Politische Information im Ersten - ARD
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<strong>Politische</strong> <strong>Information</strong> <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong><br />
Eine Innensicht<br />
Von Thomas Baumann<br />
Zwei Artikel über die Qualität der politischen Informa-<br />
tion in den Medien, speziell <strong>im</strong> Fernsehen, zwei Auto-<br />
ren – der eine als <strong>ARD</strong>-Chefredakteur zuständig für die<br />
Innen sicht, der andere als Medienwissenschaftler für<br />
den Blick von außen – zwei unterschiedliche Positionen.<br />
Einigkeit jedoch letztendlich über den Auftrag, den die<br />
Medien und die Journalisten für die Zuschauer erfüllen<br />
müssen: Politiker-Statements dechiffrieren, Floskeln ent-<br />
larven, das politische Geschehen transparent machen.<br />
Dies geschieht <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong> mit Nachrichtensendungen,<br />
politischen Magazinen, einer Vielzahl von Dokumenta-<br />
tionen und Gesprächssendungen. Damit die Qualität der<br />
Berichterstattung auch angesichts der <strong>im</strong>mer schneller<br />
fließenden <strong>Information</strong>en und der fortschreitenden<br />
Digitalisierung gewährleistet ist, fordert der zweite<br />
Beitrag eine hochwertige journalistische Ausbildung ein.<br />
Nur sie ermögliche, die Eigenlogik der Politik zu erken-<br />
nen und zu durchschauen.<br />
P<br />
olitischer Journalismus <strong>im</strong> Fernsehen«<br />
– die Thesen, die die Debatte darüber<br />
best<strong>im</strong>men, sind – sagen wir es<br />
so – ein wenig »deutsch«. Von einem<br />
Anpassungsdruck ans Gefällige und Seichte<br />
ist die Rede. So sorgt sich etwa Jens Jessen in<br />
der »ZEIT«, von der Politik <strong>im</strong> Fernsehen sei<br />
außer Nachrichten und Talkshows wenig übrig<br />
geblieben. Die Sendeplätze für investigativen<br />
Journalismus würden schlechter, die Beiträge in<br />
politischen Magazinsendungen kürzer. »Weniger<br />
<strong>Information</strong> – mehr Spektakel«, lautet die<br />
Generalkritik. Was daran »deutsch« ist? Einige<br />
Körnchen Wahrheit werden dramatisiert und<br />
zum Negativszenario hochstilisiert. Die Saat<br />
einiger »Reichsbedenkenträger« sprießt dort, wo<br />
der Boden dafür fruchtbar ist: in wissenschaftlichen<br />
Foren und auf Medienseiten großer Qualitätszeitungen.<br />
Ich will an dieser Stelle nicht<br />
zurückschlagen, sondern zum Nachdenken<br />
anhalten. Ist es um die »politische <strong>Information</strong>«<br />
<strong>im</strong> deutschen Fernsehen wirklich derart<br />
schlecht bestellt?<br />
_ Politik <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong>, quantitativ betrachtet<br />
Unstrittig sind die Fakten einer quantitativen<br />
Betrachtung. Die Monopolstellung der<br />
öffentlich-rechtlichen TV-Anbieter <strong>im</strong> Bereich<br />
der audiovisuellen <strong>Information</strong> ist gebrochen,<br />
seit sich kommerzielle Wettbewerber etabliert<br />
haben. Vom begrenzten Zeitbudget zum Abrufen<br />
politischer <strong>Information</strong>en schneiden sich<br />
überdies Internet-Anbieter ein <strong>im</strong>mer größer<br />
werdendes Stück des Kuchens ab. Insofern mag<br />
man die Beschreibung des Kollegen Heribert<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08
Prantl von der »Süddeutschen Zeitung« bedingt<br />
teilen, wenn er formuliert, die »Tagesschau« sei<br />
nicht mehr das große »Lagerfeuer«, um das sich<br />
die TV-Nation um 20.00 Uhr einmütig schart.<br />
Im Vergleich freilich haben sich unsere Angebote<br />
mehr als gut behauptet. In der Vielzahl<br />
der kleineren und größeren Feuer lodern unsere<br />
Flammen am höchsten. Die »Tagesschau« ist<br />
nach Reichweiten weiter mit großem Abstand<br />
die am meisten gesehene <strong>Information</strong>ssendung<br />
des deutschen Fernsehens, übrigens quer durch<br />
alle Altersgruppen. Die Hauptausgabe verfolgten<br />
<strong>im</strong> Jahr 2007 durchschnittlich 8,96 Millionen<br />
Menschen.<br />
Davon, dass sich das Publikum von politischer<br />
<strong>Information</strong> zunehmend abwende, kann<br />
keine Rede sein. Die politischen Magazine am<br />
Donnerstagabend, der »Bericht aus Berlin«, der<br />
»Weltspiegel« und »Plusminus« konnten <strong>im</strong> Jahr<br />
2007 gegenüber dem Vorjahr jeweils Zuwächse<br />
verzeichnen – nach Marktanteilen und Reich-<br />
weiten. Neue Formate wie »Anne Will« und<br />
»hart aber fair« finden ein Millionenpublikum,<br />
Letzteres hält sogar der Konkurrenz gegen Live-<br />
Übertragungen von Fußballspielen glänzend<br />
stand. Es gibt sie also nicht, die allgemeine<br />
Politikmüdigkeit in Zeiten der »Großen Koalition«<br />
<strong>im</strong> Bund. Und ebenso wenig hat Das<br />
Erste seine Anteile an politischer <strong>Information</strong><br />
verknappt. Natürlich war es schmerzhaft, die<br />
politischen Magazine <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong> um 15 Minuten<br />
zu kürzen. Auf der »Haben-Seite« steht hingegen,<br />
dass wir unsere »Tagesthemen« dem Publikum<br />
nun eine Viertelstunde früher anbieten.<br />
Überdies haben wir mit »hart aber fair« eine<br />
zusätzliche, politische Gesprächssendung in der<br />
Länge von 75 Minuten. Insofern mutet es etwas<br />
seltsam an, dass ausgerechnet einige, die sich<br />
um den Stellenwert der politischen Berichterstattung<br />
sorgen, die Zahl von sechs politischen<br />
Magazinen (»Fakt«, »Kontraste«, »Monitor«,<br />
»Panorama«, »Report Mainz« und »Report<br />
München«) für anachronistisch erachten und<br />
uns empfehlen, diese Zahl zu reduzieren. Markenstrategisch<br />
gesehen mag dieser Vorschlag erwägenswert<br />
sein. Er würde aber zweifelsfrei mit<br />
einer Beschneidung inhaltlicher Vielfalt und<br />
einer Reduzierung des politischen <strong>Information</strong>sangebots<br />
einhergehen.<br />
_ Politik <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong>: qualitativ betrachtet<br />
Und die mindestens ebenso wichtige Frage<br />
nach der Qualität? Nehmen wir zunächst wieder<br />
die Nachrichten. Natürlich spüren auch die<br />
»Tagesschau« und die »Tagesthemen« eine Art<br />
Anpassungsdruck an sich ändernde Informati-<br />
Der »Presseclub« <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong> wird während<br />
der gesamten Sendung in <strong>ARD</strong> Digital inter-<br />
aktiv begleitet. Die Zuschauer können<br />
Hintergrundinformationen und Publikationen<br />
zu den einzelnen Gästen der Sendung<br />
abrufen sowie live an einer Abst<strong>im</strong>mung<br />
zum Thema der Talkrunde teilnehmen.<br />
onsbedürfnisse des Publikums. Können, ja sollen<br />
und dürfen sie beispielsweise das Schicksal<br />
des »Problembären Bruno« unerwähnt lassen,<br />
wenn ganz Deutschland darüber spricht? Die<br />
Thematisierung von »soft news« erscheint uns<br />
zulässig, ja geboten zu sein, wenn Aufmachung<br />
und Platzierung st<strong>im</strong>men. Um es an einem<br />
<strong>Politische</strong> <strong>Information</strong> <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 77
»Das Schweigen der Quandts«: Herbert<br />
Quandt, der <strong>im</strong> Zweiten Weltkrieg als<br />
Personalvorstand des Batterieherstellers<br />
AFA für die Arbeitsbedingungen der<br />
Zwangsarbeiter mitverantwortlich war<br />
Beispiel zu verdeutlichen: Ein öffentlich-rechtlicher<br />
Mitbewerber des <strong>Ersten</strong> hat in seiner<br />
Hauptnachrichtenausgabe mit dem Prozess gegen<br />
Michael Jackson wegen angeblicher Kindesmisshandlung<br />
»aufgemacht«. Das käme für die<br />
»Tagesschau« nicht infrage. Wir haben über den<br />
Jackson-Prozess berichtet, <strong>im</strong> hinteren Viertel<br />
der Sendung. All jenen, die selbst das noch für<br />
verwerflich halten, sei die Frage gestellt, wie<br />
ernst sie es mit ihren Forderungen nehmen,<br />
wir sollten uns stärker anstrengen, jüngere Publikumsschichten<br />
zu halten beziehungsweise<br />
zurückzugewinnen. Behutsame Justierungen<br />
bei der Nachrichtenauswahl ändern nichts an<br />
der Tatsache, dass die Redaktionen von »Tagesschau«<br />
und »Tagesthemen« Kurs halten. Es bleiben<br />
eindeutig politische Sendungen. Nirgends<br />
ist der Anteil politischer Themen höher als in<br />
der »Tagesschau«.<br />
Zur weitverbreiteten Larmoyanz über den<br />
angeblichen Niedergang des <strong>Politische</strong>n <strong>im</strong><br />
Fernsehen gehört auch die Behauptung, unsere<br />
politischen Magazine versagten. Sie degenerierten<br />
zu Verbrauchermagazinen, es fehle der<br />
»journalistische Biss«. Von all den Anfechtungen,<br />
denen wir ausgesetzt sind, erscheint mir<br />
dieser Vorhalt am schwersten nachvollziehbar<br />
zu sein. Mag sein, dass hier die Verkürzung<br />
der Sendezeit auf 30 Minuten eine Art Phantomschmerz<br />
verursacht, der sich in qualitativer<br />
Kritik entlädt. Alle sechs politischen Magazine<br />
werden ihrem Auftrag nach wie vor auf das<br />
Theophilos Mylopoulos, KZ-Überlebender<br />
und ehemaliger Zwangsarbeiter<br />
in der Quandt’schen Batteriefabrik<br />
Beste gerecht. Sie berichten hintergründig,<br />
analytisch, kritisch. Und zwingen politisch<br />
Verantwortliche, sich mit ihren exzellenten Rechercheergebnissen<br />
zu beschäftigen. So haben<br />
sich der Bundestag und der Bundesrechnungshof<br />
mit einem »Monitor«-Bericht befasst, der<br />
den höchst fragwürdigen Einsatz von Lobbyisten<br />
in Bundesministerien aufgedeckt hat.<br />
Oder etwa »Report München«: Dessen Bericht<br />
über die krakenhafte Präsenz der italienischen<br />
Mafia auf deutschem Boden hat mittlerweile<br />
den Bund deutscher Kr<strong>im</strong>inalbeamter auf den<br />
Plan gerufen, der von der Politik eine härtere<br />
Gangart fordert. Dies sind nur zwei aktuelle<br />
Beispiele. Die Liste ließe sich mit Blick auf<br />
alle politischen Magazine beliebig verlängern.<br />
Tatsache ist: »Panorama« und »Monitor« sind<br />
nach Marktanteilen die am meisten gesehenen<br />
politischen Magazine des deutschen Fernsehens.<br />
Überdies sind es nicht nur die politischen<br />
Magazine, die über die reine Berichterstattung<br />
und <strong>Information</strong> des Publikums hinaus tatsächlich<br />
etwas bewirken. Die herausragende NDR-<br />
Dokumentation »Das Schweigen der Quandts«<br />
hat heutige Familienmitglieder dazu bewegt,<br />
ernsthafte Versuche zu unternehmen, die Verstrickungen<br />
ihrer Vorfahren in die Geschichte<br />
der NS-Diktatur aufarbeiten zu lassen.<br />
Die Qualität und der daraus resultierende<br />
Erfolg bewährter Nachrichten- und Magazinsendungen<br />
sowie Dokumentationen lassen<br />
einen interessanten Schluss zu. Genauso wenig,<br />
wie das Aufkommen des Radios die Nutzung<br />
von Zeitungen obsolet gemacht hat, und genauso<br />
wenig, wie die Existenz des Fernsehens<br />
78 Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08<br />
78
Hörfunk und Printmedien verdrängt hat, genauso<br />
wenig marginalisieren neue mediale<br />
Formen oder Formate <strong>im</strong> Fernsehen die eingeführten<br />
und bewährten Instrumente der <strong>Information</strong>.<br />
Das so genannte Rieplsche Gesetz der<br />
Kommunikationswissenschaft gilt also offenbar<br />
auch fernsehintern. In der Flut neuer TV-Angebote<br />
haben sich die Nachrichten und die politischen<br />
Magazine gut behauptet.<br />
_ Behutsame Veränderungen:<br />
Politik transparenter machen<br />
Dennoch wäre es unklug, sich auf Bewährtem<br />
auszuruhen. In Zeiten, in denen Politik zunehmend<br />
komplexer wird und in denen Jour nalisten<br />
zunehmend gefordert sind, Inszenierungen<br />
der Politik zu entlarven, justiert Das Erste seine<br />
Formate und stellt neue ein. Dass Medienkritiker<br />
von »Anne Will« nach wie vor eine Art revo-<br />
lutionäre Neuerfindung von Gesprächssen dungen<br />
<strong>im</strong> Fernsehen fordern, gehört zu den ärgerlichen<br />
Begleiterscheinungen unseres Geschäfts.<br />
Bedauerlicherweise bleibt dabei verbor gen oder<br />
jedenfalls unerwähnt, dass unsere Mode ratorin<br />
den Sendeplatz am Sonntagabend behutsam –<br />
und alles andere wäre unsinnig – in Richtung<br />
»<strong>Information</strong>« verschiebt. Ihre Art der Fragestellungen,<br />
ihre Art des »Sich-Einmischens«<br />
und Steuerns zielen eindeutig darauf ab, Politik<br />
transparenter zu machen. Mit Verwunderung ist<br />
wahrzunehmen, wie hartnäckig sich Kritiker an<br />
dem neuen Element der »Couch« abarbeiten,<br />
auf dem Gäste ihre Lebenswirklichkeit schildern.<br />
Dass deren Positionen <strong>im</strong> Einzelgespräch<br />
mit Anne Will eine wesentlich höhere Wirkung<br />
Werner Sonne interviewte für das <strong>ARD</strong>-<br />
»Morgenmagazin« Gesine Schwan, die für<br />
das Amt der Bundespräsidentin kandidiert.<br />
»Echtzeit« will vor allem jüngere Zuschauer<br />
mit Themen aus Politik und Gesellschaft<br />
erreichen. Im Mittelpunkt steht <strong>im</strong>mer die<br />
Frage: Wie wirken sich politische Entscheidungen<br />
<strong>im</strong> fernen Berlin und anderswo<br />
auf mein eigenes Leben aus?<br />
entfalten als in der Runde unter mehreren,<br />
wird beharrlich geleugnet. Ebenso, dass viele<br />
Couch-Gäste für eine Teilnahme in der Runde<br />
mit Politik-Profis gar nicht zur Verfügung stehen.<br />
Sowohl »Anne Will« wie auch »hart aber<br />
fair« zeigen, was Gesprächssendungen heute<br />
mehr denn je leisten müssen: Politiker-Statements<br />
dechiffrieren und Floskeln entlarven.<br />
Frank Plasbergs Motto bringt es auf den Punkt:<br />
»Wenn Politik auf Wirklichkeit trifft.« Mit intelligenten<br />
Provokationen <strong>im</strong> Gespräch und dem<br />
»Fakten-Check« nach der Sendung löst er diesen<br />
Anspruch ein. Unabhängig von den neuen<br />
Gesprächsformaten wagt Das Erste auch Exper<strong>im</strong>ente<br />
bei der Darstellung neuer Formen von<br />
politischer <strong>Information</strong>. Das Reportagemagazin<br />
»Echtzeit« wendet sich vorrangig an ein<br />
jüngeres Publikum. Junge Reporterinnen und<br />
Reporter präsentieren ihre Sicht zu politischen<br />
Themen, und sie tun es in ihrer Sprache. »Junge<br />
Köpfe« und »junge Sprache« – diese sind wohl<br />
die vielversprechendsten Instrumente, um Menschen<br />
zwischen 14 und 30 Jahren stärker für unsere<br />
Programme zu begeistern.<br />
_ Probleme: Wie erreiche ich ein junges Publikum?<br />
Und: Anpassungsdruck bei der Themenauswahl<br />
Also, alles bestens bestellt um die politische<br />
<strong>Information</strong> <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong>? Keine Probleme? Nein,<br />
natürlich gibt es auch Probleme, für die wir<br />
noch keine oder nur bedingt taugliche Antworten<br />
haben. Die erwähnte Sendung »Echtzeit«<br />
ist nur ein erster Versuch, jüngere Publikums-<br />
<strong>Politische</strong> <strong>Information</strong> <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 79
80<br />
schichten mit Angeboten politischer <strong>Information</strong><br />
wieder an Das Erste zu binden. Die Aufgabe<br />
ist strategischer Natur und bedarf neuer<br />
Konzepte für praktisch alle Sendeplätze. Ob<br />
dies in Zeiten gelingt, in denen in der Mehrzahl<br />
der deutschen Studentenhaushalte kein Fernsehgerät<br />
steht, bleibt fraglich. Es aber gar nicht<br />
erst zu versuchen, wäre sträflich.<br />
Dass unsere Nachrichtensendungen einem<br />
Anpassungsdruck bei der Themenauswahl widerstehen<br />
und sich einer gewissen Boulevardisierung<br />
verweigern, wurde oben erwähnt. Die<br />
Redlichkeit gebietet anzusprechen, dass es auch<br />
innerhalb des Genres »politischer <strong>Information</strong>«<br />
einen nicht unerheblichen Anpassungsdruck<br />
gibt. Er wird ausgelöst durch einen <strong>im</strong>mer größer<br />
werdenden Zeitdruck und einen <strong>im</strong>mer<br />
stärker werdenden Konkurrenzdruck zwischen<br />
den Nachrichtenangeboten. So kommt es beispielsweise<br />
vor, dass an eher nachrichtenarmen<br />
Tagen Referentenentwürfe aus irgendwelchen<br />
Schubladen irgendwelcher Ministerien zum<br />
Thema werden. Irgendeine Zeitung, irgendeine<br />
Agentur oder irgendein Sender hat das Papier<br />
exklusiv, prescht dann nach vorne, und fast alle<br />
anderen Medien »ziehen mit«. Besonders dann,<br />
»Berliner Gespräch«, Auftakt zur Themen-<br />
woche »Mehr Zeit zu leben – Chancen einer<br />
alternden Gesellschaft«, zum Thema<br />
»Chancen und Risiken des demographischen<br />
Wandels«: Moderatorin Sandra Maischberger,<br />
Cordula Tutt, Matthias Platzeck, Ursula<br />
von der Leyen, Jürgen Dressler und Margret<br />
Suckale (v. l.).<br />
wenn solche Entwürfe den Geldbeutel des so<br />
genannten kleinen Mannes betreffen. Dann<br />
gibt es – meistens an Wochenenden – über zwei<br />
Tage hinweg eine mehr oder weniger aufgeregte<br />
Debatte, bis der Referentenentwurf »einkassiert«<br />
wird. »Na also«, könnte man sagen: »Da<br />
hat Medienberichterstattung etwas bewirkt.« Ja,<br />
vielleicht. Die Frage, ob dieser Entwurf auch<br />
ohne mediale Beachtung jemals zum Gesetz<br />
geworden wäre, bleibt allerdings unbeantwortet.<br />
Das eigentliche Problem ist: Wir müssen uns<br />
fragen, ob wir unser Publikum stets ausreichend<br />
darüber informieren, in welcher Phase des parlamentarischen<br />
Prozesses sich ein politisches<br />
Vorhaben befindet. Oder ob es sich überhaupt<br />
schon um ein ernst zu nehmendes politisches<br />
Vorhaben handelt. Hier sind die Trennlinien<br />
an einigen Stellen schärfer zu ziehen, um mehr<br />
Orientierung zu geben. Manchmal wäre auch<br />
der Mut zum Verzicht angemessen.<br />
_ Im digitalen Zeitalter:<br />
Die Spannung zwischen Qualität und Aktualität<br />
Und es gibt ein weiteres Problem, das über das<br />
Erste Deutsche Fernsehen hinausgeht und auf<br />
das merkwürdigerweise selten aufmerksam<br />
gemacht wird: Wie können wir <strong>im</strong> digitalen<br />
Zeitalter die Qualität unserer <strong>Information</strong>sangebote<br />
in vollem Umfang aufrechterhalten?<br />
Nachrichten <strong>im</strong> Viertelstundentakt müssen<br />
auch erst einmal produziert werden, aktuelle<br />
Online-Angebote ebenso. Fest steht, dass auf<br />
Hörfunk- und Fernsehjournalisten von morgen<br />
völlig neue Anforderungen zukommen: Wie<br />
sollen Korrespondenten, vor allem Auslands-<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08
korrespondenten in Krisenregionen zu Krisenzeiten,<br />
<strong>im</strong> – wenn es erforderlich ist – Viertelstundentakt<br />
Nachrichtenbeiträge produzieren?<br />
Bei raschen Änderungen der Nachrichtenlage<br />
muss neu produziert oder aktualisiert werden.<br />
Täten wir es nicht, wären wir nicht mehr aktuell.<br />
Aktualität ist ein Merkmal von Qualität.<br />
Zur Qualität gehören aber mindestens ebenso<br />
Sommerinterview am 20. 7. 2008 <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong>:<br />
Bundeskanzlerin Angela Merkel<br />
<strong>im</strong> Gespräch mit Ulrich Deppendorf (r.) und<br />
Joach<strong>im</strong> Wagner<br />
sehr die zeitaufwändige, tiefe Recherche, das<br />
akribische Auswählen von Fakten, das richtige<br />
»In-Einen-Zusammenhang-Stellen« und das<br />
sorgfältige Formulieren. Teilweise wird von Korrespondenten<br />
heutzutage auch verlangt, ihre<br />
Beiträge selbst zu schneiden. Wenn ein Korrespondent<br />
das alles leisten soll, dann sind die<br />
Grenzen der Leistungsfähigkeit extrem schnell<br />
überschritten. Nun sprechen einige, die nie<br />
»draußen <strong>im</strong> Feld« waren, von Synergieeffekten.<br />
Da könne der Fernsehkorrespondent ja auch<br />
einmal fürs Radio arbeiten und umgekehrt. Ja,<br />
das mag in Einzelfällen möglich sein. Es wird<br />
aber bei Einzelfällen bleiben, weil der Hörfunk<br />
ebenso hohe Anforderungen stellt. Andere wiederum<br />
empfehlen, dass Berichte einfach in den<br />
Zentralredaktionen hergestellt werden müssten.<br />
Auf der Quellenbasis unterschiedlichster Bild-<br />
und Nachrichtenagenturen entsteht dann der<br />
Bericht eines Redakteurs oder einer Redakteurin,<br />
die nie am Ort des Geschehens waren. Ist<br />
eine solche Berichterstattung, vor allem wenn<br />
sie zur Regel wird, noch authentisch? Natürlich<br />
nicht. Wer prüft Beiträge vor deren Ausstrahlung<br />
unter diesem Zeitdruck auf Richtigkeit?<br />
Sind akribische Abnahmen überhaupt noch<br />
möglich? Die digitale Welt führt in jedem Fall<br />
zu einer ungeheuren Arbeitsverdichtung, die<br />
Qualitätseinbußen zur Folge haben kann. Diese<br />
Fragen münden letztlich in die entscheidende:<br />
Welchen Preis zahlen wir für Aktualität? Die<br />
Antwort ist ein Postulat: Aktualität und Tempo<br />
dürfen nie über dem Anspruch auf wahrheitsgemäße<br />
Berichterstattung stehen. Andernfalls<br />
verlören wir unsere Glaubwürdigkeit.<br />
_ Kostenexplosion durch Digitalisierung?<br />
Die Konsequenz ist klar: Es wird mit ziemlicher<br />
Sicherheit doch eigene Mitarbeiterinnen und<br />
Mitarbeiter für unsere digitalen <strong>Information</strong>sangebote<br />
geben müssen. Dies kaschieren zu<br />
wollen, wäre unredlich. Wird das Produzieren<br />
<strong>im</strong> digitalen Modus also teurer – auch für die<br />
Gebührenzahler? Nein, nicht unbedingt, weil<br />
digitale Produktionsformen an vielen Stellen<br />
auch erheblich kostengünstiger sein können.<br />
Ein Beispiel: Alleine die »Tagesschau« gibt<br />
jährlich Millionen Euro für Bild- und Tonleitungen<br />
von Satellitenübertragungen aus. Diese<br />
Leitungskosten haben sich in den letzten drei<br />
Jahren drastisch reduziert – um bis zu zwei Millionen<br />
Euro. Einfach deshalb, weil Bild- und<br />
Tondateien heute <strong>im</strong> Internet »transportiert«<br />
werden können. Auf Mausklick! In einer atemberaubend<br />
guten Bildqualität. Digitale Kameras<br />
speichern Bilder heute nicht mehr auf Bandkassetten,<br />
sondern auf »Chips«. Der Chip wird<br />
in den Laptop »geladen«. Und der Laptop ist<br />
gleichzeitig der »Schnittplatz«. Ausrüstung, die<br />
früher Hunderttausende von Euro verschlang,<br />
von den Transportkosten ganz zu schweigen,<br />
kostet heute so viel wie ein Kleinstwagen – um<br />
die 15 000 Euro. Finanziell dürften die zusätzlichen<br />
Aufwendungen also zu bewältigen sein.<br />
Wenn wir nicht nach dem Motto »learning by<br />
doing« in die digitale Welt marschieren wollen,<br />
braucht es aber dringend eine Strategie für die<br />
redaktionellen Herausforderungen.<br />
Thomas Baumann, Chefredakteur Erstes<br />
Deutsches Fernsehen,<br />
Koordinator Politik, Gesellschaft und Kultur<br />
<strong>Politische</strong> <strong>Information</strong> <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 81
82<br />
Journalisten sind nicht <strong>im</strong>mun<br />
Zur Inszenierung von Politik in den Medien<br />
Von Thomas Meyer<br />
Mehr als 20 Jahre alt ist die Kritik Neil Postmans an den<br />
Massenmedien, vor allem am Fernsehen. In seinem Buch<br />
»Wir amüsieren uns zu Tode« stellte er die These auf, das<br />
Fernsehen verdränge mit seinem Zwang zur Bebilderung<br />
die seriöse ausführliche <strong>Information</strong> und liefere den Zu-<br />
schauern statt der Realität ein Modell, wie die Welt aus-<br />
zusehen habe. Ist diese Medienkritik noch aktuell?<br />
Am Beispiel des Besuchs des Dalai Lama in Deutschland<br />
bejaht Thomas Meyer die Frage, entwickelt aber ein<br />
Modell für einen verantwortlichen, demokratischem<br />
Selbstverständnis verpflicheteten Journalismus, der das<br />
politische Geschehen mit seinen eigenen Strukturen<br />
und medialen Regeln transparent macht. Vorausset-<br />
zung dafür ist eine starke, unabhängige Medienkritik<br />
einerseits sowie das journalistische Handwerkszeug<br />
zur angemessenen medialen Inszenierung und das Ver-<br />
ständnis der Journalisten für die Eigenlogik der Politik<br />
andererseits.<br />
D<br />
on’t worry, be happy? Die in den Augen<br />
mancher Rundum-Verteidiger der<br />
Wirklichkeit politischer Berichterstattung<br />
in unseren Massenmedien »ein<br />
wenig deutsch« anmutende Medienkritik, die<br />
Gott sei Dank unter der erdrückenden Übermacht<br />
der faktischen Gegebenheiten in unseren<br />
Massenmedien noch nicht ganz verstummt ist,<br />
stammt in ihrer schärfsten Variante von dem<br />
New Yorker Medienwissenschaftler Neil Postman,<br />
der in den 80er Jahren den Begriff des<br />
»Infotainments« prägte. Sie war radikaler als<br />
das meiste, das in dieser Hinsicht hierzulande<br />
zur Sprache gebracht wird. Vieles daran ist <strong>im</strong>mer<br />
noch gültig, für die USA und mittlerweile<br />
auch für die meisten europäischen Länder, die<br />
Bundesrepublik Deutschland <strong>im</strong>mer weniger<br />
ausgenommen.<br />
Postmans Kernthese war, dass die vom Leitmedium<br />
Fernsehen best<strong>im</strong>mten Massenmedien<br />
der Gegenwart prinzipiell auf eine Verdrängung<br />
politischer <strong>Information</strong>sgehalte durch eine<br />
oberflächliche Entertainisierung festgelegt seien,<br />
von der sie aus Gründen, die in der Kommunikationslogik<br />
der Massenmedien selber liegen,<br />
nicht mehr loskämen. Empirische Untersuchungen<br />
des <strong>Information</strong>s- und Analysegehalts<br />
politischer Sendungen – <strong>Information</strong>s-, Talkshow-<br />
und Magazinformate eingeschlossen –<br />
belegen <strong>im</strong>mer wieder, dass dieser in höchstem<br />
Maße zu wünschen übrig lässt, freilich nicht<br />
auf der ganzen Linie, sondern mit einer Reihe<br />
bemerkenswerter Ausnahmen. Auch die Talkshows<br />
in der <strong>ARD</strong> und viele der politischen<br />
<strong>Information</strong>ssendungen sind von höchst<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08
durchwachsener Qualität. Zu einer allgemeinen<br />
Don’t-worry-be-happy-Haltung, die Kritik zur<br />
Marotte von »Reichsbedenkenträgern« degradieren<br />
und den politischen Journalismus auf diese<br />
Weise gewissermaßen <strong>im</strong>munisieren möchte,<br />
besteht wahrhaftig kein Anlass.<br />
Das hat etwas damit zu tun, dass Neil Postman<br />
zwar in der Beschreibung der allgemeinen<br />
Tendenz weitgehend recht hatte, aber in ihrer<br />
Zuspitzung auf eine prinzipielle Kulturkritik<br />
den entscheidenden Punkt verfehlte. Es lassen<br />
sich jeden Tag, besonders in der <strong>ARD</strong> und in<br />
anderen öffentlich-rechtlichen Sendern, eben<br />
auch gute Beispiele finden, die die prinzipielle<br />
Kulturkritik widerlegen, derzufolge die Logik<br />
der Massenmedien gar nichts mehr übrig lasse,<br />
als die Auflösung inhaltlich angemessener<br />
Formen der Repräsentation des <strong>Politische</strong>n zugunsten<br />
einer Entertainisierung, die allein dem<br />
Zweck der Aufmerksamkeitsmax<strong>im</strong>ierung gilt,<br />
und das <strong>Politische</strong> <strong>im</strong> eigentlichen Sinne dazu<br />
fast nur noch als Anlass benutzt.<br />
_ Eine beschämende Erfahrung<br />
Wer sich freilich die Mühe gemacht hat, die<br />
mediale Begleitung des Besuchs des Dalai Lama<br />
<strong>im</strong> Mai 2008 einmal genauer unter die Lupe zu<br />
nehmen, musste rasch zu dem Urteil gelangen,<br />
Postman habe <strong>im</strong>mer noch recht. Erlebten wir<br />
doch die Selbst-Abdankung des politischen<br />
Journalismus auf der ganzen Linie — jedenfalls<br />
<strong>im</strong> Fernsehen, <strong>ARD</strong> inklusive. Was dabei sichtbar<br />
geworden ist, war abermals die Tatsache,<br />
wie mächtig die von Postman postulierte Versuchung<br />
<strong>im</strong> Mediensystem ist und wie schwer<br />
es vielen Journalisten fällt, ihr zugunsten einer<br />
gehaltvollen, kritischen und ausgewogenen<br />
politischen Berichterstattung zu widerstehen.<br />
Dabei kann — entgegen der Thesen Postmans<br />
— keinerlei Zweifel daran bestehen, dass die<br />
Gesetze der Medienlogik, die Nachrichtenfaktoren<br />
und die Inszenierungsregeln eben auch<br />
so benutzt werden können, dass das Produkt<br />
zugleich medial attraktiv und politisch gehaltvoll<br />
ist. Gegenüber der steten Versuchung des<br />
leichten Weges, unterhaltsam zu inszenieren<br />
und Politik zum bloßen Anlass schrumpfen zu<br />
lassen, erscheint der journalistische Anspruch,<br />
die mediale Oberfläche zu nutzen, um auf angemessene<br />
Weise politische Inhalte, Analysen<br />
und Probleme zur Geltung kommen zu lassen,<br />
als eine Herkulesarbeit. Eine Arbeit, die vor<br />
allem viel Zeit, Ressourcen, Zivilcourage und<br />
nicht zuletzt eine inhaltliche Kompetenz der<br />
beteiligten Journalisten voraussetzt, die weit<br />
über die versierte Handhabung journalistischer<br />
Arbeitstechniken hinausreichen muss. Daher<br />
wohl ist sie eher selten.<br />
Die mediale Resonanz auf den Dalai-Lama-<br />
Besuch, die meisten Produkte der <strong>ARD</strong>-Sender<br />
eingeschlossen, war demgegenüber nichts anderes<br />
als das Versagen des kritischen Journalismus<br />
vor der Übermacht einer sich sozusagen<br />
von selbst aufdrängenden Inszenierungsorgie<br />
auf ganzer Linie. Wer nicht aus eigener umfassender<br />
Kenntnis und in der Einstellung eines<br />
akribischen Rechercheurs die verschiedenen<br />
Sendungen von den Nachrichten über die Interviews<br />
bis hin zu den Talkterminen daraufhin<br />
untersuchte, ob sie Spuren einer Kontextana-<br />
Der Dalai Lama und der hessische<br />
Ministerpräsident Roland Koch am<br />
Frankfurter Flughafen<br />
Politik in den Medien <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 83
lyse, des Hinterfragens vager politischer Deklarationen<br />
und der Aufklärung handfester Widersprüche<br />
enthielten, musste den Eindruck gewinnen,<br />
die zuständigen Journalisten hätten sich<br />
mit ganz wenigen Ausnahmen in den Dienst<br />
der PR-Abteilung des geistigen Oberhauptes der<br />
Tibeter gestellt.<br />
Das begann schon mit der Berichterstattung<br />
über die Vorgänge in Tibet <strong>im</strong> Frühjahr 2008<br />
und setzte sich in einer völlig kritiklosen Hinnahme<br />
der politischen Rhetorik des Dalai Lama<br />
fort, ohne so entscheidende Begriffe wie den<br />
der Autonomie auch nur annähernd aufzuhellen<br />
und beispielsweise einmal auf die gültige<br />
Verfassung seiner eigenen Exilregierung <strong>im</strong> indischen<br />
Dharamsala zu beziehen. Es manifes-<br />
tierte sich in der Bereitschaft, den ausschließlich<br />
politisch orientierten Besuch des Tibeters<br />
so zu vermitteln, wie er es selber begehrte, nämlich<br />
als ein irgendwie religiös-spirituelles Ereignis.<br />
Und es zeigte sich in einer Fülle von Stu-<br />
Inszenierung von Politik: »Anne Will« zum<br />
Thema »Explodierende Energiepreise –<br />
Wer kann das noch bezahlen?« am 13. 7.<br />
2008 <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong><br />
dioszenarien, in denen die Journalisten eher in<br />
eine befangene Haltung der Bewunderung abglitten,<br />
statt, wie es sich bei einem so hochbrisanten<br />
politischen Problem der Gegenwart von<br />
selbst verstehen sollte, ihres journalistischen<br />
Amtes professionell zu walten. Was wir stattdessen<br />
zu sehen bekamen, war ein tagelanger Bilderrausch,<br />
dessen <strong>Information</strong>sgehalt nicht nur<br />
gegen null tendierte, sondern in der Tendenz<br />
eher in die Irre führte.<br />
Wie ist das möglich? Welche Strukturen,<br />
welches Selbstverständnis und welche Defizite<br />
an interner Kritik und Kontrolle müssen sich<br />
eingeschliffen haben, wenn das alles, offenbar<br />
selbst <strong>im</strong> Nachhinein, als mediale Normalität<br />
durchgehen kann? Es st<strong>im</strong>mt schon, Alternativen<br />
sind vorhanden und sicher hätte es Frank<br />
Plasberg viel besser gemacht – doch schon der<br />
Gedanke an ihn erinnert uns, dass Respekt und<br />
Kritik, journalistische Professionalität und Anerkennung<br />
von Wert und Rang des Gegenübers<br />
einander keineswegs ausschließen: Im Gegenteil,<br />
sie verlangen sich gegenseitig, wenn der<br />
überwältigenden Unterhaltungsregie denn doch<br />
noch ein Fünkchen Informativität und Argumentativität<br />
abgerungen werden soll.<br />
_ Eine dauernde Versuchung<br />
Wo kämen wir eigentlich auf die Dauer hin,<br />
wenn die Medienkritik <strong>im</strong> Lande angesichts<br />
solcher Entwicklungen verstummen würde<br />
und stattdessen eine Mentalität einkehrt, die<br />
die s<strong>im</strong>ple Empfehlung resümiert, wir könnten<br />
getrost davon ausgehen, dass die Journalisten<br />
stets ihr Bestes geben, jedenfalls soweit dies <strong>im</strong><br />
Frank Plasberg (r.) in »hart aber fair«<br />
am 30. 4. 2008 <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong> zum Thema<br />
»Familie ist da, wo das Geld fehlt: Kinder<br />
als Armutsrisiko«<br />
Rahmen von Massenmedien möglich ist, die<br />
nun einmal auf ein großes Publikum angewiesen<br />
sind.<br />
Zu empfehlen wäre stattdessen eine ganz<br />
andere Haltung. Die Realität der Massenmedien<br />
ergibt sich nun einmal aus dem täglichen<br />
Spannungsfeld zwischen den Versuchungen der<br />
schnell inszenierten medialen Oberfläche und<br />
den aufwändigen Anstrengungen, sie mit Inhalt<br />
angemessen zu füllen, die der Natur des <strong>Politische</strong>n<br />
gerecht werden. Daher ist das kritische<br />
Wechselspiel zwischen den journalistischen<br />
Akteuren, die die mediale Produktion zustande<br />
bringen und verantworten, und den Kritikern,<br />
die sie <strong>im</strong> Lichte gut begründeter Standards<br />
84 Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08<br />
84
und des tatsächlichen Möglichkeitsspielraums<br />
unter die Lupe nehmen, eine zentrale Bedingung<br />
dafür, dass die Massenmedien sich eher<br />
in Richtung der Ausschöpfung ihrer besseren<br />
Möglichkeit bewegen, statt sich in den selbstbezüglichen<br />
Routinen des medialen Geschäfts<br />
einzuigeln.<br />
Es gibt eine Reihe von Gründen dafür, dass<br />
eine starke, präsente und kundige Medienkritik<br />
für eine der Demokratie angemessene Kommunikationskultur<br />
der Massenmedien nicht<br />
weniger wichtig ist als verantwortungsvolle und<br />
kompetente Journalisten, die willens und in der<br />
Lage sind, Medienlogik und politische Logik<br />
produktiv miteinander zu verbinden. Gerade<br />
weil wir die Welt nur noch <strong>im</strong> Spiegel der Medien<br />
erfahren und der Spiegel, der uns die Welt<br />
zeigt, nicht Teil der gezeigten Welt ist, ist es<br />
umso notwendiger, dass wir das Scheinwerferlicht<br />
der öffentlichen Aufmerksamkeit auf die<br />
Medien, ihre Arbeitsweise, ihre Defizite und<br />
ihre Probleme mit der Wirklichkeit richten. Wie<br />
sollte auch es anders sein?<br />
Es ist doch merkwürdig, dass die Massenmedien,<br />
in letzter Zeit in unserem Lande teilweise<br />
in ungehemmter Form, die Politik und<br />
ihre Akteure fortwährend einer schonungslosen<br />
Kritik unterziehen und bei der Darstellung<br />
dessen, was am politischem Leben interessant<br />
und wichtig erscheint, häufig allein von ihren<br />
medialen Interessen geleitet sind. Manche seriöse<br />
Medien- und Politikwissenschaftler, sogar<br />
Journalisten der Qualitätsmedien selbst, sind<br />
sogar so weit gegangen, die Krise, um nicht zu<br />
sagen Verachtung, in die die Politik in unserem<br />
Land geraten ist, der zunehmenden Dominanz<br />
von Politikverächtern unter den maßgeblichen<br />
Journalisten des Landes zuzuschreiben. Ein<br />
Urteil, das man keineswegs teilen muss, auch<br />
wenn man die in diese Richtung weisenden<br />
Tendenzen nicht verkennt.<br />
Gleichzeitig reagieren nun dieselben Journalisten<br />
in einem verblüffenden Maße dünnhäutig,<br />
wenn Publizisten oder kritische Kollegen<br />
