind.<br />

_ Wirtschaftliche Effekte der Fusion<br />

Es ist nicht ganz einfach zu sagen, wie viel<br />

Synergieeffekte und Einsparungen durch den<br />

Zusammenschluss von SDR und SWF erzielt<br />

worden sind. Denn natürlich verursacht die<br />

Erwin Teufel (l.) und Kurt Beck bei der<br />

Unterzeichnung des Staatsvertrags über den<br />

Südwestrundfunk <strong>im</strong> Mai 1997<br />

Zusammenlegung zweier mittelgroßer Sender<br />

zunächst auch Aufwand, etwa für Dienstreisen,<br />

neue Briefbögen und mehr. Doch die fusionsbedingten<br />

Einsparungen überwiegen nach kurzer<br />

Zeit diese Mehraufwendungen bei weitem:<br />

Allein in der Gebührenperiode 2001 bis 2004<br />

um 27,4 Mio Euro, in der Gebührenperiode<br />

2005 bis 2008 werden es weitere 61 Mio Euro<br />

sein.<br />

Dabei sollte man gewahr bleiben, dass ein<br />

öffentlich-rechtlicher Sender ganz bewusst<br />

kein kommerzielles Unternehmen ist, das Gewinn<br />

erzielen und max<strong>im</strong>ieren muss. Es erfüllt<br />

einen Grundversorgungsauftrag, wie ihn das<br />

Bundesverfassungsgericht formuliert hat, und<br />

bezieht dafür Gebühren von seinen Hörern<br />

und Zuschauern. Frei werdendes Geld wird in<br />

gesellschaftlich relevantes Programm investiert<br />

– vielfach in Programm, das kein kommerzieller<br />

Anbieter leistet. Öffentlich-rechtlicher Rundfunk<br />

ist eine Infrastrukturleistung für die Wissensgesellschaft.<br />

Und doch gibt es wirtschaftliche Eckdaten,<br />

Prognosen und Erwartungen: etwa den Abbau<br />

von 650 Planstellen, womit die Organisation<br />

SWR schlanker und – um wieder das Bild<br />

vom Schiff zu bemühen – besser manövrierbar<br />

wurde. Das war ein klarer Anspruch an den<br />

öffentlich-rechtlichen Rundfunk, nachdem die<br />

Sendeanstalten bereits seit der Rezession Ende<br />

der 70er Jahre ihren Umbau eingeleitet hatten<br />

und auch der öffentliche Dienst reorganisiert<br />

worden war.<br />

Zehn Jahre SWR <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 151


152<br />

Alles digital: Morningshow-Moderator<br />

Michael Wirbitzky <strong>im</strong> neuen SWR3-Studio<br />

Die Tatsache, dass es <strong>im</strong> Südwesten seit<br />

1998 nicht mehr zwei, sondern einen Produktionsbetrieb<br />

gibt, nur noch eine Verwaltung die<br />

Kantinen in Stuttgart, Baden-Baden und Mainz<br />

steuert, ein gemeinsames Play-Out-Center in<br />

Baden-Baden das Fernsehprogramm abspielt,<br />

keine unterschiedlichen Programmplanungs-<br />

Systeme mehr eingesetzt werden, eröffnet enormes<br />

Sparpotenzial: Es handelt sich fraglos um<br />

Millionen von Euro, die bei diesen und vielen<br />

anderen Beispielen Jahr für Jahr frei werden<br />

und in das Programm fließen (können).<br />

In ein Programm, dessen Plattformen sich<br />

in den zehn Jahren seit der Fusion dramatisch<br />

diversifiziert haben. In den Überlegungen von<br />

Hermann Fünfgeld und Peter Voß spielten<br />

die zwei Modernisierungsschübe des öffentlichrechtlichen<br />

Rundfunks, das Internet und die<br />

Digitalisierung, noch keine Rolle. Diese Entwicklungen<br />

waren Anfang der 90er Jahre nicht<br />

absehbar, weder in ihrem Tempo noch in ihrer<br />

D<strong>im</strong>ension. Gleichwohl schrieb Peter Voß<br />