auf solche Entwicklungen und Missstände offen<br />
zu sprechen kommen. Was für ein Selbstverständnis<br />
liegt einem Journalismus zugrunde, der<br />
sich Kritik an der eigenen Arbeit, die in sämtlichen<br />
anderen gesellschaftlichen Bereichen<br />
gerade unter dem Einfluss des kritischen Journalismus<br />
gang und gäbe geworden ist, nicht<br />
anders vorstellen kann denn als ein <strong>im</strong> Prinzip<br />
stets unbegründeter Einmischungsversuch von<br />
»Reichsbedenkenträgern« in die Reviere einer<br />
über alle Einwände erhabenen vierten Gewalt?<br />
_ Ambivalenzen und Versuchungen<br />
Das Mediensystem ist in zunehmender Weise<br />
selbstbezüglich geworden, die anderen Medien<br />
und ihre Produkte sind das Maß aller Dinge.<br />
Die Journalisten müssen darauf achten, dass<br />
der Bezug ihrer oft nur aus anderen Medien<br />
entlehnten Konstruktion der Wirklichkeit zur<br />
außermedialen Erfahrungswelt des Publikums<br />
und zur Realität des <strong>Politische</strong>n außerhalb der<br />
eingespielten Medienrituale plausibel bleibt. In<br />
der Demokratie müssen die Produkte medialer<br />
Politikvermittlung das tatsächliche Geschehen<br />
in der politischen Welt transparent machen.<br />
Um diesen Zweck zu erfüllen, muss in den Inszenierungen<br />
von Politik in den Medien, die<br />
als solche abzubilden für das Mediensystem<br />
freilich unvermeidbar ist, auch die »Eigenlogik«<br />
des berichteten politischen Geschehens selber<br />
sichtbar werden, denn allein darauf können sich<br />
Urteils- und Handlungsfähigkeit in der Demokratie<br />
ja beziehen.<br />
Der lange unterstellte Gegensatz zwischen<br />
Inszeniertheit und Informativität ist in der<br />
jüngeren Forschung einer differenzierten<br />
Sichtweise des Verhältnisses beider Merkmale<br />
von Medienprodukten zueinander gewichen.<br />
Hochgradig inszenierte Medienprodukte können<br />
nach objektiv überprüfbaren Maßstäben<br />
zugleich hochgradig informativ sein, während<br />
schwach inszenierte Beiträge weitgehend uninformativ<br />
oder sogar irreführend sein können.<br />
Das Mediensystem mitsamt seinen Auswahl-<br />
und Inszenierungsregeln lässt es weitgehend<br />
offen, inwieweit Formen der Synthese zwischen<br />
den Regeln des Mediensystems und der Eigenlogik<br />
der Politik vollzogen werden, die ein<br />
ausreichendes Maß an Informativität und Argumentativität<br />
ermöglichen, oder ob die medialen<br />
Inszenierungen sachlich ins Leere laufen.<br />
Da das Publikum ansprechende Inszenierungen<br />
auch dann – an Quotenkriterien gemessen<br />
– zum Erfolg werden lassen kann, wenn die<br />
Sache, der die Inszenierung gilt, dabei nicht<br />
angemessen zum Ausdruck kommt, stellen die<br />
Massenmedien mit ihren konstitutiven Regeln<br />
insoweit auch eine stete Gelegenheitsstruktur<br />
für bloße, sachlich ganz abwegige Inszenierungen<br />
dar. Der Druck, sie in dieser Weise zu<br />
nutzen, hängt offenkundig von objektiven – in<br />
der Medienverfassung selbst liegenden – und<br />
von subjektiven – bei den Autoren der Medienprodukte,<br />
also den Journalisten – liegenden<br />
Faktoren ab. Zu den objektiven Faktoren gehören<br />
zweifellos der Grad des Quotendrucks<br />
der jeweiligen Medieneinheiten, die den Jour-<br />
Politik in den Medien <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 85
86<br />
nalisten gewährleisteten Recherche- und Produktionszeiten<br />
sowie die professionelle Kultur<br />
in diesen Einheiten und Redaktionen. Zu den<br />
subjektiven Faktoren gehören vor allem das<br />
Verantwortungsverständnis, die journalistische<br />
und die auf die jeweils berichteten Sachverhalte<br />
bezogene sachliche Kompetenz der einzelnen<br />
für das jeweilige Produkt verantwortlichen Journalisten.<br />
Während also die medialen Regeln der Auswahl<br />
und Präsentation als solche zu den strukturfunktionellen<br />
Eigenarten des Mediensystems<br />
selber gehören, entscheidet am Ende allein<br />
ihre Handhabung durch die verantwortlichen<br />
Journalisten über die informationelle und argumentative<br />
Angemessenheit des medialen Produkts<br />
an die Sache, um die es jeweils geht. Die<br />
Frage, ob die Synthese zwischen den Regeln des<br />
Mediensystems und der Eigenart ihrer Bezugsgegenstände<br />
gelingt, ob sie »angemessen« ist<br />
oder nicht, ist demnach weder durch die Geltung<br />
der Medienregeln selbst noch durch die<br />
weitgehende Selbstreferenz des Mediensystems<br />
entschieden. Das verkannt zu haben, war der<br />
Irrtum von Postman. Gerade darum aber, weil<br />
der Spielraum so groß ist und die Versuchung,<br />
ihn zugunsten der schnellen Inszenierung nach<br />
den Patentrezepten der Aufmerksamkeitsmax<strong>im</strong>ierung<br />
ungenutzt zu lassen, noch größer,<br />
brauchen die Massenmedien Kritik – und zwar<br />
nicht nur intern.<br />
_ Eine Kultur der Kritik tut not<br />
Mehr denn je kommt es also auf die Journalisten<br />
an, denn sie entscheiden und verantworten<br />
letztlich, was aus den Regeln, die ihnen<br />
vorgegeben sind, <strong>im</strong> Endprodukt wird. In ihrer<br />
Hand liegt es, ob ein Schein gefälliger Inszenierungen<br />
ohne Realitätsgehalt die Welt des<br />
<strong>Politische</strong>n überzieht oder ob diese Welt in einer<br />
medial angemessenen Form zum Ausdruck<br />
gebracht wird. Dies ist eine Grundfrage der<br />
Demokratie in der Mediengesellschaft. Es sind<br />
offenbar zwei, wenigstens zu einem guten Teil<br />
be<strong>im</strong> individuellen Journalisten selber liegende<br />
Schlüsselfaktoren, die über das Gelingen der<br />
medialen Synthesen entscheiden.<br />
Die Medienakteure müssen über die doppelte<br />
Kompetenz medialer Inszenierung und<br />
des Verständnisses der Eigenlogik des <strong>Politische</strong>n<br />
verfügen, damit sie die Regeln beider<br />
Elemente der Synthese beherrschen. Und sie<br />
müssen über den Willen, die Verantwortung<br />
und die Kompetenz verfügen, in der angemes-<br />
senen Synthese beider Bereiche das Kriterium<br />
des Erfolgs ihrer Arbeit zu sehen und nicht allein<br />
<strong>im</strong> Ausmaß der medialen Aufmerksamkeit.<br />
Es kommt daher für die inhaltlichen Qualitäten<br />
der medialen Kommunikation in beträchtlichem<br />
Maße auf die gesellschaftliche<br />
Kommunikationskultur an und darauf, was die<br />
Gesellschaft tut, um sie auch in den Massenmedien<br />
zur Geltung zu bringen. Neben einer guten<br />
Ausbildung der Journalisten bedarf es dazu<br />
vor allem auch neuer Wege der professionellen<br />
Selbstkontrolle und neuer Beziehungen zwischen<br />
Journalismus und Zivilgesellschaft, denn<br />
eine zuverlässige Verantwortungskultur entsteht<br />
und erhält sich nur in einer auf ihre Ziele bezogenen<br />
kommunikativen Praxis.<br />
Umdenken tut not. Sachliche Anlässe gibt es<br />
genug. Und gerade weil die Medien der Spiegel<br />
sind, in dem sich sämtliche andere Bereiche der<br />
Gesellschaft für sich selbst und für das große Publikum<br />
allein noch darstellen können, bedür fen<br />
die Massenmedien mindestens ebenso sehr wie<br />
alle anderen Funktionsbereiche der kritischen<br />
Aufmerksamkeit der Gesellschaft. Was heute zu<br />
beklagen ist, ist vielmehr, dass die Medienkritik,<br />
für die die Massenmedien selber sorgen, nach<br />
einem kurzen Aufschwung in den 1990er Jahren<br />
wieder bedenklich zurückgegangen ist.<br />
Vermutlich spielen dabei zwei Gründe die<br />
ausschlaggebende Rolle. Der eine besteht in<br />
einer überzogenen Bereitschaft zur Schonung<br />
der Konkurrenz unter Kollegen in der Erwartung,<br />
dann auf Dauer ebenso gl<strong>im</strong>pflich davonzukommen.<br />
Der andere dürfte in den Karrierebedingungen<br />
zu finden sein, die es jedem<br />
Journalisten ratsam erscheinen lassen, sich in<br />
dieser Hinsicht nicht allzu sehr zu profilieren,<br />
da keiner weiß, in welcher Redaktion und bei<br />
welchem Herausgeber er in nächster Zeit noch<br />
landen kann. Kritische Selbstreflexion der Journalisten<br />
und der Medienkritik tun also not. Der<br />
Journalismus sollte sich auf sie nicht nur offen<br />
und neugierig einlassen, sondern sie auch dann<br />
ernst nehmen, wenn deutlich wird, dass manches<br />
von dem, was da vorgebracht wird, in der<br />
Praxis nicht sofort weiterhilft. Ständige Selbstreflexion<br />
<strong>im</strong> Lichte beherzter Kritik kann dem<br />
politischen Journalismus sicher nicht schaden.<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08<br />
Prof. Dr. Thomas Meyer, Universität Dortmund,<br />
Mithrsg. und Chefredakteur der Zeitschrift<br />
Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte
Pressefreiheit ist eine Errungenschaft der modernen<br />
Demokratie, ein Privileg, das auch für die Berichterstat-<br />
tung in Hörfunk, Fernsehen und Internet gilt. Trotz ihrer<br />
Bedeutung für die Funktionsfähigkeit demokratischer<br />
Gesellschaften wurde sie <strong>im</strong>mer wieder von geschickten<br />
Politikern trickreich unterwandert. Staatliche Stellen,<br />
Polizei und Gehe<strong>im</strong>dienste sowie Presseabteilungen von<br />
Großkonzernen setzen auch heute noch auf ein restrik-<br />
tives Verhalten gegenüber Journalisten, auf gezielte<br />
Desinformation, auf Razzien in Redaktionen, auf Ein-<br />
schüchterung von Informanten, auf Abhörmaßnahmen<br />
gegen Redakteure und Autoren. Die jüngsten Pläne zur<br />
Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung<br />
werden daher von der <strong>ARD</strong> sehr kritisch gesehen, und<br />
ihr Vorsitzender, Fritz Raff, stellte <strong>im</strong> November 2007<br />
fest: » Man kann nicht die Freiheit schützen, indem man<br />
Grundrechte abschafft!« Das Abhören von Journalisten<br />
sei ein Angriff auf die freie Presse.<br />
Pressefreiheit unter Druck<br />
Recherche-Journalismus als Qualitätsanker<br />
Von Thomas Leif<br />
M<br />
an wundert sich. Darüber, dass der<br />
Journalismus in Deutschland offenbar<br />
so gleichgeschaltet ist, dass sich<br />
jeder alles gefallen lässt.« So lautete<br />
der derbe Kommentar von Michael Schmatloch,<br />
Chefredakteur des »Donaukuriers« in<br />
Ingolstadt, zu den insgesamt zurückhaltenden<br />
Reaktionen der Medien auf die Vorratsdatenspeicherung.<br />
Der Protest der bayerischen Regionalzeitung<br />
war unübersehbar. Am 3. 11. 2007<br />
erschien der »Donaukurier« mit einer schwarzen<br />
Titelseite und einem pointierten Leitartikel zur<br />
zunehmenden Gefährdung der Pressefreiheit.<br />
Ingolstadt war eine Ausnahme. Mitte April<br />
2007 beklagte der frühere NRW-Innenminister<br />
und Bundestagsvizepräsident, Burkhard Hirsch<br />
(FDP), das »Schweigen <strong>im</strong> Blätterwalde« (message<br />
2/2008): »Es scheint so, als ob der Berufsstand<br />
in kollektive Schreckstarre verfallen ist.«<br />
Dabei müsste eigentlich allen klar sein, welche<br />
fundamentale Freiheitseinschränkung mit<br />
der Daten-Sammelflut des Staates verbunden<br />
ist. Georg Mascolo, neuer Chefredakteur des<br />
»SPIEGEL«, spricht von einem »Kollateralschaden,<br />
dessen Ausmaß noch unübersehbar<br />
ist«. »Die Vorratsdatenspeicherung bedroht die<br />
Pressefreiheit vermutlich mehr als die allermeisten<br />
Gesetze wie etwa der so heftig umstrittene<br />
Große Lauschangriff.« (message 2/2008)<br />
Die gesetzlich abgesicherte Sammelwut des<br />
Staates sieht eine sechsmonatige Speicherung<br />
aller Telekommunikations-Verbindungsdaten vor.<br />
Nummern, Dauer, Datum und Uhrzeit werden<br />
gespeichert. Bei Mobilfunknutzern wird sogar<br />
der Standort bei Gesprächsbeginn registriert,<br />
aber auch die Identifikationsnummern der Han-<br />
Pressefreiheit unter Druck <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 87
88<br />
dys und des jeweiligen Teilnehmers sowie SMS-<br />
Verbindungsdaten. Polizei und Justiz dürfen <strong>im</strong><br />
Fall »schwerer Straftaten« auf die Daten zurückgreifen.<br />
Die Speicherung der Daten müssen die<br />
Telekommunikationsfirmen übernehmen.<br />
_ »Freie Presse <strong>im</strong> Fadenkreuz«<br />
Zuständig für diese »Dienstleistung« ist u. a. die<br />
Deutsche Telekom. Ausgerechnet der Konzern<br />
mit nach wie vor relevantem Staatseinfluss,<br />
der selbst mit großem Aufwand Aufsichtsräte<br />
des Unternehmens und Journalisten über Jahre<br />
ausspionieren ließ. Auf einzelne Wirtschaftsredakteure<br />
sollen sogar Spitzel angesetzt worden<br />
sein (DER SPIEGEL 23/2008, S. 20 f.). Um den<br />
größten Skandal der Telekom-Firmengeschichte<br />
aufzuarbeiten, wurde der frühere Vorsitzende<br />
des Bundesgerichtshofs, Gerhard Schäfer, als<br />
»Chefaufklärer« angeworben. Schäfer hat sich<br />
bereits als unabhängiger Ermittler bei der<br />
Auf arbeitung der BND-Affäre einen Namen<br />
gemacht. Im so genannten 175-seitigen Schäfer-<br />
Bericht vom April 2006 ist genau nachzulesen,<br />
wie der Gehe<strong>im</strong>dienst Journalisten systematisch<br />
ausforschte und warum best<strong>im</strong>mte Journalisten<br />
mit dem Gehe<strong>im</strong>dienst kooperierten. Selbst<br />
Magazine, die gerne mit »Fakten. Fakten. Fakten«<br />
werben, haben bis heute die Aufklärung<br />
ihrer nachgewiesenen Verstrickungen in diesen<br />
Skandal verhindert. Man darf also gespannt<br />
sein auf die internen Ermittlungen des »unbestechlichen«<br />
Juristen Schäfer <strong>im</strong> Telekom-Konzern<br />
und die (noch völlig unkalkulierbare) Ermittlungsbilanz<br />
der Staatsanwaltschaft in Bonn.<br />
Anfang August 2007 sorgte ein weiterer staatlicher<br />
Übergriff für Furore. Gegen 17 Journalisten<br />
wurde ermittelt, weil sie aus Gehe<strong>im</strong>akten<br />
des BND-Ausschusses zitiert hatten und sich<br />
damit des Gehe<strong>im</strong>nisverrats mitschuldig gemacht<br />
haben sollen. Der Vorsitzende des BND-<br />
Ausschusses, Siegfried Kauder (CDU), wollte<br />
ein Exempel statuieren: »Für mich war wichtig,<br />
die Schotten dicht zu halten <strong>im</strong> Ausschuss, weil<br />
die Ausschussarbeit deutlich behindert war.«<br />
Ziel des Ermittlungsverfahrens sei es, herauszufinden,<br />
»wo die undichten Stellen sind, und sicherzustellen,<br />
dass es in Zukunft so nicht läuft«<br />
(SZ, 4./5. 8. 2007). Ein Schlüsselzitat, das <strong>im</strong><br />
Kern die innere Haltung von Politikern gegenüber<br />
unangenehmen Medienveröffentlichungen<br />
dokumentiert.<br />
»Freie Presse <strong>im</strong> Fadenkreuz« titelte die<br />
»Frankfurter Rundschau«; sogar die Chefredakteure<br />
der betroffenen Medien verfassten eine<br />
Empörungs-Erklärung. Wie absurd und doppelbödig<br />
diese Intervention des Staates war, zeigt,<br />
dass <strong>im</strong> BND-Ausschuss selbst Zeitungsartikel<br />
als »gehe<strong>im</strong>« eingestuft wurden. Zudem ist jedem<br />
Politiker bekannt, dass in jedem Untersuchungsausschuss<br />
einzelne <strong>Information</strong>en und<br />
»vertrauliche Papiere« gezielt an Journalisten<br />
weitergeleitet werden. Im so genannten Visa-<br />
Untersuchungsausschuss gegen Joschka Fischer<br />
wurde die Instrumentalisierung der Medien zur<br />
Perfektion getrieben. Im Hintergrund bündelte<br />
ein hoch professioneller und medienerfahrener<br />
Mitarbeiter der CDU/CSU-Fraktion die gesamte<br />
Pressearbeit und führte Journalisten mit<br />
seinen <strong>Information</strong>en wie Marionetten. Auch<br />
frühere Untersuchungsausschüsse – etwa zur<br />
CDU-Spendenaffäre – wurden mit detailliert<br />
abgestuften Hintergrundrunden für ausgewählte<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08<br />
Der Vorsitzende des BND-Ausschusses, Siegfried<br />
Kauder (l.), und der Abgeordnete der<br />
Linksfraktion, Wolfgang Nesˇković (r. daneben),<br />
vor der Presse am 1. 3. 2007
Journalisten unterfüttert. Im Lichte dieser gängigen<br />
Praxis wirkt dieses publizistisch aufgeblasene<br />
»Ermittlungsverfahren« in der Rückschau<br />
etwas sonderbar. Ein Lehrstück <strong>im</strong> Fach »negative<br />
campaigning« und politischer Doppelmoral.<br />
Nur ein halbes Jahr zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht<br />
mit einem Urteil erneut die<br />
Pressefreiheit gestärkt. Die Richter erklärten die<br />
Durchsuchungsaktion be<strong>im</strong> Magazin »Cicero«<br />
und in den Privaträumen eines Autors für verfassungswidrig.<br />
»Cicero« hatte <strong>im</strong> April 2005 aus<br />
einem »vertraulichen« BKA-Dokument zitiert.<br />
In ihrem Urteil vom 27. 2. 2007 stellten die Richter<br />
fest, dass der Staat auch nicht über den Umweg<br />
der Durchsuchungsaktion an die »undichten<br />
Stellen« herankommen dürfe. »Auch wenn<br />
die betreffenden Angehörigen von Presse oder<br />
Rundfunk selbst Beschuldigte sind, dürfen in<br />
gegen sie gerichteten Ermittlungsverfahren wegen<br />
des Verdachts einer Beihilfe zum Dienstgehe<strong>im</strong>nisverrat<br />
Durchsuchungen sowie Beschlagnahmungen<br />
zwar zur Aufklärung der ihnen zur<br />
Last gelegten Straftat angeordnet werden, nicht<br />
aber zu dem Zweck, Verdachtsgründe insbesondere<br />
gegen den Informanten zu finden«, heißt<br />
der Leitsatz des Urteils.<br />
Obgleich dieses Urteil in seiner Eindeutigkeit<br />
den zentralen Mitarbeitern deutscher<br />
Sicherheitsbehörden bekannt sein dürfte, kommen<br />
sie in der täglichen Praxis offenbar <strong>im</strong>mer<br />
noch zu einer anderen Güterabwägung. Die<br />
Aushebelung des Informantenschutzes und<br />
die Identifikation von Hinweisgebern in den<br />
Behörden hat für viele Spitzenakteure in Fraktionen,<br />
Ministerien und Sicherheitsbehörden offenbar<br />
<strong>im</strong>mer noch einen höheren Stellenwert<br />
als die Akzeptanz von Schutzrechten der Medien.<br />
Im Lichte zahlreicher weiterer Fälle, die<br />
u. a. die Journalistengewerkschaften (vgl. www.<br />
djv.de) ausführlich dokumentiert haben, hat sich<br />
– trotz eindeutiger Urteile des Bundesverfassungsgerichts<br />
– an der Überprüfungsmentalität<br />
vieler Politiker nichts geändert.<br />
Im Juni 2008 wurde bekannt, dass <strong>im</strong> Saarland<br />
sogar die Telefonanschlüsse von Oppositionspolitikern<br />
und Journalisten ausgespäht<br />
wurden. Die damalige Innenministerin wurde<br />
frühzeitig über diesen Vorgang informiert (DER<br />
SPIEGEL 27/2008, S. 34 f.).<br />
Auch der BND zog offenbar weder aus dem<br />
BVerfG-Urteil vom Februar 2007 noch aus den<br />
Ergebnissen des »Schäfer-Berichts« ernsthafte<br />
Konsequenzen. Denn bereits kurz nach Vorlage<br />
dieser Expertise wurde der E-Mail-Verkehr<br />
der »SPIEGEL«-Journalistin Susanne Koelbl<br />
mit dem afghanischen Handelsminister Amin<br />
Farhang überwacht. Besonders pikant: Eine<br />
zentrale Konsequenz des »Schäfer-Berichts« war<br />
eine Weisung des Bundeskanzleramtes an den<br />
BND, Journalisten in Zukunft weder auszuspähen<br />
noch als Mitarbeiter anzuheuern. Offenbar<br />
ist der BND-Apparat nicht einmal für erfahrene<br />
und ambitionierte BND-Präsidenten wie Ernst<br />
Uhrlau (Foto links) kontrollierbar. Mitte Juni<br />
2008 bekannte der höchste »Gehe<strong>im</strong>dienstleister<br />
der Republik« auf einer Journalistenkonferenz<br />
in Hamburg, dass auch er sich aufgrund<br />
solcher nicht genehmigter Aktionen »auf einem<br />
Schleudersitz« befinde.<br />
Der Fall Koelbl legt die Interpretation nahe,<br />
dass Nachrichtendienste ein unkontrollierbares<br />
Eigenleben – jenseits der Hausleitung und jenseits<br />
der parlamentarischen Kontrolle – führen.<br />
Vor diesem Hintergrund gibt es begründete<br />
Zweifel an der BND-Theorie der vielen »Einzelfälle«.<br />
Die Fülle der Einzelbeispiele, die hier nur<br />
exemplarisch präsentiert werden können, legt<br />
einen Schluss nahe: Sicherheitsbehörden agieren<br />
bei der Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit<br />
oft <strong>im</strong> rechtsfreien Raum. Zum<br />
Teil agieren sie freihändig, zum Teil aber auch<br />
von jeweils verantwortlichen Politikern gestützt.<br />
Sie verfolgen mit ihren rechtswidrigen Aktionen<br />
zwei zentrale Ziele:<br />
<strong>Ersten</strong>s wollen sie die Informanten und ihr<br />
Kommunikationsnetz identifizieren, um hier<br />
interne Sanktionen zu veranlassen und das<br />
Leck »dicht zu machen«. Zweitens wollen sie<br />
durch zum Teil bewusst spektakuläre öffentliche<br />
Aktionen potenzielle Informanten in den Behörden<br />
abschrecken. Die Kombination der beiden<br />
strategischen Ziele soll helfen, staatliches<br />
Handeln vor allem in der Grauzone von Ge-<br />
Pressefreiheit unter Druck <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 89
90<br />
he<strong>im</strong>diensten, Polizei und privaten Dienstleistern<br />
des Sicherheitsgewerbes von öffentlicher<br />
Berichterstattung fernzuhalten. Angestrebt wird<br />
ein kontrollfreier Handlungskorridor des Sicherheitsapparats,<br />
der schon heute – <strong>im</strong> Fall der<br />
Gehe<strong>im</strong>dienste – von einer parlamentarischen<br />
Kontrollkommission begleitet, aber nicht effizient<br />
kontrolliert wird.<br />
Da dieser Befund von den wichtigsten Kontrolleuren<br />
von CDU und SPD selbst geteilt<br />
wird, erscheint eine freie Presse die letzte Instanz<br />
zu sein, die überhaupt ein Min<strong>im</strong>um an<br />
Transparenz auf dem Terrain der Sicherheitsbehörden<br />
garantieren könnte. Die Kritik- und<br />
Kontrollfunktion können die Medien jedoch<br />
nur einlösen, wenn sie sich auf ein fachlich<br />
fundiertes Informantennetz stützen können.<br />
Dies ist den Akteuren in den Diensten bekannt.<br />
Deshalb fokussieren sie ihre Aktivitäten auf die<br />
Abschreckung von Informanten und die Kr<strong>im</strong>inalisierung<br />
von Journalisten.<br />
_ Die privilegierte Sonderstellung von Informanten<br />
Kein relevanter Skandal der Nachkriegsgeschichte,<br />
kein Korruptionsfall und kein nachgewiesener<br />
Untreuefall wäre ohne die Mitwirkung<br />
von Informanten ans Tageslicht gekommen.<br />
Oder umgekehrt: Die Medien können ihre<br />
rechtlich geregelte Sonderstellung als »Vierte<br />
Gewalt« beziehungsweise als wirksame Kontrollinstanz<br />
in der Öffentlichkeit nur wahrnehmen,<br />
wenn sie auf das Wissen und die Quellen<br />
von Informanten zurückgreifen können. Informanten<br />
sind das Rückgrat für guten Journalismus.<br />
Ohne Informanten mit relevanten<br />
<strong>Information</strong>en, die eigentlich nicht für die Öffentlichkeit<br />
best<strong>im</strong>mt sind, würde der Journalismus<br />
auf ein »Generalanzeiger-Niveau« zurückfallen<br />
und seine Aufgaben <strong>im</strong> demokratischen<br />
Gemeinwesen nicht mehr erfüllen können. Die<br />
Privilegien der Medien, vor allem das Zeugnisverweigerungsrecht,<br />
verlieren aber ihren Sinn,<br />
wenn der Schutz von Informanten <strong>im</strong> Kern von<br />
staatlichen Stellen nicht mehr akzeptiert wird.<br />
Informanten verhalten sich wie »scheue<br />
Rehe«. Sie versiegen als Quellen, sobald sie<br />
nur die Spur einer Gefahr wittern oder das<br />
Vertrauen zu ihren Kooperationspartnern <strong>im</strong><br />
Journalismus verlieren. Der skizzierte Maßnahmenkatalog<br />
– von der Vorratsdatenspeicherung<br />
über Razzien bis hin zu Abhöraktionen – kann<br />
als groß angelegte Treibjagd auf Informanten<br />
gewertet werden. Reflektierte Informanten mit<br />
substanziellen <strong>Information</strong>en verstehen diese<br />
Signale und ziehen sich ins Unterholz der<br />
Urteilsverkündung des Bundesverfassungsgerichts<br />
<strong>im</strong> »Cicero-Prozess«<br />
Bürokratie oder die Nischen ihrer Unternehmen<br />
zurück. In diesem Sinne müssen die permanenten<br />
Abschreckungsrituale von Politik<br />
und Verwaltung als effizient, aber auch als<br />
schädlich für eine funktionierende Demokratie<br />
eingeschätzt werden. Die damit verbundene<br />
schleichende Veränderung der politischen Kultur<br />
besorgt aber offenbar weder Journalisten<br />
noch die Medienkommissionen der Parteien<br />
oder das aufgeklärte Bildungsbürgertum. Offenbar<br />
geht man davon aus, dass die Karlsruher<br />
Richter es schon richten werden . . .<br />
Das Motivationsspektrum von Informanten<br />
ist sehr unterschiedlich ausgeprägt. Oft geht<br />
es um fachliche und moralische Motive. Viele<br />
Informanten sind getrieben von einem Gerechtigkeitsgefühl.<br />
Viele können es offenbar nur<br />
schwer ertragen, wenn Willkür, Korruption oder<br />
Rechtsverstöße etc. »einfach so durchgehen«.<br />
Intern – in Behörden und Unternehmen – können<br />
sie Missstände aller Art kaum artikulieren,<br />
ohne Gefahr zu laufen, ihren Arbeitsplatz oder<br />
zumindest ihre Karriere aufs Spiel zu setzen.<br />
Zudem wissen sie, dass interne Kritik den Akteuren<br />
oftmals Gelegenheit gibt, Spuren zu<br />
vertuschen, die Verantwortung zu diffundieren<br />
oder Missstände rasch (präventiv) zu regulieren.<br />
Medienresonanz – so das Gefühl zahlreicher<br />
seriöser Informanten – ist die einzige Ressource,<br />
die überhaupt noch etwas bewegt. Da formal<br />
zuständige Kontrollgremien ihre Aufsichts- und<br />
Überwachungsfunktion oft nur auf dem Papier,<br />
aber selten wirksam durchführen, ist das Vertrauen<br />
in diese Institutionen nur begrenzt.<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08
Sicher gibt es für Informanten auch andere<br />
Motive. Rachebedürfnisse aufgrund von (ungerechtfertigten)<br />
Sanktionen, Karriere-Blockaden<br />
oder gar Mobbing-Aktionen können Triebfedern<br />
sein. Sicher spielt gelegentlich auch Rivalität<br />
eine Rolle; mitunter mögen auch wirtschaftliche<br />
Interessen <strong>im</strong> Spiel sein (Verkauf<br />
von Daten wie <strong>im</strong> Fall Liechtenstein). Einzelne<br />
PR-Agenturen haben sich zudem darauf spezialisiert,<br />
relevante Medien mit negativen <strong>Information</strong>en<br />
<strong>im</strong> Sinne ihrer Auftraggeber zu füttern.<br />
Marktvorteile erreicht man heute zum Teil auch<br />
durch die Verbreitung von »heiklen« <strong>Information</strong>en<br />
über die entsprechenden Akteure. In der<br />
Politik steht das Wachstums-Modell »negative<br />
campaigning«, inszeniert von PR-Agenturen<br />
oder professionellen »Gegner-Beobachtern«,<br />
vor einem Konjunkturhoch. Bereits <strong>im</strong> jüngsten<br />
Bundestagswahlkampf wurden wichtige »Kampagnen-Themen«<br />
von den Parteien über ausgewählte<br />
Journalisten erfolgreich in die Medien<br />
geschleust. Diese Aktionen werden mit Hilfe<br />
von »Informanten« gesteuert.<br />
Was später als »Recherche« der Medien präsentiert<br />
wird, ist heute oft professionell gesteuerte<br />
Kommunikation.<br />
Die Kontrolle, die Pflege und der Schutz<br />
von Informanten gehören also – <strong>im</strong> Spiegel dieser<br />
Entwicklungen – zu den Kernaufgaben professioneller<br />
Journalisten. Sie müssen vor allem<br />
die Motivlage der Informanten sauber sezieren,<br />
Daten und Fakten intensiv prüfen und in jedem<br />
Fall einem aufwändigen Gegencheck unterziehen.<br />
Dies gilt ganz besonders für die vorsätzlich<br />
selektive Informantenarbeit von Fraktionsmitarbeitern<br />
in den Untersuchungs-Ausschüssen. Diese<br />
Informanten wissen mittlerweile, wie man<br />
»investigativen Journalismus« inszenieren kann,<br />
welche Medien (Autoren) die Funktion von<br />
Leitmedien wahrnehmen und wie die Verwertungsketten<br />
von <strong>Information</strong>en über Agenturen<br />
etc. tatsächlich laufen.<br />
Zunehmend werden Autoren von ihren Vorgesetzten<br />
»angehalten«, ihre Informanten zu<br />
nennen, sozusagen als Qualitätsnachweis ihrer<br />
Recherchen. Allen Journalisten müsste bewusst<br />
sein, dass diese Methode der Anfang vom Ende<br />
eines Vertrauensverhältnisses mit Informanten<br />
wäre.<br />
Im Umkehrschluss suchen sich professionelle<br />
Informanten auch »ihre Journalisten« und<br />
»ihr Medium«. Der potenzielle Wirkungshorizont<br />
einer »Geschichte«, die Mechanik ihrer<br />
Verwertung, die Garantie der Anonymität, langjähriges<br />
Vertrauen sind nur einige Kriterien, die<br />
die Zusammenarbeit prägen oder ausschließen.<br />
Die Faustregel lautet: Je relevanter das Informanten-Material,<br />
umso vorsichtiger der Informant.<br />
Mit Blick auf die eingangs geschilderten<br />
staatlichen Maßnahmen heißt dies: Die gängige<br />
Kommunikation über Telefon und Internet<br />
ist nicht mehr sicher, sie gefährdet den einst<br />
geschützten Kommunikationsraum zwischen<br />
Journalisten und Informanten. Wahrscheinlich<br />
werden künftig persönliche Treffen mit wichtigen<br />
Informanten wieder wichtiger.<br />
_ Eine Antwort auf die Abschreckung von<br />
Informanten: besseres Quellenmanagement und<br />
intensivere Recherche<br />
Man kann die skizzierten Eingriffe beklagen,<br />
man kann – wie »DER SPIEGEL« <strong>im</strong> Fall<br />
Koelbl – rechtlich gegen Überwachungsmaßnahmen<br />
vorgehen. Den Rückzug von Informanten<br />
muss man wohl nüchtern registrieren.<br />
Dies beeinträchtigt die Recherche-Möglichkeiten,<br />
sollte aber gleichzeitig Ansporn sein, alle<br />
Anstrengungen bei der <strong>Information</strong>sbeschaffung<br />
zu verstärken. Denn viele Journalisten<br />
kommen offenbar auch ohne Informanten<br />
Ein Thema <strong>im</strong> Medienmagazin »Zapp« des<br />
NDR: die Telekom-Affäre<br />
aus. »80 Prozent der Journalisten haben gar<br />
keinen echten Informanten – sie glauben, der<br />
Pressesprecher sei ein Informant.« Diese nüchterne<br />
Lageeinschätzung von Kuno Haberbusch<br />
(NDR) in der »Welt am Sonntag« (11. 6. 2008),<br />
mit der Textzeile »Redaktionsleiter von Zapp<br />
kritisiert die Faulheit deutscher Journalisten«<br />
zugespitzt, rührte eigentlich an einem Tabu.<br />
Aber die pointierte These provozierte keine Gegenreaktionen,<br />
sondern wurde als Schlüsselzitat<br />
<strong>im</strong>mer wieder kommentarlos nachgedruckt.<br />
Pressefreiheit unter Druck <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 91
92<br />
Haberbusch weist auf Missstände <strong>im</strong> Journalismus<br />
hin, die auch der Medienforscher Lutz<br />
Hachmeister bei der Wächterpreis-Verleihung<br />
der Stiftung »Freiheit der Presse« Anfang Mai<br />
2008 in Frankfurt in einer bemerkenswerten<br />
Rede analysiert hat. Qualitäts-Journalismus<br />
müsse unabhängig von Ökonomie sein, unabhängig<br />
von Public Relations und den Standpunkten<br />
der eigenen Medienunternehmen.<br />
Guter Journalismus für alle Medien beruhe auf<br />
den »vier Faktoren Zeit, Geld, Recherche und<br />
Stil« (dpa, 7. 5. 2008). Weiter führte Hachmeister<br />
aus: Die »ungesunden Beschleunigungstendenzen<br />
<strong>im</strong> Online-Journalismus« seien fühlbar,<br />
»auch die verschärfte Konkurrenz um Pseudo-<br />
Nachrichten in der Hauptstadt, wo die wirklich<br />
entscheidenden politischen und legislativen<br />
Prozesse, die sich auf der Ebene von Ministerialbeamten<br />
und Lobbyisten abspielen, zu selten<br />
reportiert werden«.<br />
Zu den Säulen »Zeit, Geld, Recherche und<br />
Stil«, die in der Frankfurter Rede akzentuiert<br />
wurden, könnte noch eine fünfte Säule<br />
ergänzt werden. Von großer Bedeutung sind<br />
natürlich die Quellen von Journalisten, ohne<br />
die wahrscheinlich kein einziger Skandal von<br />
Relevanz in der Nachkriegsgeschichte die Öffentlichkeit<br />
erreicht hätte. »Quellen hat man,<br />
aber über Quellen redet man nicht.« Diese<br />
Journalisten-Weisheit hat leider auch ihre Gültigkeit,<br />
wenn die Informanten möglicherweise<br />
mit zweifelhaftem Material hantieren. Darüber<br />
schreibt etwa Bernhard Honnigfort in seinem<br />
bitteren Text »Kein Sumpf, nirgends. Die ›sizilianischen<br />
Verhältnisse‹ in Sachsen gab es nicht.<br />
Staatsanwälte stellen Ermittlungen ein.« (FR,<br />
30. 4. 2008). Wir erinnern uns: Vor etwa einem<br />
Jahr berichtete nicht nur »DER SPIEGEL« vom<br />
»Sächsischen Sumpf«; die »Leipziger Volkszeitung«<br />
war von »Kr<strong>im</strong>inellen Verstrickungen bis<br />
in höchste Kreise« alarmiert; und sogar renommierte<br />
Medien- und Politikmagazine ließen den<br />
»mafiösen Sumpf« von einem »Top-Experten«<br />
ausführlich vermessen. Nur: Der angebliche<br />
Sumpf war eine Erfindung von wenigen Verfassungsschutz-Mitarbeitern.<br />
Teile eines 10 000-Seiten-Konvoluts,<br />
das zwischen 2003 und 2006<br />
zusammengetragen wurde, dienten den »Experten«<br />
als Vorlage für »Hysterie und Leichtfertigkeit«.<br />
Der FR-Korrespondent schreibt: »Roth<br />
(einer der Autoren zum mafiösen Sumpf) und weitere<br />
Journalisten haben zwischenzeitlich strafbewehrte<br />
Unterlassungserklärungen bzw. eine<br />
entsprechende Presseerklärung abgegeben oder<br />
sich telefonisch bei dem betroffenen früheren<br />
Staatsanwalt entschuldigt.« Der ausführliche<br />
Bericht unabhängiger Experten zum »Sachsen-<br />
Sumpf« u. a. in der »Süddeutschen Zeitung«<br />
und der FAZ, aber auch der »Schäfer-Bericht«<br />
zur Bespitzelung und Kooperation von Journalisten<br />
mit dem BND sind wertvolle Dokumente<br />
für alle Journalisten, die sich mit dem Dunst<br />
der Dienste umgeben. Desinformation gehört<br />
in diesem Milieu offenbar zur Innenausstattung<br />
einer Profession. Rund um die Gehe<strong>im</strong>dienste<br />
wird viel fragwürdiges Material verbreitet, ohne<br />
Quellencheck, ohne Zweifel und ohne kritische<br />
Gegenposition.<br />
Die Problematik von (vermeintlichen) Experten<br />
als Quellen wird unter Journalisten oder<br />
auf Medienfachtagungen selten reflektiert.<br />
Zu diesem auch von der Medienkritik ignorierten<br />
journalistischen Tabu-Thema gibt es<br />
eine hochinteressante interne Anleitung der<br />
Nachrichtenagentur Associated Press (AP) zum<br />
»Umgang mit Quellen« (FH [Autorenkürzel]/<br />
Letzte Aktualisierung 2. 10. 2006). Hier werden<br />
alle Mitarbeiter auf die Regeln bei der Quellenprüfung,<br />
auf die Problematik von Blogs und<br />
Quellen <strong>im</strong> WWW, auf die Quellenaufbewahrung<br />
und Quellenhinweise aufmerksam gemacht.<br />
Besonders aufschlussreich ist das Kapitel<br />
»Experten/Schwarze Liste«. Hier heißt es: »In<br />
dieser – bislang noch sehr unvollständigen – Liste<br />
aufgeführte Experten oder Institutionen haben<br />
uns aus unterschiedlichen Gründen schon<br />
Probleme bereitet und werden daher in der<br />
AP-Berichterstattung nicht berücksichtigt. Alle<br />
AP-Mitarbeiter, die schlechte Erfahrungen mit<br />
Experten/Institutionen gemacht haben, mögen<br />
diese bitte per Mail an (. . .) mailen, damit wir<br />
sie ggf. in diese Liste aufnehmen können.« Nur<br />
ein Fallbeispiel: »Gehe<strong>im</strong>dienste: Udo Ulfkotte<br />
(nicht unumstrittener Gehe<strong>im</strong>dienstexperte, der<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08
inzwischen auch als ddp-Mitarbeiter firmiert<br />
und damit für uns endgültig nicht mehr in<br />
Frage kommt).« Die interne Liste der Nachrichtenagentur<br />
AP ist eine sehr wertvolle Quelle.<br />
Gleichwohl müssten nicht nur die großen<br />
Nachrichtenredaktionen diese Sensibilität pflegen,<br />
wenn interessengebundene »Rentenexperten«<br />
oder »Automobilexperten« die jeweilige<br />
Marktlage aus ihrer PR-Perspektive erklären.<br />
_ Wer schweigt, der bleibt – <strong>Information</strong>sblockaden<br />
staatlicher Stellen<br />
Formal sieht die Lage gegenüber Behörden und<br />
staatlichen Stellen zwar besser aus. Der überall<br />
gültige <strong>Information</strong>s-Ermittlungsanspruch leitet<br />
sich aus der Presse- und Rundfunkfreiheit ab.<br />
Der Grundkonsens: »Die Presse erfüllt eine öffentliche<br />
Aufgabe. Insbesondere dadurch, dass<br />
sie Nachrichten beschafft und verbreitet, Stellung<br />
n<strong>im</strong>mt, Kritik übt und auf andere Weise<br />