schon <strong>im</strong> Jahr 1996: »Wir brauchen mehr Flexibilität<br />

auf einem sich radikal verändernden<br />

Medienmarkt mit seinen neuen Herausforderungen.«<br />

Die Herausforderungen Internet und<br />

Digitalisierung verlangen, das Schiff SWR weiter<br />

umzubauen, Hierarchien zu hinterfragen,<br />

neue Berufsbilder zu schaffen, die bisweilen<br />

noch vorhandenen Schlagbäume zwischen den<br />

klassischen Medien Radio und Fernsehen zu<br />

heben. Mit einem Wort: Sie verlangen Beweglichkeit<br />

– eine Beweglichkeit, für die der<br />

Zusammenschluss von SDR und SWF die entscheidende<br />

Voraussetzung geschaffen hat.<br />

_ Zwei Modernisierungschübe<br />

Ich hatte in den vergangenen zehn Jahren bisweilen<br />

den Eindruck, dass die negativen Begleiterscheinungen<br />

einer Fusion – Sorge um<br />

die Qualität der journalistischen Produkte,<br />

persönliche (auch verständliche!) Unruhe der<br />

Mitarbeiter, schwierige Überführung der alten<br />

Struktur in die neue – wenigstens in einem<br />

Sinne etwas Gutes hatten: Das Bewusstsein für<br />

Qualitätssicherung und die Einsicht in notwendige<br />

Veränderungen war bereits geschärft,<br />

als die genannten Modernisierungsschübe die<br />

<strong>ARD</strong>-Häuser erreichten.<br />

Eine Dekade nach seiner Gründung leistet<br />

der SWR seinen Grundversorgungsauftrag<br />

auch auf der Plattform Internet und n<strong>im</strong>mt die<br />

Online-Federführung in der <strong>ARD</strong> wahr. Und er<br />

stellt sich den Herausforderungen des digitalen<br />

Zeitalters. Das SWR3-Studio in Baden-Baden<br />

oder das in Planung befindliche neue Produktionsgebäude<br />

in Stuttgart, in dem traditionelle<br />

und Neue Medien zusammenwachsen, setzen<br />

moderne, europaweit beachtete Konzepte<br />

des Programmgestaltens um. Damit schlägt<br />

der SWR einen Weg ein, wie ihn auch andere<br />

<strong>ARD</strong>-Häuser bereits gehen, zuletzt Radio Bremen<br />

mit seinem neuen Funkhaus und der SR<br />

mit seinem tr<strong>im</strong>edialen News Room. Dort sind<br />

die Grenzen zwischen den Medien bereits so<br />

gut wie aufgehoben. Der digitale Workflow verlangt<br />

von den Mitarbeitern eine »neue Denke«.<br />

Sie lassen sich darauf ein in der Gewissheit, dass<br />

damit ihr Sender – und mit ihm das Konzept<br />

des öffentlich-rechtlichen Rundfunks – zukunftsfähig<br />

bleibt.<br />

War die neue Beweglichkeit, die durch<br />

die Fusion <strong>im</strong> Südwesten entstand, auch für<br />

die Flotte, der das junge Schiff angehört, von<br />

Nutzen? Das Zusammengehen von SDR und<br />

SWF hat die Kräfteverhältnisse innerhalb der<br />

<strong>ARD</strong> verändert. Der SWF hatte <strong>im</strong> <strong>ARD</strong>-<br />

Größenvergleich auf Platz fünf und der SDR<br />

auf Platz sechs gelegen. Der SWR war über<br />

Nacht das zweitgrößte Haus in der <strong>ARD</strong>. Nach<br />

dem 1. 9. 1998 gab es <strong>im</strong> Verbund die Sorge, der<br />

SWR werde seine neue Größe mit Stärke verwechseln.<br />

Nichts davon ist eingetreten. Als der<br />

<strong>ARD</strong>-Vorsitz an den SWR fiel, musste SWR-<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08


Gründungsintendant Peter Voß unter anderem<br />

den <strong>ARD</strong>-Finanzausgleich neu regeln – und tat<br />

es in einer Weise, dass die kleinen <strong>ARD</strong>-Häuser<br />

genügend Zeit bekamen (und sie auch nutzten)<br />

für den notwendigen inneren Umbau.<br />

_ Zwei Bundesländer – ein Orchester<br />

Größe verpflichtet – auch den SWR. Er leistet<br />

heute zahlreiche Verwaltungsaufgaben für<br />

den SR, etwa be<strong>im</strong> Gebühreneinzug. Der SR<br />

kann seine Ressourcen auf seine publizistische<br />

Leistung konzentrieren. Das Motto »Dort<br />

zusammengehen, wo möglich, dort getrennt<br />

bleiben, wo nötig« wandten SWR und SR auch<br />

auf das Feld der Klangkörper an: Aus dem<br />

Rundfunk-Sinfonieorchester Saarbrücken und<br />

dem Rundfunkorchester Kaiserslautern entstand<br />

die Deutsche Radio Philharmonie. Dank<br />

dieses fusionierten Rundfunkorchesters werden<br />

beide Traditionsorte für Rundfunkmusik weiter<br />

bespielt. Die Alternative hätte gelautet, mindestens<br />

einen – oder irgendwann beide? – Klangkörper<br />

aufzulösen.<br />

Nicht zu unterschätzen ist die Signalwirkung,<br />

die von der Fusion <strong>im</strong> Südwesten auf Gesellschaft<br />

und Politik ausging. SDR und SWF<br />

stellten nichts weniger als die Reformfähigkeit<br />

des öffentlich-rechtlichen Rundfunks unter Beweis.<br />

Die Gründung des SWR fiel in eine Zeit,<br />

als der Rechtfertigungsdruck auf <strong>ARD</strong> und ZDF<br />

bereits zunahm. Rufe nach mehr Wirtschaftlichkeit<br />

wurden <strong>im</strong>mer lauter. Der Reformprozess<br />

innerhalb der <strong>ARD</strong>, der zuvor meist auf<br />

der Ebene des theoretischen Gedankenspiels<br />

stattfand, erhielt mit der ersten realen Rundfunkfusion<br />

einen wichtigen Impuls.<br />

Die abschließende Frage an den öffentlichrechtlichen<br />

Rundfunk und konkret an die <strong>ARD</strong><br />

lautet: Taugt die Fusion von SDR und SWF als<br />

ein Beispiel, das Schule machen soll? Der RBB<br />

ist der zweite Sender, der aus einer Sender-Ehe<br />

hervorgegangen ist, aus Motiven, die mit den<br />

Gründen für die Reform <strong>im</strong> Südwesten durchaus<br />

vergleichbar sind: Als Folge des Zweiten<br />

Weltkriegs wurde Berlin publizistisch in eine<br />

Insellage versetzt. Diese Insellage war so künstlich<br />

wie die Zweiteilung Baden-Württembergs in<br />

zwei Sendegebiete.<br />

In Berlin ist die Rundfunkfusion der politischen<br />

Fusion vorausgegangen, denn zuvor hatte<br />

es schon den (fehlgeschlagenen) Versuch einer<br />

Vereinigung der Länder Berlin und Brandenburg<br />

gegeben. Doch wird vermutlich erst eine<br />

umfassende Neuregelung der Ländergrenzen die<br />

Rundfunkgrenzen infrage stellen. Kein <strong>ARD</strong>-<br />

Haus muss fürs Erste den »steinigen Weg« einer<br />

Fusion gehen, den Xavier Naidoo – wenigstens<br />

für mich – besungen hat. Aber die aktuellen<br />

Aufgaben, etwa das Zusammenführen der traditionellen<br />

und Neuen Medien, sind auch nicht<br />

vergnügungssteuerpflichtig. Gleichwohl sind<br />

diese Schritte notwendig, um den Bürgerinnen<br />

und Bürgern auch in Zukunft die Leistungen<br />

des öffentlich-rechtlichen Rundfunks anbieten<br />

zu können. Und das ist ein Ziel, für das sich so<br />

manche Anstrengung lohnt.<br />

Peter Boudgoust,<br />

Intendant des SWR<br />

Zehn Jahre SWR <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 153


154<br />

»Ihr gutes öffentliches Recht« – die Imagekampagne<br />

von <strong>ARD</strong> und ZDF<br />

»Bei <strong>ARD</strong> und ZDF sitzen Sie in der ersten<br />

Reihe« lautete der Slogan der ersten gemeinsamen<br />

Imagekampagne von <strong>ARD</strong> und ZDF, der<br />

auch heute noch – fast 20 Jahre später –<br />

in der Erinnerung der Bundesbürger verankert<br />