an der Meinungsbildung mitwirkt.« In fast allen<br />
Landespressegesetzen gibt es dementsprechend<br />
eine ausdrückliche Normierung: »Die Behörden<br />
sind verpflichtet, den Vertretern der Presse die<br />
der Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben dienenden<br />
Auskünfte zu erteilen«, heißt es etwa <strong>im</strong><br />
§ 4 Landespressegesetz NRW.<br />
Doch diese Auskunftspflicht der Behörden<br />
entwickelt sich in der Praxis <strong>im</strong>mer mehr zu<br />
einer Farce. Ministerien und Behörden mauern<br />
<strong>im</strong>mer dann, wenn es heikel wird. Die Ausnahmeregeln<br />
kennen die Pressesprecher auswendig.<br />
Schwebendes Verfahren, Vorschriften über die<br />
Gehe<strong>im</strong>haltung, Datenschutz oder schutzwürdige<br />
Interessen. Die Abschottung und die von<br />
manchen Ministerien – wie dem Gesundheitsministerium<br />
– sogar öffentlich eingeräumte<br />
»Auswahl« von <strong>Information</strong>en amputiert gezielt<br />
die Pressefreiheit und züchtet einen »Generalanzeiger-Journalismus«.<br />
Ein Beispiel: Immer wieder wurde die Öffentlichkeit<br />
zum Thema »NPD-Verbot« gezielt<br />
desinformiert. Führende Politiker versuchen<br />
den Konflikt mit dem Bundesverfassungsgericht<br />
allein auf die Rolle der zahlreichen NPD-V-<br />
Leute zu reduzieren. Tatsächlich haben aber die<br />
beiden von den Innenministerien eingesetzten<br />
Arbeitsgruppen von Verfassungsschützern und<br />
Staatsrechtsexperten gewichtige andere Gründe<br />
gegen ein NPD-Verbot aufgelistet. Sie haben<br />
die jahrelang abwartende, beobachtende Rolle<br />
der Politik kritisiert, die militante Gewaltbereitschaft<br />
der NPD infrage gestellt und die hohen<br />
Hürden des Parteienverbots begründet. All<br />
Rund 2 000 Menschen aus dem Südharz<br />
protestieren am 27. 9. 2007 in Bad Lauterberg<br />
gegen die rechtsextreme NPD.<br />
diese Argumente wurden aus dem öffentlichen<br />
Diskurs ausgeblendet, auch weil die Behörden<br />
die fundierten, aber unbequemen Berichte der<br />
beiden Beratungsgremien nicht herausgeben.<br />
Desinformation durch <strong>Information</strong>sverweigerung<br />
und gezielte Auslassung. Diese Technik<br />
funktioniert auch, weil zu viele Journalisten<br />
sich zu schnell von den Behörden abweisen<br />
lassen. Oft hilft in Konfliktfällen schon die Forderung<br />
einer schriftlichen Begründung für die<br />
<strong>Information</strong>s-Blockade. Solche Ablehnungen<br />
– die meist verweigert werden – könnten Journalisten<br />
sammeln und öffentlich machen. Dies<br />
wäre der wirksame Protest gegen die <strong>Information</strong>sverhinderung<br />
von Pressesprechern.<br />
Denn ihr Bild von einer funktionierenden<br />
Presse ist ganz einfach. Die Medien sollen das<br />
veröffentlichen, was die Pressestellen ihnen<br />
mitteilen. Rückfragen überflüssig, Nachfragen<br />
unnötig. Das rheinland-pfälzische Innenministerium<br />
sieht Medien sogar in der Rolle eines<br />
ausführenden Organs, wie ein entsprechendes<br />
Dokument zum Umgang der Polizei mit den<br />
Medien belegt. Wenn diese Praxis aber weiter<br />
klaglos hingenommen wird, verkümmert die<br />
Auskunftspflicht der Behörden bald und wird<br />
so praktiziert wie die rigide <strong>Information</strong>spolitik<br />
der Unternehmen. Offenbar verfahren<br />
auch Medienvertreter hier nach dem Motto des<br />
Broadway-Kolumnisten Walter Winchell, der<br />
den PR-Leuten aus dem Herzen sprach: »Zu<br />
viel Recherche macht die schönste Geschichte<br />
kaputt.«<br />
Der restriktive Umgang mit dem <strong>Information</strong>sfreiheitsgesetz<br />
auf Bundes- und Landesebene<br />
illustriert zudem – bezogen auf das Infor-<br />
Pressefreiheit unter Druck <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 93
94<br />
mationsverhalten – das Kl<strong>im</strong>a des überholten<br />
Obrigkeitsstaates. Veröffentlicht wird nur das,<br />
was mit Hilfe der Ausnahmeregelungen nicht<br />
verhindert werden kann. Aber auch hier muss<br />
eingeräumt werden, dass nur wenige Journalisten<br />
an diesem Instrument der <strong>Information</strong>sbeschaffung<br />
interessiert sind.<br />
_ Das süße Gift der PR – Die Technik der<br />
gekauften Kommunikation<br />
Nick Davies, erfahrener Sonderkorrespondent<br />
der britischen Tageszeitung »The Guardian«,<br />
hat die britische Qualitätspresse einem aufwändigen<br />
Test unterzogen. Seine Ergebnisse sind<br />
niederschmetternd und vielleicht eine Folie für<br />
deutsche Kommunikationswissenschaftler, die<br />
ähnliche Tendenzen in der deutschen Medienlandschaft<br />
bislang nicht erkannt haben. »Ich<br />
war gezwungen, mir einzugestehen, dass ich in<br />
einer korrumpierten Profession arbeite«, so das<br />
Fazit des 400-seitigen<br />
Werks mit dem Titel<br />
»Flat Earth News«.<br />
»Die Journalisten<br />
seien <strong>im</strong> ›professionellen<br />
Käfig‹ ihrer<br />
›Nachrichtenfabriken‹<br />
gefangen und<br />
zu ›Churnalisten‹<br />
verkommen (nach »to<br />
churn out«: auswerfen).<br />
Sie schrieben Pressemitteilungen<br />
oder<br />
Agenturmeldungen<br />
nur noch schnell um,<br />
ohne selbst nachzuforschen. Dieser Zustand<br />
mache die Massenmedien äußerst anfällig für<br />
die Verbreitung von Falschmeldungen, irreführenden<br />
Legenden und Propaganda.«<br />
In seiner Buch-Rezension zitiert Henning<br />
Hoff in der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung«<br />
(www.faz.net) schockierende Zahlen<br />
einer empirischen Untersuchung von 2 000 Berichten<br />
(<strong>im</strong> Frühjahr 2006) der britischen Qualitätspresse.<br />
»Sechzig Prozent bestanden ausschließlich<br />
oder hauptsächlich aus PR-Material<br />
oder Berichten von Nachrichtenagenturen, die<br />
aber auch nur bei zwei Prozent als Quelle angegeben<br />
worden waren. (. . .) Nur zwölf Prozent<br />
der Texte ließen auf eigene Recherchen schließen.«<br />
Die Ursache für diese Entwicklung – die<br />
wohl keine britische Spezialität ist – sieht Davis<br />
so: »Das Grundproblem ist, dass eine kommerzielle<br />
Logik die journalistische abgelöst hat.«<br />
Nicht nur <strong>im</strong> Online-Markt wird heute nicht<br />
mehr von Journalismus, sondern von »Geschäftsmodellen«<br />
gesprochen. Journalismus als<br />
Ware, die mit möglichst geringem (personellen)<br />
Aufwand hergestellt werden soll? Nick Davies<br />
alarmierende Analyse endet mit einer erschütternden<br />
Botschaft: »Ich fürchte, ich beschreibe<br />
nur den Tumor, der uns umbringt, ohne eine<br />
Therapie anbieten zu können.«<br />
_ Auswege: Recherche-Journalismus<br />
als Qualitäts-Katalysator<br />
Die Kritik wirft die Frage nach dem Stellenwert<br />
des Qualitätsjournalismus und den Chancen<br />
der Recherche auf. Was aber kann eine intensive<br />
Vermittlung, Förderung und Pflege von<br />
Recherche in den Redaktionen zur Entfaltung<br />
eines Qualitätsjournalismus beitragen?<br />
_ <strong>Ersten</strong>s: Recherche muss von der Ausnahme<br />
zum Normalzustand in den Redaktionen werden.<br />
Recherche ist das Rückgrat für guten Journalismus.<br />
Sie kostet Zeit und Geld und verlangt<br />
von den Journalisten besonderes Engagement.<br />
Jedenfalls müssen sie mehr tun, als unbedingt<br />
von ihnen erwartet wird. Um die Normalität zu<br />
ermöglichen, sollte man Abschied von unproduktiven<br />
Mythen nehmen. Abschied vom Mythos<br />
des investigativen Journalismus. Denn den<br />
gibt es nur in seltenen Ausnahmefällen. Stattdessen<br />
sollte man sich hinwenden zu einem<br />
klassischen Recherche-Journalismus, der die<br />
wesentlichen Recherche-Qualifikationen ausbildet,<br />
pflegt und profiliert.<br />
Dieser Schritt zu mehr Bescheidenheit<br />
würde alle dementieren, die die (investigative)<br />
Recherche als unerreichbar, unbezahlbar – und<br />
deshalb nicht praktizierbar – klassifizieren.<br />
Gleichzeitig würden mit der Verankerung der<br />
Recherche in der Alltagspraxis breite Lernfelder<br />
für viele Medienmacher eröffnet, die heute<br />
meist brachliegen. Redaktionen, die sich konzentriert<br />
der Recherche widmen – bei NDR<br />
Info oder in der SWR-Hörfunk-Redaktion »Recherche<br />
und Reportage«, Sonder-Rechercheure<br />
selbst in Lokalzeitungen o. a. –, greifen diesen<br />
Grundgedanken erfolgreich auf und stützen die<br />
für die Entwicklung eines Qualitäts-Journalismus<br />
notwendige Recherchekultur. Auch die Leser<br />
goutieren offenbar – so mehrere Umfragen<br />
– hintergründigen Journalismus.<br />
_ Zweitens: Recherche darf nicht nur als Marketinginstrument<br />
und für das Branding von<br />
Magazinen missbraucht werden. Eine Umfrage<br />
unter Chefredakteuren des g+j-Verlags hat vor<br />
Jahren ergeben, dass sie die Recherche für das<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08
wichtigste Instrument zur Etablierung eines<br />
erfolgreichen Journalismus halten. Welche Konsequenzen<br />
diese Einschätzung nach sich ziehen<br />
müsste, blieb unbeantwortet. Investitionen in<br />
Recherche? Oft bleibt es bei folgenlosen Ankündigungen.<br />
Fast alle Magazine in öffentlichrechtlichen<br />
und privaten Medien schmücken<br />
sich bei ihren Auftritten mit Superlativen zur<br />
Recherche, auch wenn sie wissen, dass sie die<br />
selbst formulierten Ansprüche nur selten einlösen.<br />
Ziel sollte es sein, nicht nur von Recherche<br />
zu reden, sondern Recherche zu ermöglichen,<br />
zu fördern und finanziell abzusichern.<br />
_ Drittens: Recherche müsste eigentlich auf<br />
der Liste der aussterbenden Arten platziert werden.<br />
Der mögliche Nutzen der Recherche steht<br />
in einem ungünstigen Verhältnis zur Intensität<br />
der Weiterbildungsangebote. Im aktuellen<br />
Programm etwa der Akademie für Publizistik<br />
(Hamburg) gibt es einen Kurs mit dem Titel<br />
»Sauberes Handwerk – Recherche-Strategien«,<br />
der zwei Mal angeboten wird. Der Bereich Öffentlichkeitsarbeit<br />
und PR wird dagegen allein<br />
mit acht eigenständigen Seminar-Modulen<br />
bedient. Dies ist nur ein Fallbeispiel, das stellvertretend<br />
für die gesamte (Weiter)-Bildungslandschaft<br />
steht. Diese Diskrepanz zwischen<br />
Notwendigem und Überflüssigem in der Journalistenausbildung<br />
von Gelsenkirchen bis Hannover<br />
ist durchaus ein Spiegel des krisenhaften<br />
Zustands einer bedrohten Disziplin. Aber jede<br />
Krise birgt auch Chancen. Die in Deutschland<br />
vernachlässigte Recherche-Ausbildung hinterlässt<br />
ein riesiges, unausgeschöpftes Potenzial.<br />
_ Viertens: Dieses Potenzial müsste durchgehend<br />
in der Journalisten-Aus- und -Weiterbildung<br />
genutzt werden. Praxis darf nicht nur<br />
s<strong>im</strong>uliert werden, echte Praxis mit realistischen<br />
Aufgaben und konkreten, veröffentlichungsfähigen<br />
Geschichten muss der Werttreiber und<br />
Motor der Ausbildung sein. Recherche braucht<br />
Leidenschaft, Interesse, Antrieb und professionelle<br />
Begleitung. »Nichts ist erregender als<br />
Erfolge . . .« Diese leicht abgewandelte Formel<br />
des berühmten Journalisten Egon Erwin Kisch<br />
sollte das Leitmotiv für eine effiziente Recherche-Ausbildung<br />
sein. Elektrisieren, unterstützen,<br />
Grenzen überschreiten, der Abschied von<br />
der passiven Ergänzungsrecherche hin zu einer<br />
eigenständigen Rechercheleistung könnte viel<br />
bewirken und Motivation für Recherchejournalismus<br />
auslösen. In diesem Sinne kann eine solide,<br />
st<strong>im</strong>mig aufgebaute, theoretisch fundierte<br />
und praktisch inspirierte Recherche-Ausbildung<br />
Nutzwert-Journalismus <strong>im</strong> besten Sinne sein.<br />
Nutzwert-Journalismus für eine demokratische<br />
Öffentlichkeit.<br />
_ Fünftens: Folgt man den einschlägigen journalistischen<br />
Lehrbüchern, steht die Recherche<br />
am Anfang jeder journalistischen Produktion.<br />
Dass dieser Grundsatz längst aus der Praxis ausgewandert<br />
ist, wurde skizziert. Auffallend ist<br />
die zunehmende Trennung von zwei Produktionsstufen,<br />
vor allem in TV-Redaktionen. Die<br />
redaktionelle Vorbereitung (Konflikt-Szenario,<br />
Location, Protagonisten, Casting etc.) wird<br />
von einem Mitarbeiter übernommen. Diese<br />
Vor-Recherchen werden dann an den Produzenten<br />
übergeben, der das vorgegebene Thema<br />
nach Vorgabe umsetzt. Mit dem wenig überraschenden<br />
Ergebnis, dass die Recherche-Tiefe oft<br />
auf dem Niveau eines Anzeigenblattes stagniert.<br />
Das Wichtigste <strong>im</strong> Journalismus sollte also wie-<br />
der wichtig werden. Deshalb lohnt es sich, den<br />
bedrohten Qualitätsjournalismus mit dem Sauerstoff<br />
Recherche zu beleben.<br />
Zusammengefasst: Recherche kann den gewünschten<br />
und geforderten Qualitätsjournalismus<br />
beatmen, <strong>im</strong> Sinne der Mediennutzer und<br />
einer aufgeklärten Öffentlichkeit einen besseren<br />
Journalismus ermöglichen. Guter Recherche-<br />
Journalismus macht unabhängig(er) von Quellen,<br />
die eine gesteuerte Kommunikation anstreben.<br />
Das wäre dann eine erste Antwort auf<br />
den »Angriff auf die Vernunft«, von dem Kl<strong>im</strong>akämpfer<br />
Al Gore (Foto oben, mit Popstar Bono)<br />
kürzlich mit Blick auf die Entwicklung der<br />
amerikanischen Medien sprach, und auf den<br />
Angriff staatlicher Stellen, für die Pressefreiheit<br />
offenbar nur noch eine leere Formel ist.<br />
Dr. Thomas Leif, Chefreporter Fernsehen<br />
SWR Landessender Mainz,<br />
Vorsitzender von netzwerk recherche<br />
Pressefreiheit unter Druck <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 95
96<br />
Kontrolle, Propaganda und<br />
ein schönes Lächeln<br />
Journalistischer Alltag in China · Von Ariane Re<strong>im</strong>ers<br />
Im Vorfeld der Olympischen Spiele fanden –<br />
aus chinesischer Perspektive betrachtet – enorme<br />
Lockerungen der Pressefreiheit in China statt. Seit<br />
Januar 2007 können sich Berichterstatter frei <strong>im</strong> Land<br />
bewegen – allerdings beobachtet durch die Sicher-<br />
heitsbehörden. Tibet ist für ausländische Journalisten<br />
nur mit einer Sondergenehmigung zu bereisen, die<br />
Berichterstattung durch ausgewählte Journalisten geriet<br />
zur Farce. Bei kritischen Themen arbeiten ausländische<br />
Journalisten nach wie vor mit verdeckten Methoden und<br />
können nicht verhindern, dass chinesische Interview-<br />
partner und deren Angehörige Repressalien ausgesetzt<br />
sind. Über die Fortsetzung der Reisefreiheit, die bis<br />
Herbst dieses Jahres befristet war, entscheidet die chine-<br />
sische Regierung <strong>im</strong> Oktober 2008.<br />
D<br />
ie Scheinwerfer der Welt beleuchten<br />
China. Kaum ein Land stand <strong>im</strong> Jahr<br />
2008 so sehr <strong>im</strong> Blickpunkt der Medien.<br />
Kaum ein Monat, in dem Nachrichten<br />
aus dem Reich der Mitte nicht in die<br />
Schlagzeilen drängten: Erst Schneechaos, dann<br />
Unruhen in Tibet, der Fackellauf, die Erdbebenkatastrophe<br />
in Sichuan und schließlich die<br />
Olympischen Spiele. Für das <strong>ARD</strong>-Studio in<br />
Peking ist 2008 nicht nur ein arbeitsreiches Jahr,<br />
sondern auch ein äußerst widersprüchliches:<br />
Berichterstattungsfreiheit und nie dagewesene<br />
Offenheit auf der einen Seite, Hausbesuche von<br />
Polizei und Gehe<strong>im</strong>dienst, ermahnende Gespräche<br />
<strong>im</strong> Außenministerium und die weitere<br />
Einschränkung bürgerlicher Freiheiten auf der<br />
anderen.<br />
_ Schein und Sein<br />
Wer China und die Chinesen ein wenig kennengelernt<br />
hat, weiß, dass sie eines nicht wollen:<br />
in einem ungünstigen Licht erscheinen. In<br />
China muss alles perfekt aussehen, auch wenn<br />
es nicht perfekt ist. Und was nicht perfekt ist,<br />
wird eben perfekt gemacht – mit erklecklichem<br />
Aufwand. Doch die westliche journalistische<br />
Neugier bringt es mit sich, das Nicht-Perfekte<br />
entdecken zu wollen, die Welt hinter den Kulissen,<br />
die St<strong>im</strong>men der anderen. Diese Grundidee<br />
journalistischer Arbeit schafft die ersten Missverständnisse<br />
und ernstes Misstrauen bei vielen<br />
Chinesen: Warum berichtet Ihr <strong>im</strong>mer nur<br />
über unsere Probleme? Warum interviewt Ihr<br />
die, die sich beklagen? Warum filmt Ihr unsere<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08
Schmuddelecken statt unserer Vorzeigeprojekte?<br />
Aus Misstrauen und Missverständnissen werden<br />
schnell Verschwörungstheorien: Die westlichen<br />
Medien würden China nur schlechtmachen<br />
wollen, die positiven Entwicklungen des Landes<br />
negieren und China damit bewusst klein halten.<br />
Da in China Medien und besonders das<br />
Fernsehen in erster Linie als Sprachrohr von<br />
Partei und Regierung wahrgenommen werden<br />
und es de facto auch sind, werden ein <strong>ARD</strong>-<br />
Bericht oder ein »SPIEGEL«-Artikel gerne als<br />
Verlautbarung der deutschen Regierung verstanden.<br />
Gleiches gilt für die anderen westlichen<br />
Länder. Und auch deswegen zieht kritische<br />
Be richterstattung mitunter einen nationalen<br />
Aufschrei der Empörung nach sich, in der Regel<br />
intoniert durch Klein-Kampagnen in den<br />
chinesischen Medien. Mehr noch als die deutschen<br />
geraten die großen englischsprachigen<br />
Broadcaster wie die BBC oder CNN ins Visier<br />
wütender pro-chinesischer Blogger und Journalisten.<br />
Vor allem nach den Tibet-Unruhen und<br />
den Protesten be<strong>im</strong> Fackellauf müssen westliche<br />
Journalisten mit den Ressent<strong>im</strong>ents ihrer chinesischen<br />
Interviewpartner ringen.<br />
_ Kontrolle über alles<br />
Der beste Journalist aus chinesischer Sicht ist<br />
der kontrollierte Journalist, einer, den man rund<br />
um die Uhr beobachtet, dessen Interviewpartner<br />
man kennt, besser noch – dessen Interview-<br />
partner man selbst ausgewählt hat. Deswegen<br />
sind chinesische Behörden und Unternehmen<br />
große Fans von Pressereisen und Pressetouren.<br />
Keine Bewegungsfreiheit, ein straffes Programm<br />
und nur die »richtigen« <strong>Information</strong>en. In die-<br />
Vertreter des BOCOG, des Olympischen<br />
Organisationskomitees der Spiele in Peking,<br />
vor der Presse.<br />
ser Art finden alle journalistischen Reisen nach<br />
Tibet statt, so hat das BOCOG – das chinesische<br />
olympische Organisationskomitee – die<br />
Besuche der olympischen Baustellen und der<br />
Vorbereitungen für die olympischen Spiele organisiert,<br />
so zeigen chinesische Unternehmen,<br />
welche Fortschritte sie bereits in Sachen Umwelt-<br />
und Kl<strong>im</strong>aschutz erreicht haben.<br />
In dieser Kontrolltradition mussten bis zum<br />
1. 1. 2007 alle ausländischen Journalisten ihre<br />
Reisen in die Provinzen anmelden und genehmigen<br />
lassen. Dann bekamen sie einen kostenpflichtigen<br />
Aufpasser an die Seite gestellt, den<br />
so genannten Waiban. Gefiel dem ein Thema<br />
nicht oder ein Interviewpartner, wurde kurzerhand<br />
interveniert, meist nicht direkt – das wäre<br />
unchinesisch –, sondern mit einem ganzen<br />
Bündel an Ausflüchten. Die Lieblingsausrede<br />
der Chinesen ist die »Sicherheit« der westlichen<br />
Journalisten, die angeblich in Gefahr<br />
ist. Gemeint ist in der chinesischen Rhetorik,<br />
dass eine Grenze erreicht ist, die der westliche<br />
Journalist besser nicht überschreiten sollte. Eine<br />
sanfte Warnung vor Erfolglosigkeit, keine Drohung,<br />
sondern eher ein Hinweis, dass die Interviewpartner<br />
nicht mehr zur Verfügung stehen<br />
werden, das Auto eine Panne haben wird und<br />
der Tempel just an jenem Tag geschlossen ist.<br />
_ Neue Freiheiten dank Olympia<br />
Seit dem 1. 1. 2007 gibt es Reisefreiheit für ausländische<br />
Journalisten in China. Es gibt sie<br />
wegen der Olympischen Spiele, und sie ist ein<br />
großer Schritt in die richtige Richtung. Seit<br />
Januar 2007 dürfen also die Kamerateams und<br />
Journalisten des Pekinger <strong>ARD</strong>-Studios überall<br />
in China ausschwärmen und die vielen The-<br />
men von der Straße auflesen – ohne, dass <strong>im</strong><br />
Vorhinein Anmeldungen und Genehmigungen<br />
erforderlich wären. Trotzdem sollte man sich<br />
nicht der Illusion hingeben, dass dererlei Reisen<br />
den chinesischen Behörden verborgen bleiben.<br />
Gerade bei heikleren Themen warten schon<br />
Zivilbeamte der Staatssicherheit am Flughafen,<br />
werden die lokalen Mitarbeiter vom Gehe<strong>im</strong>dienst<br />
angesprochen, wollen Interviewpartner<br />
plötzlich doch nicht mehr, weil sie eingeschüchtert<br />
wurden.<br />
Aber es ist möglich, über die wunden Punkte<br />
zu berichten und etwa Dissidenten bzw. ihre<br />
Familien zu besuchen, Umweltaktivisten, Arbeitsrechtler.<br />
Je kritischer das Thema, desto<br />
komplizierter. Es erfordert viel Vorbereitung,<br />
Journalistischer Alltag in China <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 97
98<br />
manchmal konspirative Vortreffen und Telefongespräche<br />
über unbekannte Nummern. Und<br />
mitunter ist es auch gefährlich – nicht für die<br />
<strong>ARD</strong>-Mitarbeiter, sondern für die Interviewpartner.<br />
Vor allem in den Provinzen – dort,<br />
wohin der ordnende Arm der Zentralregierung<br />
nicht so ohne weiteres reicht – schicken korrupte<br />
Kader und Provinzfürsten auch schon<br />
einmal Schlägertrupps und Folterbanden zur<br />
Einschüchterung. Es ist schwierig einzuschätzen,<br />
wann Interviews den Interviewten schaden<br />
und wann eine Veröffentlichung des Sachverhalts,<br />
der Missstände, der Misshandlungen den<br />
Betroffenen nützt. Eine <strong>im</strong>mer unangenehme<br />
Verantwortung für ausländische Journalisten,<br />
die sich mit ihren westlichen Pässen auf bürgerliche<br />
Rechte verlassen können und nach erfolgter<br />
Drehreise unbesorgt nach Peking zurückkehren.<br />
Dennoch: Trotz aller Defizite haben<br />
ausländische Journalisten in den Jahren 2007<br />
und 2008 wesentliche größere Freiheiten als<br />
zuvor.<br />
_ Wendepunkt Tibet<br />
Die Auseinandersetzungen in Tibet brachten<br />
das Drehbuch des chinesischen Olympiajahrs<br />
gehörig durcheinander. Alles war so schön ge-<br />
plant, alles hätte so perfekt sein können, wären<br />
da nicht der 10. März und Tibet. Bilder von<br />
Unruhen gingen durch die Welt, von Aufstand<br />
war die Rede, von Toten, von Mönchen, die<br />
protestierten, von Festnahmen und Folter. Und<br />
Auch in technischer Hinsicht erschwerte<br />
Arbeitsbedingungen: Produktion eines Beitrags<br />
für die 20.00-Uhr-»Tagesschau« <strong>im</strong><br />
Hotelz<strong>im</strong>mer in Tingri in der Nähe des Basislagers<br />
am Mount Everest. Das Satellitenmodem<br />
für die Übertragung steht <strong>im</strong> Fenster.<br />
die chinesische Regierung schien die Situation<br />
nicht <strong>im</strong> Griff zu haben. Aber ein sorgfältiger<br />
journalistischer Blick auf das Ereignis blieb verwehrt,<br />
die neue Reisefreiheit gilt nicht für Tibet,<br />
und ausländische Journalisten dürfen nur mit<br />
einer Sondergenehmigung der Tibetischen Autonomiebehörde<br />
und <strong>im</strong> Rahmen einer Pressereise<br />
Tibet besuchen. In Moment der Unruhen<br />
wurde Tibet so oder so für alle ausländischen<br />
Besucher gesperrt. Die Handvoll Journalisten,<br />
die zufällig gerade dort war, wurde schnell ausgewiesen.<br />
Journalistische Berichterstattung war<br />
angewiesen auf he<strong>im</strong>liche Aufnahmen, die aus<br />
Tibet geschmuggelt wurden, auf Augenzeugenberichte<br />
und die Kontakte der Kontakte.<br />
Wer niemanden ins Land lässt, der hat etwas<br />
zu verbergen – getreu diesem Motto solidarisierte<br />
sich die Weltöffentlichkeit mit den tibetischen<br />
Demonstranten und schlug sich auf die<br />
Seite des Dalai Lama, der Persona non grata in<br />
China.<br />
Die Tibet-Berichterstattung war in China ein<br />
Wendepunkt in der Wahrnehmung der westlichen<br />
Medien. Für die chinesische Regierung<br />
aber auch für die meisten Chinesen ist jede Pro-<br />
Tibet-Haltung völlig unverständlich. Tibet ist<br />
ein Teil Chinas und die, die das bestreiten, sind<br />
in den Augen Chinas Separatisten. Die Urangst<br />
wird wach, dass China <strong>im</strong> Transitionsprozess<br />
auseinanderbrechen könnte wie einst die Sowjetunion.<br />
Schließlich sind die Tibeter nur eine<br />
von 55 so genannten Minderheiten, auch in<br />
anderen Landesteilen gibt es Unzufriedene und<br />
Unterdrückte, etwa die Uiguren.<br />
Arbeitsplatz <strong>im</strong> Freien: Im Erdbeben -<br />
gebiet von Sichuan haben Korrespondentin<br />
Ariane Re<strong>im</strong>ers (M.) und ihr Team<br />
ihr Equipment aufgebaut.<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08
_ Fackellauf auf das Dach der Welt<br />
Zu den beiden Pressereisen nach Tibet, die die<br />
chinesische Regierung in den Wochen nach den<br />
Unruhen organisierte, war das deutsche Fernsehen<br />
nicht eingeladen – wohl aber zum Fackellauf<br />
auf den Mount Everest. Nur eine Handvoll<br />
ausländischer Journalisten durfte dabei sein, als<br />
chinesische Bergsteiger das olympische Feuer<br />
auf den höchsten Berg der Welt trugen. Lange<br />
vor den Unruhen geplant und vorbereitet, gewann<br />
diese Reise eine andere Qualität, nachdem<br />
Tibet zur Quasi-Sperrzone erklärt worden<br />
war – nicht nur für die interessierten Journalisten,<br />
sondern auch für die organisierenden<br />
Behörden. Denen galt plötzlich die höchste<br />
Sicherheitsstufe.<br />
Das Ergebnis war aus journalistischer Sicht<br />
ernüchternd, denn die Reise fand zwar statt,<br />
aber unter äußerst unerfreulichen Bedingungen.<br />
Kein Besuch in Lhasa (aus Gründen der Sicherheit),<br />
ein derart vollgepackter Tagesablauf, dass<br />
keinerlei Unternehmungen auf eigene Faust<br />
möglich waren, Interviewpartner, die einzig die<br />
Errungenschaften der chinesischen Zentralregierung<br />
hervorzuheben wussten, und Mönche, die<br />
mit dem Dalai Lama nichts anfangen konnten,<br />
sondern nur den 11. Panchen Lama verehrten –<br />
den von Peking eingesetzten Vertreter des tibetischen<br />
Buddhismus. Soweit, so erwartbar, aber<br />
auch in dem 5 000 Meter hoch gelegenen Pressecamp<br />
bekamen die Journalisten die Kontrollwut<br />
und den Sicherheitswahn der chinesischen<br />
Organisatoren zu spüren. Aus Sicherheitsgründen<br />
durfte auf der täglichen Pressekonferenz<br />
nicht einmal der Wetterbericht vorgetragen wer-<br />
Am 8. 5., genau drei Monate vor Beginn der<br />
Olympischen Spiele, erreichte die olympische<br />
Flamme den Gipfel des Mount Everest (Foto l.).<br />
Unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen<br />
und vor sorgfältig ausgesuchten Zuschauern<br />
wurde am 21. 6. das olympische Feuer zum<br />
Potala-Palast, dem früheren Sitz des Dalai<br />
Lama, getragen (r.).<br />
den, geschweige denn der Aufenthaltsort von<br />
Bergsteigern und Fackel. Zwei Wochen lang war<br />
eigentlich nichts zu berichten, außer der Tatsache,<br />
dass die chinesischen Organisatoren zwar<br />
Journalisten eingeladen hatten, ihnen aber jegliche<br />
<strong>Information</strong>en vorenthielten.<br />
Als die Fackel dann nach zwei Wochen des<br />
Wartens endlich auf den Mount Everest getragen<br />
wurde, gab es die gewünschte Nachricht:<br />
Auf knapp 9 000 m Höhe zelebrierten chinesische<br />
und tibetische Bergsteiger gemeinsam einen<br />
Miniatur-Staffellauf mit dem olympischen<br />
Feuer. Eine sportliche Höchstleistung, bei der<br />
die Besteigung des Mount Everest aussah wie<br />
ein anstrengender Spaziergang. Den Organisatoren<br />
und Verantwortlichen für den reibungslosen<br />
und <strong>im</strong> propandistischen Sinne perfekten<br />
Ablauf fiel ein Stein vom Herzen: Keine<br />
Tibet-Fahnen, keine Aktivisten und die ausländischen<br />
Journalisten waren dabei und konnten<br />
als Augenzeugen des Erfolgs fungieren. Dass<br />
BBC, CNN, <strong>ARD</strong> und Reuters allerdings zwei<br />
Wochen über die desaströse <strong>Information</strong>spolitik<br />
berichteten, war aus chinesischer Sicht ein<br />
unwesentlicher Kollateralschaden – berichten<br />
westliche Medien nicht sowieso negativ über<br />
China?<br />
Journalistischer Alltag in China <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 99
100<br />
Einen guten Monat später wurde das Olympische<br />
Feuer erneut nach Tibet gebracht, diesmal<br />
nach Lhasa. »Jubel-Tibeter« säumten die<br />
Straßen, das Feuer war von Sicherheitskräften<br />
abgeschirmt und die geladenen ausländischen<br />
Journalisten wurden an ihren durchgeplanten<br />
Tagesablauf erinnert. Selbständige Exkursionen<br />
waren <strong>im</strong>merhin möglich, aber jeder Versuch,<br />
dann auch noch zu filmen, wurde unterbunden,<br />
sobald entdeckt.<br />
_ Chinesische Pressepolitik<br />
In Tibet wird ein Grundprinzip chinesischer<br />
Pressepolitik deutlich: Chinesische Behörden<br />
hindern nur <strong>im</strong> äußersten Notfall ausländische<br />
Journalisten aktiv an der Berichterstattung – sie<br />
bemühen sich vielmehr, <strong>Information</strong>en, Interviewpartner<br />
und (vermeintlich) sensible Orte<br />
vorzuenthalten, Genehmigungen zu verweigern<br />
und dafür mit ihrer Propaganda abzulenken.<br />
Auf dem Papier halten sie sich aber in der Regel<br />
an alle Gesetze und Regelungen, die für ausländische<br />
Journalisten gelten. Eine Strategie,<br />
die vor den Olympischen Spielen besonders<br />
oft Anwendung fand. Auch in Peking wurde<br />
plötzlich alles politisch und damit heikel: jeder<br />
Dreh <strong>im</strong> Stadtviertel, in der Schule nebenan<br />
oder auch einfach nur vom Dach eines Hotels.<br />
Die Nachbarschaftskomitees hatten ganze Arbeit<br />
geleistet und offensichtlich ihre Umgebung<br />
nicht ermuntert, mit ausländischen Journalisten<br />
zu sprechen. Wer nichts macht, macht keine<br />
Fehler – in der chinesischen Variante heißt das,<br />
wer nichts sagt, der kann auch nichts Falsches<br />
sagen. Für den journalistischen Alltag schafft<br />
das unangenehme Schwierigkeiten, denn wie<br />
soll man über das Peking vor den Olympischen<br />
Spielen berichten, wenn man in der Theorie<br />
zwar alles darf, in der Praxis sich aber niemand<br />
für Drehs und Interviews zur Verfügung stellt<br />
– außer Funktionären und ausgewählten Sprechern.<br />
Auch die Olympiastätten waren vor den<br />
Spielen nur <strong>im</strong> Rahmen organisierter Fahrten<br />
des BOCOG zu besuchen. Das hatte gleich<br />
mehrere Nachteile: Richtig nah ran durfte man<br />
nicht, das Wetter an den ausgewählten Tagen<br />
war leider meist schlecht und andere Aufnahmen<br />
wurden den Medien nicht und nur ungenügend<br />
zur Verfügung gestellt. Und als die<br />
Sportstätten dann fertig waren, durften Teams<br />
erstmal nur die völlig leeren Hallen abbilden.<br />
Keine Menschen, keine Bewegung.<br />
_ Schöne neue Olympiawelt<br />
Während der Olympischen Spiele war es dann<br />
ein wenig anders. Den vielen journalistischen<br />
Gästen, die nur für die Sportereignisse in die<br />
Stadt gekommen waren, sollte ein lächelndes<br />
und freundliches Bild präsentiert werden, keine<br />
Verbote oder Behinderungen. Und in der Tat –<br />
während der Spiele gab auch der gewöhnliche<br />
Pekinger bereitwillig Interviews, Journalisten<br />
konnten ohne jede Probleme auf dem Platz des<br />
H<strong>im</strong>mlischen Friedens drehen, selbst so mancher<br />
ausländischer Demonstrant wurde für ein<br />
paar Minuten geduldet – vor der Festnahme<br />
und Ausweisung.<br />
Aber welche kritischen St<strong>im</strong>men, hätten die<br />
Journalisten in dieser Zeit auch finden sollen:<br />
Dissidenten und selbst deren Verwandte wurden<br />
aus Peking weggeschafft, unter Hausarrest<br />
gestellt oder gleich <strong>im</strong> Gefängnis belassen. Wanderarbeiter<br />
ohne gültige Peking-Aufenthaltserlaubnis<br />
wurden aus der Stadt vertrieben, die<br />
»Beschwerdedörfer« der Petitionäre, derjenigen,<br />
die sich in Peking bei der Zentralregierung für<br />
in den Provinzen erlittenes Unrecht beschweren<br />
wollten, wurden abgerissen und die Petitionäre<br />
entweder interniert oder aber in ihre He<strong>im</strong>at<br />
verbracht.<br />
Um Peking herum waren mehrere Kontrollringe<br />
aufgebaut, um zu verhindern, dass<br />
unkontrolliert Bewohner der Provinzen nach<br />
Peking gelangten. Selbst die Bauern vom Land<br />
konnten ihr Gemüse nicht mehr auf die Märkte<br />
der Hauptstadt bringen. Die vom BOCOG<br />
angekündigten Protestzonen in drei Parks von<br />
Peking gerieten vollends zur Farce. In den 16<br />
Tagen der Olympischen Spiele gab es keinen<br />
Der <strong>ARD</strong>-Studioleiter in Peking, Jochen<br />
Graebert (M.), am 1. 8. bei Dreharbeiten in<br />
einem »Beschwerdedorf« vor Peking<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08
einzigen Protest, nicht weil es nicht Leute gegeben<br />
hätte, die protestieren wollten, sondern<br />
weil die Polizei alle 77 Anmeldungen ablehnte<br />
und in einigen Fällen die Anmelder auch gleich<br />
festnahm und mit Arbeitslager bedrohte. Und<br />
die vielen tausend Freiwilligen, die den ausländischen<br />
Journalisten gerne Interviews gaben,<br />
waren allesamt geschult und mit einem Leitfaden<br />
ausgestattet worden, in denen die »richtigen«<br />
Antworten für die möglichen Fragen der<br />
westlichen Medien schon vorgegeben waren.<br />
Das Peking der Olympischen Spiele war ein<br />
gesäubertes Peking, eines, das sich für die Augen<br />
der Weltöffentlichkeit <strong>im</strong> schönsten und<br />
strahlendsten Licht präsentieren wollte. Dazu<br />
passen auch die Fälschungen der Eröffnungsfeier:<br />
Das siebenjährige Mädchen mit der klaren<br />
St<strong>im</strong>me, das von einem Kader für zu hässlich<br />
befunden und von einem Kinder-Model ersetzt<br />
wurde. Oder die Minderheiten-Kinder der Eröffnungsfeier,<br />
die in Wahrheit Han-Chinesen in<br />
Kostümen waren. Oder das für das Fernsehen<br />
manipulierte Feuerwerk. Schein und Sein.<br />
Kameramann Dirk Vahldiek bei<br />
Aufnahmen in der völlig zerstörten Stadt<br />
Beichuan <strong>im</strong> Erdbebengebiet von Sichuan<br />
Dass eine inszenierte Wirklichkeit die Weltöffentlichkeit<br />
mehr stören könnte als die Wirklichkeit,<br />
daran glauben die chinesischen Kader<br />
nicht so recht, denn sie wissen um die Wirkungskraft<br />
ihrer Propaganda. Und sie könnte<br />
aufgegangen sein, sind nicht wenige der 20 000<br />
Journalisten abgereist mit dem Gedanken,<br />
dass man von einer Diktatur eigentlich nicht<br />
viel spüre, hauptsächlich mit zufriedenen und<br />
freundlichen Menschen in Kontakt gekommen<br />
sei und dass zu viel Kritik an China in der Tat<br />
ein falsches Bild schaffen würde.<br />
_ Exper<strong>im</strong>ent Pressefreiheit<br />
Tatsächlich hatte ein Ereignis in diesem Jahr<br />
Anlass zur Hoffnung gegeben, dass die Führung<br />
des Landes eine Öffnung aktiv vorantreibe:<br />
das Erdbeben in Sichuan am 12. 5. 2008. Mehr<br />
als 80 000 Menschen fanden den Tod unter<br />
Trümmern, Erdmassen und Felsbrocken. Und<br />
erstmals in der Geschichte Chinas waren die<br />
Journalisten der Welt eingeladen, offen über die<br />
Wahrheiten vor Ort zu berichten.<br />
Das <strong>ARD</strong>-Team traf gut 30 Stunden nach<br />
dem verheerenden Beben <strong>im</strong> Katastrophengebiet<br />
ein und stieß zunächst auf die übliche<br />
Ablehnung: Keine Bilder der zerstörten Häuser,<br />
keine Bilder von den aus Soldaten bestehenden<br />
Bergungstrupps. Auch am nächsten Morgen<br />
war alles so, wie es <strong>im</strong>mer in China war. Lokale<br />
Ordnungskräfte wollten das <strong>ARD</strong>-Team daran<br />