ist. Wann <strong>im</strong>mer in Gesprächen und Diskussionen<br />

von einer ersten Reihe die Rede ist,<br />

assoziieren die Gesprächspartner diesen Slogan,<br />

der von Fachleuten als ungemein stark<br />

eingeschätzt wurde und der es zum geflügelten<br />

Wort geschafft hat.<br />

Auf der Erfahrung mit diesem »Werbeklassiker«<br />

(»Werben & Verkaufen«) basiert die Idee<br />

für eine neue Gemeinschaftskampagne von<br />

<strong>ARD</strong> und ZDF. Auf die Erfolgsgeschichte von<br />

der ersten Reihe sollte ein neuer Werbefeldzug<br />

mit einem ebenfalls allgemeingültigen Slogan<br />

mit vergleichbarer Wirkung folgen. Wieder<br />

sollten die Vorzüge der öffentlich-rechtlichen<br />

Programme herausgestellt werden, um Position<br />

und Positionierung von <strong>ARD</strong> und ZDF<br />

und ihrer Programmfamilie zu stärken und als<br />

unverzichtbar für die Gesellschaft der Bundesrepublik<br />

Deutschland ins Bewusstsein zu<br />

rücken.<br />

Im Laufe des Jahres 2007 erarbeitete eine<br />

von den Intendanten Markus Schächter (ZDF),<br />

Fritz Raff (SR) und Jobst Plog (NDR) eingesetzte<br />

Arbeitsgruppe ein Agenturbriefing. Ausgangspunkt<br />

war die Erkenntnis, dass in einem<br />

sich stetig verändernden Medienmarkt – u. a.<br />

durch die fortschreitende Digitalisierung und<br />

das damit verbundene Anwachsen der Zahl<br />

kommerzieller Programmangebote – die öffentlich-rechtlichen<br />

Sender sich vor allem mit<br />

den Punkten Auffindbarkeit und Unverwechselbarkeit<br />

auseinandersetzen müssen. Durch<br />

die Darstellung des gesamten Leistungsspek-<br />

trums und der Qualität (»Leuchttürme«) sollte<br />

nach Vorstellung der Intendanten die Position<br />

behauptet und ausgebaut werden. Mit der<br />

Verdeutlichung und Hervorhebung des (Mehr-)<br />

Werts der öffentlich-rechtlichen Programme<br />

für die Gesellschaft muss darüber hinaus die<br />

Legit<strong>im</strong>ation des gebührenfinanzierten Rundfunks<br />

untermauert werden.<br />

Die Kampagne sollte zugleich negativ-<br />

kritischen Bewertungen des öffentlich-rechtlichen<br />

Rundfunks – verstaubt, bieder, unflexibel,<br />

be leh rend – sowie der Unwissenheit<br />

über den Leistungsumfang der <strong>ARD</strong>- bzw. ZDF-<br />

Programmfamilie, der Dritten und der kooperierten<br />

Programme, der Radiowellen, der<br />

Internet-Angebote und Videotexte entgegen<br />

treten. Zugleich sollen die positiven Aspekte in<br />

der Wahrnehmung der Bürgerinnen und Bürger<br />

gestützt werden: glaubwürdig, seriös, souverän,<br />

verlässlich, informativ, unterhaltend,<br />

innovativ, kompetent, weltoffen, unabhängig,<br />

vielfältig, kundennah. Das Spektrum der positiv<br />

bewerteten Eigenschaften umfasst zudem<br />

die vielen Veranstaltungen, Veranstaltungspartnerschaften,<br />

Förderpreise und ähnliches.<br />

Nach dem Agenturpitch mit namhaften<br />

nationalen Werbeagenturen <strong>im</strong> ersten Halbjahr<br />

2007 gaben die Intendanten Markus Schächter,<br />

Fritz Raff und Jobst Plog grünes Licht für<br />

die Umsetzung des Vorschlags der Frankfurter<br />

Agentur Ogilvy & Mather, die in Stil, Tonalität<br />

und Vielfalt die Intentionen der Auftraggeber<br />

in Richtung selbstbewusst, mutig, entspannt<br />

und emotional inklusive eines starken Cla<strong>im</strong>s<br />

am besten realisiert hatte. Nach mehreren Prä -<br />

sentationen <strong>im</strong> Intendantenkreis, bei der<br />

Gremienkonferenz und bei den Kommunikationschefs<br />

konnte die Agentur in Abst<strong>im</strong>mung<br />

Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08


mit der Redaktionsgruppe – bestehend aus<br />

Vertretern der Hauptabteilung Kommunikation<br />

und Marketing des ZDF, der Kommunikationschefs<br />

der vorsitzführenden Anstalt SR,<br />

des WDR, des NDR (in enger Zusammenarbeit<br />