hindern, weiter ins Katastrophengebiet vorzu-<br />
stoßen, verknüpft mit der Drohung, ansonsten<br />
werde man die Kamera und das Equipment beschlagnahmen.<br />
Über Umwege ging es dennoch<br />
irgendwie dorthin, aber aus Sorge vor Beschlagnahmung<br />
filmte das Team erst einmal aus dem<br />
Auto und in weniger betroffenen Bereichen.<br />
Am Nachmittag erspähte das Team dann auch<br />
andere westliche Journalisten vor Ort, die offensichtlich<br />
ungehindert »draußen« arbeiten<br />
durften, und tat es nach; ohne Probleme, von<br />
diesem Moment an ging alles: Soldaten gaben<br />
bereitwillig Interviews, Straßensperren wurden<br />
eigens für die <strong>ARD</strong> geöffnet und selbst einen<br />
Satellitenwagen ohne Sendelizenz für Sichuan<br />
ließen die Chinesen ungehindert senden. Als<br />
Journalistischer Alltag in China <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 101
102<br />
Freiwillige Helfer bei den Olympischen<br />
Spielen, die von den chinesischen<br />
Organisatoren mit einheitlichen T-Shirts<br />
ausgestattet wurden<br />
drei Wochen nach dem Erdbeben die Eltern der<br />
in den zusammengestürzten »Tofuschulen« umgekommenen<br />
Kinder demonstrierten, selbst da<br />
wurden nur die Personalien überprüft und die<br />
Journalistenvisa kontrolliert.<br />
Bei aller Euphorie – frei von Überwachung<br />
war auch die Berichterstattung <strong>im</strong> Erdbebengebiet<br />
nicht. Kaum dort, wurde die chinesische<br />
<strong>ARD</strong>-Mitarbeiterin vom Gehe<strong>im</strong>dienst angesprochen<br />
und hatte dann Tag für Tag zu berichten,<br />
was das <strong>ARD</strong>-Team plant, welche Orte es<br />
besucht und wie lange die Reise noch andauern<br />
soll. Auch der lokale Fahrer bekam prompt einen<br />
Anruf.<br />
_ Die chinesischen Kollegen<br />
Es gehört in China zu den üblichen Methoden<br />
der Staatssicherheit, besonders bei heiklen<br />
Themen und Recherchen, die Mitarbeiter mit<br />
chinesischen Pässen unter Druck zu setzen: die<br />
schwächsten Glieder der Kette zuerst angreifen.<br />
So haben gerade die Fahrer, die von der <strong>ARD</strong><br />
vor Ort für ein paar Tage angemietet werden,<br />
berechtigte Angst, dass ihnen irgendwann die<br />
Lizenz und damit die Lebensgrundlage entzo-<br />
gen wird. Das muss man <strong>im</strong> journalistischen<br />
Alltag Chinas leider auch <strong>im</strong>mer wieder bedenken.<br />
Von den Freiheiten, die ausländische Journalisten<br />
<strong>im</strong> allgemeinen in China genießen, können<br />
die chinesischen Kollegen nur träumen.<br />
Die meisten leben mit der »Schere <strong>im</strong> Kopf«<br />
und geraten deswegen nicht in Schwierigkeiten.<br />
Aber sie haben ein untrügliches Gefühl dafür,<br />
wann die Politik Freiräume für Diskussion und<br />
Kritik öffnet. Sofort werden sie eingenommen<br />
und gefüllt, die chinesische Berichterstattung<br />
über das Erdbeben ist ein Beispiel. Soviel Offenheit<br />
die chinesische Regierung den ausländischen<br />
Journalisten gewährte, soviel Freiheit<br />
schenkte sie auch zunächst den chinesischen<br />
Kollegen. Aber viel früher als bei den westlichen<br />
Journalisten wurden die Zügel wieder angezogen.<br />
Kritik an Korruption und Baumängeln<br />
wurde über die Wochen <strong>im</strong>mer seltener. Heute<br />
sind vor allem Berichte über die eingestürzten<br />
Schulen nicht mehr erwünscht. Einer, der <strong>im</strong><br />
Internet Fotos der vielen Tausend zerstörten<br />
Schulen systematisch sammelte und veröffent-<br />
lichte, wurde Ende Juli für ein Jahr ins Arbeitslager<br />
verschleppt. Eine deutliche Warnung an<br />
die anderen.<br />
_ Nach-olympische Zukunft<br />
Chinas jüngere Geschichte ist reich an politischen<br />
Richtungswechseln. Was heute gilt, ist<br />
morgen verpönt und umgekehrt. Freiheiten,<br />
die einmal gewährt wurden, können jederzeit<br />
widerrufen werden. Die Reisefreiheit für ausländische<br />
Journalisten ist bis Mitte Oktober 2008<br />
begrenzt, dann muss die chinesische Regierung<br />
entscheiden, ob sie weiter diesen aus ihrer<br />
Sicht riskanten Weg der Offenheit beschreitet.<br />
Sie tun sich sehr schwer damit, bedeutet doch<br />
Freiheit gleichzeitig auch Kontrollverlust. Es<br />
ist auch eine Frage, wer sich in der politischen<br />
Führung eher durchsetzen kann – die Hardliner,<br />
die Falken, oder die Reformer, die Tauben.<br />
Die Reisefreiheit ist eine der wichtigsten Fragen<br />
der näheren journalistischen Zukunft in China,<br />
man kann nur hoffen, dass sie bleibt.<br />
Ariane Re<strong>im</strong>ers, Redakteurin in der<br />
NDR-Auslandsredaktion<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08
Mit einem Großaufgebot an Technik und Manpower<br />
berichteten <strong>ARD</strong> und ZDF über die Olympischen<br />
Sommerspiele vom 8. bis 24. August und die Para lympics<br />
vom 6. bis 17. September 2008 in Peking. Marktanteile<br />
von zeitweise mehr als 40 Prozent, beispielsweise<br />
be<strong>im</strong> Kunsttturnen der Frauen (41,0 Prozent) und dem<br />
Reckfinale der Männer (45,1 Prozent), zeugten<br />
trotz der Zeitverschiebung von sechs Stunden von dem<br />
heraus ragenden Zuschauerinteresse.<br />
Olympia <strong>im</strong> Bild<br />
Die Sommerspiele und Paralympics in Peking<br />
Von Walter Johannsen<br />
N<br />
ach Tokio 1964 und Seoul 1988 wurden<br />
die Olympischen Sommerspiele<br />
der Neuzeit zum dritten Mal in<br />
Asien ausgetragen. Bei den Produktionen<br />
in China handelte es sich um ein besonders<br />
großes und aufwändiges Projekt. Wie bereits<br />
für die Spiele in Montreal 1976, Seoul 1988<br />
und Sydney 2000 war dem NDR die Federführung<br />
übertragen worden. Damit lagen alle Planungen<br />
für Technik, Produktion und Programm<br />
<strong>im</strong> Auftrag der <strong>ARD</strong> be<strong>im</strong> NDR. Wie <strong>im</strong>mer<br />
wurde Personal für Technik und Produktion<br />
gemeinsam von <strong>ARD</strong> und ZDF genutzt. Die<br />
Ausnahme bildeten jeweils die getrennt operierenden<br />
Sportredaktionen beider Häuser.<br />
BOB (Beijing Olympic Broadcasting) erstellte<br />
das Signal von den Wettkampfstätten mit<br />
insgesamt rund 60 Ü-Wagen. <strong>ARD</strong> und ZDF<br />
ergänzten das so genannte Weltbild mit 40 unilateralen<br />
Kameras, die in den drei Studios sowie<br />
be<strong>im</strong> Rudern, der Leichtathletik, dem Schw<strong>im</strong>men<br />
und den Reiterwettbewerben, die in Hongkong<br />
stattfanden, eingesetzt wurden. Außerdem<br />
standen mobile Kamera-Teams in den Mixed-<br />
Zonen am Bahnrad-Oval, be<strong>im</strong> Straßen-Radrennen,<br />
Turnen und Tischtennis.<br />
Im IBC (International Broadcasting Center)<br />
verfügten <strong>ARD</strong> und ZDF auf mehr als 2 300 m²<br />
über gemeinsame Studios, Schnitt- und Sendekapazitäten,<br />
die <strong>im</strong> Wechsel genutzt wurden.<br />
Die Programm- und Produktionszentrale sowie<br />
die technische Schaltzentrale von <strong>ARD</strong> und<br />
ZDF waren <strong>im</strong> IBC in Peking untergebracht.<br />
Der Hauptschaltraum hat aus den verschiedenen<br />
Wettkampfstätten (Venues) täglich bis<br />
Olympia <strong>im</strong> Bild <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 103
104<br />
zu 25 parallel geführte Fernsehsignale des Hostbroadcasters<br />
BOB sowie die Bilder der eigenen<br />
Kameras empfangen. In der angeschlossenen<br />
Senderegie wurde daraus dann das für unsere<br />
Zuschauer wichtige Sendesignal für Das Erste<br />
und das ZDF zusammengestellt.<br />
Für den federführenden NDR bildeten die<br />
Übertragungen der Spiele in Peking die größte<br />
Herausforderung in seiner über 50-jährigen Geschichte.<br />
Zweieinhalb Jahre hatte sich das Team<br />
von <strong>ARD</strong> und ZDF auf die Spiele in Peking<br />
vorbereitet. Vom Tagfahrverbot für LKW, über<br />
erhebliche Zollbeschränkungen bis hin zu Problemen<br />
bei der Akkreditierung von Mitarbeitern<br />
gab es erhebliche Hürden, die bis zum Beginn<br />
der Spiele genommen werden mussten.<br />
Britta Steffen (M.) <strong>im</strong> Interview mit<br />
Ralf Scholt und Franziska van Almsick<br />
nach ihrem Sieg über 100 m Freistil-<br />
Schw<strong>im</strong>men<br />
Jan Frodeno gewann in Peking das<br />
erste Olympia-Gold für Deutschlands<br />
Triathleten, hier bei der zweiten<br />
Disziplin, dem 180-km-Radrennen.<br />
Anders als bei Olympischen Spielen auf<br />
dem europäischen Kontinent wurden keine eigenen<br />
oder angemieteten Ü-Wagen eingesetzt.<br />
Sowohl Import-Beschränkungen als auch Anmietzeiträume<br />
schlossen dies aus. Jede Kamera,<br />
jeder Schnittplatz und weitere Fernseh- und<br />
Kommunikationstechnik musste mit dem<br />
Schiff oder per Luftfracht nach China transportiert<br />
werden. Erstmals bei Olympischen Spielen<br />
erfolgte die komplette Signalerstellung und Verarbeitung<br />
ausschließlich digital.<br />
<strong>ARD</strong> und ZDF wechselten sich, wie üblich<br />
bei Sportereignissen dieser Größenordnung,<br />
täglich bei der Berichterstattung ab. Die Eröffnungsfeier<br />
wurde am 8. 8. 2008 <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong> übertragen,<br />
die <strong>ARD</strong> war dann auch zuständig für<br />
den ersten Wettkampftag. Am 10. 08. übernahm<br />
turnusgemäß das ZDF und dann folgte ein täglicher<br />
Wechsel zwischen <strong>ARD</strong> und ZDF bis zur<br />
Schlussfeier am 24. 8. 2008.<br />
Den Auftakt der umfassenden Berichterstattung<br />
aus Peking bildete die Übertragung der<br />
Eröffnungsfeier <strong>im</strong> Nationalstadion von Peking.<br />
Monica Lierhaus (<strong>im</strong> Stadion) und Reinhold<br />
Beckmann (<strong>im</strong> IBC) moderierten, Sandra<br />
Maischberger und Ralf Scholt kommentierten<br />
die Sendung von 13.00 bis 18.45 Uhr. 7,7 Millionen<br />
Zuschauer (52,3 Prozent Marktanteil) verfolgten<br />
die Übertragung, be<strong>im</strong> Einmarsch der<br />
Deutschen Nationalmannschaft waren es sogar<br />
9,1 Millionen.<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08
_ Umfassende Berichterstattung<br />
Und so sah das Programmkonzept der <strong>ARD</strong><br />
aus:<br />
_ Im Vordergrund der Berichterstattung standen<br />
natürlich die Live-Übertragungen der diversen<br />
Sportarten. »Olympia live« begann in der<br />
Regel gegen 2.00 Uhr MESZ (8.00 Uhr in Peking)<br />
und dauerte bis etwa 17.30 Uhr. In der<br />
Moderation wechselten sich Monica Lierhaus<br />
(Foto unten r.) und Michael Antwerpes (Foto<br />
unten l.) <strong>im</strong> von <strong>ARD</strong> und ZDF gemeinsam<br />
genutzten Studio <strong>im</strong> IBC ab. Die Live-Übertragungen<br />
aus Peking erreichten zusammen <strong>im</strong><br />
Schnitt einen Marktanteil von 27,6 Prozent bei<br />
einer Zuschauerzahl von 2,1 Millionen.<br />
_ Anschließend an die Liveberichterstattung<br />
folgte die Zusammenfassung mit den Höhepunkten<br />
des jeweiligen Olympiatags. Sie war vor<br />
allem auf jene Zuschauer zugeschnitten, die<br />
tagsüber keine Gelegenheit fanden, die Be richterstattung<br />
aus Peking zu verfolgen. »Olym pia extra«<br />
wurde von Reinhold Beckmann moderiert.<br />
An den fünf Wochentagen endete diese Sendung<br />
um 19.45 Uhr, an den drei Wochenendtagen<br />
z. B. wegen der regulä ren »Sportschau«<br />
(mit Fußball) etwas früher. »Olympia extra«<br />
sahen durchschnittlich 2,5 Millionen Menschen<br />
pro Ausgabe.<br />
_ Den Abschluss des Tages bildete das Gespann<br />
»Waldi und Harry«, das die Zuschauer<br />
aus einem zum Studio umfunktionierten Ball-<br />
saal <strong>im</strong> Hotel Kempinski auf humorvolle Weise<br />
über die Ereignisse des Tages informierte.<br />
»Waldi und Harry« lockten zu später Stunde <strong>im</strong><br />
Durchschnitt noch einmal 1,7 Millionen Zuschauer<br />
vor die Geräte.<br />
_ An insgesamt sechs Sendetagen, beginnend<br />
mit dem 13. 8., blickte Michael Dittrich auf die<br />
Olympischen Sommerspiele von 1896 bis 2004<br />
zurück. Die »Olympischen Geschichte(n)« erinnerten<br />
an herausragende Leistungen und ließen<br />
auch erfolgreiche deutsche Olympia-Teilnehmerinnen<br />
und -Teilnehmer zu Wort kommen.<br />
Die Beiträge liefen jeweils nach dem »Nachtmagazin«<br />
und vor Beginn der Live-Übertragungen.<br />
_ Zusätzlich wurden die Zuschauer <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong><br />
ausführlich durch die Kollegen von »Morgenmagazin«,<br />
»Mittagsmagazin« und <strong>ARD</strong>-aktuell<br />
auf dem Laufenden gehalten. Das Sendevolumen<br />
<strong>im</strong> <strong>Ersten</strong> betrug damit etwas mehr als 150<br />
Stunden.<br />
Hinzu kommt die Berichterstattung auf den<br />
Digitalkanälen von <strong>ARD</strong> und ZDF. Insgesamt<br />
wurden aus Peking 40 Stunden pro Tag auf<br />
EinsFestival, EinsPlus sowie auf ZDFDoku und<br />
ZDFInfo gesendet. Dabei standen die vielen<br />
sportlichen Entscheidungen, über die in den<br />
Hauptprogrammen wegen der großen Anzahl<br />
von Wettbewerben nicht ausführlich berichtet<br />
werden konnte, <strong>im</strong> Mittelpunkt.<br />
_ Fazit<br />
Die <strong>ARD</strong> zieht eine positive Bilanz ihrer Berichterstattung<br />
von den Olympischen Spielen<br />
2008 in Peking. NDR-Intendant Lutz Marmor<br />
verwies auf das herausragende Zuschauerinteresse<br />
trotz der Zeitverschiebung von sechs Stunden.<br />
»Die Übertragungen der Wettbewerbe <strong>im</strong><br />
<strong>Ersten</strong> haben Marktanteile von mehr als 40 Prozent<br />
erzielt – bis zu fünf Millionen Zuschauer<br />
fieberten mit, wenn die Deutschen Athleten<br />
um Medaillen kämpften«, so Marmor. In ei-<br />
Olympia <strong>im</strong> Bild <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 105
106<br />
ner gemeinsam von <strong>ARD</strong> und ZDF in Auftrag<br />
gegebenen Begleitstudie zu den Olympischen<br />
Spielen wurden 1 000 repräsentativ ausgewählte<br />
Bundesbürger vom IFAK-Institut um ihre Meinung<br />
zu den Übertragungen aus Peking befragt.<br />
Dabei bewerteten die Befragten die Berichterstattung<br />
insgesamt sehr positiv.<br />
Bundespräsident Horst Köhler (M.)<br />
während der Paralympics zu Besuch <strong>im</strong><br />
International Broadcast Centre IBC,<br />
mit Moderator Andreas Käckell (l.) und<br />
Regisseur Markus Verhall<br />
70 Prozent der Olympia-Zuschauer vergaben<br />
die beiden Bestnoten »sehr gut« oder »gut«. Die<br />
14- bis 29-jährigen waren besonders zufrieden.<br />
Bei ihnen lag der Anteil der Bestnoten sogar bei<br />
75 Prozent. Ausschlaggebend für das positive<br />
Gesamturteil war demnach in erster Linie die<br />
Machart der Berichterstattung, die einmütig<br />
als »professionell« bewertet wurde. Über 90<br />
Prozent lobten in dieser Studie die umfassende<br />
<strong>Information</strong>sleistung und die Bildauswahl.<br />
Außerdem würdigten die Befragten den Balanceakt<br />
zwischen kritischer Berichterstattung und<br />
Vermittlung der emotionalen Komponente. Die<br />
Die beinamputierte Schw<strong>im</strong>merin Natalie<br />
du Toit aus Südafrika hatte sich sowohl<br />
für die Olympischen Spiele als auch für die<br />
Paralympics qualifiziert. Im olympischen<br />
Langstreckenschw<strong>im</strong>men errang sie den 16.<br />
Platz, bei den Paralympics gewann sie drei<br />
Goldmedaillen.<br />
große Mehrheit lobte die distanzierte Perspektive<br />
und konnte sich trotzdem von der olympischen<br />
St<strong>im</strong>mung anstecken lassen.<br />
Über die knapp zwei Wochen später stattfindenden<br />
Paralympics (6. bis 17. 9 .2008) berichteten<br />
Das Erste und EinsFestival in täglichem<br />
Wechsel mit dem ZDF in einem bisher nicht da<br />
gewesenen Umfang. Zum ersten Mal boten die<br />
chinesischen Veranstalter die Möglichkeit, aus<br />
fünf Sportstätten live zu berichten. Insgesamt<br />
erreichte die <strong>ARD</strong> mit einer Mischung aus Live-<br />
und Magazinsendungen <strong>im</strong> Hauptprogramm<br />
und auf EinsFestival ein Sendevolumen von<br />
mehr als 100 Stunden.<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08<br />
Walter Johannsen, Olympia-Teamchef <strong>ARD</strong>/<br />
ZDF, Sportchef Fernsehen be<strong>im</strong> NDR
Mehr als 26 Millionen Menschen haben sich täglich<br />
<strong>im</strong> Radio über die Olympischen Spiele in Peking<br />
informiert. Das <strong>ARD</strong>-Reporterteam produzierte für<br />
den Hörfunk rund 4 500 Reportagen, Beiträge,<br />
Interviews, Nachrichtenstücke, Collagen und Live-<br />
Gespräche – eine eindrucksvolle Bilanz. Das <strong>ARD</strong>-<br />
Olympiaangebot www.peking.<strong>ARD</strong>.de wurde seit sei-<br />
nem Start mehr als 11,7 Millionen Mal angeklickt, der<br />
Fernseh-Livestream mehr als 1,7 Millionen Mal ange-<br />
sehen.<br />
Olympia zum Hören<br />
Die Sommerspiele in Peking <strong>im</strong> Radio und Online<br />
Von Alexander Bleick<br />
U<br />
we Castner ist in seinem Element.<br />
Mit den Augen fixiert der erfahrene<br />
Regisseur des SWR die Studiouhr<br />
und lauscht der Reportage von Turnreporter<br />
Volker Hirth (HR), der beschreibt, wie<br />
Europameister Fabian Hambüchen blass und<br />
zusammengesunken auf seinem Stuhl sitzt und<br />
darum bangt, ob seine Kür am Reck zu einer<br />
Medaille gereicht hat. Gleichzeitig dringt die<br />
St<strong>im</strong>me von Günther Schroth (SWR) aus dem<br />
Lautsprecher. Gewichtheber Matthias Steiner<br />
schickt sich an, Olympiasieger in der Klasse<br />
über 105 kg zu werden. 258 kg hat der Hüne aus<br />
Chemnitz auflegen lassen. Bringt er das Gewicht<br />
zur Hochstrecke, dann hat er Gold. Günther<br />
Schroth will mit seiner Reportage beginnen,<br />
aber noch steht die Entscheidung in der<br />
Turnhalle aus. Aus Hongkong meldet sich Jörg<br />
Tegelhütter: »Gleich kommt Isabell Werth«,<br />
meldet der Reitsportexperte des NDR. Auch für<br />
sie geht es um eine Medaille.<br />
19. 8. 2008: In der Live-Regie des <strong>ARD</strong>-<br />
Hörfunkteams ist die Spannung fast mit Händen<br />
greifbar. Vor Uwe Castner steht ein grauer<br />
Kasten in der Größe eines Schuhkartons mit<br />
Mikrofon und zahlreichen gelb leuchtenden<br />
Knöpfen. Hinter jedem verbirgt sich eine Kommandoleitung<br />
zu einer Wettkampfstätte. Es ist<br />
kurz nach 19.00 Uhr in Peking. Innerhalb weniger<br />
Minuten entscheiden sich drei aus deutscher<br />
Sicht sehr wichtige Wettbewerbe bei den<br />
Olympischen Sommerspielen. Mit kurzen, präzisen<br />
Kommandos steuert Castner die Reporter,<br />
damit die Programme in Deutschland sich exakt<br />
auf die mit Spannung erwarteten Reportagen<br />
aufschalten können.<br />
Olympia zum Hören <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 107
108<br />
_ Von Hamburg nach Peking<br />
Szenenwechsel: Im Studio 2 des NDR hört<br />
Moderator Björn Lindert das Kommando aus<br />
Peking. »In 60 Sekunden ab jetzt« beginnt die<br />
nächste Live-Konferenz der Reporter vom Turnen,<br />
Gewichtheben und Dressurreiten. Lindert<br />
ist einer der drei Moderatoren des <strong>ARD</strong> Olympiaradios.<br />
Er kündigt die Konferenzschaltung<br />
an und behält dabei den Sekundenzeiger der<br />
Uhr <strong>im</strong> Auge. Um exakt 13.24 Uhr und 59 Sekunden<br />
ist er mit seiner Moderation fertig.<br />
Eine Sekunde später beginnt Reporter Günther<br />
Schroth in Peking.<br />
Das »<strong>ARD</strong> Olympiaradio« war ein Teil des<br />
umfangreichen Angebots der Berichterstattung<br />
von den Olympischen Sommerspielen in Peking.<br />
Vom 9. bis 24. 8. wurde dieses vom NDR<br />
verantwortete Programm täglich zwischen 5.00<br />
und 18.00 Uhr vom NDR (NDR Info Spezial,<br />
der Mittelwelle), WDR (WDR Event), BR<br />
(B5plus), HR, Radio Bremen, SR (Antenne<br />
Saar), Deutschlandfunk und Deutschlandradio<br />
Kultur über Mittel- oder Langwelle, DVB-S<br />
Radio und DAB gesendet. Verbreitet wurde<br />
das »<strong>ARD</strong>-Olympiaradio« außerdem als Live-<br />
Stream <strong>im</strong> Internet über www.peking.ard.de.<br />
Während der Sommerspiele in Peking fielen<br />
die meisten Entscheidungen wegen der Zeitdifferenz<br />
in den frühen Morgen-, Mittags- oder<br />
Nachmittagsstunden. Viele Menschen waren<br />
daher nur punktuell in der Lage, sich live <strong>im</strong><br />
Fernsehen über die Wettbewerbe zu informieren.<br />
Dem Radio kam damit eine besondere Bedeutung<br />
zu. Mit spannenden Live-Reportagen,<br />
Hintergrundberichten, Interviews, regelmäßigen<br />
Zusammenfassungen und Weltnachrichten zur<br />
vollen Stunde hat das »<strong>ARD</strong> Olympiaradio«<br />
eine Lücke <strong>im</strong> Angebot geschlossen.<br />
_ Täglich 26 Millionen Hörer<br />
Zurück in Peking: Am zentralen Redaktionstisch,<br />
dem sogenannten »Desk«, beraten die<br />
Redakteure Holger Gerska (NDR) und Marcus<br />
Tepper (WDR) darüber, wie die Schwerpunkte<br />
der Beiträge für den Abend und – noch wichtiger<br />
– den frühen Morgen in Deutschland, die<br />
Radio-Pr<strong>im</strong>e T<strong>im</strong>e, gewichtet werden. Reporterin<br />
Andrea Otto (BR) wird beauftragt, sich an<br />
die Fersen des Olympiasiegers Matthias Steiner<br />
zu heften. Wie wird er feiern, wer wird ihm gratulieren,<br />
welche Interviews wird er geben? Ein<br />
Porträt des »stärksten Mannes der Welt« ist bereits<br />
vorbereitet und wird umgehend der <strong>ARD</strong><br />
angeboten. Auch der erneute Patzer des großen<br />
Favoriten Fabian Hambüchen am Reck soll<br />
»weitergedreht« werden. Der geplatzte Traum<br />
vom Gold, so lautet der Arbeitstitel. Holger<br />
Gerska bespricht Stoßrichtung und Details der<br />
Geschichte mit Felix Mansel (SWR), der Fabian<br />
Hambüchen während der Wettbewerbe in der<br />
olympischen Turnhalle begleitet hat. Aus dem<br />
Fußballstadion meldet Jens Wolters (NDR) cha-<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08<br />
Das International Braodcast Centre (IBC)<br />
in Peking, mit einer Gesamtfläche von<br />
140 000 m 2 das größte in der bisherigen<br />
Olympia-Geschichte, bot Platz für rund 12 o00<br />
Mitarbeiter der Rundfunkanstalten aus der<br />
ganzen Welt (Foto l.).<br />
Drangvolle Enge auf der Reportertribüne<br />
<strong>im</strong> Nationalen Wassersport-Zentrum Peking,<br />
bekannt als der »Water Cube«
otische Zustände bei der Halbfinalpartie zwischen<br />
Brasilien und Argentinien. Auch dieses<br />
Thema wird in das Angebot mit aufgenommen,<br />
das alle zehn Minuten aktualisiert <strong>im</strong> Internet<br />
veröffentlicht wird. Sieben Beiträge werden<br />
noch am Abend produziert, weitere sechs Storys<br />
für den nächsten Morgen fertiggestellt.<br />
Die Nachfrage nach Beiträgen, Gesprächen<br />
und Reportagen von den Olympischen Sommerspielen<br />
in den Hörfunkprogrammen der<br />
<strong>ARD</strong> war außergewöhnlich groß. Mehr als 50<br />
Programme haben über Olympia berichtet. Bis<br />
zu 26 Millionen Menschen haben sich täglich<br />
<strong>im</strong> Radio über die Olympischen Spiele informiert.<br />
Damit wurden deutlich mehr Menschen<br />
erreicht, als über das Fernsehen.<br />
Schwerpunkte der Berichterstattung waren<br />
sowohl aktuelle als auch sportliche Themen.<br />
Während <strong>im</strong> Vorfeld der Spiele die Menschenrechte,<br />
Pressefreiheit und die Sicherheit in<br />
Peking <strong>im</strong> Vordergrund standen, änderte sich<br />
der Nachfrageschwerpunkt bei den meisten<br />
Programmen mit Beginn der Spiele. Das <strong>ARD</strong>-<br />
Hörfunkteam hat aus Peking mehr als 600<br />
Beiträge und Kommentare angeboten. Hinzu<br />
kamen 1 245 Nachrichtenstücke.<br />
_ Exklusivgespräche <strong>im</strong> Akkord<br />
Während die Redakteure am Desk am Angebot<br />
feilen, hat Sabine Töpperwien die Tür hinter<br />
sich geschlossen. Die erfahrene Reporterin des<br />
WDR sitzt <strong>im</strong> Exklusivstudio, auf 1,5 qm. Vor<br />
sich zwei Fernsehmonitore, einen Ergebnisbildschirm,<br />
eine O-Ton-Datenbank, ein Telefon,<br />
Kopfhörer und Mikrofon. Routiniert und fröhlich<br />
begrüßt sie auf der Leitung den nächsten<br />
Sender. 20 Sekunden noch, dann beginnt das<br />
Gespräch: »Warum haben Fabian Hambüchen<br />
die Nerven versagt?«, »Was hat es mit dem Foto<br />
auf sich, das Gewichtheber Matthias Steiner<br />
bei der Siegerehrung hochgehalten hat?«, »Wie<br />
kommen die Pferde mit der Hitze in Hongkong<br />
zurecht?« und »Wie geht es den Tibet-<br />
Aktivisten, die zwei Tage zuvor festgenommen<br />
worden sind?« – das sind die Fragen, die Frau<br />
Töpperwien innerhalb von drei Minuten beantwortet.<br />
Dann ist die gebuchte Zeit vorbei. Im<br />
Fünf-Minuten-Rhythmus wechseln sich die Programme<br />
auf der Leitung ab. Der nächste Sender,<br />
die Welle Nord des NDR, möchte wissen<br />
wie die Kieler Volleyballerinnen Okka Rau und<br />
Stephanie Pohl abgeschnitten haben. Die <strong>im</strong><br />
Reporter Edgar Endres be<strong>im</strong> Beachvolleyball<br />
(Foto o.); Sprint-Olympiasieger Usain Bolt be<strong>im</strong><br />
Radio interview (M.); Marcus Tepper und Holger<br />
Gerska am Redaktionsdesk <strong>im</strong> IBC<br />
Olympia zum Hören <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 109
110<br />
peking.<strong>ARD</strong>.de<br />
Olympische Spiele <strong>im</strong> Netz<br />
Dabei sein ist alles? Dem gemeinhin als<br />
olympisch bezeichneten Motto folgend<br />
hat der NDR als <strong>ARD</strong>-Federführer für die<br />
Berichterstattung zu den Olympischen<br />
Spielen unter peking.<strong>ARD</strong>.de auch <strong>im</strong> Netz<br />
für eine umfassende Begleitung des größten<br />
Sportfestes der Welt gesorgt. »Live<br />
dabei sein« genau genommen, denn die<br />
vom IOC neben den Fernseh- und Radiorechten<br />
erworbenen weitreichenden Online-Verwertungsrechte<br />
ließen Live- und<br />
On-Demand-Streams zu Highlights der<br />
Website werden.<br />
Live gestreamt wurden sämtliche<br />
»Olympia live«-Sendungen <strong>im</strong> Hauptpro-<br />
gramm der <strong>ARD</strong> sowie das Olympia-Pro-<br />
gramm auf den beiden Digitalkanälen<br />
EinsPlus und EinsFestival. Die Kultsendung<br />
»Waldi und Harry« <strong>im</strong> »Best of«-Zusammenschnitt,<br />
das stündlich aktualisierte<br />
Olympia-Telegramm sowie ausgewählte<br />
Entscheidungen in den olympischen Kern-<br />
sportarten wie Leichtathletik, Schw<strong>im</strong>-<br />
men, Rudern, Radsport und Kanu standen<br />
als Video on Demand zur Verfügung.<br />
Elf Stunden und bei Bedarf noch länger<br />
war das <strong>ARD</strong> Olympiaradio auch <strong>im</strong> Netz<br />
auf Sendung. Geboten wurden Live-Reportagen<br />
aller wichtigen Wettbewerbe, dazu<br />
Interviews, Hintergrundberichte, Porträts,<br />
Gespräche mit Olympiaexperten und zu<br />
jeder vollen Stunde Nachrichten. Ein Liveticker<br />
informierte darüber hinaus in Kürze<br />
über alles Wichtige des olympischen Wettkampftags.<br />
Gut angenommen wurde auch der <strong>ARD</strong><br />
Olympia-Blog, für dessen Realisierung sich<br />
der NDR be<strong>im</strong> IOC stark gemacht hatte.<br />
Die Protagonisten, Ex-Zehnkämpfer Frank<br />
Busemann, die aus China stammende<br />
Badminton-Europameisterin Huaiwen Xu<br />
sowie die jungen deutschen Beachvolleyball-Europameisterinnen<br />
Sara Goller und<br />
Laura Ludwig, warteten täglich mit ganz<br />
persönlichen Notizen aus der chinesischen<br />
Hauptstadt auf.<br />
Jürgen Werwinski<br />
Schichtdienst arbeitenden Reporterinnen Martina<br />
Knief (HR), Sabine Töpperwien (WDR)<br />
und Reporter Martin Roschitz (NDR) haben<br />
auf jede Frage die passende Antwort.<br />
Die Exklusivgespräche erfreuen sich <strong>im</strong>mer<br />
größerer Beliebtheit. Insgesamt 48 Radiowellen<br />
haben bei den Spielen in Peking die Möglichkeit<br />
zum direkten Gespräch mit den Experten<br />
vor Ort genutzt. Mehr als 1 400 Gespräche<br />
wurden geführt. Die Nachfrage der Radioprogramme<br />
hat <strong>im</strong> Vergleich zur Fußball-Europameisterschaft<br />
oder zu den vorangegangenen<br />
Spielen 2004 in Athen nochmals deutlich zugenommen.<br />
Quantitativ und qualitativ hat das Hörfunkangebot<br />
aus Peking Maßstäbe gesetzt. Fast 4 500<br />
Reportagen, Beiträge, Interviews, Nachrichtenstücke,<br />
Collagen und Live-Gespräche wurden<br />
für die <strong>ARD</strong> produziert. Die Qualität der Beiträge<br />
war durchweg sehr hoch. Dies lag auch an<br />
den hervorragenden Arbeitsbedingungen, die<br />
ein erfahrenes Team aus Produktion und Technik<br />
aus mehreren Landesrundfunkanstalten der<br />
<strong>ARD</strong> <strong>im</strong> Internationalen Radio- und Fernsehzentrum<br />
(IBC) auf engstem Raum geschaffen<br />
hatte. »So macht das Arbeiten Spaß«, reibt sich<br />
Regisseur Uwe Castner die Hände, als die nächste<br />
Konferenzschaltung fehlerfrei geklappt hat.<br />
»Diese Spiele werden unvergesslich bleiben.«<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08<br />
Eva Polter, NDR-Toningenieurin, am Mischpult<br />
Alexander Bleick, <strong>ARD</strong>-Teamchef Hörfunk,<br />
Sportchef Hörfunk be<strong>im</strong> NDR
Ein deutsch-afghanischer Hauptkommissar aus Düs-<br />
seldorf, der neben Deutsch auch Arabisch spricht, eine<br />
burschikose Hauptkommissarin aus Bremen, allein-<br />
erziehend mit Tochter, der bayerische Polizeiober meister<br />
Rudi Egger und seine junge Kollegin aus Bruck am Inn,<br />
der wortkarge Südbadener Kr<strong>im</strong>inaloberrat Xaver<br />
Finkbeiner in Stuttgart, die Hamburger Kr<strong>im</strong>inalhaupt-<br />
kommissarin Bettina Breuer und ihr Team, der eigen-<br />
brötlerische Jost Fischer, Hauptkommissar in Magdeburg<br />
– das sind einige der Ermittler in den ersten Folgen der<br />
Reihe »<strong>ARD</strong> Radio Tatort«.<br />
Seit sich vor über 150 Jahren die Kr<strong>im</strong>inalliteratur als<br />
eigenes Genre etablierte, wuchs die Begeisterung des<br />
Publikums für spannende Geschichten, in denen das<br />
Verbrechen und seine Aufklärung <strong>im</strong> Mittelpunkt der<br />
Handlung stehen, stetig. Seit Beginn des Jahres können<br />
sich die Kr<strong>im</strong>i-Fans nun über ein neues anspruchsvolles<br />
Hörspielprojekt in den <strong>ARD</strong>-Kulturwellen freuen.<br />
Ein »Tatort« für die Ohren<br />
Ein Zwischenbericht vom Gemeinschaftsprojekt »<strong>ARD</strong> Radio Tatort«<br />
Von Ekkehard Skoruppa<br />
K<br />
r<strong>im</strong>inalhörspiele sind populär. Das<br />
zeigen Hörerpost und Einschaltquoten,<br />
Erfolge auf dem Hörbuchmarkt<br />
und die Besucherzahlen bei öffentlichen<br />
Vorführungen. Dennoch hat die Anzahl<br />
der Sendeplätze für den Radiokr<strong>im</strong>i in der <strong>ARD</strong><br />
über die Jahre eher abgenommen. Die zugänglichste<br />
Spielform des Hörspiels war nicht mehr<br />
ganz so häufig und prominent platziert wie in<br />
früheren Zeiten. Ganz anders das Fernsehen:<br />
Ob es öffentlich-rechtliche oder private Sender<br />
sind – in ihren Programmangeboten nehmen<br />
Kr<strong>im</strong>i-Stoffe eine wichtige Position ein. Sie zählen<br />
zu den bedeutendsten Elementen der Programmgestaltung.<br />
_ Eine ganz spezielle Kr<strong>im</strong>i-Reihe brauchte ihre Zeit<br />
Seit Januar 2008 hat das populäre Genre auch<br />
<strong>im</strong> Hörfunk wieder an Bedeutung und Breitenwirkung<br />
gewonnen. Erstmals ging der »<strong>ARD</strong><br />
Radio Tatort« in einer zeitgleichen Ausstrahlung<br />
von neun Kultur- und Wortprogrammen der<br />
<strong>ARD</strong> auf Sendung. Seither kommt die gemeinschaftlich<br />
von allen Landesrundfunkanstalten<br />
getragene Reihe monatlich mit einer neuen<br />
Folge in die Programme. Nicht zeitgleich, wie<br />
zum Auftakt, aber doch innerhalb eines kurzen<br />
Zeitraums. Sendeplätze sind die regulären<br />
Kr<strong>im</strong>i- bzw. Hörspieltermine auf Bayern 2, hr2,<br />
MDR FIGARO, NDR Info, SR 2 KulturRadio,<br />
Radio Tatort <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 111
112<br />
Die Sendetermine des <strong>ARD</strong> Radio Tatorts<br />
Stand September 2008<br />
Der »<strong>ARD</strong> Radio Tatort« wird einmal monatlich<br />
ausgestrahlt. Die neuen Folgen<br />
starten zumeist in der dritten Woche eines<br />
Monats und sind innerhalb von fünf Tagen<br />
auf den jeweiligen Kr<strong>im</strong>i- bzw. Hörspiel-<br />
Sendeplätzen der beteiligten Programme<br />
zu hören:<br />
Bayern 2: mittwochs, 20.30 Uhr, Wiederholung:<br />
donnerstags, 21.30 Uhr<br />
hr2-kultur: sonntags, 22.00 Uhr<br />
MDR FIGARO: sonntags, 22.00 Uhr<br />
NDR Info: samstags, 21.05 Uhr<br />
Nordwestradio (Radio Bremen/NDR):<br />
mittwochs, 19.05 Uhr<br />
Bremen Vier: mittwochs, 23.05 Uhr<br />
Kulturradio (RBB): montags, 22.04 Uhr<br />
Radioeins (RBB): dienstags, 20.05 Uhr<br />
SR 2 KulturRadio: donnerstags, 20.04 Uhr<br />
SR 1 Europawelle: montags, 21.03 Uhr<br />
SWR2: donnerstags, 21.03 Uhr<br />
DASDING (SWR): donnerstags, 22.00 Uhr<br />
WDR 5: samstags, 10.05 Uhr, Wiederholung:<br />
samstags, 23.05 Uhr<br />
SWR2 und WDR 5 sowie eigens eingerichtete<br />
Zusatztermine auf Nordwestradio (Radio Bremen/NDR)<br />
und <strong>im</strong> Kulturradio des RBB. Die<br />
meisten Häuser senden zudem kurzfristig Wiederholungen,<br />
auch auf anderen Wellen.<br />
Das Gemeinschaftsprojekt ist ein Novum <strong>im</strong><br />
Radio – und doch ein Projekt, über das schon<br />
vor vielen Jahren diskutiert wurde. Lange ging<br />
ich davon aus, ich sei der Erste gewesen, der<br />
auf die Idee kam. 1988 stellte ich erstmals ein<br />
Konzept den Hörspielleitern vor. Vor kurzem<br />
habe ich erfahren, dass auch mein Vorvorgänger<br />
in Baden-Baden, Hermann Naber, und die<br />
Hörfunk-Unterhaltungschefs von RIAS Berlin,<br />
BR und SDR davon unabhängig schon Mitte<br />
der 70er Jahre ähnliche Überlegungen angestellt<br />
hatten. So unterschiedlich die Anläufe auch<br />
gewesen sein mögen, gemeinsam war ihnen die<br />
Bauchlandung: Nie fanden sich genug Bündnispartner.<br />
Die redaktionelle Autonomie zählte in<br />
jenen Jahren offenbar mehr als ein großes Gemeinschaftsunternehmen.<br />
Zwei Gründe hatten mich angeregt: Zum<br />
einen die Überzeugung, dass aus der kreativen<br />
Zusammenarbeit der verschiedenen Hörspiel-<br />
Dramaturgien eine besonders spannende, vielfarbige<br />
Kr<strong>im</strong>ireihe aus den Ländern entstehen<br />
könne, und zum anderen eine Erfahrung, die<br />
ich noch als freier Journalist und Kritiker mit<br />
einer bundesweiten Wochenzeitung gemacht<br />
hatte: Ihr bot ich regelmäßige Hörspiel-Kritiken<br />
an, was nicht sonderlich interessierte. Für die<br />
Käufer des Blatts mache es nur wenig Sinn, von<br />
Hörspielen zu lesen, die gar nicht überall zu<br />
hören wären. Gern wolle man neu überlegen,<br />
wenn einmal ein gemeinsames Hörspielprojekt<br />
von Stuttgart bis Hamburg anstünde. An<br />
Zeiten, in denen dieselbe Zeitung regelmäßig<br />
auch das Hörspiel, neben Theater und Literatur,<br />
Film und Fernsehen, kritisch begleitet hatte, hat<br />
man sich offenbar nicht mehr so genau erinnern<br />
können.<br />
_ Hörspiele: konkurrenzlose <strong>ARD</strong>-Kulturleistungen<br />
Am Mangel eines öffentlichen Diskurses hat<br />
sich für Radio und Hörspiel über die Jahre<br />
nicht sehr viel geändert. Sonst aber hat sich<br />
manches bewegt in der Radiolandschaft. Die<br />
Anzahl der Angebote hat erheblich zugenommen,<br />
Privatradios sind aufgekommen und<br />
machen mit auf Verwechslung angelegten Formatprogrammen<br />
den öffentlich-rechtlichen<br />
Anbietern Konkurrenz. Während neue Medien<br />
und Verbreitungswege die rundfunkpolitischen<br />
Diskussionen best<strong>im</strong>men, scheint sich die junge<br />
MP3-Generation ganz vom klassischen Radio<br />
abwenden zu wollen. In der Frage der Rundfunkgebühren<br />
ist der Ton schärfer geworden.<br />
Das Bundesverfassungsgericht hat nochmals<br />
die Bestands- und Entwicklungsgarantie für<br />
den öffentlich-rechtlichen Rundfunk bekräftigt.<br />
Aber niemand kann heute mit Best<strong>im</strong>mtheit<br />
sagen, wie sich die Finanzierung dieses<br />
Rundfunks über eine mittlere Frist hinaus wird<br />
sichern lassen. Die Kassen sind knapper geworden,<br />
die Politik sucht nach Synergiepotenzialen.<br />
Rundfunkänderungsstaatsverträge fordern die<br />
Landesrundfunkanstalten auf, stärker zu kooperieren.<br />
Wandelt sich der föderale Charakter dieses<br />
öffentlich-rechtlichen Rundfunks? Bezogen<br />
auf das Hörspiel liegen seine Vorzüge auf der<br />
Hand: Ermöglicht er doch eine Vielfalt, um die<br />
uns Kollegen aus anderen Ländern beneiden.<br />
In der <strong>ARD</strong> und <strong>im</strong> Deutschlandradio entstehen<br />
pro Jahr rund 350 Hörspiele. Nur die BBC<br />
bringt es auf eine wesentlich höhere Anzahl.<br />
Vom reichen Angebot profitieren in erster Linie<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08
»Radio Tatort: Verhandlungssache« (WDR) von<br />
Peter Meisenberg: Der Düsseldorfer Kr<strong>im</strong>inalbeamte<br />
Nadir Taraki (Baki Davrak, l.) wird von<br />
Abdel Maliki ( Ozan Akhan) gefoltert.<br />
unsere Hörer, sie können viele neue Stücke und<br />
unterschiedlichste Spielformen kennen lernen.<br />
Von erheblicher Bedeutung sind die vorhandenen<br />
Möglichkeiten für Autoren, Bearbeiter,<br />
Regisseure, Sprecher und viele andere. Als einer<br />
der größten Kulturproduzenten <strong>im</strong> Land bietet<br />
ihnen der öffentlich-rechtliche Rundfunk wichtige<br />
Arbeitsfelder.<br />
_ Ein gemeinsames Konzept für verschiedene<br />
Regionen, Dialekte, Mentalitäten<br />
Der »<strong>ARD</strong> Radio Tatort« entspricht in vorzüglicher<br />
Weise dem föderalen Gedanken des<br />
öffentlich-rechtlichen Rundfunks. In seiner angestrebten<br />
Vielfalt kann er nur entstehen, wenn<br />
alle Hörspielredaktionen der <strong>ARD</strong> mitwirken.<br />
Die kleineren Anstalten tragen mit einem Hörspiel<br />
pro Jahr dazu bei, die größeren mit zwei.<br />
Die Grundkonstruktion – Ermittlerstücke, die<br />
in der Regel <strong>im</strong> Polize<strong>im</strong>ilieu spielen – wurde<br />
gemeinsam festgelegt, sie lässt jeder Redaktion<br />
genügend Raum, ihre je eigenen Figuren zu entwickeln<br />
und mit ihnen spannende und unerhaltende<br />
Geschichten zu erzählen. Die zu Anfang<br />
diskutierte Idee, durchgehende Hauptfiguren<br />
für alle Folgen und Produzenten zu etablieren,<br />
wurde aufgegeben zugunsten eines Modells, das<br />
den Hörern eine größere Bandbreite an Storys<br />
und Figuren und den Redaktionen die Möglichkeit<br />
bietet, mit je eigener Produktionshandschrift<br />
aufzuwarten.<br />
Vor allem aber sollen die Kr<strong>im</strong>inalhörspiele<br />
erkennen lassen, wo sie spielen. Die Bezüge<br />
zur Region, den dort lebenden Menschen, zu<br />
ihren Mentalitäten und ihrer Sprache sind dem<br />
»Radio Tatort« wichtig. Dass dazu regionalsprachliche<br />
Färbungen und Dialekte eingesetzt<br />
werden können, liegt auf der Hand. Allerdings<br />
müssen sie verstehbar sein von Ravensburg bis<br />
Rostock. Niki Stein, der Drehbuchautor und<br />
»Tatort«-Regisseur, der auch den ersten »Radio<br />
Tatort« des HR inszenieren wird, freut sich darauf,<br />
<strong>im</strong> Radio etwas wiederzubeleben, das <strong>im</strong><br />
Fernsehen zurückgegangen sei: die Bindung<br />
an die Regionen, an die Sprache der Leute, die<br />
Umgebung, in der sie leben.<br />
_ Kooperationen opt<strong>im</strong>ieren die Ergebnisse<br />
Der Nutzen von Kooperationen ist den Radio-<br />
und Hörspielprogrammen schon lange bekannt:<br />
aus aufwändigen Hörspielproduktionen,<br />
aus »Langen Nächten« oder Schwerpunktprogrammen.<br />
Ohne Kooperationen und zusätzliche<br />
Produktions-Übernahmen würden die<br />
Spielpläne der meisten Hörspiel-Redaktionen<br />
lückenhaft bleiben. Sie wären, auch unter Kostengesichtspunkten,<br />
kaum zu gestalten. Wenn<br />
es trotz guter Kooperations-Erfahrungen nicht<br />
jeder Redaktion gleich leichtgefallen ist, sich<br />
der festen Produktions- und Sendevereinbarung<br />
zum »<strong>ARD</strong> Radio Tatort« anzuschließen, liegt<br />
das an der D<strong>im</strong>ension des Projekts: Jeden Monat<br />
einen Platz für die Reihe auf den eigenen<br />
Regelterminen zu blockieren – das kann eigene<br />
Pläne und Projekte tangieren. Zumal für jene<br />
Radio Tatort <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 113
114<br />
Als Ermittler waren u. a. bereits <strong>im</strong> Einsatz:<br />
Marie-Lou Sellem und André Jung, Kommissare<br />
in SR 2 KulturRadio.<br />
Redaktionen, die über vergleichsweise wenige<br />
Sendeplätze verfügen. Radio Bremen und der<br />
RB haben aus der Not eine Tugend gemacht<br />
und für den »Radio Tatort« Zusatztermine eingerichtet.<br />
Damit bekommt der Kr<strong>im</strong>i, den es<br />
dort schon nicht mehr gegeben hatte, in beiden<br />
Häusern wieder einen Platz.<br />
Das Radio, hat Gerhard Polt einmal gesagt,<br />
ist wie das Wasser: Man dreht den Hahn auf,<br />
und es fließt raus – eins schwemmt das andere<br />
weg. Besonders die Kultur- und Wortprogramme<br />
stehen <strong>im</strong>mer wieder vor der Frage,<br />
wie sie sich behaupten und vernehmbarer machen<br />
können in der Schwemme der Angebote,<br />
die beileibe nicht auf das Radio begrenzt sind.<br />
Das Zeitbudget unserer Hörer ist l<strong>im</strong>itiert. Sie<br />
lesen, sehen fern, gehen ins Theater, ins Kino<br />
oder nutzen das Internet. Wie kann man besser<br />
an den Mann, die Frau, den Jugendlichen<br />
bringen, was besonders aufwändig produziert<br />
ist und mehr als ein Nebenbei-Hören verlangt?<br />
Hörspiele, Feature-Sendungen, anspruchsvolle<br />
Wortangebote.<br />
Es gibt deutliche Indizien dafür, dass<br />
herausgehobene Programmereignisse, überlegt<br />
eingesetzte Schwerpunkte, gemeinsame<br />
Großprojekte, die entsprechend kommuniziert<br />
werden können und die die originären<br />
Leistungen dieses Radios betonen, zunehmend<br />
Sinn ergeben. Das Radio ist mehr als eine<br />
Nachrichten- und Musikmaschine, aber große<br />
Hörerschichten scheinen das fast schon vergessen<br />
oder noch nie richtig wahrgenommen zu<br />
haben.<br />
Ueli Jäggi als Kr<strong>im</strong>inaloberrat Xaver Finkbeiner<br />
und Karoline Eichhorn als Kr<strong>im</strong>inalhauptkommissarin<br />
Nina Brändle in SWR2<br />
Ergebnisse der Medienforschung etwa zu<br />
den <strong>ARD</strong>-Schwerpunktwochen »Krebs« und<br />
»Kinder sind Zukunft« zeigen, dass beide<br />
Sendewochen ein hohes Zust<strong>im</strong>mungsniveau<br />
hatten. 81 Prozent der Hörer fanden die konzertierten<br />
Angebote von Fernsehen und Radio<br />
gut oder sehr gut. Vor allem Jugendliche von<br />
14 bis 29 Jahren haben sie mit 83 Prozent noch<br />
stärker begrüßt als der Durchschnitt. Aus beiden<br />
Schwerpunktwochen bleiben hohe Erinnerungswerte;<br />
zahlreiche Presseberichte sorgten<br />
mit dafür, dass die Themen von der Medienflut<br />
nicht weggeschwemmt wurden, sondern Gesprächswert<br />
hatten und die Markenzeichen des<br />
öffentlich-rechtlichen Rundfunks unterstrichen.<br />
Eine gemeinsame Marke gab es in der <strong>ARD</strong>-<br />
Hörspiellandschaft bisher nicht. Natürlich<br />
ist damit nichts über die hohe Qualität sehr<br />
vieler Produktionen aus den einzelnen Landesrundfunkanstalten<br />
gesagt. Hörer wissen sie zu<br />
schätzen, und bei vielen nationalen und internationalen<br />
Wettbewerben wurde und wird sie<br />
gewürdigt. Dennoch ist eine größere Publizität<br />
und Breitenwirkung für das Hörspiel vonnöten.<br />
So manche Reaktion auf den »Radio Tatort«<br />
zeigt, dass das Hörspiel gedanklich zuweilen<br />
schon in die Mottenkiste gepackt war. Insbesondere<br />
für junge Hörer zählt es inzwischen viel zu<br />
selten zu den wichtigen Radioerfahrungen, mit<br />
denen sie groß werden.<br />
_ Außerordentlich positive Resonanz<br />
Weit über alle Hoffnungen und Erwartungen<br />
hinaus hat die Startphase des »<strong>ARD</strong> Radio<br />
Tatort« gezeigt, was das Gemeinschaftsunternehmen<br />
zu leisten <strong>im</strong>stande ist. Die öffentliche<br />
Aufmerksamkeit für die Kr<strong>im</strong>ireihe hat schlicht<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08
In MDR FIGARO spricht Hilmar<br />
Eichhorn den ermittelnden Kommissar<br />
Jost Fischer.<br />
alles in den Schatten gestellt, was bisher über<br />
Hörspiel geschrieben wurde: »Zeit«, »Frankfurter<br />
Allgemeine Zeitung«, »Süddeutsche<br />
Zeitung«, »taz«, »Stuttgarter Zeitung«, »Hamburger<br />
Abendblatt«, »Westdeutsche Allgemeine<br />
Zeitung«, »Brigitte« und »Focus« – und viele<br />
andere, quer durch die Bundesrepublik, aber<br />
auch in Österreich und der Schweiz, haben die<br />
Reihe nicht nur beachtet, sondern außerordentlich<br />
freundlich aufgenommen. »Nie zuvor haben<br />
Hörspiele in Deutschland dauerhaft eine so<br />
große Bühne bekommen«, schrieb der »SPIE-<br />
GEL«, »die neue Serie ist ein Paukenschlag für<br />
das ebenso alte wie legendäre Genre.«<br />
Schon jetzt ist festzuhalten, dass der Auftakt<br />
der Reihe, die auf gutem Wege ist, sich als<br />
Marke zu etablieren, das Interesse und die Begeisterung<br />
für das Hörspiel insgesamt gesteigert<br />
hat. »Vielleicht«, meint die »taz«, wird das »einst<br />
schon totgesagte Hörspiel (. . .) dank der neuen<br />
Kr<strong>im</strong>ireihe nun ganz einfach etwas populärer«.<br />
Aber es ist nicht nur die Presse, die den Reiz<br />
des Hörens in der Welt der Bilder wiederentdeckt,<br />
es sind auch viele Hörer, die uns bestärken.<br />
Eine große Zahl begrüßt die Serie in<br />
Zuschriften, Mails und <strong>im</strong> Internet, das sämtliche<br />
Folgen mit einem eigenen Angebot über<br />
radio-tatort.<strong>ARD</strong>.de begleitet. Alle Produktionen<br />
stehen nach den Sendungen für sieben<br />
Tage als Stream <strong>im</strong> Netz, darüber hinaus konnten<br />
fünf Stücke des ersten Jahrgangs zum kostenfreien<br />
Download angeboten werden. Eine<br />
sehr große Anzahl von Kr<strong>im</strong>ifans hat sich ein<br />
Hörspiel auf den PC oder MP3-Spieler gezogen.<br />
Der Bedarf nach zeit- und ortsunabhängiger<br />
Nutzung ist unübersehbar.<br />
Sandra Borgmann als Hamburger<br />
Kr<strong>im</strong>inalhauptkommissarin Bettina Breuer<br />
in NDR Info<br />
_ Der »Radio Tatort« nur als Original-Hörspiel<br />
Was nach schlichtweg fulminantem Auftakt<br />
auf die Redaktionen nun zukommt, ist eine<br />
dramaturgische Herausforderung. Es gilt, die<br />
hohen Erwartungen bei Hörern und Presse<br />
mit weiteren originellen Stoffen und Stücken<br />
zu erfüllen. Das Kr<strong>im</strong>inalhörspiel, das in den<br />
vergangenen Jahren zu sehr zu einem Adaptionsgenre<br />
geworden ist, muss sich <strong>im</strong> Fall des<br />
»Radio Tatorts« ausschließlich mit Originalarbeiten<br />
beweisen. Will man eigene Serienfiguren<br />
entwickeln und sie in neuen, an der Realität<br />
orientierten Geschichten etablieren, können<br />
fertige Buchvorlagen nicht helfen. Der »Radio<br />
Tatort« will eigenwillige, markante Typen ins<br />
Radioleben setzen. Er kann es nur, indem er<br />
das Originalhörspiel fördert und mit guten Autoren<br />
Entwicklungsdramaturgie betreibt.<br />
»Irmis Ehre«, »Radio Tatort« des BR, mit Winfried<br />
Frey (Betz), Stephan Murr (Hubert) und<br />
Florian Karlhe<strong>im</strong> in der Rolle des Kommissars<br />
Rudi Egger (v. l.)<br />
Radio Tatort <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 115
116<br />
»Schrei der Gänse«, »Radio Tatort« von Radio<br />
Bremen: Heike Langguth (Ton), Christiane<br />
Ohaus (Regie), Marion Breckwoldt als Hauptkommissarin<br />
Claudia Evernich, Markus Meyer<br />
als Staatsanwalt Dr. Kurt Gröninger (v. l.)<br />
Für die erste Staffel wurden solche Autoren<br />
gefunden: Roland Sch<strong>im</strong>melpfennig, John von<br />
Düffel, Tom Peuckert, Frank Göhre, Peter Meisenberg,<br />
Christine Lehmann, Robert Hültner<br />
und andere. Und auch bei den Schauspielern<br />
herrscht großes Interesse: Karoline Eichhorn<br />
und Ueli Jäggi spielen für den SWR, der WDR<br />
hat u. a. Baki Davrak, Hauptdarsteller <strong>im</strong> Oscarnominierten<br />
Film »Auf der anderen Seite« von<br />
Fatih Akin, Meriam Abbas und Rudolf Kowalski<br />
verpflichtet, Hilmar Eichhorn und Nele<br />
Rosetz ermitteln für den MDR, Martin Reinke<br />
und Sandra Borgmann fahnden für den NDR.<br />
Sie alle lösen Kr<strong>im</strong>inalfälle nach einer Idee,<br />
die anfangs noch nichts mit dem »Tatort«-<br />
Modell des Fernsehens zu tun hatte. Und auch<br />
am Ende einer langen Konzeptionsphase war es<br />
mitnichten der Gedanke an eine nachgereichte<br />
Radio-Version, der uns bewog, den auch für den<br />
<strong>ARD</strong>-Hörfunk freien Titel zu wählen. Natürlich<br />
ist er geradezu unbezahlbar. Als Qualitäts- und<br />
Markensignal, das sofort klarmacht, worum es<br />
sich handelt.<br />
Eine Verwechslung mit den TV-Produktionen<br />
kann und wird nicht entstehen: Das Hörspiel<br />
hat völlig eigenständige Mittel, seine Geschichten<br />
zu erzählen. Und was die Hörergunst<br />
angeht, darf man getrost darauf setzen, dass das<br />
gespannte Hinhören auch in einer gewandelten<br />
Medienlandschaft seinen Reiz entfaltet. Lange<br />
bevor sich Sch<strong>im</strong>anski & Co über die Bildschirme<br />
prügelten, waren original für das Radio<br />
geschriebene Kr<strong>im</strong>is schon Publikumsrenner.<br />
Francis Durbridges »Paul Temple« etwa oder<br />
Rolf und Alexandra Beckers »Gestatten, mein<br />
Name ist Cox«. Stücke und Reihen, die bis<br />
heute gefragt sind. Auch wenn es Unsinn wäre,<br />
nach den damaligen Quoten zu schielen: Die<br />
Beliebtheit des Radiokr<strong>im</strong>is ist ungebrochen.<br />
Der SWR ist mit der Koordination der<br />
neuen <strong>ARD</strong>-Reihe beauftragt. Was vor allem<br />
bedeutet, grundlegende organisatorische und<br />
dramaturgische Überlegungen <strong>im</strong> Blick zu behalten<br />
und zu kommunizieren: die Dubletten-<br />
Prüfung etwa oder die Abst<strong>im</strong>mung in Fragen<br />
der Besetzung, Regie und Autorenschaft, der<br />
Terminplanung und möglicher Presse- und Marketing-Initiativen,<br />
die <strong>im</strong> Anschluss an die vom<br />
SWR koordinierte Startkampagne jedes Haus<br />
für seine Produktionen durchführt.<br />
_ Perspektiven<br />
Ob sich mit dem »Radio Tatort« eine Perspektive<br />
für weitere Gemeinschaftsprojekte der <strong>ARD</strong><br />
andeutet? Wo es sinnvoll erscheint, zu umfangreicheren<br />
Kooperationen zu kommen, liegt der<br />
Gedanke nahe. Überzeugende Beispiele gibt es<br />
ja bereits: die »<strong>ARD</strong> Buchnacht« und die »<strong>ARD</strong><br />
Hörbuchnacht«. Oder die »Günter-Eich-Nacht«<br />
und die »<strong>ARD</strong> Radionacht für Kinder«, <strong>im</strong> letzten<br />
Jahr zu Ehren von Astrid Lindgren. Über<br />
4 000 Schulen haben sich an ihr beteiligt. Auch<br />
das jüngste Projekt, das unter Federführung<br />
von SWR2 gemeinsam mit Radio Bremen für<br />
die <strong>ARD</strong> entstanden ist, gilt als sehr geeigneter<br />
Kooperations-Fall: die umfangreiche Audio-<br />
Ausgabe der wichtigsten Sammlung deutschsprachiger<br />
Gedichte, des »Großen deutschen<br />
Gedichtbuchs« von Karl Otto Conrady, dessen<br />
1 100 aufgenommene Gedichte nun unter dem<br />
Titel »Lauter Lyrik. Der Hör-Conrady« auf viele<br />
Jahre die Programme der <strong>ARD</strong> bereichern können.<br />
Ekkehard Skoruppa<br />
Leiter Künstlerisches Wort in SWR2<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08
»Leuchtturmprojekte«, Eventprogrammierung,<br />
»Amphibienfilme« – Schlagworte, die für die aktuelle<br />
Entwicklung des Fernsehfilms <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong> stehen.<br />
Dass dabei Qualität und Quote kein Widerspruch sein<br />
müssen, haben Filme wie »Contergan«, »Die Flucht«<br />
und »Der Untergang« bewiesen. Historische und zeit-<br />
geschichtliche Großprojekte, sorgfältig inszenierte<br />
Stücke für den FilmMittwoch, Literaturverfilmungen,<br />
Biografien, emotionale und spannende Unterhaltung<br />
am Freitag- bzw. Sonntagabend bilden das Repertoire<br />
des Fernsehfilmangebots – mehr als 150 Fernsehfilme<br />
<strong>im</strong> Jahr 2008. Höhepunkte sind u. a. das Drama um die<br />
Entführung der Lufthansamaschine Landshut 1977 unter<br />
dem Titel »Mogadischu« und der oscarprämierte Film<br />
»Das Leben der Anderen«.<br />
Vom »Boot« bis zum<br />
»Baader-Meinhof-Komplex«<br />
Zur Situation des Fernsehfilms <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong> · Von Verena Kulenkampff<br />
E<br />
in guter Film ist ein guter Film. In<br />
diesem Sinne haben die Fernsehfilm-<br />
Redaktionen der <strong>ARD</strong>-Landesrundfunkanstalten<br />
<strong>im</strong>mer ihre Arbeit<br />
begriffen – sei es an ihren originären Fernsehfilmen,<br />
sei es an den Kino-Koproduktionen, an<br />
denen sie sich beteiligen: als ein Arbeitsfeld mit<br />
unterschiedlichen, aber sich doch weitgehend<br />
auch überschneidenden Aufgabenstellungen.<br />
Der Input der Redakteurinnen und Redakteure<br />
in die Filme ist in beiden Fällen ihre kreative<br />
Mit-Arbeit, die besonderer inhaltlicher und<br />
ästhetischer Qualität verpflichtet ist. Aktualität<br />
der Fragestellungen, gesellschaftliche Relevanz,<br />
vor allem aber die St<strong>im</strong>migkeit von Geschichte,<br />
Besetzung und Regie sind die Fragen, die glücklicherweise<br />
jenseits kommerzieller Interessen<br />
hier <strong>im</strong> Vordergrund stehen, ungeachtet aller<br />
Debatten über einen behaupteten Gegensatz<br />
von Kino und Fernsehen. Die Pflege einer<br />
zeitgemäßen Erzählkultur und einer ästhetisch<br />
reflektierten Bildsprache auf hohem Niveau ist<br />
ein Hauptanliegen – sei es bei den Fernsehfilmen<br />
des FilmMittwochs der <strong>ARD</strong>, sei es bei<br />
den Kinofilmen.<br />
Andererseits sind die zahlreichen preisgekrönten<br />
und mitunter auch an der Kinokasse<br />
erfolgreichen Kinofilme, die in Koproduktion<br />
mit <strong>ARD</strong>-Sendeanstalten entstanden sind,<br />
durchaus auch um 20.15 Uhr am FilmMittwoch<br />
oder an einem Feiertagstermin erfolgreich: wie<br />
»Good Bye, Lenin!« oder »Lola rennt« (beide<br />
WDR/ARTE), »Sophie Scholl« (BR/SWR/<br />
ARTE), »Das Leben der Anderen« (BR/ARTE),<br />
Fernsehfilm <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 117
118<br />
»Mein Führer« (WDR/BR/ARTE), »Wer früher<br />
stirbt, ist länger tot« (BR), »Emmas Glück«<br />
(SWR), »Der freie Wille« (WDR/ARTE), »Requiem«<br />
(WDR/SWR/BR/ARTE), »Gegenüber«<br />
(WDR) oder »Auf der andren Seite« (NDR).<br />
Umgekehrt haben <strong>im</strong>mer einmal wieder relativ<br />
»kleine« Fernsehfilme Überraschungserfolge <strong>im</strong><br />
Kino gefeiert wie – fast schon legendär – »Nach<br />
fünf <strong>im</strong> Urwald« (SWF/BR/ARTE), mit dem<br />
Franka Potente berühmt wurde, oder in etwas<br />
jüngerer Zeit Dani Levys »Alles auf Zucker!«<br />
(WDR/BR/ARTE). Die Unterscheidung zwischen<br />
dem Kino-Erlebnis einerseits und dem<br />
Film <strong>im</strong> Fernsehen andererseits ist also komplexer,<br />
als manche Filmkritik und manche öffentliche<br />
Debatte über den Einfluss des Fernsehens<br />
nahelegt.<br />
_ »Amphibienfilme« und originäre Fernseh-Highlights<br />
Eine aktuelle Entwicklung hat dieser Debatte<br />
neuen Zündstoff geliefert. Bereits Wolfgang Petersens<br />
berühmtes »Boot« entstand zugleich als<br />
Kinofilm und als Fernseh-Mehrteiler. Das war<br />
aber weitgehend vergessen, bis »Der Untergang«<br />
als Kinofilm und zugleich als Fernsehzweiteiler<br />
hergestellt wurde. Weitere, nach einem<br />
solchen »amphibischen« Produktions- und Finanzierungsmodell,<br />
bei dem ein Kinofilm und<br />
zugleich eine originäre Fernsehfassung – zumeist<br />
ein Zweiteiler – unter hoher finanzieller<br />
Beteiligung der Fernsehsender entstehen, sind<br />
zur Zeit in Arbeit oder gerade fertiggestellt: die<br />
Romanverfilmungen »Buddenbrooks« (WDR/<br />
NDR/SWR/BR/Degeto/ARTE) von Heinrich<br />
Breloer, »Henri Quatre« (WDR/BR/SWR/Degeto/NDR/MDR)<br />
von Jo Baier und Uli Edels<br />
RAF-Film »Der Baader-Meinhof-Komplex«<br />
(NDR/BR/WDR/Degeto). Vorbereitet wird u. a.<br />
die filmische Biografie von »Ludwig II.«. Dabei<br />
rechtfertigt der »Mehrwert« in Form eines aufwändigen<br />
Fernsehzweiteilers, der den Kinofilm<br />
in Länge und damit höherem Aufwand und<br />
größerer inhaltlicher Ausführlichkeit übertrifft,<br />
den Einsatz hoher Etatmittel, die in diese Kino-<br />
Koproduktionen investiert werden. Solche<br />
historischen, höchst aufwändigen Kinofilme<br />
wären ohne diese extrem hohen Fernsehmittel<br />
kaum realisierbar.<br />
»Mein Führer«, in der Titelrolle Helge<br />
Schneider, »Emmas Glück« mit Jördis Triebel<br />
und Regisseur Lars Kraume (r.) bei den<br />
Dreharbeiten zum Film »Guten Morgen,<br />
Herr Grothe« mit Sebastian Blomberg,<br />
Darsteller des Lehrers Grothe (v. o.)<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08
Der Fernsehfilm der <strong>ARD</strong> ist allerdings auch<br />
ohne diese Großproduktionen um originäre<br />
Highlights nicht verlegen: Der Zweiteiler »Die<br />
Flucht« (WDR/SWR/HR/BR/RBB/Degeto/<br />
ARTE) unter der Regie von Kai Wessel mit Maria<br />
Furtwängler in der Hauptrolle war einer der<br />
erfolgreichsten Filme der <strong>ARD</strong> in den letzten<br />
Jahren: Durchschnittlich knapp elf Millionen<br />
Zuschauer verfolgten die Geschichte von Flucht<br />
und Vertreibung, die rund 60 Jahre nach dem<br />
historischen Geschehen zum ersten Mal fiktiv<br />
erzählt wurde. Auch die Zweiteiler »Die Frau<br />
vom Checkpoint Charlie« (MDR/BR/RBB/Degeto)<br />
von Miguel Alexandre und »Contergan«<br />
(WDR/Degeto) von Adolf Winkelmann haben<br />
historische Ereignisse und Befindlichkeiten<br />
für ein breites Publikum aufbereitet. Filmisch<br />
auf hohem Niveau haben sie Geschichte nacherlebbar<br />
gemacht, gerade auch für die jüngeren<br />
Zuschauer, die überdurchschnittlich stark vertreten<br />
waren.<br />
Themenschwerpunkte werden durch übergreifende<br />
Programmierung möglich: Dokumentationen<br />
und Talkformate als Ergänzung zu<br />
»Die Flucht« haben das Thema »Vertreibung«<br />
aufgearbeitet und fanden beste Resonanz be<strong>im</strong><br />
Publikum. Und auch bei »Die Frau vom Checkpoint<br />
Charlie« blieb das Publikum dabei: Die<br />
sich anschließenden Dokumentationen und<br />
Gesprächssendungen erzielten eine sehr hohe,<br />
die übliche Akzeptanz dieser Sendungen weit<br />
übersteigende Aufmerksamkeit.<br />
Im Anschluss an den zweiten Teil von »Contergan«,<br />
»Der Prozess« (Foto r.), am 8. 11. 2007 lief<br />
die Dokumentation »Contergan – Die Opfer,<br />
die Anwälte und die Firma«. Zu Wort kam u. a.<br />
der Contergan-Geschädigte Klaus Becker (u.).<br />
_ Public Value <strong>im</strong> besten Sinne<br />
Der nicht zuletzt durch die vorhergegangenen<br />
Gerichtsprozesse von großer publizistischer Aufmerksamkeit<br />
begleitete Zweiteiler »Contergan«<br />
(WDR/Degeto) schließlich, mit dem die <strong>ARD</strong><br />
ein sehr sensibles wie bewegendes Thema aufgegriffen<br />
hat, stieß nicht nur selbst auf ein überwältigendes<br />
Zuschauerinteresse. Die <strong>im</strong> Anschluss<br />
an Teil 1 ausgestrahlte Diskussionsrunde<br />
bei »hart aber fair« mit Frank Plasberg erreichte<br />
ihre bis dahin höchste Quote <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong>, <strong>im</strong> Anschluss<br />
an Teil 2 konnte der Dokumentarfilm<br />
»Contergan – Die Opfer, die Anwälte und die<br />
Firma« einen Spitzenwert erzielen! Mit weiteren<br />
zahlreichen Hörfunk- und Fernsehbeiträgen<br />
wurde hier ein »öffentlich-rechtliches Qualitätsprogramm<br />
par excellence« geschaffen, berichtete<br />
die »Funkkorrespondenz« in ihrer Ausgabe<br />
46/2007.<br />
So ist es der <strong>ARD</strong> gelungen, mit dieser<br />
Themensetzung durch Bündelung und Sonderprogrammierung<br />
von zweiteiligem Spielfilm,<br />
Talksendungen und Dokumentationen 50 Jahre<br />
nach der Markteinführung des Medikaments<br />
Contergan die Betroffenen und ihre Schicksale<br />
in den Mittelpunkt zu stellen und schließlich<br />
sogar ihre gesellschaftliche und finanzielle Situation<br />
in Bewegung zu bringen.<br />
Mit diesen »Leuchtturm«-Projekten hat die<br />
<strong>ARD</strong> die komplexen Möglichkeiten des Mediums<br />
Fernsehen auf das Beste und <strong>im</strong> öffentlichrechtlichen<br />
Sinn ausgeschöpft. Der große Publikumserfolg<br />
der prominent besetzten und hoch<br />
emotionalen Filme wurde genutzt, um in den<br />
verschiedensten nonfiktionalen Sendungen und<br />
Genres daran anzuknüpfen.<br />
Hinzu kommen für alle erwähnten so genannten<br />
»Event-Filme« zahlreiche Preise und<br />
Fernsehfilm <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 119
120<br />
Auszeichnungen in allen Kategorien – Qualität<br />
und Quote, so sahen es auch die Kritiker und<br />
die Jurys aller wichtigen Fernsehfestivals und<br />
Fernsehpreise, müssen keineswegs ein Widerspruch<br />
sein.<br />
_ Grundversorgung durch Vielfalt<br />
Dabei ist der Fernsehfilm der <strong>ARD</strong> nicht auf<br />
best<strong>im</strong>mte Genres festgelegt (Ausnahme sind<br />
die »Ermittler-Kr<strong>im</strong>is« à la »Tatort«, die dem<br />
Sonntag vorbehalten sind). Neben aufwändigen<br />
historischen Mehrteilern und sozialkritischen<br />
und zeitgeschichtlichen Dramen gehören Familienfilme,<br />
Komödien, Thriller und Psychothriller<br />
der anspruchsvolleren Art zur Vielfalt<br />
der <strong>ARD</strong>. Erwartbar ist <strong>im</strong>mer das Besondere,<br />
die herausragende Machart, die erstklassige Besetzung.<br />
Die verschiedenen »Senderfarben« der<br />
regionalen <strong>ARD</strong>-Anstalten tragen bei zu einem<br />
Kaleidoskop, in dem der Zuschauer mit Sicherheit<br />
überraschendes Fernsehen, gute Filme und<br />
Unterhaltung auf höchstem Niveau findet. Jenseits<br />
einer »Quoten«-Erwartung auf dem Mittwochs-Sendeplatz<br />
ist dennoch die Ambition da,<br />
so viele Zuschauer wie möglich auch für ästhetisch<br />
und erzählerisch unkonventionelle Filme<br />
zu interessieren. Dabei ist erfreulich, dass jüngere<br />
Zuschauer die breite Mischung schätzen.<br />
So wurden zahlreiche Fernsehfilme der <strong>ARD</strong><br />
auf dem FilmMittwoch für wichtig und preis-<br />
würdig erachtet und werden als das allwöchentliche<br />
Filmangebot und damit als die öffentlichrechtliche<br />
»Grundversorgung« des Publikums<br />
mit emotionalen, erholsamen, erschütternden,<br />
spannenden und komischen Filmen auch von<br />
den Redaktionen weiterhin wichtig genommen:<br />
Ergänzend zum Themenschwerpunkt rund um<br />
den 3. Oktober 2007 zeigte Das Erste »He<strong>im</strong>weh<br />
nach drüben« (MDR) mit Wolfgang Stumph<br />
unter der Regie von Hajo Gies, ein eher heiterer<br />
Film, der das Leben vor 1989 mit einem<br />
Augenzwinkern betrachtete. »Guten Morgen,<br />
Herr Grothe« (WDR, Regie: Lars Kraume) gewann<br />
alle wichtigen deutschen Fernsehpreise<br />
von Baden-Baden bis Marl, »Rose« (BR, Regie:<br />
Alain Gsponer) wurde als bester Fernsehfilm<br />
mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet.<br />
Dieter Pfaff konnte weiterhin als Psychotherapeut<br />
»Bloch« (WDR/SWR) überzeugen.<br />
Einen der ersten Fernsehpreise des Jahres 2008,<br />
den Bayerischen Fernsehpreis, bekam Hermine<br />
Huntgeburth für ihren Zweiteiler »Teufelsbraten«<br />
(WDR/NDR/Degeto/ARTE), die Verfilmung<br />
von Ulla Hahns Roman »Das verborgene<br />
Wort«. Manfred Stelzer inszenierte das Drama<br />
»Meine fremde Tochter« (WDR/ARTE) mit<br />
Götz George in der Hauptrolle des Vaters, der<br />
sich in einem leidvollen Prozess der Selbsterkenntnis<br />
auf Spurensuche begibt, um den<br />
Tod seiner Tochter aufzuklären. Götz George<br />
kann in seinem 70. Lebensjahr ebenfalls in der<br />
modernisierten Neuverfilmung des George-S<strong>im</strong>enon-Romans<br />
»Die Katze« begeistern (NDR,<br />
Regie: Kaspar Heidelbach).<br />
Seit acht Jahren zeigt Das Erste nun schon<br />
ausgewählte Debütfilme seiner Landesrundfunkanstalten<br />
in der Reihe »Debüt <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong>«.<br />
Der letztjährige Gewinner des Deutschen Fernsehpreises<br />
– »Rose« (BR) von Alain Gsponer –<br />
»Rose« (Corinna Harfouch) und ihr Freund<br />
Bernd (Torben Liebrecht)<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08
ist vielleicht das beste Beispiel für die Ziele,<br />
die sich Das Erste <strong>im</strong> Jahr 2001 bei der Einführung<br />
der Reihe gesetzt hat: Vielfältig sollten<br />
die Filme sein, die Erstlingsregisseure und ihre<br />
Filme bekannter werden. Den Debütanten<br />
sollte eine breitere Plattform gegeben werden,<br />
und sie sollten die Chance bekommen, einen<br />
Sendeplatz <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong> zu erhalten und darauf<br />
aufbauen zu können. Diese Ziele sind <strong>im</strong> Fall<br />
von »Rose« sogar in mehrfacher Hinsicht erreicht,<br />
denn Alain Gsponer kann nicht nur mit<br />
»Das wahre Leben« schon seinen zweiten Film<br />
nach einer erfolgreichen Kinoauswertung in<br />
»Debüt <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong>« zeigen, sondern hat inzwischen<br />
auch einen »Polizeiruf 110« gedreht und<br />
arbeitet an seinem nächsten Kinofilm.<br />
Weitere Regisseure, die nach einem Debüt<br />
<strong>im</strong> <strong>Ersten</strong> erfolgreich weitergearbeitet haben,<br />
sind u. a. Hans Weingartner, dessen Film »Die<br />
fetten Jahre sind vorbei« (SWR) in Cannes für<br />
Aufsehen sorgte und dieses Jahr in »Debüt <strong>im</strong><br />
<strong>Ersten</strong>« zu sehen sein wird, Züli Aladag, der mit<br />
seinem Fernsehfilm »Wut« (WDR) zahlreiche<br />
Preise gewinnen konnte, oder Sylke Enders,<br />
deren neuester Kinofilm »Mondkalb« (WDR/<br />
RBB) gerade be<strong>im</strong> Festival des deutschen Films<br />
in Mannhe<strong>im</strong> eine besondere Auszeichnung<br />
der Jury erhielt.<br />
Und auch dieses Jahr war für die Filme<br />
der Reihe »Debüt <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong>« bereits erfolgreich.<br />
So wurde z. B. die WDR-Koproduktion<br />
»Mein Freund aus Faro« be<strong>im</strong> Filmfestival Max<br />
Ophüls Preis mit dem SR/ZDF-Drehbuchpreis<br />
ausgezeichnet, »Novemberkind« (SWR) gewann<br />
dort den Publikumspreis und Alice Dwyer<br />
wurde für ihre Rolle in »Höhere Gewalt« (HR)<br />
mit dem Darstellerpreis ausgezeichnet. Auf der<br />
diesjährigen Berlinale reüssierte <strong>im</strong> Internationalen<br />
Forum des Jungen Films der Beitrag<br />
»Nacht vor Augen« (SWR) sowie in der Reihe<br />
»Perspektiven Deutsches Kino« »Die Besucherin«<br />
(WDR).<br />
_ Die kommenden Highlights<br />
Auch auf die kommenden Kino- und Fernseh-<br />
filme darf man gespannt sein: Im Weihnachts-<br />
programm 2008 wird »Liesl Karlstadt und Karl<br />
Valentin« (BR) zu sehen sein, Regie: Jo Baier,<br />
mit Hannah Herzsprung in der Hauptrolle. Der<br />
Film erzählt die Geschichte des Komikerpaares,<br />
die geprägt war von Eifersucht, Tränen, Erfolgen,<br />
Nervenzusammenbrüchen und von einer<br />
Liebe, die über den Tod hinaus bleibt. Vom<br />
NDR kommt »Es liegt mir auf der Zunge«, ein<br />
dokumentarisches Drama über den Aufstieg<br />
und Fall des Fernsehkochs Clemens Wilmenrod,<br />
gespielt von Jan Josef Liefers.<br />
Einen großen Film zum 20. Jubiläum des<br />
Mauerfalls 2009 dreht Friedemann Fromm mit<br />
Katja Flint, Edgar Selge, Herbert Knaup und<br />
Ulrike Krumbiegel noch in diesem Jahr (WDR/<br />
MDR), Teile der Autobiografie von Marcel<br />
Reich-Ranicki (Foto links, l.) wird Dror Zahavi –<br />
mit Mathias Schweighöfer (r.) in der Rolle des<br />
jungen Marcel – verfilmen, nach dem Drehbuch<br />
von Michael Gutmann.<br />
»Romy Schneider« (SWR/WDR/ORF, Regie:<br />
Torsten C. Fischer), »Mogadischu« (Degeto/SWR/BR),<br />
»Glanz und Gloria« von Dieter<br />
Wedel (Degeto/WDR), die achtteilige Serie »Im<br />
Angesicht des Verbrechens« von Rolf Basedow<br />
und Dominik Graf für den späteren Freitagabend<br />
(WDR/Degeto/SWR/BR/NDR), der<br />
Kinofilm »Du bist nicht allein« (RBB/WDR)<br />
von Bernd Böhlich kommen ins Fernsehen. Die<br />
neuen Kinofilme von Mathias Glasner, Hans<br />
Christian Schmid und vielen anderen werden<br />
gemeinsam mit <strong>ARD</strong>-Sendern produziert.<br />
Es ist der Anspruch des Fernsehfilms am<br />
Mittwoch in der <strong>ARD</strong>, Woche für Woche ein<br />
hochwertiges Repertoireprogramm zusammenzustellen,<br />
das Bestand hat jenseits der Tagesaktualität,<br />
dessen Ideenreichtum sich nicht erschöpft<br />
<strong>im</strong> Kopieren von Plots amerikanischer<br />
Kinoerfolge, das renommierten wie aufstrebenden<br />
Filmkünstlern ein Forum bietet, ihre<br />
Geschichten zu erzählen.<br />
Verena Kulenkampff, WDR, Fernsehdirektorin,<br />
<strong>ARD</strong>-Koordinatorin Fernsehfilme<br />
Fernsehfilm <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 121
122<br />
»Männer und Frauen sind<br />
gleichberechtigt«<br />
Quote, Qualität und Gleichstellung in der <strong>ARD</strong><br />
Von Barbara Lessel-Waschbüsch<br />
Im Sommer 2008 erinnerten zahlreiche Medien an<br />
»50 Jahre Gleichberechtigung«. Der Anlass: Am 1. 7. 1958<br />
war das »Gleichberechtigungsgesetz« in Kraft getreten,<br />
welches das damals geltende Ehe- und Familienrecht<br />
an den <strong>im</strong> Grundgesetz Artikel 3 Absatz 2 postulierten<br />
Gleichheitsgrundsatz anglich. Einer von vielen Schritten<br />
in Richtung Gleichstellung. Die neue Frauenbewegung<br />
gab der Entwicklung in den 70er und 80er Jahren ent-<br />
scheidenden Schub. Auch in der Medienbranche wurde<br />
heftig diskutiert, wie und wo Frauen in den Sendern<br />
und <strong>im</strong> Programm vertreten sind – zunächst mit ernüch-<br />
ternder Bilanz. 1978 fand das erste Treffen der Medien-<br />
frauen von <strong>ARD</strong> und ZDF statt; 1989 wurde die erste<br />
Gleichstellungsbeauftragte etabliert – be<strong>im</strong> WDR. Bis<br />
1998 folgten die anderen Sender. Eine (Zwischen-)Bilanz<br />
zum Thema Frauenförderung in der <strong>ARD</strong>.<br />
Foto oben: Podiumsdiskussion<br />
be<strong>im</strong> Herbsttreffen 2006<br />
H<br />
art aber fair: 50 Jahre Gleichberechtigung<br />
– wann kommt der Männerbeauftragte?«,<br />
fragt Frank Plasberg<br />
am 11. 6. 2008 zur besten Sendezeit.<br />
Die Gesprächsrunde geschlechterparitätisch fast<br />
ausgewogen: drei Männer und zwei Frauen.<br />
Und am Ende der Sendung wird dann zu Caren<br />
Miosga geschaltet, die die »Tagesthemen« moderiert.<br />
Frauen vor der Kamera, am Mikrofon und<br />
als Gesprächspartnerinnen: heute eine Selbstverständlichkeit.<br />
Auch <strong>im</strong> renommierten<br />
»Presseclub«. Schon 1995 fragte der damalige<br />
WDR-Intendant Fritz Pleitgen: »Mit Power<br />
zur Gleichheit?«, und diskutierte die Ergebnisse<br />
der 4. Weltfrauenkonferenz in Peking mit<br />
fünf Fachjournalistinnen. Die Medienfrauen<br />
von <strong>ARD</strong> und ZDF brachte seine Moderation<br />
allerdings auf: Für »seine Dienste um den väterlichen<br />
Journalismus« verliehen sie ihm auf<br />