mit Vertretern der GEZ) und des <strong>Ersten</strong> – die<br />

Umsetzung der Ideen- und Ideenskizzen in<br />

Angriff nehmen. Die Planung in Kooperation<br />

mit der Medienagentur OMD sah einen Kampagnenstart<br />

für den Spätherbst 2007 in einer<br />

Media-Mix-Strategie mit den Medien Print, TV,<br />

Radio und Internet vor. Gleichzeitig wurde beschlossen,<br />

die bestehenden Senderwerbungen<br />

sowie die GEZ-Kampagne unberührt von dem<br />

neuen Feldzug fortzusetzen.<br />

Anfang November vergangenen Jahres<br />

star teten <strong>ARD</strong> und ZDF diese neue Gemeinschaftskampagne<br />

mit dem Cla<strong>im</strong> »<strong>ARD</strong> und<br />

ZDF. Ihr gutes öffentliches Recht«. Am Anfang<br />

der von Ogilvy & Mather konzipierten Kampagne<br />

stand ein TV-Spot, der das Recht auf<br />

ein pädagogisch wertvolles Kinderprogramm<br />

kommuniziert. Zu einer Punk-Version der<br />

Pippi-Langstrumpf-Titelmelodie zeigt der Film<br />

jede Menge Kinder, die neugierig ihre Welt<br />

erkunden. Dabei probieren sie natürlich auch<br />

Dinge aus, die nicht unbedingt jedes Elternherz<br />

höher schlagen lassen. Aber das ist auch<br />

gut so. Denn Kinder haben das Recht, neugierig<br />

zu sein. Deshalb gibt es bei <strong>ARD</strong>, ZDF und<br />

KI.KA mehr Programme für kleine Entdecker<br />

als anderswo. Der Spot wurde am ersten<br />

Kampagnen-Wochenende <strong>im</strong> Umfeld der <strong>ARD</strong>-<br />

»Sportschau«, vor »Wetten, dass . . ?«, dem<br />

»Tatort« und einer Rosamunde-Pilcher Verfilmung<br />

gestartet und erzielte so schon an den<br />

ersten beiden Tagen 40 Mio Kontakte.<br />

Ergänzt wurde die Kampagne in der Zwischenzeit<br />

durch drei weitere Fernsehspots<br />

zum Thema <strong>Information</strong>, zum Thema Fußball-<br />

Europameisterschaft (inklusive einer Kinoversion<br />

während der EM) und zum Thema<br />

<strong>ARD</strong>/ZDF-Imagekampagne<br />

Digitalisierung sowie durch viele Radiospots,<br />

Anzeigen in Printmedien und Internet und<br />

Plakatmotive.<br />

Grundsätzlich will die Kampagne erreichen,<br />

dass die Vielfalt, Freiheit und Qualität, die der<br />

öffentlich-rechtliche Rundfunk bietet, als persönlicher<br />

selbstverständlicher Besitzstand der<br />

Menschen begriffen wird. Als ein Besitzstand,<br />

den man sich nicht einfach wegnehmen lässt.<br />

Als etwas, auf das man ein Recht hat.<br />

So soll erreicht werden, dass nicht nur der<br />

Kopf, sondern auch der Bauch sagt: »Gut, dass<br />

es <strong>ARD</strong> und ZDF gibt.«<br />

Mit dem Cla<strong>im</strong> proklamiert die neue Gemeinschaftskampagne<br />

die Rechte der deutschen<br />

Fernsehzuschauer und Radiohörer, die<br />

so nur von <strong>ARD</strong> und ZDF garantiert werden<br />

können. Die Kampagne macht klar, dass man<br />

das Recht hat, alle Meinungen zu hören. Deshalb<br />

gibt es bei <strong>ARD</strong> und ZDF mehr Politmagazine<br />

als anderswo. Die Zuschauer haben<br />

das Recht, die Deutsche Nationalmannschaft<br />

unverschlüsselt zu sehen. Deshalb haben sich<br />

<strong>ARD</strong> und ZDF die Rechte an der EM 2008 gesichert.<br />

Auch in den kommenden Monaten sollen<br />

die wichtigsten Rechte mit dem Schwerpunkt<br />

auf TV und Print in der Öffentlichkeit<br />

noch breiter bekannt gemacht werden.<br />

Inzwischen wird der Slogan auch bei Veranstaltungen<br />

erfolgreich eingesetzt (Medienveranstaltungen,<br />

Internationale Funkausstellung<br />

etc.), um das angestrebte Ziel einer größeren<br />

Akzeptanz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks<br />

bei Otto Normalverbraucher ebenso wie<br />

bei Medienpolitikern zu erreichen. Der zusätzlich<br />

gewünschte Effekt: die Steigerung der Akzeptanz<br />

des Gebührensystems.<br />

Peter Meyer / Rolf-Dieter Ganz

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