ihrem jährlichen Herbsttreffen die »Saure<br />
Gurke« für diskr<strong>im</strong>inierende Berichterstattung.<br />
Insgesamt hatte sich 1995 be<strong>im</strong> Mühen um<br />
berufliche Gleichstellung schon einiges getan:<br />
bei der Zahl der Frauen in den Unternehmen,<br />
der Präsenz von Frauen <strong>im</strong> Programm und auch<br />
bei der innerbetrieblichen Auseinandersetzung<br />
mit dem Thema Frauenförderung.<br />
_ Die Anfänge<br />
20 Jahre zuvor hatte die Studie des Münsteraner<br />
Medienwissenschaftlers Erich Küchenhoff über<br />
»Die Darstellung der Frau und die Behandlung<br />
der Frauenfrage <strong>im</strong> Fernsehen« das Programmangebot<br />
von <strong>ARD</strong> und ZDF analysiert und<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08
estätigt, was Kritikerinnen längst beklagten:<br />
Frauen waren <strong>im</strong> deutschen Fernsehen erheblich<br />
unterrepräsentiert, die gezeigten Frauenrollen<br />
überwiegend unpolitisch, die Behandlung<br />
von Frauenfragen wurde vernachlässigt. Über<br />
Politik, Wirtschaft und Sport berichteten ganz<br />
selbstverständlich und vor allem Männer. Die<br />
Küchenhoff-Studie zog damals folgendes Fazit:<br />
»Das Muster, Männer handeln, Frauen kommen<br />
vor, wird durch das Fernsehen entscheidend<br />
zementiert. Der aufklärerische Anspruch<br />
der öffentlich-rechtlichen Sender bleibt <strong>im</strong><br />
Hinblick auf die Frauen eine leere Formel.« Ein<br />
Missstand, der sich ähnlich auch intern <strong>im</strong> Arbeitsalltag<br />
der Frauen in den Sendern spiegelte.<br />
Auch wenige Jahre später waren be<strong>im</strong> WDR<br />
nur rund 15 Prozent aller Redaktionspositionen<br />
mit Frauen besetzt. Und nur fünf Prozent der<br />
WDR-Frauen befanden sich <strong>im</strong> oberen Drittel<br />
der Einkommenshierarchie, wohl aber 24 Prozent<br />
der Männer.<br />
Leitbild Hausfrau und Mutter: Die Frauen<br />
in der erfolgreichen HR-Serie »Familie Hesselbach«<br />
(Szenenfoto aus Folge 37)<br />
Die gesamtgesellschaftliche Realität zu dieser<br />
Zeit? Die Gleichberechtigung von Männern<br />
und Frauen war seit zweieinhalb Jahrzehnten<br />
<strong>im</strong> Grundgesetz festgeschrieben. Die Bildungschancen<br />
für Mädchen und Frauen hatten sich<br />
seit den 60er Jahren deutlich verbessert. Das<br />
Ehereformgesetz hielt allerdings erst 1977 verbindlich<br />
fest, dass »beide Ehegatten berechtigt<br />
sind, erwerbstätig zu sein«. Die politisch enttäuschten<br />
und unzufriedenen Frauen hatten<br />
sich die Emanzipation auf die Fahnen geschrieben<br />
und sorgten mit ihren Forderungen nach<br />
einem selbstbest<strong>im</strong>mten und erfüllenden<br />
Berufs- und Privatleben für gesellschaftlichen<br />
Sprengstoff.<br />
_ Quote und Qualität<br />
Die Frauen <strong>im</strong> öffentlich-rechtlichen Rundfunk<br />
wollten nicht länger »in der zweiten Reihe« sitzen.<br />
Ihre Themen für die kommenden Jahre:<br />
eine verbindliche Frauenquote in den Sendern,<br />
bessere Ein- und Aufstiegschancen, gerechte<br />
Entlohnung, qualifizierte berufliche Fort- und<br />
Weiterbildung, die Chance auf Teilzeitarbeit,<br />
das »Babyjahr« und flexiblere Arbeitszeiten.<br />
Familie und Beruf sollten einander nicht mehr<br />
ausschließen, sondern endlich vereinbar werden.<br />
Die Forderungen richteten sich aber nicht<br />
nur auf die Veränderung der innerbetrieblichen<br />
Wirklichkeit. Die Küchenhoff-Studie hatte<br />
ja wissenschaftlich belegt, was die Frauen <strong>im</strong><br />
und am Rundfunk kritisierten, und die verantwortlichen<br />
Männer konnten diese Mängel nun<br />
nicht mehr so einfach wegdiskutieren. Den<br />
Kämpferinnen für die Gleichstellung ging es<br />
auch um die Inhalte und die gesellschaftlichen<br />
Auswirkungen der journalistischen Arbeit. Sie<br />
drängten entschlossen auf die Veränderung der<br />
üblichen Standards und Formen: Die reine<br />
Männersicht und die typischen Männerfragen<br />
nach nur scheinbar objektiven und aussagekräftigen<br />
Fakten und Zahlen ohne Blick auf die<br />
Lebenswirklichkeit sollten verschwinden. Ziele<br />
waren ferner, in Gesprächsrunden kompetente<br />
Expertinnen zu Wort kommen zu lassen und<br />
Schluss zu machen mit der ständigen Wiederholung<br />
der bekannten Klischees von aktiven<br />
Entscheidern und passiven Familien-Frauen.<br />
Gesucht wurde eine präzise und differenzierte<br />
Geschlechtersicht. Frauen wollten auch als<br />
Kommentatorinnen, Moderatorinnen und Autorinnen<br />
präsent und meinungsprägend werden.<br />
Frauenförderung <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 123
Mitte der 90er Jahre wurde für diesen Denkansatz,<br />
der anerkennt, dass es keine geschlechtsneutrale<br />
Wirklichkeit gibt und Männer und<br />
Frauen in sehr unterschiedlicher Weise von politischen<br />
und administrativen Entscheidungen<br />
betroffen sein können, der Begriff »Gender<br />
Mainstreaming« geprägt. Die EU machte dazu<br />
Vorgaben, Bund und Länder zogen nach.<br />
Bald wurde auch in der <strong>ARD</strong> »gegendert«. Die<br />
Frauenbeauftragten gaben Impulse in die journalistische<br />
Arbeit und die Ausbildung. Ihre<br />
Erkenntnis: Geschlechtersensibilität ist ein<br />
wesentliches Kriterium für guten Journalismus.<br />
Geschlechtergerechte Sprache übrigens auch!<br />
Viele hausinterne Texte und Formulare wurden<br />
daraufhin überarbeitet, Moderationstexte ebenfalls!<br />
_ Vorreiterinnen mit Beharrungsvermögen<br />
Frauen in der <strong>ARD</strong>: Vor rund 30 Jahren hieß<br />
das rund ein Drittel weibliche Beschäftigte, von<br />
denen wiederum etwa 80 Prozent <strong>im</strong> unteren<br />
Gehaltsgefüge angesiedelt waren. Ganz anders<br />
die Situation der Männer. Rund 80 Prozent<br />
von ihnen wurden in der oberen Hälfte der<br />
Vergütungsgruppen bezahlt. Der Einstieg ins<br />
Unternehmen bot Männern in der Regel kontinuierliche<br />
Aufstiegschancen. Kein Sender in der<br />
<strong>ARD</strong> wurde von einer Frau geführt. Nur be<strong>im</strong><br />
SDR gab es 1978 eine Frau in der Geschäftsleitung,<br />
und zwar als Justiziarin.<br />
Heute schwankt der Frauenanteil in den<br />
einzelnen Häusern zwischen 44 und 55,2 Prozent.<br />
Die Einkommenssituation hat sich für die<br />
Frauen deutlich verbessert. Sie sind <strong>im</strong> Mittelbau<br />
der Gehaltshierarchie angekommen. Frauen<br />
sind Direktorinnen, Chefredakteurinnen,<br />
Auslandskorrespondentinnen; sie berichten<br />
von der Front und von der Fußball-Europameisterschaft,<br />
sind als Kamera- und Tonfrauen<br />
tätig und prägen die Verwaltungen. Dagmar<br />
Re<strong>im</strong> ist Intendantin be<strong>im</strong> RBB, und Monika<br />
Piel steht an der Spitze des WDR. Der Blick<br />
auf die Geschäftsleitungsebenen der einzelnen<br />
Rundfunkanstalten ergibt ein differenziertes<br />
Bild: Bei BR, HR und SR ist hier keine einzige<br />
Frau zu finden. Be<strong>im</strong> RBB gibt es <strong>im</strong>merhin<br />
zwei Frauen gegenüber vier Männern, be<strong>im</strong><br />
NDR zwei Frauen gegenüber sieben Männern.<br />
Be<strong>im</strong> SWR schließlich steht eine Direktorin<br />
neben sieben Männern, während be<strong>im</strong> MDR<br />
vier Frauen fünf Männern gegenüberstehen und<br />
be<strong>im</strong> WDR die Geschäftsleitung je zur Hälfte<br />
mit Frauen und Männern besetzt ist.<br />
Inge von Bönninghausen (l.) und Ute Remus<br />
Der Weg dahin war ein mühsamer Gang<br />
durch die Institution öffentlich-rechtlicher<br />
Rundfunk. Motor waren der Veränderungswille<br />
der Frauen, die gesamtgesellschaftlichen Prozesse<br />
und gesetzliche Vorgaben. Jeder Sender<br />
entwickelte sein eigenes Tempo be<strong>im</strong> Willen,<br />
sich zu verändern und Frauen zu fordern und<br />
zu fördern. An der Spitze: der WDR. Eine<br />
aktive Frauengruppe gab den Anstoß zum<br />
Handeln und kämpfte <strong>im</strong> Unternehmen für<br />
Chancengleichheit <strong>im</strong> Innern und für die angemessene<br />
Umsetzung des Themas <strong>im</strong> Programm.<br />
Inge von Bönninghausen, langjährige Redaktionsleiterin<br />
und Moderatorin von »Frauen-<br />
Fragen«, später »frauTV«, und Ute Remus,<br />
frühere Redaktionsleiterin des Hörfunk-Frauenmagazins<br />
»abwasch«, gehören zu den Frauen,<br />
die für diesen Aufbruch stehen. Ihr Blick ist<br />
nicht nur auf den WDR oder die <strong>ARD</strong> gerichtet:<br />
Sie erkennen, dass die »Frauenfrage in den<br />
Medien« auch eine relevante Frage für und in<br />
Europa ist, und vernetzen sich <strong>im</strong> Europäischen<br />
Steering Committee zur Chancengleichheit in<br />
den Medien. Von dort fließen später wichtige<br />
Anregungen aus den skandinavischen Rundfunkanstalten<br />
und der BBC in den deutschen<br />
Medienalltag ein.<br />
Auch be<strong>im</strong> HR sind die Frauen sehr aktiv<br />
und werden vom Personalrat unterstützt. 1984<br />
wird be<strong>im</strong> HR eine erste Dienstvereinbarung<br />
zur Frauenförderung geschlossen. Grundlage<br />
dafür war das hessische Personalvertretungsgesetz.<br />
Der Deutschlandfunk denkt schon seit<br />
Mitte der 70er Jahre um. Hier macht man das<br />
Thema zunächst an der beruflichen Fort- und<br />
Weiterbildung fest. Marlies Hesse, die später<br />
124 Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08<br />
124
den Journalistinnenbund mit gründet, setzt als<br />
persönliche Referentin mit dem Intendanten<br />
Richard Becker die Impulse.<br />
Ab Ende der 70er Jahre heißt das »Zauberwort«<br />
der Gleichstellungsarbeit »Frauenförderpläne«.<br />
Die Medienfrauen diskutieren lebhaft<br />
auf ihren Herbsttreffen, was darin festgehalten<br />
werden soll: die statistische Analyse der Situation<br />
der Frauen <strong>im</strong> Unternehmen, Frauen-Quoten<br />
für die Unternehmensbereiche mit Unterrepräsentanz,<br />
die Quote für Besetzungsverfahren<br />
und für die Ausbildung, die Regelung von<br />
Teilzeitbeschäftigung. Das Thema »Teilzeit in<br />
Führungspositionen« erweist sich für viele Jahre<br />
als besonders harter Brocken. Führungskräfte<br />
sollten eigentlich rund um die Uhr, zumindest<br />
aber während der gesamten Arbeitszeit verfügbar<br />
sein, lautet der Anspruch. Dieser Männermythos<br />
scheint viele Jahre unveränderlich – wo<br />
Frauen die Chance erhalten, sich Arbeit und<br />
Führung teilen, wird das zunächst kritisch-staunend<br />
zur Kenntnis genommen. Dass Frauen anders<br />
als Männer oft keine durchgängige Berufsbiografie<br />
haben, Kinder erziehen und Kranke<br />
pflegen, benachteiligt sie <strong>im</strong> beruflichen Alltag<br />
und in der Folge bei der Rente. Auch das ist ein<br />
Gleichstellungsthema. Es muss sorgfältig informiert<br />
und beraten werden, am besten in Zusammenarbeit<br />
mit dem Personalmanagement.<br />
_ Deutsch-deutsche Wirklichkeiten<br />
Die deutsche Einheit verändert die Medienlandschaft.<br />
Die Sender der DDR werden aufgelöst.<br />
1992 werden ORB und MDR gegründet.<br />
Die Medienfrauen erleben den Fall der<br />
Mauer während ihres Herbsttreffens <strong>im</strong> November<br />
1989 bei den Berliner Sendern SFB<br />
und RIAS hautnah mit und müssen danach<br />
gelegentlich mühsam begreifen, dass für die<br />
Kolleginnen <strong>im</strong> Osten die Frauenfrage und<br />
Gleichstellung längst abgehakt scheinen. Die<br />
Berufstätigkeit der Frauen war in der DDR<br />
gesellschaftspolitisch verankert und selbstverständlich.<br />
So spricht man oft nicht die gleiche<br />
Sprache. Be<strong>im</strong> ORB gehören eine Dienstanweisung<br />
zur Gleichstellung und die Berufung einer<br />
Beauftragten zu den ersten Amtshandlungen<br />
des Intendanten Hansjürgen Rosenbauer. Innerhalb<br />
von 18 Monaten steigt der Frauenanteil<br />
Barbara Dickmann, eine der ersten<br />
»Tagesthemen«-Frauen, bis Sommer 2008<br />
Redaktionsleiterin von »ML Mona Lisa«<br />
<strong>im</strong> ZDF<br />
von 40 auf 50 Prozent. Der MDR verordnet<br />
sich schon bei der Gründung eine »Dienstvereinbarung<br />
zur Förderung der beruflichen<br />
Gleichstellung«. Wo weniger Männer als Frauen<br />
arbeiten, heißt der MDR in Ausschreibungen<br />
Männer »besonders willkommen«.<br />
1989, <strong>im</strong> Jahr der Wende, wird Rita Z<strong>im</strong>mermann<br />
die erste hauptamtliche Gleichstellungsbeauftragte<br />
des WDR und der <strong>ARD</strong>. Auch die<br />
Besetzung von Führungspositionen fällt in ihren<br />
Zuständigkeitsbereich. Auch das ist möglich,<br />
denken da Frauen erstaunt in den Sendern, in<br />
denen die Entwicklung langsamer vorangeht.<br />
Die Beteiligung an Einstellungs- und Besetzungsverfahren<br />
ist der Schlüssel zur Verbesserung<br />
der Frauenquote. Als Gleichstellungsgesetze<br />
oder Dienstvereinbarung den Frauen- und<br />
Gleichstellungsbeauftragten das Recht einräumen,<br />
von Anfang an an Besetzungsverfahren<br />
Die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten<br />
von <strong>ARD</strong> und ZDF tagten am 29./30. 4. 2008<br />
be<strong>im</strong> SR in Saarbrücken. SR-Intendant Fritz Raff<br />
(M.) war be<strong>im</strong> Fototermin dabei.<br />
Frauenförderung <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 125
126<br />
mitzuwirken, gewinnt die Personal- und Einstellungspolitik<br />
zunehmend an Transparenz und<br />
Nachvollziehbarkeit.<br />
_ Neue Maßstäbe, bessere Personalentscheidungen<br />
Es wird heftig darum gerungen, wie viele<br />
Frauen überhaupt zu Vorstellungsgesprächen<br />
eingeladen werden (müssen). In Bereichen, in<br />
denen eine Frauenquote für Einstellungen festgelegt<br />
ist, müssen Stellenprofile eindeutig definiert<br />
und die daran geknüpften Anforderungen<br />
<strong>im</strong> Gespräch nachvollziehbar abgeklopft werden.<br />
Entscheidungen zugunsten von Männern<br />
müssen nun qualifiziert begründet werden. Das<br />
Verfahren ist aufwändig und zwingt die Perso-<br />
nalverantwortlichen, gut vorbereitet in die Besetzungsverfahren<br />
zu gehen. So gewinnen Auswahlverfahren<br />
und die Personalentscheidungen<br />
insgesamt auf Dauer an Güte, ein nicht zu unterschätzendes<br />
Plus für alle Sender.<br />
_ Gemeinsam stärker sein – Netzwerkarbeit<br />
Die Institutionalisierung erleichtert auch den offiziellen<br />
Kontakt unter den engagierten Frauen.<br />
1992 lädt der WDR zum »<strong>Ersten</strong> Treffen der mit<br />
der beruflichen Gleichstellung der Frauen in<br />
<strong>ARD</strong> und ZDF befassten Frauen« nach Köln<br />
ein. Gewerkschaftlich aktive Personalrätinnen<br />
und Sprecherinnen der Frauengruppen nutzen<br />
die Möglichkeit zum Erfahrungsaustausch.<br />
Die <strong>ARD</strong>/ZDF-Gleichstellungskonferenz wird<br />
zur festen Einrichtung. Inzwischen finden die<br />
Treffen regelmäßig zwe<strong>im</strong>al <strong>im</strong> Jahr statt. Auf<br />
der Tagesordnung stehen die jeweils aktuellen<br />
Entwicklungen und die Frage, wie man von den<br />
Erfahrungen in den anderen Häusern profitieren<br />
kann. Wichtige Stichworte dazu: die Neuen<br />
Medien, Digitalisierung in Hörfunk und Fernsehen,<br />
das Entstehen neuer Berufsbilder, Chancen<br />
und Risiken von Teilzeitarbeit, Telearbeit,<br />
die Fortbildung von Frauen, und zwar auch in<br />
der Elternzeit, Frauenförderung durch Mentoringprojekte<br />
und Führungskräfte-Schulungen,<br />
die kritische Begleitung entscheidender Veränderungen<br />
und Entwicklungen <strong>im</strong> Programm.<br />
Zurück zu der Institutionalisierung der<br />
Frauenbeauftragten: Ingrid Schindler, die erste<br />
Frauenbeauftragte des SFB, wird nach einer<br />
Wahlanfechtung zunächst vom Intendanten<br />
Günther von Lojewski des Amtes enthoben.<br />
Mithilfe des Verwaltungsgerichts erreicht sie<br />
ihre Wiedereinsetzung. Solch ein heftiges Ringen<br />
ums Amt bleibt allerdings die Ausnahme.<br />
Nach und nach erhalten alle Sender Frauenbeauftragte:<br />
1990 ist es bei Radio Bremen so<br />
weit, 1992 bestellt der neu gegründete ORB eine<br />
Frauenbeauftragte; der NDR erlässt in diesem<br />
Jahr eine Dienstvereinbarung zur beruflichen<br />
Gleichstellung von Frauen und Männern. Die<br />
erste hauptamtliche Gleichstellungsbeauftragte<br />
ist dem Intendanten in einer Stabsstelle der<br />
Unternehmensleitung unterstellt, <strong>im</strong> Jahr darauf<br />
erhält das Landesfunkhaus Hannover eine<br />
eigene Beauftragte. Die DW betreibt von 1995<br />
an Gleichstellungsarbeit nach den Regelungen<br />
des Frauenfördergesetzes des Bundes.<br />
Dienstvereinbarungen, Frauenförderpläne,<br />
Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte gewählt<br />
oder ins Amt berufen: 1998 ist der Prozess abgeschlossen:<br />
Schlusslichter sind der SR und der BR.<br />
Be<strong>im</strong> SR dürfen nach dem Landesgleichstellungsgesetz<br />
auch die festen freien Frauen die<br />
Beauftragte wählen, das ist sonst nur noch bei<br />
Radio Bremen möglich. Mehr noch: Im ersten<br />
Frauenförderplan übern<strong>im</strong>mt die Geschäftsleitung<br />
die Anregung der Frauenbeauftragten, und<br />
die festen freien Frauen können sich künftig<br />
auf alle Regelungen <strong>im</strong> SR-Frauenförderplan<br />
berufen.<br />
Als SDR und SWF 1998 zum SWR fusionieren,<br />
wird auch ein neuer Frauenförderplan<br />
fällig. In Baden-Baden, Stuttgart und Mainz<br />
gibt es danach Gleichstellungsbeauftragte, die<br />
jeweils zu 50 Prozent freigestellt sind.<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08
_ Frauenförderung: Das Erreichte bewahren<br />
und sich neuen Erfordernissen stellen<br />
Eine wichtige Etappe ist damit kurz vor der<br />
Jahrhundertwende erreicht. Grund zur Zufriedenheit?<br />
Mündet die Geschichte der<br />
Gleichstellungsbeauftragten mit nun verbrieften<br />
Rechten und Pflichten endgültig in eine<br />
Erfolgsgeschichte für die Gleichstellung <strong>im</strong><br />
öffentlich-rechtlichen Rundfunk? Doch neue<br />
Probleme tauchen auf. Die Wachstumsjahre<br />
gehen zu Ende: Der <strong>ARD</strong>-Finanzausgleich in<br />
seiner bisherigen Form fällt. Die Sender stehen<br />
<strong>im</strong> Wettbewerb mit privaten Anbietern, <strong>im</strong>mer<br />
lauter wird die Akzeptanzfrage bei der Rundfunkgebühr<br />
gestellt. Sparen ist angesagt. Die<br />
Keine Angst vor Technik: Schülerinnen be<strong>im</strong><br />
Girls’ Day, links: be<strong>im</strong> RBB-Jugendprogramm<br />
Fritz, rechts: be<strong>im</strong> SR hinter der Kamera<br />
Sender verringern ihr Personal, schicken die<br />
Beschäftigten in Altersteilzeit und in den Vorruhestand.<br />
Das verbessert dort, wo mehr Männer<br />
als Frauen gehen, zunächst die Frauenquote.<br />
Allerdings zeigt sich schnell ein anderes Problem:<br />
Wer Personal abbaut, verzichtet zwangsläufig<br />
auf Neueinstellungen. Mehr Frauen in<br />
die Sender! Bei dieser Maßgabe ist das kaum<br />
noch zu realisieren. Es bleibt nur die interne<br />
Qualifizierung von Kolleginnen, doch die sind<br />
ja beispielsweise in best<strong>im</strong>mten technischen Bereichen<br />
bislang kaum vertreten.<br />
Allerdings: Gleichstellung ist kein Fremdwort<br />
mehr, Intendanten bekennen sich zu einer<br />
aktiven Förderpolitik. Gleichstellung wird als<br />
Ziel in Unternehmensleitlinien proklamiert.<br />
Trotzdem muss weiter gekämpft werden: Bei<br />
der Fusion von ORB und SFB fordern die<br />
Mitarbeiterinnen <strong>im</strong> Vorfeld der Zusammenlegung,<br />
keine Rückschritte bei dem Bemühen um<br />
Gleichstellung zuzulassen und <strong>im</strong> neuen Unternehmen<br />
»Gender Mainstreaming als Instrument<br />
für Geschlechtergerechtigkeit anzuwenden«.<br />
2003 schließlich ist die <strong>ARD</strong>-Intendantenrunde<br />
kein reiner Männerclub mehr. Dagmar<br />
Re<strong>im</strong> wird Gründungsintendantin des RBB, bevor<br />
Angela Merkel zwei Jahre später erste Bundeskanzlerin<br />
in Deutschland wird.<br />
Aus Sicht der Gleichstellungsbeauftragten<br />
war die Entscheidung für eine Intendantin längst<br />
überfällig. Das wurde auch in Briefen dokumentiert,<br />
die die <strong>ARD</strong>/ZDF-Gleichstellungskonferenz<br />
an die wahlberechtigten Gremien schrieb<br />
und sie aufforderte, sich um qualifizierte Kandidatinnen<br />
zu bemühen. Be<strong>im</strong> 23. Herbsttreffen<br />
<strong>im</strong> Jahr 2000 in Köln, bei dem Fritz Pleitgen<br />
sagte, die Zeit sei »überreif für eine Intendantin«,<br />
hatten übrigens die meisten Frauen gewettet,<br />
dass der WDR als Sieger aus dem Intendantinnenrennen<br />
hervorgehen würde.<br />
_ Und die Ergebnisse?<br />
Die <strong>ARD</strong> hat sich durch 30 Jahre Gleichstellungspolitik<br />
für Frauen und Männer spürbar verändert:<br />
Die Frauenquote ist insgesamt deutlich<br />
besser geworden. Die gläserne Decke bremst<br />
aber <strong>im</strong>mer noch den Weg nach ganz oben.<br />
Die Journalistinnen haben das Getto typischer<br />
Frauenressorts verlassen und prägen die unterschiedlichsten<br />
Sendeplätze. 2007 stehen auf der<br />
Kommentarliste der »Tagesthemen« 46 Männer<br />
und 14 Frauen. Das entspricht einer Frauenquote<br />
von 23,3 Prozent. Einmal <strong>im</strong> Jahr werden<br />
die Ergebnisse der Gleichstellungsarbeit den<br />
zuständigen Gremien präsentiert. Hier hören<br />
dann allerdings außer bei NDR, WDR und<br />
Radio Bremen <strong>im</strong>mer noch deutlich mehr Männer<br />
als Frauen zu.<br />
Frauenförderung <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 127
128<br />
Bundesfamilienministerin Ursula von der<br />
Leyen mit einigen Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten<br />
der <strong>ARD</strong><br />
Die Gleichstellungsarbeit ist als Querschnittsaufgabe<br />
etabliert, die Beauftragten sind<br />
anerkannte Gesprächspartnerinnen <strong>im</strong> Vorfeld<br />
relevanter Unternehmensentscheidungen.<br />
Be<strong>im</strong> journalistischen Nachwuchs punkten<br />
die Frauen <strong>im</strong>mer stärker. Kritisch wird es aber<br />
oft <strong>im</strong>mer noch, wenn Kinder ins Spiel kommen.<br />
Sie können nach wie vor zur Karrierebremse<br />
werden. Dass Frauen wie Männer besser<br />
arbeiten, wenn ihre Kinder gut betreut werden,<br />
haben inzwischen viele Sender erkannt und eigene<br />
(Notfall-)Angebote entwickelt bis hin zur<br />
sendereigenen Ferienbetreuung. Reduzierte und<br />
flexible Arbeitszeiten sind inzwischen gängige<br />
Modelle, und Unterstützung bei der Rückkehr<br />
aus der Erziehungszeit ist selbstverständlich.<br />
Auch in der Ausbildung gilt die Frauenquote.<br />
Die Gleichstellungsbeauftragten haben sich<br />
jahrelang in ihren Sendern und in der <strong>ARD</strong> für<br />
mehr Frauen in Technik und Produktion stark-<br />
gemacht und darauf reagiert, dass in Besetzungsverfahren<br />
oft qualifizierte Bewerberinnen<br />
fehlten. Sie knüpften u. a. Kontakte mit den<br />
Technischen Hochschulen. 2005 hat der NDR<br />
mit seiner Gleichstellungsbeauftragten Sabine<br />
Knor ein Projekt in Angriff genommen, das<br />
nun gemeinschaftlich in der gesamten <strong>ARD</strong><br />
betrieben wird. Unter der Überschrift »Frauen<br />
in die Technik – Für die Besten <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong>«<br />
präsentiert sich die <strong>ARD</strong> mit ihren familienfreundlichen<br />
Maßnahmen als attraktive Arbeitgeberin<br />
für Studentinnen aus den Bereichen<br />
Medientechnik, Medienbetriebstechnik, Infor-<br />
matik und Elektrotechnik. Über Praxissemester,<br />
Studien- und Abschlussarbeiten soll der erste,<br />
hoffentlich entscheidende Kontakt geknüpft<br />
werden. Auf dem Fachkongress WoMenPower<br />
2008 während der Hannover Messe warben die<br />
Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten von<br />
NDR, SWR, WDR und BR für diese Initiative.<br />
Die Bundesfamilienministerin Ursula von der<br />
Leyen war begeistert. Ein eigener Förderpreis<br />
»Frauen und Medientechnologie« von <strong>ARD</strong><br />
und ZDF soll das Projekt ab Herbst 2008 vervollständigen.<br />
Zielgerichtete Gleichstellungsarbeit bleibt<br />
also weiter eine Herausforderung für die<br />
Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten und<br />
die Verantwortlichen in den Funkhäusern. Die<br />
Unternehmenskultur wird maßgeblich von der<br />
Unternehmensführung geprägt. Der Konkurrenzkampf<br />
zwischen Männern und Frauen darf<br />
nicht zulasten der Frauen ausgehen, das weibliche<br />
Qualifikationspotenzial nicht ungenutzt<br />
bleiben. Berufstätigkeit muss flexibler gestaltet<br />
werden und auch an den Erfordernissen der<br />
Familie orientiert sein. Nicht nur zum Wohl<br />
der Frauen, sondern auch <strong>im</strong> Sinne eines wandlungsfähigen<br />
und erfolgreichen Medienunternehmens<br />
<strong>ARD</strong>.<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08<br />
Barbara Lessel-Waschbüsch, Frauenbeauftragte<br />
des SR und Leiterin der Programmgruppe Kirche,<br />
Religion und Gesellschaft Hörfunk /Fernsehen<br />
Dank an alle Beauftragten, besonders an Angelika<br />
Lipp-Krüll, SWR, und Ute Mies-Weber, DW, für Zahlen<br />
und Fakten.
In der Medienbranche zählt die <strong>ARD</strong> zu den größten<br />
Ausbildern in Deutschland. Die Qualität der journalis-<br />
tischen Aus- und Fortbildung in den Rundfunkanstalten<br />
ist unbestritten hoch; Volontariate und Praktika sind<br />
heiß begehrt.<br />
Das Spektrum der Berufe, in denen die <strong>ARD</strong>-Anstalten<br />
ausbilden, ist aber sehr viel breiter: Vom Koch über den<br />
Kaufmann für Bürokommunikation, vom Maler bis zum<br />
Mediengestalter, vom Feinmechaniker bis zum Film-<br />
und Videoeditor – insgesamt 20 Ausbildungsberufe<br />
nach dem Berufsbildungsgesetz (BBiG) stehen zur Wahl.<br />
Hinzu kommen Traineeprogramme und Praktika für<br />
Schüler und Studenten sowie Ausbildungsinitiativen für<br />
so genannte benachteiligte Jugendliche. Hier sieht sich<br />
die <strong>ARD</strong> in einer besonderen gesellschaftlichen Verant-<br />
wortung, denn nicht zuletzt die Gebühren der<br />
Allgemeinheit verpflichten zu einer verantwortungs-<br />
vollen Personalpolitik.<br />
Über den eigenen Bedarf hinaus<br />
Nachwuchsförderung und Ausbildung in der <strong>ARD</strong><br />
Von Helmut Reitze<br />
I<br />
n der Großküche der HR-Kantine herrscht<br />
routinierte Betriebsamkeit. Bis zu 1 300<br />
Essen werden hier jeden Tag ausgegeben.<br />
Die Vorbereitung für das Mittagessen beginnt<br />
bei dieser logistischen Herausforderung<br />
bereits früh am Morgen, während vorne <strong>im</strong><br />
Kantinenbereich das Frühstück für die HR-Mitarbeiter<br />
angeboten wird: Rührei, belegte Brötchen,<br />
süße Teilchen. »Business as usual« und<br />
doch liegt heute eine gewisse Aufregung in der<br />
Luft: Ist die Milch in der Kaffeemaschine aufgefüllt?<br />
Liegen die gekochten Eier in der Auslage?<br />
Ist die Kasse besetzt?<br />
An diesem Montagmorgen haben die Auszubildenden<br />
des Kasinos die Betriebsabläufe in<br />
der Hand. Eine ganze Woche lang werden sie<br />
dafür sorgen, dass in der Kantine, dem Restaurant<br />
und dem Café des HR alles reibungslos<br />
klappt. Die rund 30 angehenden Köche und<br />
Restaurantfachleute haben den Speiseplan zusammengestellt<br />
und eingekauft, nun werden sie<br />
die Gerichte kochen und verkaufen. »In dieser<br />
Woche zeigen unsere Auszubildenden, was sie<br />
bei uns gelernt haben, dass sie in der Lage sind,<br />
einen Betrieb <strong>im</strong> Gastgewerbe selbständig zu<br />
organisieren und zu führen. Diese jährlich stattfindende<br />
Woche ist ein besonderes Highlight in<br />
unserer Ausbildung«, erzählt Lutz Reigber, der<br />
Leiter des HR-Kasino-Betriebs.<br />
Von den Kunden, den HR-Mitarbeitern,<br />
würde die »Azubi-Woche« kaum jemand bemerken,<br />
wenn nicht die Auszubildenden mit einem<br />
gewissen Stolz auf Plakaten und Handzetteln<br />
darauf aufmerksam gemacht hätten, dass in<br />
<strong>ARD</strong> als Ausbilder <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 129
130<br />
Kai-Oliver Graf, Koch-Auszubildender<br />
be<strong>im</strong> HR, schmeckt den Fleisch-Fond ab.<br />
dieser Woche alles in ihrer Verantwortung liegt,<br />
denn an der Qualität des Essens und des Service<br />
hat sich nichts geändert.<br />
Unter den Auszubildenden <strong>im</strong> HR-Kasino<br />
sind junge Mitarbeiter, denen eine so selbständige<br />
Leistung vor zwei Jahren noch kaum<br />
jemand zugetraut hätte, denn sie verließen die<br />
Schule ohne Hauptschulabschluss. Die Chance,<br />
eine Lehrstelle zu finden, ist gerade für diese Jugendlichen<br />
sehr gering; der Weg in die Arbeitslosigkeit<br />
in vielen Fällen die direkte Folge. Um<br />
das zu verhindern, bemüht sich die Industrie-<br />
und Handelskammer (IHK) Frankfurt darum,<br />
besonders für diese Gruppe der Schulabgänger<br />
die zweijährigen Ausbildungsberufe wieder zu<br />
beleben. Eines der größten Unternehmen in<br />
Frankfurt, das sich an dieser Initiative beteiligt,<br />
ist der HR: Mit der zweijährigen Ausbildung<br />
zur »Fachkraft <strong>im</strong> Gastgewerbe« bietet er den<br />
Jugendlichen ohne Schulabschluss eine Perspektive:<br />
Wer sich in den zwei Jahren bewährt,<br />
erhält die Chance, ein drittes Lehrjahr anzuschließen,<br />
um sich dann als Koch oder Restaurantfachkraft<br />
ausbilden zu lassen. »Rund 80<br />
Prozent der Auszubildenden haben das dritte<br />
Lehrjahr gemacht«, zieht Lutz Reigber eine<br />
positive Bilanz, »denn nicht jeder, der in der<br />
Schule schwach war, muss auch in der Praxis<br />
schwach sein.«<br />
Rund sieben Prozent aller Frankfurter Schüler<br />
verlassen die Schule ohne einen Abschluss.<br />
Mehr als die Hälfte dieser Jugendlichen stammt<br />
aus Familien mit Migrationshintergrund. Sie<br />
in den Arbeitsmarkt zu integrieren, ist für die<br />
Stadt Frankfurt eine besondere Herausforderung:<br />
»Natürlich ist es unser erstes Ziel, dass<br />
alle Schüler die Schule mindestens mit einem<br />
Hauptschulabschluss verlassen«, erklärt Frankfurts<br />
Oberbürgermeisterin Petra Roth das Vorgehen<br />
der Stadt bei der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit,<br />
»<strong>im</strong> zweiten Schritt müssen wir<br />
uns darum bemühen, dass allen Jugendlichen<br />
in Frankfurt der Start ins Berufsleben gelingt.<br />
Das ist für die betroffenen jungen Menschen<br />
die entscheidende Weichenstellung für eine<br />
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Der HR<br />
ist hier ein wichtiger Partner für uns. Nicht nur<br />
weil er vielen jungen Menschen jedes Jahr eine<br />
berufliche Perspektive bietet, sondern auch weil<br />
er die Schüler bei der Berufsorientierung durch<br />
das Angebot von Schulpraktika unterstützt.«<br />
_ Schüler lernen mit der <strong>ARD</strong><br />
Insgesamt bietet die <strong>ARD</strong> jedes Jahr fast 2 000<br />
Schülern durch ein Praktikum einen ersten Einblick<br />
ins Berufsleben. Das leistet kein anderes<br />
Medienunternehmen in Deutschland. Der<br />
Aufwand bei den Schülerpraktika ist hoch, der<br />
Nutzen für die Unternehmen jedoch schwer<br />
zu kalkulieren. Daher scheuen viele Unternehmen<br />
davor zurück, Schüler für zwei bis drei<br />
Wochen aufzunehmen. Für Schüler und Lehrer<br />
ist es daher nicht <strong>im</strong>mer leicht, ausreichend<br />
Praktikumsplätze zu finden. Der <strong>ARD</strong>-Senderverbund<br />
entscheidet sich ganz bewusst für diese<br />
Form gesellschaftlichen Engagements, denn<br />
das Praktikum ist wichtig, weil es den Übergang<br />
zwischen Schule und Lehre erleichtert. Hier<br />
bekommen die Schüler wertvolle Impulse für<br />
ihre Berufsorientierung, und sie sammeln erste<br />
Erfahrungen, sich bei einem Unternehmen zu<br />
bewerben und zu präsentieren. Eine wichtige<br />
Vorbereitung für den schwierigen Wettbewerb<br />
um eine Lehrstelle.<br />
Das »Hamburger Hauptschulmodell« rückt<br />
deshalb Berufsorientierung und Bewerbungstraining<br />
in den Mittelpunkt seiner Aktivitäten. Die<br />
Arbeitsstiftung Hamburg hatte festgestellt, dass<br />
weniger als zehn Prozent der Hauptschul-Abgänger<br />
unmittelbar nach Beendigung der Schule<br />
einen ungeförderten betrieblichen Ausbildungsplatz<br />
gefunden hatten. Über Patenschaften<br />
mit mehr als 60 Hamburger Betrieben, die die<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08
109 Schulen mit Hauptschulzweig eingingen,<br />
sollten die Chancen der Hauptschüler verbessert<br />
werden. Der NDR hat gleich zwei Patenschaften<br />
übernommen, mit der Gesamtschule<br />
»Alter Teichweg« und mit der Haupt- und Realschule<br />
»Luruper Hauptstraße«. Diese Schule<br />
liegt in einem der so genannten Problemviertel<br />
in Hamburg, mit hoher Arbeitslosigkeit und<br />
Bürgern mit Migrationshintergrund.<br />
Der NDR versucht, mit verschiedenen<br />
Veranstaltungen die Schüler zu stärken, sie<br />
vorzubereiten auf die Berufswelt und ihre Anforderungen.<br />
So können die Teilnehmer eine<br />
Probebewerbung be<strong>im</strong> NDR abgeben, die dann<br />
von den Fachleuten der Aus- und Fortbildung<br />
kritisch begutachtet wird. »Die nehmen wir<br />
richtig auseinander und geben pädagogisch gut<br />
verpackt, aber klar und deutlich Feedback, damit<br />
die Schüler möglichst viel lernen dabei«,<br />
berichtet Otfried Krüer-Bürgermann, der das<br />
Hauptschulprojekt be<strong>im</strong> NDR betreut. Die<br />
Schüler können mit dem Feedback ihre Bewerbungsunterlagen<br />
für den Ernstfall opt<strong>im</strong>ieren.<br />
Außerdem stehen Trainings-Bewerbungsgespräche<br />
auf dem Programm: Die NDR-Experten<br />
geben Tipps zu Themen wie Kleidung, Auftreten<br />
und Wortwahl <strong>im</strong> Bewerbungsgespräch.<br />
Die Übungen bewirken, dass sich die Schüler<br />
sicherer fühlen und sich besser darstellen können.<br />
Zum Gesamtpaket der Patenschaft gehören<br />
neben dieser individuellen Beratung der Schüler<br />
zusätzlich noch Unterrichtseinheiten in den Patenschulen<br />
und Besuche von Klassen <strong>im</strong> NDR.<br />
Drei Auszubildende des NDR für den<br />
Beruf Mediengestalter Bild und Ton bei einem<br />
Dreh vor Ort<br />
Natürlich können sich die Schüler des Projekts<br />
auch be<strong>im</strong> NDR um eine Lehrstelle bewerben.<br />
Dabei müssen sie sich allerdings <strong>im</strong> ganz<br />
normalen Bewerbungsverfahren auch gegen Realschüler<br />
und Abiturienten durchsetzen. Doch<br />
durch die Vorbereitung gelingt dies <strong>im</strong>mer<br />
wieder. So bildet der NDR auch <strong>im</strong> aktuellen<br />
Ausbildungsjahrgang einen Schüler aus dem<br />
Hamburger Hauptschulmodell zum Kaufmann<br />
für Bürokommunikation aus.<br />
Mit 72 Ausbildungsplätzen <strong>im</strong> Jahr 2007<br />
stellen die angehenden Kaufleute für Bürokommunikation<br />
die größte Gruppe unter den<br />
Auszubildenden be<strong>im</strong> NDR. An zweiter Stelle<br />
folgen die Mediengestalter in Bild und Ton mit<br />
46 Auszubildenden.<br />
_ Mitgestaltung bei neuen Lehrberufen<br />
Der Mediengestalter ist ein Lehrberuf, der vom<br />
NDR mit entwickelt wurde. Das heißt, die<br />
<strong>ARD</strong> ist nicht nur ein großer und qualifizierter<br />
Ausbilder in Deutschland, die Landesrundfunkanstalten<br />
schaffen mit ihrer Kompetenz<br />
vielmehr neue Berufe und damit neue Möglichkeiten<br />
für den Arbeitsmarkt. Bis diese Impulse<br />
allerdings wirken können, bedarf es zuvor eines<br />
langen und aufwändigen Verfahrens.<br />
In enger Zusammenarbeit mit dem Bundesinstitut<br />
für Berufsbildung hat Gerald Mechnich,<br />
Leiter der produktionstechnischen Aus- und<br />
Fortbildung des NDR, den neuen Lehrberuf<br />
ent wickelt. »Wir benötigten damals dringend<br />
einen Ausbildungsberuf, weil uns unsere<br />
Tech ni ker seit dem Start des dualen Rundfunksystems<br />
<strong>im</strong>mer wieder von privaten Medienunternehmen<br />
abgeworben wurden«, erklärt<br />
Mechnich den damaligen Facharbeitermangel.<br />
»Die Entwicklung des neuen Ausbildungberufes<br />
nahm vier Jahre in Anspruch. Eine Expertenkommission<br />
arbeitete den Beruf bis ins Detail<br />
aus: best<strong>im</strong>mte Inhalte, Dauer und Lehrplan<br />
der Ausbildung«, erinnert sich Mechnich. Anschließend<br />
stellte das Bundesinstitut für Berufsbildung<br />
einen Antrag be<strong>im</strong> Bundesbildungsministerium<br />
auf Zulassung des neuen Berufes.<br />
Da Bildung in der föderalen Bundesrepublik<br />
aber Sache der Bundesländer ist, musste auch<br />
die Konferenz der Kultusminister zust<strong>im</strong>men.<br />
1996 wurden schließlich die ersten Auszubildenden<br />
zum Mediengestalter eingestellt – be<strong>im</strong><br />
NDR. Inzwischen wurde die Ausbildung noch<br />
einmal gründlich »renoviert«, berichtet Mechnich.<br />
Die technologische Basis hat sich weitgehend<br />
gewandelt. Bandmaschinen und Magnet-<br />
<strong>ARD</strong> als Ausbilder <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 131
132<br />
bänder gehören der Vergangenheit an, die<br />
Medienproduktion ist in Hörfunk und Fernsehen<br />
weitgehend digitalisiert, entsprechend<br />
mussten die Ausbildungspläne modernisiert<br />
werden.<br />
Heute ist der Beruf des Mediengestalters, der<br />
vom NDR mit aus der Taufe gehoben wurde,<br />
der maßgebliche für die Produktion in der Medienbranche.<br />
Der Mediengestalter wird sowohl<br />
bei der Vertonung von Spielfilmen eingesetzt<br />
als auch bei der digitalen Bildgestaltung wie<br />
be<strong>im</strong> Schnitt von Radiobeiträgen bzw. der Produktion<br />
von Hörfunkprogrammen insgesamt.<br />
Dazu kommt der gesamte Bereich der Außenübertragungen,<br />
von Fußballspielen <strong>im</strong> Stadion<br />
bis zu großen Konzerten. Das Spektrum der<br />
möglichen Tätigkeiten nach der Ausbildung ist<br />
groß und vielfältig.<br />
Das dürfte ein Grund sein, warum der Ausbildungsberuf<br />
so beliebt geworden ist. »Wir<br />
haben bundesweit mit 600 Lehrlingen für den<br />
neuen Beruf begonnen – <strong>im</strong> Jahr 2006 waren es<br />
über 1 600.« Auf diese Bilanz ist Gerald Mechnich<br />
besonders stolz, denn sie zeigt, dass von<br />
der Entwicklungsarbeit der <strong>ARD</strong> heute die<br />
gesamte Medienbranche profitiert. Zahlreiche<br />
neue Arbeitsplätze konnten dank dieser Initiative<br />
geschaffen werden, vielen Jugendlichen<br />
wurde ein Weg in ihren Traumberuf geebnet.<br />
Allein die <strong>ARD</strong> bildete 2007 164 angehende<br />
Mediengestalter aus, die meisten für den eigenen<br />
Bedarf.<br />
_ Die <strong>ARD</strong> – ein verlässlicher Partner<br />
be<strong>im</strong> Pakt für Ausbildung<br />
Neben den Kaufleuten für Bürokommunikation,<br />
den Mediengestaltern, den Film- und Videoeditoren<br />
kann man innerhalb der <strong>ARD</strong> aber<br />
auch zum Fachinformatiker ausgebildet werden<br />
oder zur Fachkraft für Veranstaltungstechnik.<br />
Ebenso ist die Ausbildung zum Tischler <strong>im</strong><br />
Angebot, zum Bühnenmaler oder Kfz-Mechatroniker.<br />
Insgesamt 20 Ausbildungsberufe nach<br />
dem Berufsbildungsgesetz (BBiG) bieten die<br />
Landesrundfunkanstalten an. Die <strong>ARD</strong> hat in<br />
den vergangenen Jahren über den »Nationalen<br />
Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs«<br />
nicht nur intensiv berichtet, sondern auch ihr<br />
eigenes Ausbildungsangebot kontinuierlich ausgebaut:<br />
Von 1998 bis 2007 wurde die Zahl der<br />
Ausbildungsplätze von 560 auf 936 fast verdoppelt.<br />
Allein der BR erweiterte das Angebot seiner<br />
Ausbildungsplätze in 2007 um ein Viertel,<br />
der WDR führte sein Projekt »3 x 10 Prozent«<br />
konsequent zu Ende. Das heißt, <strong>im</strong> dritten Jahr<br />
Ausbildung zum Messingenieur be<strong>im</strong><br />
MDR: Messingenieur Jochen Nofftz mit<br />
Azubi Christiane Sachse<br />
in Folge erhöhte der WDR die Zahl der neuen<br />
Ausbildungsverhältnisse um mindestens zehn<br />
Prozent: In 2007 nahmen 70 neue Auszubildende<br />
ihre Arbeit be<strong>im</strong> WDR auf, <strong>im</strong> Jahr 2006<br />
waren es 63.<br />
Angesichts des Lehrstellenmangels bildet die<br />
<strong>ARD</strong> über den eigenen Bedarf hinaus aus und<br />
gibt dadurch vielen Jugendlichen eine Chance<br />
zum Einstieg in das Berufsleben. Die Rundfunkanstalten<br />
unterstützen die Absolventen,<br />
die die Häuser verlassen, intensiv bei der Suche<br />
nach einem Arbeitsplatz: Das Angebot reicht<br />
von Bewerbungstrainings über die Vermittlung<br />
von Kontakten bis zu Zeitverträgen, um erste<br />
Berufserfahrung zu sammeln. Als Vorteil erweist<br />
sich be<strong>im</strong> Angebot der Ausbildungsplätze die<br />
föderale Struktur des <strong>ARD</strong>-Senderverbunds.<br />
Die Lehrstellen sind über das gesamte Bundesgebiet<br />
verteilt, in strukturschwachen Regionen<br />
sind die <strong>ARD</strong>-Anstalten ein wichtiger Ausbildungsbetrieb.<br />
Die öffentlich-rechtlichen Sender der <strong>ARD</strong><br />
haben eine wichtige Funktion für die Gesellschaft,<br />
deshalb nehmen sie auch die Aufgabe<br />
der Ausbildung sehr ernst. Die durchgängig guten<br />
bis sehr guten Prüfungsergebnisse der Auszubildenden<br />
sind Beleg für die hohe Qualität<br />
der Ausbildung. Das wird der <strong>ARD</strong> jährlich mit<br />
vielen Auszeichnungen bestätigt: So wurde bei<br />
der »Nationalen Bestenehrung in IHK-Berufen«<br />
in Berlin eine Auszubildende des SWR als beste<br />
deutsche Prüfungsteilnehmerin <strong>im</strong> Ausbildungsberuf<br />
Mediengestalterin Bild und Ton ausgezeichnet.<br />
Der SWR errang diese Auszeichnung<br />
zum zweiten Mal in Folge.<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08
Dem MDR wurde von der IHK Leipzig der<br />
Titel »Ausgezeichneter Ausbildungsbetrieb«<br />
verliehen, drei ehemalige Azubis des MDR<br />
wurden zu den »besten sächsischen Jugendfacharbeitern«<br />
gekürt. Der NDR erreichte bei der<br />
ver.di-Jugend Hamburg den zweiten Preis als<br />
bester Ausbildungsbetrieb.<br />
_ WDR-Projekt<br />
für Journalisten mit Migrationshintergrund<br />
Eine besondere Auszeichnung erhielt die Talentwerkstatt<br />
»WDR grenzenlos«. Das Ausbildungsangebot<br />
für angehende Journalisten<br />
mit Migrationshintergrund schaffte es be<strong>im</strong><br />
Wettbewerb »Grenzüberschreitungen: Chancengleichheit<br />
in Europa – eine Chance für<br />
Nordrhein-Westfalen« unter die zehn »Best-<br />
Practice«-Projekte. NRW-Integrationsminister<br />
Armin Laschet begründete die Auszeichnung<br />
mit den Worten: »Das Projekt ›grenzenlos‹ des<br />
WDR gehört zu den Initiativen, die sich in hervorragender<br />
Weise für Vielfalt, Integration und<br />
Chancengleichheit einsetzen. In der Talentwerkstatt<br />
erhalten junge Frauen und Männer<br />
mit Zuwanderungsgeschichte die Gelegenheit,<br />
in den Redaktionen des WDR ihr journalistisches<br />
Talent zu erproben und unter Beweis zu<br />
stellen.«<br />
Die Talentwerkstatt für angehende Journalisten<br />
mit Migrationshintergrund umfasst ein<br />
inzwischen siebenwöchiges Programm. Nach einer<br />
Einführungswoche in der Hörfunkakademie<br />
Oberhausen folgt eine vierwöchige Hospitanz<br />
in einer der WDR-Redaktionen.<br />
»Uns ist besonders wichtig, dass die Hospitanzen<br />
nicht nur in ›Spartenprogrammen‹<br />
wie Funkhaus Europa oder Cosmo TV absolviert<br />
werden, sondern auch in den regionalen<br />
Studios und den hörer- und zuschauerstarken<br />
Gruppenfoto von »WDR grenzenlos« 2007<br />
Zwei Teilnehmer des WDR-Projekts 2007:<br />
Blessen Kizhakkethottam und Murat Isboga<br />
be<strong>im</strong> Interviewtraining<br />
›Mainstream-Programmen‹«, erklärt Rainer<br />
Assion, der Leiter der WDR-Aus- und -Fortbildung.<br />
Am Ende der Werkstattphase verfassen<br />
die zehn Projektteilnehmer eine Präsentation<br />
über ihre Arbeit. Der Erfolg der Talentwerkstatt<br />
rechtfertigt den hohen Aufwand: Von den 30<br />
Teilnehmern erhielten anschließend sechs ein<br />
Programmvolontariat, wobei sie sich wie alle<br />
anderen <strong>im</strong> normalen Bewerbungsverfahren<br />
durchsetzen mussten. Aber auch ohne Volontariat<br />
blieben rund 80 Prozent der Teilnehmer<br />
dem WDR treu und arbeiten inzwischen als<br />
freie Mitarbeiter in den verschiedensten Redaktionen.<br />
_ Learning by doing:<br />
Journalistische Praktika und Volontariate<br />
Das Praktikum, sei es nun in Form dieser Talentwerkstatt<br />
oder in traditioneller Form, ist<br />
nach wie vor ein wichtiger Baustein auf dem<br />
Weg in den Journalismus. Die <strong>ARD</strong> gab in 2007<br />
fast 3 000 jungen Menschen die Gelegenheit,<br />
in einer Redaktion oder in der Hörfunk- und<br />
133
134<br />
Fernsehproduktion erste Berufserfahrungen<br />
zu sammeln, Kontakte zu knüpfen und in vielen<br />
Fällen die notwendige Voraussetzung zur<br />
Fortsetzung des Studiums zu erwerben. Allein<br />
das Bewerbungsverfahren für die Praktikumsstellen<br />
bedeutet einen erheblichen Aufwand<br />
für die neun Landesrundfunkanstalten, den sie<br />
bewusst erbringen, denn die Praktika sind ein<br />
zentraler Baustein für die Nachwuchsförderung<br />
der <strong>ARD</strong>. Vielen Praktikanten gelingt es, in der<br />
Zeit der Hospitanz auf sich aufmerksam zu machen<br />
und <strong>im</strong> Anschluss eine erste Beschäftigung<br />
als freie Mitarbeiter oder sogar ein Volontariat<br />
zu erreichen. Die <strong>ARD</strong> ist der größte Ausbildungsanbieter<br />
für angehende Journalisten in<br />
Deutschland: 340 Programm-Volontäre bilden<br />
den journalistischen Nachwuchs für den größten<br />
Arbeitgeber in der Medienbranche.<br />
Dass bei der Vielfalt der Hörfunk- und Fernsehprogramme<br />
gut ausgebildete Journalistinnen<br />
und Journalisten benötigt werden, ist naheliegend.<br />
_ Attraktive Arbeitsplätze auch <strong>im</strong> IT-Bereich<br />
Weit weniger bekannt ist, dass die <strong>ARD</strong> auch<br />
in der IT-Branche ein attraktiver Arbeitgeber<br />
ist, der interessante Tätigkeitsfelder zu bieten<br />
und wachsenden Bedarf an Fachkräften hat. So<br />
werden beispielsweise Softwareentwickler, Systemingenieure<br />
oder Netzwerk-Administratoren<br />
gesucht. Um sich möglichen Bewerbern vorzustellen,<br />
war der HR erstmals auf der »konaktiva«<br />
in Darmstadt präsent, einer der größten<br />
studentisch organisierten Unternehmenskontaktmessen<br />
Deutschlands. Unter dem Motto<br />
»Studenten treffen Unternehmen« vermittelt<br />
die Messe Kontakte zwischen jungen Akademikern<br />
und Vertretern renommierter nationaler<br />
und internationaler Unternehmen. »›Was macht<br />
ihr denn hier?‹, war oft die überraschte Frage<br />
von den Studenten, wenn sie zu unserem Stand<br />
kamen«, erzählt Lothar Basche, Leiter des IT-<br />
Bereichs des HR. Wie die meisten anderen<br />
denken die angehenden Informatiker bei der<br />
<strong>ARD</strong> zuerst an Hörfunk und Fernsehen. »Noch<br />
überraschter waren sie, als sie von den Möglichkeiten<br />
erfuhren, die wir ihnen zu bieten<br />
haben«, fasst Basche die positiven Reaktionen<br />
der Messebesucher zusammen. Durch die Digitalisierung<br />
der Medienproduktion bis hin zur<br />
Sendeabwicklung, durch die rasante Entwicklung<br />
des Internets und die dadurch entstehende<br />
zunehmende Konvergenz von Systemen ist die<br />
Zahl der IT-Arbeitsplätze in der <strong>ARD</strong> kontinuierlich<br />
gestiegen, obwohl die Rundfunkanstalten<br />
insgesamt Stellen abbauen müssen.<br />
Dennoch ist die <strong>ARD</strong> weiterhin ein großer<br />
Arbeitgeber in Deutschland: Rund 22 000 Festangestellte<br />
und Tausende von freien Mitarbeitern<br />
sind für ein umfassendes und informatives<br />
Programmangebot tätig. Zudem ist die <strong>ARD</strong> an<br />
den jeweiligen Standorten ein Wirtschaftsfaktor,<br />
der Auftragsmöglichkeiten für zahlreiche,<br />
freie Produktionsfirmen schafft. So gibt die<br />
<strong>ARD</strong> u. a. maßgebliche Impulse für die Filmwirtschaft<br />
in Deutschland, als Auftraggeber und<br />
Förderer.<br />
_ Verantwortungsvolle Personalpolitik<br />
»Schwerbehinderte Menschen werden bei<br />
gleicher Eignung bevorzugt berücksichtigt«,<br />
heißt es in den Stellenausschreibungen etwa<br />
des HR. Nach wie vor engagieren sich die<br />
öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten für<br />
die Integration behinderter Menschen schon<br />
in der Ausbildung und arbeiten hierzu mit den<br />
entsprechenden Trägern und Institutionen eng<br />
zusammen. Die gesetzliche Pflichtquote für die<br />
Ausbildung und Beschäftigung schwerbehinderter<br />
Menschen wird in der <strong>ARD</strong> z. B. vom HR<br />
regelmäßig übertroffen.<br />
Vor dem Hintergrund der sich rasant weiterentwickelnden<br />
Produktions- und Verbreitungstechnik<br />
sind die <strong>ARD</strong>-Anstalten auf engagierte<br />
und gut ausgebildete Mitarbeiterinnen und<br />
Mitarbeiter angewiesen. Nur so wird die <strong>ARD</strong><br />
in der digitalen Medienwelt von morgen bestehen<br />
können. Deswegen haben die Rundfunkanstalten<br />
ein hohes Interesse daran, weiterhin<br />
größter Ausbildungsbetrieb in der deutschen<br />
Medienbranche zu sein. Doch die Gebühren<br />
der Allgemeinheit verpflichten zu einer besonders<br />
verantwortungsvollen Personalpolitik.<br />
Daher wird es auch weiterhin ein wichtiger Bestandteil<br />
der Ausbildungsprogramme sein, den<br />
Menschen eine Chance am Arbeitsmarkt einzuräumen,<br />
die es von ihren Startbedingungen<br />
schwerer haben als andere. Sei es, weil sie ein<br />
körperliches Handicap haben, weil sie von ihrer<br />
Herkunft benachteiligt sind oder einfach nur zu<br />
spät den »Ernst des Lebens« begriffen haben.<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08<br />
Dr. Helmut Reitze,<br />
HR-Intendant und in der <strong>ARD</strong><br />
federführend für Aus- und Fortbildung
Gute Programme brauchen gute Mitarbeiter.<br />
Den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten war und<br />
ist der hohe Stellenwert gut ausgebildeter Mitarbeiter<br />
stets bewusst. Bereits 1963 gründeten sie die Schule<br />
für Rundfunktechnik (srt), 1977 kam – unter Beteiligung<br />
des ZDF – die Zentrale Fortbildung Programm-Mitarbei-<br />
ter (ZFP) hinzu. Fortwährende Qualifizierung ist unum-<br />
gänglich für die Qualität des Programms. Dies gilt umso<br />
mehr in Zeiten tief greifenden technologischen Wandels,<br />
wo die Grenzen zwischen Produktion und Technik<br />
einerseits und der redaktionell-journalistischen Arbeit<br />
andererseits <strong>im</strong>mer durchlässiger werden. Die rasant<br />
fortschreitende Digitalisierung stellt die Mitarbeiter des<br />
Rundfunks vor täglich neue Herausforderungen.<br />
Da ist es nur folgerichtig, dass auch die Fortbildungsin-<br />
stitutionen von <strong>ARD</strong> und ZDF die alte Trennung zwischen<br />
Technik und Programm zugunsten einer neuen inte-<br />
grierenden Struktur aufgeben.<br />
Reise zu den Synapsen<br />
Weiter bilden – weiter denken: die <strong>ARD</strong>.ZDF medienakademie.<br />
Von Stefan Hanke<br />
E<br />
rinnern Sie sich an Ihren ersten Arbeitstag?<br />
Alle Gehirnzellen waren auf Aufnahme<br />
geschaltet, der Puls erhöht. Es<br />
gab kleine und große Missverständnisse,<br />
aber Ihre Motivation lag bei 100 Prozent. Nach<br />
vier Wochen stellt sich eine Vorahnung von Sicherheit<br />
ein. Sie erkennen Licht am Ende des<br />
Tunnels. Drei Monate später sind Sie integriert<br />
und leistungsstark. Sie treffen den Nerv. Die<br />
Arbeit macht Spaß. Ihr Geist ist schnell und<br />
wendig wie der Blitz. Wie lange bleibt das so?<br />
Früher oder später stellt sich <strong>im</strong> Arbeitsalltag<br />
bei (fast) allen Routine ein: Die Ideen fürs<br />
Programm oder neue Projekte sind nicht mehr<br />
so zahlreich und kreativ, Ausdruckskraft und<br />
Wortwitz nicht so sprudelnd wie zu Beginn.<br />
Die Synapsen wollen nicht reagieren, und womöglich<br />
wächst auch noch der Stapel auf dem<br />
Schreibtisch. Die anstehenden Aufgaben türmen<br />
sich zu einem mittelhohen Berg . . .<br />
In einer solchen Situation ist es sinnvoll, an<br />
die eigene Fortbildung zu denken, sich Abstand<br />
zu gönnen und sich innerlich auf eine Reise zu<br />
begeben, um mit wiedergewonnener Neugierde<br />
an die Sache herangehen zu können. Gerade<br />
für Menschen, die täglich Ideen haben und<br />
Themen setzen müssen, für Menschen, die mit<br />
Sprache jonglieren und die Spannung erzeugen<br />
sollen. Menschen, die routiniert Nachrichten<br />
machen und verbreiten, aber nicht zu Routinemenschen<br />
werden sollen. Menschen, die sprechen<br />
oder Regie führen, schneiden, aufnehmen<br />
– aufnahmefähige Menschen –, die wirklich<br />
dabei sind. Mit Abstand. Die Bilder erzeugen.<br />
Rundfunken. Brillante Techniker, Producer<br />
<strong>ARD</strong>.ZDF medienakademie <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 135
136<br />
Eröffnungsfeier der <strong>ARD</strong>.ZDF medienakademie<br />
am 8. 3. 2007 in der Friedrich-Alexander-<br />
Universität Nürnberg. Auf dem Podium:<br />
Karlheinz Weber, Ruth Blaes, Helge Haas,<br />
Markus Schächter und Helmut Reitze (v. l.)<br />
und Planer. Teamarbeiter. Vor und hinter der<br />
Kamera. Vor und hinter den Mikrofonen. In<br />
Studios, Redaktionen, Werkstätten. Medienmenschen<br />
eben.<br />
Genau für jene Medienschaffenden ist die<br />
<strong>ARD</strong>.ZDF medienakademie entstanden – sozusagen<br />
als ganz persönliches »Reisebüro«.<br />
_ Gemeinsam reisen:<br />
die neue <strong>ARD</strong>.ZDF medienakademie<br />
Die neue <strong>ARD</strong>.ZDF medienakademie ist die<br />
größte Fortbildungseinrichtung der Medienbranche<br />
in Deutschland; entstanden am<br />
1. 1. 2007 aus der Schule für Rundfunktechnik<br />
(srt) und der Zentralen Fortbildung der Programm-Mitarbeiter<br />
von <strong>ARD</strong> und ZDF (ZFP).<br />
Der Vorteil dieser Fusion für die Sendeanstalten:<br />
Sie bekommen einen Ansprechpartner<br />
für Weiterbildung in den Bereichen Fernsehen,<br />
Hörfunk und Online.<br />
In der <strong>ARD</strong>.ZDF medienakademie verschmelzen<br />
Redaktion, Journalismus und Rundfunktechnik<br />
zu einem integrierten Angebot.<br />
Gebündelte Kompetenz aus 45 Jahren srt und<br />
30 Jahren ZFP bilden die Zukunft. Immerhin:<br />
75 Jahre Erfahrung. Die Standorte Nürnberg,<br />
Wiesbaden und Hannover sind jetzt in der<br />
neuen Medienakademie vernetzt und somit<br />
noch näher dran an den Rundfunkanstalten.<br />
Die gebündelte Kompetenz sorgt für schnellere<br />
Wege und besseren Zugriff auf konzeptionelle<br />
und opt<strong>im</strong>ale technische Ressourcen.<br />
Gleich <strong>im</strong> ersten Jahr hat die medienakademie<br />
2 532 Seminare veranstaltet und 18 640 Teilnehmerinnen<br />
und Teilnehmer an 40 000 Teilnehmertagen<br />
trainiert – eine Steigerung von 18,7<br />
Prozent gegenüber den zusammengenommenen<br />
Leistungen der vorherigen »Einzelkämpfer«.<br />
Das ist, wenn man so möchte, eine Bestätigung<br />
in Zahlen.<br />
Wer die Medien kennt, weiß aber: Da muss<br />
nicht nur Kompetenz zusammenkommen, da<br />
müssen auch zwei unterschiedliche Kulturen<br />
zusammenwachsen, zwei Kulturen, die es von<br />
jeher nicht leicht miteinander hatten: Die sorgfältige,<br />
präzise, vorsichtige, rationale Kultur von<br />
Technik und Produktion und die st<strong>im</strong>ulierende,<br />
exper<strong>im</strong>entierfreudige, erfinderische, schnelle<br />
der Redaktion und des Programms. Das war<br />
und ist die zentrale Herausforderung der Medienakademie,<br />
Produktion, Technik und Programm<br />
zusammenwachsen zu lassen. Sie ist der<br />
Spiegel der Prozesse in den Rundfunkanstalten:<br />
Videojournalismus, Bi-, Tr<strong>im</strong>edialität, Konvergenz.<br />
Diese neue Verschaltung der Synapsen<br />
in den Köpfen der Medienmacher n<strong>im</strong>mt die<br />
Medienakademie vorweg und begleitet sie. Am<br />
Ende unserer Reise steht ein neues Denken.<br />
Unsere Erfahrungen und Erkenntnisse be<strong>im</strong><br />
Neuverschalten geben wir konsequent weiter.<br />
So wie sich die Synapsen mit jeder Wahrnehmung<br />
bewegen, wird das auch die Medienakademie<br />
tun.<br />
_ Verreisen und Konvergenz erkunden:<br />
die Geschäftsbereiche<br />
Die <strong>ARD</strong>.ZDF medienakademie ist in vier Geschäftsbereiche<br />
gegliedert: »Programm«, »Produktion<br />
und Technik«, »Überfachliches Angebot«<br />
und schließlich »Integrierendes Angebot«.<br />
Die drei ersten Bereiche greifen Kompetenz<br />
und Funktion der Vorgängerinstitutionen srt<br />
und ZFP auf. Das integrierende Angebot ist<br />
neu und steht für das absehbar Zukünftige; es<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08
führt zusammen, was zusammengeführt werden<br />
muss: Denken und Arbeitsweise des Programms<br />
mit jenen von Produktion und Technik.<br />
Die vier Bereiche <strong>im</strong> Einzelnen:<br />
_ Programm<br />
Qualität ist Programm. Und darum geht es hier.<br />
Programm inhaltlich entwickeln, Programm<br />
gestalten, Programm präsentieren. Sowohl<br />
handwerkliche Grundlagen als auch hörfunk-,<br />
fernseh- und onlinespezifische Kommunikation<br />
für Fortgeschrittene und Vollprofis werden<br />
trainiert, perfektioniert und auf den neuesten<br />
Stand gebracht. Das Angebotsspektrum in diesem<br />
Ressort reicht von Recherche-Strategien<br />
für Journalisten über Interview- und Gesprächstechniken<br />
bis zu Grundlagen journalistischer<br />
Darstellungsformen. Ferner umfasst es Seminare<br />
zum Thema Sprache und Sprechen sowie<br />
Angebote, die zielgruppengenaue Präsentation<br />
und Moderation üben.<br />
Sach- und Medienwissen-Seminare liefern<br />
Kenntnisse zu Themen, die in der aktuellen Berichterstattung<br />
eine Rolle spielen (werden). Im<br />
Angebot 2008 stehen hier beispielsweise Info-<br />
Veranstaltungen zur EU, zur Rolle der NATO<br />
oder zur Börsen- und Wirtschaftsberichterstattung.<br />
Hier finden Programm-Mitarbeiter, die<br />
Programm für alle Zielgruppen inhaltlich gestalten<br />
und verantworten, nachhaltiges Fachwissen.<br />
Newcomer und »alte Hasen« qualifizieren sich<br />
für die speziellen Anforderungen des sich kontinuierlich<br />
wandelnden Medienmarktes.<br />
_ Produktion und Technik<br />
Sie ist nicht alles, aber ohne sie ist alles nichts<br />
– die richtige Technik. Die Angebote <strong>im</strong> Bereich<br />
Produktion und Technik zielen darauf, das<br />
Handwerk für Hörfunk, Fernsehen und Online<br />
zu verfeinern. Die Teilnehmer bekommen<br />
Impulse in Sachen Produktion und Hightech<br />
und bringen sich auf den aktuellen Stand der<br />
Systeme, Technologien und Methoden. Alles<br />
dreht sich um die Aufgabe, audiovisuelle Medien<br />
wirtschaftlich in der erwarteten Qualität<br />
zu produzieren und zu verbreiten. Damit diese<br />
Medien begreifbar bleiben, bietet der größte<br />
Standort in Nürnberg alles, was moderne<br />
Produktions- und Sendetechnik ausmacht, in-<br />
Die drei Standorte der medienakademie:<br />
Trainingszentrum Nürnberg, Geschäftssitz,<br />
(linke Seite), Trainingszentrum Hannover (o.)<br />
und Trainingszentrum Wiesbaden (u.)<br />
klusive der Profis, die die Tricks, Kniffe und<br />
Plug-ins kennen, um <strong>im</strong> Arbeitsalltag schnell,<br />
effizient und kreativ zu sein. Die <strong>ARD</strong>.ZDF<br />
medienakademie unterstützt mit diesem Angebot<br />
den erfolgreichen Einsatz von aktuellen<br />
Systemen und Technologien sowie effizienten<br />
Workflows und Methoden.<br />
Diese Angebote richten sich an Mitarbeiter<br />
aus Produktion, Technik, Distribution, Betrieb,<br />
Programm und angrenzenden Bereichen.<br />
_ Das überfachliche Angebot<br />
Medien sind Unternehmen. Sie müssen verwaltet,<br />
kalkuliert, gesteuert werden. Managementaufgaben<br />
sind deshalb in einem überfachlichen<br />
Angebot der Akademie zusammengefasst. Hier<br />
bietet die Medienakademie alles, was hinter<br />
den Kulissen eines Großunternehmens gekonnt<br />
werden muss, damit die Programm-Macher arbeiten<br />
können.<br />
<strong>ARD</strong>.ZDF medienakademie <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 137
138<br />
Spitzentrainer und -berater vermitteln<br />
Know-how von IT-Vernetzung über Honorarabrechnung<br />
bis zu Management- und Verwaltungsprozessen.<br />
Sie bieten umfassende,<br />
ergänzende Methoden und Technologien zur<br />
Steuerung und Opt<strong>im</strong>ierung von Prozessen.<br />
Angebote zum Projektmanagement sind in<br />
diesem Bereich ebenso zu finden wie Kurse zu<br />
Marketing und Öffentlichkeitsarbeit oder Seminare<br />
zur Persönlichkeits- und Teamentwicklung.<br />
Die Teilnehmer profitieren von diesem<br />
zusätzlichen Management- oder Verwaltungs-<br />
Know-how und sind in der Lage, ihre spezifischen<br />
Aufgaben wirtschaftlicher, produktiver<br />
und kreativer zu erfüllen.<br />
_ Integrierendes Angebot<br />
Das Motto: zusammen arbeiten, zusammen<br />
trainieren. Das Ziel: ein starkes Team für nachhaltig<br />
erfolgreiche Medienprodukte. Das Integrierende<br />
geht von der Erfahrung aus, dass<br />
Schulung am Tonmischpult<br />
nachhaltiges Lernen, nachhaltige Veränderung<br />
vor allem be<strong>im</strong> Zusammenwirken der Gewerke<br />
geschieht. Hier werden Themen und Projekte<br />
angeboten, für deren Umsetzung die Kompetenz<br />
von Mitarbeitern der Bereiche Programm,<br />
Online, Produktion und Technik gleichermaßen<br />
gefordert ist. Das Integrierende Angebot bringt<br />
die unterschiedlichen Berufsgruppen an einen<br />
Tisch und eröffnet damit allen Beteiligten neue,<br />
kreative Perspektiven. Hier wird Konvergenz<br />
erkundet. Die Teilnehmer begreifen die Zukunft<br />
der Medienwelt.<br />
Das geschieht in Trainings zu Videojournalismus,<br />
bei der Zusammenarbeit <strong>im</strong> Studio,<br />
bei Live-Reportagen, der Fernseh- und Hörfunkgestaltung<br />
und der (Weiter-)Entwicklung<br />
von Formaten, inklusive deren Positionierung<br />
<strong>im</strong> Markt. Das Integrierende Angebot wird<br />
wachsen und das Gesicht der Medienakademie<br />
verändern – der Entwicklung in den Medien<br />
<strong>im</strong>mer eine Nervenbahn-Länge voraus.<br />
_ Zwei Reiserouten bieten sich an:<br />
offene und Auftragsseminare<br />
Interessenten haben die Möglichkeit, die <strong>im</strong><br />
Katalog oder auf der Homepage der <strong>ARD</strong>.ZDF<br />
medienakademie angebotenen offenen Veranstaltungen<br />
zu besuchen. Dort treffen sie auf<br />
Teilnehmer aus allen Medienunternehmen und<br />
-organisationen. Neben dem fachlichen Input<br />
der <strong>ARD</strong>.ZDF-medienakademie-Experten gibt<br />
es hier somit Gelegenheit zur Vernetzung und<br />
zum Erfahrungsaustausch zwischen Einsteigern,<br />
Umsteigern und Profis, mit den Kollegen aus<br />
anderen Häusern.<br />
Die zweite Möglichkeit, die Kompetenz<br />
dieser Fortbildungseinrichtung zu nutzen, besteht<br />
darin, ein Seminar in Auftrag zu geben.<br />
Das wird genau so maßgeschneidert konzipiert<br />
und durchgeführt, wie es die spezielle Situation<br />
erfordert. Die <strong>ARD</strong>.ZDF medienakademie<br />
entwickelt das passende Konzept, engagiert die<br />
richtigen Trainer, koordiniert die Termine und<br />
sorgt mit dem Auftraggeber für die geeignete<br />
Seminarumgebung. Der unmittelbare Bezug auf<br />
die konkrete Arbeitssituation ermöglicht eine<br />
noch stärke Fokussierung auf die Bedürfnisse<br />
der Teilnehmer.<br />
Wir arbeiten an den Themen unter den Bedingungen<br />
des jeweiligen Auftraggebers. 2007<br />
haben wir das über 1 700 Mal getan. Übrigens:<br />
Fast alle Veranstaltungen, die <strong>im</strong> offenen Angebot<br />
zu finden sind, können auch als Auftragsseminare<br />
gebucht werden. Und was dort nicht zu<br />
finden ist, erfinden wir.<br />
_ Kurz- oder Langstrecke möglich:<br />
die Projekte<br />
Unsere Routen gibt es als Kurzstrecken, aber<br />
auch als längere gemeinsame Reise, denn wir<br />
begleiten Entwicklungs- und Innovationsprozesse<br />
in den Sendeanstalten. Dabei ist es<br />
hilfreich, dass wir uns auskennen in den Rundfunkanstalten,<br />
dass wir die Arbeitsweisen von<br />
Redaktion, von Produktion und Technik kennen,<br />
und zwar mit allen Besonderheiten des<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08
Schulungssituationen <strong>im</strong> Seminarraum<br />
(Motiv oben und rechte Spalte)<br />
öffentlich-rechtlichen Auftrags. Das macht es<br />
leichter, passende Konzepte zu entwickeln, die<br />
Vorgehensweise und den entsprechenden Trainer<br />
oder ein ganzes Team zu empfehlen. Zwei<br />
Beispiele hierfür:<br />
Beispiel Netzwerk-Radio: Im »Netzwerk-Radio«<br />
hat die <strong>ARD</strong>.ZDF medienakademie Fachleute<br />
aus allen Bereichen der Hörfunk-Programmgestaltung<br />
zusammengebracht. In mehreren<br />
Programmen unterstützt die Medienakademie<br />
mit diesen Experten Opt<strong>im</strong>ierungsprozesse.<br />
Wir begleiten so beispielsweise die Programmreform<br />
einer Welle. Die Analyse der Situation<br />
hat es nahegelegt, zunächst auf handwerklicher<br />
Ebene einzusteigen: mit dem Training und der<br />
Weiterbildung der Moderatoren. Wir liefern<br />
konkrete Hilfestellung bei der Umsetzung der<br />
neuen Leitgedanken, bei der Opt<strong>im</strong>ierung der<br />
Themenauswahl, der Beitragsgestaltung sowie<br />
An- und Abmoderation. Bei solchen Veränderungsprozessen<br />
tauchen häufig Störungen und<br />
Widerstände auf, die nicht <strong>im</strong> Handwerk begründet<br />
liegen. Team- und Kommunikationsstrukturen<br />
müssen daher überprüft und erneuert<br />
werden. Das Netzwerk bringt flankierend<br />
einen weiteren Experten ins Spiel, der diese<br />
Aufgabe übern<strong>im</strong>mt. Die Übergabe ist schneller<br />
und einfacher, weil sie einer best<strong>im</strong>mten Struktur<br />
folgt, die das Netzwerk erarbeitet hat. All<br />
das geschieht in enger Abst<strong>im</strong>mung mit dem<br />
Projektleiter der Medienakademie, der Aus- und<br />
Fortbildung des Hauses und der Wellenleitung.<br />
Dieser inzwischen bewährte Netzwerk-<br />
Gedanke, wie eben am Beispiel des Radios<br />
geschildert, wird gerade <strong>im</strong> Integrierenden An-<br />
gebot auf das Fernsehen übertragen. Ein Team<br />
»Formatweiterentwicklung« aus Trainerinnen<br />
und Trainern der Bereiche Redaktion, Regie,<br />
Kamera, Schnitt bis hin zur Positionierung des<br />
Programms <strong>im</strong> Fernsehmarkt befindet sich <strong>im</strong><br />
Aufbau.<br />
Beispiel b<strong>im</strong>ediale Studios be<strong>im</strong> WDR: Im Bereich<br />
Produktion und Technik begleitet die <strong>ARD</strong>.<br />
ZDF medienakademie die Rundfunkanstalten<br />
bei der Einführung neuer b<strong>im</strong>edialer Produktionstechnik:<br />
So wurden seit 2005 in einer Qualifizierungsmaßnahme<br />
250 Mitarbeiter des WDR<br />
geschult, die künftig in den Regionalstudios<br />
des WDR in der neuen technischen Umgebung<br />
arbeiten. Das gesamte Qualifizierungsprojekt<br />
gliedert sich in zwei Teile:<br />
Phase eins umfasst die Vermittlung von Basiskenntnissen<br />
aus dem Bereich des Fernsehens<br />
für die Hörfunkmitarbeiter sowie den Erwerb<br />
von Hörfunkkompetenz für die Fernsehleute.<br />
Diese Maßnahmen werden sowohl von der<br />
<strong>ARD</strong>.ZDF medienakademie als auch von der<br />
WDR-eigenen Aus- und Fortbildung veranstaltet.<br />
So erhalten die Teilnehmer die erforderlichen<br />
Basiskenntnisse für die neuen Workflows<br />
und Arbeitsweisen der Rundfunkanstalt.<br />
In Phase zwei geht es dann an die Einarbeitung<br />
der Mitarbeiter in die neuen Produktions-<br />
und Sendekomplexe in den jeweiligen Regionalstudios.<br />
Insgesamt werden sukzessive zehn<br />
Regionalstudios neu ausgestattet, die Qualifizierungsmaßnahme<br />
für die Mitarbeiter dauert bis<br />
zum Jahr 2010.<br />
<strong>ARD</strong>.ZDF medienakademie <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 139
140<br />
_ Weiterbildungsexperten begleiten die Reise<br />
Ob offene Veranstaltung, Auftragsseminar oder<br />
Projekt, alle Routen führen über die Aus- und<br />
Fortbildung der Rundfunkanstalten, die den<br />
Prozess in Gang setzt.<br />
Das Reise-Abenteuer heißt Programm, Produktion<br />
und Technik. Aber wer sind die Reisebegleiter?<br />
Hoch spezialisierte und qualifizierte<br />
Trainer aus Medienpraxis, Kommunikation,<br />
Wirtschaft, Kultur, Politik und Wissenschaft.<br />
Die Fachleute und Weiterbildungsexperten der<br />
Kameratraining <strong>im</strong> Fernsehstudio<br />
Medienakademie fungieren als Reiseleitung.<br />
Sie haben einen gemeinsamen Auftrag, und sie<br />
sind Stellvertreter für eine Garantie der »Auffrischung«.<br />
Sie geben Workshops, sie führen<br />
Trainings durch, sie gestalten Roundtables und<br />
Symposien für die inhaltliche und kreative Programmgestaltung,<br />
für Produktion, Technik und<br />
Distribution oder für Verwaltung und Management.<br />
Und gerade weil sie hoch spezialisierte<br />
Fachleute sind, haben sie den Überblick, wissen<br />
zum Beispiel, dass journalistisches Handwerk<br />
nur in guten, kreativen Teams gedeihen kann,<br />
dass beides unterstützt werden muss, um erfolgreich<br />
zu arbeiten.<br />
Am Ende der Seminare steht die Be- und<br />
Auswertung: Wenn die Reise vorbei, das Seminar<br />
gelaufen ist, sind die Berichte und Erzählungen<br />
der Stoff, aus dem das Lernen wird.<br />
Lesen und Zuhören lohnt also. Die Bewertungsbögen<br />
der Teilnehmer unserer Trainings, Symposien,<br />
Roundtables sind selten schön getextet,<br />
aber authentisch. Da steht etwa geschrieben:<br />
_ »Technische Einrichtung müsste besser/<br />
schneller bereit sein.«<br />
_ »Das Seminar war zu kurz, oder man sollte<br />
die Themen splitten.«<br />
_ »Warum sind wir nicht mehr alle in demselben<br />
Hotel untergebracht? Da geht das Seminar<br />
doch weiter.«<br />
Das sind die »Fälle«, die die Medienakademie<br />
braucht, aus denen sie das (Weiter-)Gehen lernt.<br />
Da steht aber auch geschrieben:<br />
_ »Endlich mal wieder Zeit für den Austausch<br />
mit Kollegen anderer Häuser.«<br />
_ »Praxisnähe, viele Übungsmöglichkeiten,<br />
praktische Tipps für die eigene Arbeit.«<br />
_ »Ich habe einen neuen Blick auf meine Arbeit<br />
bekommen und bin inspiriert für ein ganzes<br />
Jahr.« _ »Hochinteressante <strong>Information</strong>en von hochkarätigen<br />
Referenten.«<br />
Das sind die Kommentare, die die Medienakademie<br />
ebenfalls braucht, zeigen sie doch,<br />
dass die eingeschlagene Richtung oder »Reiseroute«<br />
st<strong>im</strong>mt.<br />
_ Die Reise-Philosophie:<br />
Wandel und Veränderung als Grundlage des Lernens<br />
Manche Werte lassen sich nur durch Veränderung<br />
bewahren. In der neuen <strong>ARD</strong>.ZDF medienakademie<br />
ist es ausdrücklich erlaubt, Fehler<br />
zu machen. Niemand ist perfekt. Nur den gleichen<br />
Fehler zwe<strong>im</strong>al zu machen, ist blöd. Gar<br />
nichts tun auch und <strong>im</strong>mer dasselbe denken<br />
ebenfalls.<br />
Warum sonst sollten <strong>ARD</strong> und ZDF ihre<br />
Weiterbildungshe<strong>im</strong>at – srt und ZFP – verlassen<br />
und zu einem neuen Kontinent, der medienakademie,<br />
aufbrechen? Etwas Neues wagen<br />
heißt <strong>im</strong>mer, Unerwartetes zu entdecken, heißt<br />
auch, mit all dem Unbekannten <strong>im</strong> Wandel<br />
umgehen zu lernen. Das machen wir Menschen<br />
von Kindesbeinen an. Denn wie lernt unser<br />
Kopf zu gehen? Von Fall zu Fall. Be<strong>im</strong> Hinfallen<br />
und wieder Aufstehen. Wer stehen bleibt<br />
und den Sturz zu vermeiden sucht, lernt es nie.<br />
Die Fusion war und ist die Chance, Veränderung<br />
am eigenen Leib zu erkunden, neue<br />
Grenzen auszuloten, Stillstand zu vermeiden.<br />
Der Aufbruch ist auch ein Beweis der tiefen<br />
Überzeugung unserer »Eltern« <strong>ARD</strong> und ZDF<br />
von der Fähigkeit, Neues, Unbekanntes zu<br />
wagen.<br />
Dr. Stefan Hanke, Geschäftsführer<br />
der <strong>ARD</strong>.ZDF medienakademie<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08
Im November 1999 beschlossen die Ministerpräsi-<br />
denten der Länder eine Neuregelung des <strong>ARD</strong>-<br />
Finanzausgleichs. Diese sah vor, die Finanzausgleichs-<br />
summe von damals rund zwei Prozent des Netto-<br />
Gebührenaufkommens innerhalb von fünf Jahren linear<br />
auf ein Prozent zu reduzieren. Für die kleinen<br />
<strong>ARD</strong>-Anstalten Radio Bremen und SR war dies – durch<br />
die mittelfristige Reduzierung des Etats um rund<br />
ein Drittel – eine existenzbedrohende Entscheidung,<br />
die zu drastischen Sparmaßnahmen und<br />
radikalen Umstrukturierungen zwang und zwingt.<br />
Den Prozess des radikalen Um- und Neudenkens,<br />
der Planung und der Hindernisse, aber auch der Soli-<br />
darität unter den <strong>ARD</strong>-Anstalten bis hin zu einem<br />
Neubeginn Radio Bremens skizziert der nachfolgende<br />
Artikel.<br />
Ein Neubau fällt nicht vom H<strong>im</strong>mel<br />
Zur Vorgeschichte von Radio Bremen Neu<br />
Von Heinz Glässgen<br />
E<br />
in Neubau fällt nicht vom H<strong>im</strong>mel.<br />
Ob, was und wie gebaut wird, ergibt<br />
sich nicht einfach von selbst. Die Planungsphase<br />
ist wesentlich, sie ist ebenso<br />
wichtig und spannend wie strapaziös. Die<br />
Umsetzungsphase ist es freilich nicht minder.<br />
Wer aber bis zum Beginn der Umsetzung nicht<br />
genau überlegt hat, wer und was er selber ist<br />
und vor allem was er wie will, wird von solchen<br />
Versäumnissen sehr schnell und vor allem sehr<br />
schmerzlich eingeholt.<br />
Schon die Ausschreibung eines Vorhabens<br />
verlangt eine fast unendlich tiefe (vorherige!)<br />
Reflexion von Gegenwart und Zukunft, von<br />
Vorstellung und Möglichkeit: Wer sind wir?<br />
Wer wollen wir sein oder werden? Was benötigen<br />
wir? Wie groß soll das werden, was wir wollen?<br />
In welchem Verhältnis steht das eine zum<br />
anderen und zum Ganzen? Und leider auch:<br />
Was können wir uns max<strong>im</strong>al leisten? Welche<br />
Grenzen sind uns gesetzt? Ist in diesen Grenzen<br />
der Rundfunkauftrag auch in Zukunft noch zu<br />
erfüllen, und wenn ja, mit welchen Prioritäten?<br />
_ Ein Ministerpräsidentenbeschluss und seine Folgen<br />
Der Neubeginn bei Radio Bremen stand <strong>im</strong><br />
Kontext rigider Sparauflagen. Die Vorgabe aller<br />
Überlegungen war, innerhalb von nur fünf<br />
Jahren ein Drittel der dem Sender noch <strong>im</strong> Jahr<br />
2000 zur Verfügung stehenden regulären Etatmittel<br />
einzusparen. Es lag auf der Hand: Ein<br />
Drittel der Ausgaben ist nicht einfach durch<br />
lineare Kürzungen zu »erwirtschaften«, da sind<br />
heftige strukturelle Veränderungen, die auf<br />
Dauer angelegt sind, unabdingbar. Die Lage<br />
Radio Bremen Neu <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 141
142<br />
Der geschmückte Eingangsbereich des neuen<br />
Funkhauses in Bremen bei der Eröffnung<br />
<strong>im</strong> Juli 1950. Nach Mitteilung des Intendanten<br />
Walter Geerdes handelte es sich mit 750 000<br />
DM Baukosten um das billigste Funkhaus<br />
Deutschlands.<br />
war durchaus dramatisch, denn ohne Veränderungen<br />
hätte Radio Bremen <strong>im</strong> Jahre 2003<br />
gerade mal noch die Gehälter und Ausfallentschädigungen<br />
für eigentlich anstehende Honorare<br />
zahlen, aber keine direkten Aufwendungen<br />
mehr leisten können. Die Mitarbeiter wären<br />
morgens pünktlich zur Arbeit gekommen, hätten<br />
dann aber nichts mehr zu tun gehabt. Und<br />
man hätte nichts mehr von Radio Bremen gehört<br />
und gesehen.<br />
Es ging also schlicht um das Überleben des<br />
Senders. Vor diesem Hintergrund stellte sich<br />
bei jeder Maßnahme die Frage: Wie wirkt sich<br />
das, was gedacht wird, auf die Etatsituation von<br />
Radio Bremen aus? Und zugespitzt: Welche<br />
Summe ist mit dieser und jener Aktion einzusparen?<br />
Zusätzliche Dauerbelastungen standen<br />
definitiv nicht zur Diskussion. Konkret ging es<br />
um die Frage, wie der Sender durch eventuelle<br />
Baumaßnahmen mittel- und langfristig Kosten<br />
sparen kann; ferner, ob angesichts der als<br />
notwendig erachteten Personalkürzungen eine<br />
Reduzierung der Betriebsflächen und damit<br />
der Betriebskosten realisierbar ist und ob eine<br />
Zusammenlegung der beiden weit voneinander<br />
entfernten Betriebsstätten eine Reduzierung<br />
von Planstellen erlaubt.<br />
_ Neue Denkansätze wagen<br />
Man muss sich für die Bewältigung einer solchen<br />
Aufgabe von vielem, vielleicht sogar von<br />
allem frei machen. Eine solche Herausforderung<br />
verlangt radikales Denken. Wie würde man<br />
heute eine Rundfunklandschaft »bauen«? Was<br />
wäre, wenn man keine Rücksicht auf gewachsene<br />
Strukturen, herkömmliche Vorstellungen,<br />
auf Verträge, Bindungen und Rechtsansprüche<br />
zu nehmen bräuchte? Was wäre, wenn sich<br />
einem kein Denkverbot in den Weg stellte und<br />
auch kein apodiktisches »Das geht nicht, weil<br />
. . .«, ein »Undenkbar«, ein »Nicht realisierbar«<br />
den Blick auf Alternativen behinderte? Wie<br />
würde man gut 60 Jahre nach Gründung der öffentlich-rechtlichen<br />
Rundfunkanstalten in den<br />
Ländern der Bundesrepublik Deutschland auf<br />
einer zumindest halbwegs vertretbaren min<strong>im</strong>alen<br />
Basis ein zeitgemäßes öffentlich-rechtliches<br />
Medienunternehmen organisieren?<br />
Die bestehenden Rundfunkanstalten sind –<br />
wie jedermann weiß – Summationsphänomene.<br />
Sie gleichen einem kleinen Haus, an das <strong>im</strong>mer<br />
wieder ein Stück nach dem anderen angebaut<br />
wurde: dort eine Ecke, da ein Stockwerk, dort<br />
ein Vordach. Immer wieder kam ein neuer Bereich,<br />
ein kleiner oder ein großer, hinzu.<br />
Geplant waren diese Rundfunkanstalten<br />
für eine einzige Welle, die Mittelwelle, für ein<br />
Programm also, aus Not für die einen und als<br />
Tugend für die anderen. Frequenzmangel war<br />
der eine Grund, die Not. Die Chance, alle an<br />
einem Tisch, um ein Gerät, um alle Themen,<br />
die aus diesem Gerät kamen, zu versammeln,<br />
der andere, die Tugend. Binnenplural sollte<br />
das Unterfangen organisiert werden. Auf einer<br />
Welle sollte sich alles abspielen, jede Meinung,<br />
jede Position, jeder gesellschaftlich relevante<br />
Gedanke sollte sich dort wiederfinden.<br />
Schon wenige Jahre später – Anfang der<br />
50er Jahre – sah die binnenplurale Welt ganz<br />
anders aus. Der Start der UKW-Programme<br />
1950 ermöglichte eine deutliche Vermehrung<br />
des Angebots. Es musste (innerlich und äußerlich)<br />
angebaut werden. Und kaum war die Programmvermehrung<br />
<strong>im</strong> Radio mehr oder weniger<br />
verkraftet, stand das Fernsehen vor der Tür,<br />
– ab Dezember 1952 zunächst als Angebot des<br />
Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR), aus<br />
dem dann <strong>im</strong> Herbst 1954 das gemeinsam von<br />
den Landesrundfunkanstalten der <strong>ARD</strong> betriebene<br />
(Erste) Deutsche Fernsehen entstand.<br />
Zwei Jahre zuvor war die <strong>ARD</strong> gegründet<br />
worden – jene beispielhafte Einrichtung von<br />
Gemeinschaft, Arbeitsteilung, gegenseitiger<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08
Ab hängigkeit und Eigenständigkeit. Jede der<br />
einzelnen Landesrundfunkanstalten beteiligte<br />
sich, gemeinsam war jede von ihnen größer,<br />
erlangte nationale Bedeutung. Dank der Zusammenarbeit<br />
kam die große, weite Welt in die he<strong>im</strong>ischen<br />
Gefilde, selbst in die eines abgelegenen<br />
Weilers, und jedes Land konnte auf nationaler<br />
Ebene seine Themen, Ereignisse und Sichtweisen<br />
präsentieren, seine Akzente setzen.<br />
Zum <strong>Ersten</strong> Programm kamen die Dritten,<br />
später die Spezial-Kanäle wie ARTE, PHOENIX,<br />
3sat und Kinderkanal dazu und danach die digitalen<br />
TV-Angebote EinsFestival, EinsPlus und<br />
EinsExtra sowie parallel dazu <strong>im</strong>mer wieder<br />
neue Hörfunkprogramme. Die Erwartungen des<br />
Publikums und nicht selten die Forderungen<br />
der Politik zwangen zu Erweiterungen, zur Differenzierung,<br />
zur Verfeinerung der Programmangebote.<br />
Die Idee, alles in einem Programm zu verhandeln,<br />
war längst Vergangenheit. Und jede<br />
Erweiterung bedeutete zusätzliches Personal,<br />
zusätzliche Mittel, neue Redaktionsräume, weitere<br />
Studios, auch mehr Verwaltung. Die Veränderungen<br />
in der Technik – unvorstellbar schnell<br />
und vielfältig – waren selbst für Eingeweihte<br />
nur schwer zu verfolgen und nachzuvollziehen.<br />
Sie bildeten die Begleiterscheinungen, mitunter<br />
die Grundlage für die Schaffung von Redaktionen<br />
und Programmen. Technisch war <strong>im</strong>mer<br />
mehr machbar – und wurde zumindest teilweise<br />
realisiert, obwohl manchmal die neuen Generationen<br />
der Technik so schnell aufeinander<br />
folgten, dass es nur noch mit Anstrengungen<br />
möglich war, auch nur jede dritte zu berücksichtigen.<br />
Das ehemalige Fernsehgelände von Radio<br />
Bremen in Osterholz: Das rund 70 000 m 2<br />
große Grundstück nahe der Autobahn hat<br />
Radio Bremen 1962 erworben, die Einweihung<br />
des Studios fand am 21. 3. 1967 statt.<br />
In der Verwaltung ging es nicht weniger turbulent<br />
zu. Immer mehr Vorschriften, <strong>im</strong>mer<br />
differenziertere Anforderungen und ebenfalls<br />
viele neue technische Möglichkeiten machten<br />
auch hier Umbau, Ausbau und Erweiterungen<br />
unumgänglich. Und schließlich: Tarifverträge,<br />
Arbeitsrecht, Rechtsprechung und daraus folgende<br />
Maßnahmen. Auch sie trugen zum Aus-<br />
und Anbau bei. Immer ein weiteres Z<strong>im</strong>mer,<br />
ein Flur, ein neues Stockwerk, ein neues Haus.<br />
Was wäre, wenn man einen Augenblick<br />
»rücksichtslos« (<strong>im</strong> recht verstandenen Sinne)<br />
sein, alle Bindungen und Abhängigkeiten vergessen<br />
dürfte? Wenn man sich »nur« der Frage<br />
zu stellen hätte, welcher Auftrag für eine Rundfunkanstalt<br />
letztlich best<strong>im</strong>mend, was von einer<br />
Rundfunkanstalt zu erwarten, was ihr Sinn und<br />
Zweck ist und wie Auftrag und Erwartungen <strong>im</strong><br />
21. Jahrhundert zu konkretisieren sind?<br />
Nach solchen grundsätzlichen Reflexionen<br />
dürfen einen dann die Rahmenbedingungen<br />
und Zwänge wieder einholen, vor allem auch<br />
die Frage, was mit dem vorhandenen Geld zu<br />
machen ist. Denn wenn nicht alles geht, muss<br />
man sich auf Prioritäten, auf eine Reihenfolge<br />
einlassen. Eins nach dem anderen, doch was<br />
zuerst und was danach? Wenn zehn Themen<br />
möglich sind, streitet man sich weniger um den<br />
ersten oder dritten Platz als um die letzten beiden<br />
oder die grundsätzliche Reihenfolge. Alle<br />
diese Diskussionen müssen notgedrungen lange<br />
Radio Bremen Neu <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 143
144<br />
<strong>im</strong> Vorfeld einer baulichen Konzeption geführt<br />
und entschieden werden. Der Neubau selbst ist<br />
dagegen dann eine vergleichsweise fast einfache<br />
Angelegenheit.<br />
_ Der Finanzrahmen<br />
Die Veränderungen bei Radio Bremen, die<br />
einer baulichen Entscheidung vorausgingen,<br />
waren – wie bereits angedeutet – gravierend.<br />
Radio Bremen war durch den Rückgang des<br />
Finanzausgleichs gezwungen, in nur fünf Jahren<br />
auf ein Drittel seines Etats und auf weitere<br />
Reduzierungen u. a. durch Gebührenausfälle,<br />
zusammen fast 40 Prozent seiner Einkünfte,<br />
zu verzichten. 2006 war von Anfang an das<br />
entscheidende Jahr. Dann war nämlich der Tiefpunkt<br />
der Einnahmen erreicht – und damit der<br />
Maßstab für ein Überleben, für die Zukunft des<br />
Senders.<br />
Die Aufgabe war einfach zu beschreiben:<br />
Die Ausgaben des Senders in diesem Jahr<br />
durften seine Einnahmen nicht überschreiten.<br />
Wenn dies für 2006 gelingen sollte und wenn<br />
die Einsparungen bis dahin strukturell und damit<br />
dauerhafter Natur sein sollten, würde der<br />
Sender auf der dann erzielten Basis eine Zukunft<br />
haben. Und damit stellt sich die Frage:<br />
Wie ist der Sender bis zu diesem Zeitpunkt so<br />
umzugestalten, zu verschlanken, dass er in das<br />
Zwangskorsett 2006 passt und dennoch »funktioniert«?<br />
Radio Bremen Neu:<br />
Jetzt <strong>im</strong> Stadtzentrum<br />
Radio<br />
Bremen<br />
Neu<br />
Hörfunk alt<br />
(Vahr)<br />
Fernsehen alt<br />
(Osterholz)<br />
Ziel war es naturgemäß, möglichst viel Geld<br />
in das Programm – die einzige Legit<strong>im</strong>ation<br />
einer Rundfunkanstalt – zu transferieren. Dies<br />
wiederum heißt: Best<strong>im</strong>mung des leistbaren<br />
Programmvolumens sowie der einzelnen Programmaktivitäten<br />
in Hörfunk und Fernsehen<br />
sowie Definition des dafür notwendigen Auf-<br />
wands für Personal, Technik und Verwaltung.<br />
Einfache Fragen, jedoch außerordentlich schwer<br />
zu berechnen und noch viel schwerer zu realisieren.<br />
Auch die Frage des Standorts wurde kritisch<br />
beleuchtet, analysiert und berechnet. Was<br />
brächte die Reduktion von zwei Standorten<br />
auf einen? Statt zwei Standorten mit je einem<br />
Empfang und Hausmeister, je einer Fahrbereitschaft,<br />
Kantine, Küche usw. alles nur noch ein<br />
Mal. Und noch viel mehr: an einem Standort<br />
nur noch eine Programmdirektion, eine Chefredaktion,<br />
integrierte Redaktionen für Politik,<br />
Wirtschaft, Regionales, Kultur, Wissenschaft,<br />
Musik, Sport – alles nur noch einmal und tr<strong>im</strong>edial<br />
gleichzeitig, Fachredaktionen, welche<br />
alle Programme in Hörfunk, Fernsehen und<br />
Internet mit Inhalten belieferten. Konkret also<br />
zum Beispiel: nur noch eine Nachrichtenredaktion<br />
für alle Programme statt einer für jede<br />
der vier Hörfunkwellen, für das Fernsehen und<br />
für das Internet. Und dann dies alles nicht am<br />
Rande der Stadt, sondern mittendrin, bei den<br />
Menschen, ihren Themen, ihren Sorgen und<br />
Anliegen, ihren Freuden und Leiden.<br />
Zurück zur Schilderung der »Anbauten«.<br />
Ganz typisch bei Radio Bremen abzulesen: der<br />
Hörfunk in Schwachhausen/Vahr. Später kam<br />
das Fernsehen hinzu. Man dachte groß und an<br />
Entfaltungsmöglichkeiten und setzte deshalb<br />
das Fernsehen in Osterholz auf ein Gelände,<br />
das keine Entwicklung verhindern würde. Der<br />
Stadtrand war für solche Planungen ideal; dazu<br />
der schnelle Autobahnanschluss mit raschen<br />
Verbindungen zur Welt.<br />
Der Nachteil: Die Lage des Fernsehens<br />
zwischen Einkaufszentren und Baumärkten,<br />
definitiv kein Medienstandort, und zwei weit<br />
auseinanderliegende Betriebsstätten für Radio<br />
Bremen, eine für den Hörfunk und eine für<br />
das Fernsehen, förderten nicht unbedingt die<br />
Zusammenarbeit. Faktisch wurden zwei Betriebsteile<br />
eines Unternehmens geschaffen, die<br />
so gut wie nichts miteinander zu tun hatten,<br />
weshalb notgedrungen vieles doppelt vorgehalten<br />
und zweifach organisiert werden musste:<br />
Dubletten in der Verwaltung und der Produktion<br />
und selbstverständlich auch <strong>im</strong> Programm:<br />
zwei Direktoren, einer für Hörfunk und einer<br />
für Fernsehen, zwei Chefredakteure, zwei Mal<br />
Fachleute <strong>im</strong> Hörfunk und <strong>im</strong> Fernsehen für<br />
dasselbe Regionale, dieselben Fragen von Wirtschaft,<br />
Gesellschaft und Kultur für Hörfunk<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08
und Fernsehen. Die Vorteile einer Zusammenlegung<br />
der beiden Standorte waren also schon auf<br />
den ersten Blick nicht von der Hand zu weisen.<br />
Die größere Nähe der Mitarbeiter und die Möglichkeit<br />
der Vereinfachung <strong>im</strong> eben beschriebenen<br />
Verständnis. Und natürlich drängte sich die<br />
Frage auf, wie sich die geplante drastische personelle<br />
Verkleinerung des Senders auf die Größe<br />
der Betriebsfläche auswirken würde.<br />
Das Ergebnis langer und intensiver Berechnungen<br />
und Planungen war: Bei äußerster<br />
Sparsamkeit könnte die Hälfte der bisherigen<br />
Betriebsfläche eingespart werden. Gesagt, ge-<br />
plant: eine Reduzierung der Fläche von ehemals<br />
rund 33 000 m 2 auf circa 17 000 m 2 , statt zwei<br />
Standorten nur ein Komplex. Einsparungen in<br />
Millionenhöhe wurden auf diese Weise identifiziert,<br />
die spätestens in 20 Jahren die Kosten für<br />
den Neubau einschließlich der neuen Technik<br />
amortisieren. Nicht verschwiegen werden soll<br />
an dieser Stelle, dass erst jetzt – durch die Digitalisierung<br />
– die technischen Voraussetzungen<br />
gegeben waren, die diese radikale Umstrukturierung<br />
hin zu tr<strong>im</strong>edialen Arbeitsprozessen<br />
ermöglichen.<br />
Apropos Technik: Diese war bei Radio Bremen<br />
in vielen Bereichen so gut wie museumsreif.<br />
Nicht selten gab es Engpässe, weil nicht<br />
einmal mehr Ersatzteile am Markt zu finden<br />
waren. Doch Rücklagen für die Beschaffung<br />
von Ersatzgeräten waren nicht (mehr) vorhanden.<br />
Eine fatale Situation, die mit absoluter<br />
Sicherheit schon in naher Zukunft zum technischen<br />
Kollaps geführt hätte und damit zum<br />
programmlichen Aus.<br />
Eine Rundfunkanstalt mit Programm-Ideen,<br />
die aber nicht zu den Menschen gebracht werden<br />
können, weil sie nicht mehr über technische<br />
Möglichkeiten verfügt! Das wäre nicht das<br />
gewesen, was dem Sinn und Zweck einer solchen<br />
Einrichtung entsprochen hätte.<br />
_ Die Idee des Neubaus setzt sich durch<br />
Nur ein Befreiungsschlag – ein neues, kleineres,<br />
aber funktionsgerechtes Haus mit moderner<br />
Technik – konnte helfen. Und dieser Befreiungsschlag<br />
wurde versucht. Auch wenn der<br />
Grat, sich dem Spott eines Senders, seiner Gremien<br />
oder gar einer Stadt auszusetzen, sehr<br />
schmal ist. Radio Bremen und ein neuer Bau!<br />
Mit welchen Mitteln denn nur? Haben die<br />
den Verstand verloren und jedes Augenmaß?<br />
Dem Gedanken mussten umfangreiche Berechnungen<br />
von Mindestgröße und dafür erforderlichen<br />
Min<strong>im</strong>alinvestitionen folgen. Starker<br />
Glaube, dass es vielleicht doch gehen könnte,<br />
war gefragt und die Hoffnung, dass die erforderlichen<br />
Mittel auf irgendeine Weise doch zu »organisieren«<br />
wären – auch wenn die langfristigen<br />
Einsparungen und Vorteile zunächst niemand<br />
sehen konnte, vor allem sogar glauben mochte.<br />
Die Untersuchungen und Modelle mit ihren<br />
jeweiligen Kostenplänen, die unzähligen Ideen<br />
und Versuche, Unterstützung zu erhalten, füllen<br />
inzwischen viele Aktenordner. Es galt, Menschen<br />
und Gremien davon zu überzeugen, dass<br />
ein Neubau auf Zukunft gesehen die bessere<br />
(beste) Lösung sein würde. Und vor allem galt<br />
es nachzuweisen, dass sich der Sender dieses<br />
waghalsige Unterfangen würde leisten können.<br />
Grundsteinlegung für das neue Funkhaus<br />
von Radio Bremen am 13. 6. 2005: Bremens<br />
Bürgermeister Henning Scherf (l.) mit Jens<br />
Eckhoff (r.), Senator für Bau, Umwelt und Verkehr.<br />
Heinz Glässgen (2. v. l.) und Thomas<br />
Gruber, <strong>ARD</strong>-Vorsitzender, schauen ihnen zu.<br />
_ <strong>ARD</strong>-Solidarität führt zum Erfolg<br />
Den Durchbruch brachte eine <strong>ARD</strong>-Entscheidung.<br />
Es gelang, die anderen Landesrundfunkanstalten<br />
von der Notwendigkeit einer Hilfe<br />
für Radio Bremen und den SR zu überzeugen.<br />
Eine wunderbare Dokumentation der Solidarität<br />
und des Zusammenhalts innerhalb der<br />
<strong>ARD</strong>, deren Mitglieder Radio Bremen (und<br />
dem SR) schließlich Prioritäten <strong>im</strong> Bereich der<br />
Investitionen zubilligten und eigene Wünsche<br />
und Vorhaben nach hinten verschoben. Die<br />
Neuorganisation und der Neubeginn von Radio<br />
Bremen erhielten Vorrang. Ein großartiger<br />
Beweis der Loyalität, hervorgerufen durch die<br />
Erkenntnis, dass die politisch verordnete dras-<br />
Radio Bremen Neu <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 145
146<br />
tische Reduzierung der Senderfinanzen und<br />
die einschneidenden Reformvorhaben der<br />
kleineren Rundfunkanstalten von diesen allein<br />
nicht zu bewältigen sein würden. Gleichzeitig<br />
drückt sich darin die Anerkennung für diesen<br />
unbedingten Reformwillen und die bisher geleisteten<br />
Anstrengungen aus. Be<strong>im</strong> Sparen hatte<br />
Radio Bremen bei sich selber angefangen und<br />
nicht pr<strong>im</strong>är auf die Gemeinschaft der Rundfunkanstalten<br />
gelauert. Sparen kostet in vielen<br />
Fällen zuerst Geld, sei es durch Personalabbau,<br />
sei es bei Haus und Technik.<br />
Erst wenn diese neu und verändert vorhanden<br />
sind, können sich nach einiger Zeit Einspareffekte<br />
zeigen. Die <strong>ARD</strong> rechnete alle<br />
Modelle akribisch nach – und ließ sich von<br />
den Vorteilen überzeugen. Ein großer Teil der<br />
erforderlichen Mittel, genauer die errechneten<br />
Gesamtkosten für Bau und Technik abzüglich<br />
der durch Veräußerung der Altstandorte zu<br />
erzielenden Einnahmen, wurde als verlorener<br />
Zuschuss zugesagt. Ein großes Geschenk. In<br />
der ansonsten fast aussichtslosen Situation des<br />
Senders in Bremen ein kleines (großes) Wunder.<br />
Zur Rest-Finanzierung der Zukunft war dann<br />
»nur« noch die Veräußerung der alten Grundstücke<br />
notwendig – ein gleichwohl aufwändiger<br />
und nervenaufreibender Vorgang. Doch<br />
wenn alles gut geht, ist die Zukunft von Radio<br />
Bremen – nach der langen und dennoch vergleichsweise<br />
äußerst schnellen Phase der Veränderungen<br />
– bis auf weiteres gesichert.<br />
_ Was fehlt in der Beschreibung<br />
Dies sind in kürzesten Verweisen nur einige Beispiele<br />
der notwendigen Vor-Vor-Überlegungen<br />
und Vor-Entscheidungen, die Radio Bremen<br />
Neu vorauszugehen hatten, die unerlässlich<br />
sind für die Konzeption eines Bau-Vorhabens.<br />
Erst wenn die Frage, was man überhaupt und<br />
wie wollen kann, geklärt ist, stellen sich solche<br />
nach einem konkreten Ort, nach den Kriterien,<br />
die dieser zu erfüllen hat, nach den städtebaulichen<br />
Gegebenheiten und Vorschriften. Fragen<br />
eines Gesamtkonzepts, das einem Wettbewerb<br />
von Architekten und Generalplanern vorausgehen<br />
muss, der Gestaltung der Kosten, ihre Aufteilung<br />
auf Bau und Medientechnik, der Prinzipien<br />
eines Raum- und Funktionskonzepts, der<br />
Grundsätze einer medientechnischen Ausgestaltung<br />
sind danach ebenso grundsätzlich wie<br />
detailliert anzugehen und zu lösen.<br />
Wer bauen will, muss viele Hürden nehmen.<br />
Auch solche der Vorschriften von Politik und<br />
Behörden. Ein eigenes Kapitel. Viele weitere<br />
Haus Diepenau (o.), das Herz des neuen Gebäudekomplexes,<br />
mit Fachredaktionen, Programmredaktionen<br />
und Geschäftsführung.<br />
Weser-Haus (u.): Hier sind Programmredaktionen<br />
(Hörfunk), Studios und Produktionseinheiten<br />
untergebracht.<br />
Kapitel wären zu schreiben, um den Gang der<br />
Dinge vom Beginn bis zur Gegenwart nachzuzeichnen.<br />
Kapitel über:<br />
_ Planung, Ausschreibung, Wettbewerb;<br />
_ Einrichtung von Arbeitsstrukturen, Erstellen<br />
von Leistungsverzeichnissen, Beauftragung von<br />
Firmen;<br />
_ Mittelplanung und -beschaffung;<br />
_ Erarbeitung von Raum- und Funktionskonzepten;<br />
_ Arbeit von Projektgruppe, Lenkungsausschuss<br />
und vielen anderen Gruppen;<br />
_ Auseinandersetzungen und Zusammenarbeit<br />
mit Behörden, Gremien und Mitarbeiterschaft<br />
und viele tägliche Entscheidungen, tägliche<br />
Überraschungen und ein paar Erfolgserlebnisse.<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08
Ein Schlaglicht beleuchtet das Ausmaß der<br />
gesamten Aktivitäten bei Radio Bremen: In den<br />
letzten Jahren der Reformen auf allen Ebenen<br />
und in allen Bereichen des Senders wurden<br />
bei Radio Bremen weit mehr Tarifverträge und<br />
Dienstvereinbarungen erdacht, verhandelt und<br />
geschlossen als in den vorherigen fast 60 Jahren<br />
seiner Geschichte zusammengenommen: Veränderungen<br />
nach außen und nach innen, neue<br />
Programme, eine neue Situationsbest<strong>im</strong>mung<br />
innerhalb der <strong>ARD</strong>, eine tief greifende neue<br />
Organisation innerhalb des Senders und insbesondere<br />
durch die Ausgliederung der gesamten<br />
Produktion und Technik in das Beteiligungsunternehmen<br />
Bremedia Produktion, in das Tochterunternehmen<br />
Radio Bremen Media sowie in<br />
die Firma Bremer Bühnenhaus.<br />
_ Eines der modernsten Funkhäuser Europas:<br />
die Architektur<br />
Mit Beton wird nicht selten eine Entwicklung<br />
fixiert, eine Bedeutung postuliert. Die Neu-<br />
Konzeption von Radio Bremen wurde mit<br />
Augenmaß und einer größtmöglichen Berücksichtigung<br />
zukünftiger Optionen ersonnen und<br />
umgesetzt. Mit dem Neubau ist für die Zukunft<br />
nichts verbaut. Die Eigenständigkeit Radio<br />
Bremens kann hier ebenso gelebt werden wie<br />
eine verstärkte Kooperation. Diese Kooperation<br />
<strong>im</strong> Norden zwischen NDR und Radio Bremen<br />
existiert bereits auf zahlreichen Ebenen: Das<br />
gemeinsame dritte Fernsehprogramm und das<br />
Nordwestradio, das gemeinsame Hörfunk-Programm<br />
aus Bremen für die Region Bremen-Oldenburg,<br />
dokumentieren diese Zusammenarbeit<br />
beispielhaft. Gleichwohl kann diese Kooperation<br />
noch ausgebaut werden.<br />
Der Neubau Radio Bremens <strong>im</strong> Stephaniviertel<br />
war seit August 2007 bezugsfertig. Über<br />
200 Handwerker sorgten mit Hochdruck Tag<br />
und Nacht dafür, dass der gesetzte Termin eingehalten<br />
werden konnte. Die drei Häuser zeigen,<br />
wie sich das Viertel zwischen Faulenstraße<br />
und Weser künftig präsentieren wird. Vergleicht<br />
man die architektonisch anspruchsvollen Bauten<br />
mit dem, was vorher dort stand, ist der<br />
deutliche Gewinn für den Stadtteil, manchen<br />
als »Faulenquartier« bekannt, von niemandem<br />
zu leugnen.<br />
Radio Bremen hat durch seine Entscheidung,<br />
in diesem Stadtteil zu investieren, zu<br />
einer unbestreitbaren städtebaulichen Verbesserung<br />
beigetragen. Denn in Folge dieser Entscheidung<br />
wurden nicht nur drei neue Gebäude<br />
errichtet. Gemeinsam mit dem renovierten und<br />
erweiterten Bamberger Haus und dem neuen<br />
Stephani-Parkhaus, dem schönsten Parkhaus<br />
der Stadt, sind fünf neue, in jeder Hinsicht<br />
vorzeigbare Objekte entstanden. Sie werden<br />
einen Aufbruch eines bislang vernachlässigten<br />
Stadtviertels bewirken, der von den bereits ansässigen<br />
und den »neuen« Institutionen getragen<br />
wird.<br />
Am 13. 6. 2005, sechs Jahre nach der Kündigung<br />
des Finanzausgleichs, fand die Grundsteinlegung<br />
des neuen, modernen Funkhauses<br />
<strong>im</strong> Stephaniviertel statt. Zwei Jahre später bereichern<br />
drei neue, architektonisch wertvolle<br />
Gebäude ein vergessen geglaubtes Viertel. Das<br />
Haus Diepenau ist das »Redaktionshaus«, das<br />
Weser-Haus ist das »Produktionshaus« mit den<br />
Hörfunkwellen Bremen Eins, Bremen Vier und<br />
Nordwestradio, dem Funkhaus Europa sowie<br />
der Bremedia Produktion und den Studios.<br />
Im Stephani-Haus befinden sich das Radio-<br />
Bremen-Archiv, die Musikredaktion und die<br />
Fernseh-Hauptschaltraum <strong>im</strong><br />
neuen Radio-Bremen-Funkhaus<br />
Verwaltung des Senders. Alles ist nicht nur technisch<br />
miteinander verbunden, sondern auch<br />
gut zu erreichen über die Brücken, die zwischen<br />
den Häusern gespannt sind. In der zweiten<br />
Hälfte des Jahres 2007 fand schließlich der<br />
große Umzug statt. Seit Ende 2007 kommen<br />
alle Sendungen aus dem neuen Haus.<br />
_ Die technische Ausstattung<br />
und die veränderten Arbeitsbedingungen<br />
Es ist allgemein viel von Konvergenz der Technik<br />
die Rede: Die Technik wächst zusammen<br />
und verändert die gesamte Medienwelt. Bei<br />
Radio Bremen Neu <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 147
148<br />
Radio Bremen wird die Konvergenz der Technik<br />
durch die Konvergenz der Redaktionen komplettiert.<br />
Integration ist angesagt, radikale Steigerung<br />
der Effizienz und der Flexibilität. Unverzichtbare<br />
Faktoren zur Sicherung der Zukunft<br />
des Senders <strong>im</strong> Nordwesten der Republik. Und<br />
dies alles wird ermöglicht durch einen Neubau,<br />
der dieser Konzeption entspricht, der diese inneren<br />
Strukturen architektonisch umsetzt.<br />
Das Vorhaben, zwei bislang getrennte Betriebsteile<br />
an einem Standort zusammenzuführen,<br />
bot die Chance einer tief greifenden inneren<br />
Veränderung der Organisation des Senders.<br />
Was bislang schon aus Gründen getrennter<br />
Standorte doppelt »vorgehalten« werden musste,<br />
konnte jetzt an einem Ort zusammengefasst<br />
werden: nur noch eine Programmdirektion<br />
für Hörfunk, Fernsehen und Internet und<br />
damit eine Vereinfachung und Verbesserung<br />
der Zusammenarbeit der unterschiedlichen<br />
Programme und Redaktionen. Nur noch eine<br />
Bremen-Eins-Moderatorin<br />
am Moderationspult <strong>im</strong> neuen Funkhaus<br />
von Radio Bremen<br />
Chefredaktion und vor allen Dingen medien-<br />
und programmübergreifende Fachredaktionen,<br />
die ihre Inhalte tr<strong>im</strong>edial in unterschiedlicher<br />
Weise allen Programmen zur Verfügung stellen.<br />
Selbst wenn dabei naturgemäß ein einzelner Reporter<br />
die Beiträge nicht gleichzeitig für unterschiedliche<br />
Hörfunkprogramme, das Fernsehen<br />
und das Internet gestalten kann, sind Kompetenz<br />
und Wissen einer Fachredaktion für alle<br />
Programmredaktionen in Hörfunk, Fernsehen<br />
und Internet verfügbar.<br />
Die neue Technik wurde auf diese Konzeption<br />
hin maßgeschneidert: ein für Hörfunk,<br />
Fernsehen und Internet gemeinsames Redaktionssystem,<br />
das für alle zugänglich ist, in das<br />
alle Vorgänge, Planungen, Aufnahmen und<br />
Ausspielungen eingespeist werden. Dieses System<br />
leistet und garantiert höchste Transparenz,<br />
schafft die Möglichkeit der Mehrfachnutzung<br />
von Erkenntnissen und Materialien, die sich<br />
orientiert am unterschiedlichen Bedarf hinsichtlich<br />
der Hörer- und Zuschauergewohnheiten<br />
und -erwartungen. Die Zukunft des öffentlichrechtlichen<br />
Rundfunks entscheidet sich an der<br />
Frage der inhaltlichen Kompetenz, der Qualität<br />
der <strong>Information</strong>, seines Umgangs mit Themen.<br />
Die Organisation einer Rundfunkanstalt muss<br />
sich in ihrer Gesamtorganisation einschließlich<br />
ihrer technischen Ausstattung diesem Unternehmensziel<br />
und -zweck unterordnen.<br />
_ Ausblick<br />
Die Zukunft ist gewonnen. Radio Bremen ist<br />
von den Voraussetzungen des Programms, der<br />
Organisation und der Technik gerüstet. Die<br />
Zukunft wird freilich dem Sender nicht automatisch<br />
und ein für alle Mal geschenkt. Um sie<br />
muss weiterhin gekämpft werden, nach außen,<br />
aber auch nach innen. Lösungen für eine für<br />
<strong>im</strong>mer garantierte rosige Zukunft, eine Zukunft<br />
ohne Probleme gibt es nicht. Allerdings ist<br />
nicht zu bestreiten: Wenn Radio Bremen die<br />
hohen Hürden der vergangenen Jahre nicht genommen<br />
und die Probleme nicht mithilfe des<br />
<strong>ARD</strong>-Verbundes gemeistert hätte, könnten die<br />
Herausforderungen der nächsten Jahre nicht angegangen<br />
werden. Nur wer den einen Berg hinter<br />
sich gelassen hat, kann sich dem nächsten<br />
zuwenden. Und wer große Probleme erfolgreich<br />
bestanden hat, wird auch kleinere bewältigen.<br />
Prof. Dr. Heinz Glässgen,<br />
Intendant von Radio Bremen<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08
Als SDR und SWF 1998 zum SWR fusionierten, war das<br />
ein Meilenstein in der fast 50-jährigen Geschichte der<br />
<strong>ARD</strong>. In der schwieriger werdenden wirtschaftlichen<br />
Situation stellten die beiden <strong>ARD</strong>-Anstalten mit diesem<br />
Schritt die Reformfähigkeit des öffentlich-rechtlichen<br />
Rundfunks unter Beweis. Der Mut zur Neuordnung<br />
hatte nicht nur Signalwirkung auf andere Bereiche und<br />
Rundfunkanstalten, er setzte auch Mittel für einen<br />
Modernisierungsprozess frei, der Programm und Produk-<br />
tion gleichermaßen zugutekommt. Und nicht zuletzt<br />
veränderte die Fusion das Kräfteverhältnis innerhalb des<br />
<strong>ARD</strong>-Verbundes.<br />
Steiniger Weg<br />
Eine (Zwischen-)Bilanz über zehn Jahre SWR, die den<br />
bisherigen Prozess reflektiert und zugleich zeigt, dass<br />
Beweglichkeit Voraussetzung bleibt für die Zukunfts-<br />
fähigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.<br />
Das erste Fusionskind des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, der SWR,<br />
wird zehn Jahre alt<br />
Von Peter Boudgoust<br />
D<br />
ieser Weg wird kein leichter sein,<br />
dieser Weg wird steinig und schwer<br />
. . .«, singt Xavier Naidoo in einem bekannten<br />
Lied. Naidoo, als Mannhe<strong>im</strong>er<br />
<strong>im</strong> Sendegebiet des SWR groß geworden,<br />
hat mit dem »Weg« nicht die Fusion von SDR<br />
und SWF gemeint. Aber mir geht es so, dass<br />
ich, wenn ich das Lied bei SWR3 höre, unwillkürlich<br />
daran denken muss.<br />
»Eine Fusion macht man nur einmal <strong>im</strong><br />
Leben«, sagte mir einmal einer ihrer Väter, der<br />
SWR-Gründungsintendant Peter Voß. Auch<br />
die Gründungsmütter und -väter, die später den<br />
SFB und den ORB zum RBB verschmolzen,<br />
könnten von ihrem steinigen Weg ein Lied singen<br />
. . .<br />
Weshalb war die Geburt des SWR, die nunmehr<br />
zehn Jahre zurückliegt, so schwer? Vor<br />
allem kam sie spät. In 50 Jahren mehr oder minder<br />
friedlicher Koexistenz hatten sich der SDR<br />
und der SWF zu zwei eigenständigen, angesehenen<br />
<strong>ARD</strong>-Häusern entwickelt. Beide setzten<br />
in Radio und Fernsehen unterschiedliche Akzente,<br />
was das Angebotsspektrum in der <strong>ARD</strong><br />
nur reicher machte. An Rhein, Neckar und Oos<br />
wurde für Baden-Württemberg und Rheinland-<br />
Pfalz – und <strong>im</strong> <strong>Ersten</strong> für die ganze Republik<br />
– attraktives Radio und Fernsehen gemacht –,<br />
nicht zuletzt weil die Konkurrenz von SDR<br />
und SWF den Sportsgeist anstachelte: »Wollen<br />
wir doch einmal sehen, ob wir das nicht besser<br />
können!«<br />
Um es klar zu sagen: Die Fusion kam nicht,<br />
weil die Programmqualität von SDR und SWF<br />
zu wünschen übrig ließ. Die Fusion kam, da-<br />
Zehn Jahre SWR <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 149
150<br />
mit gute Journalisten weiter dasselbe Geld zum<br />
Produzieren ihrer Programme haben. Und in<br />
schlankeren Strukturen arbeiten, die weniger<br />
Geld kosten und weniger Energie binden. Das<br />
wiederum hat eine Rückwirkung auf das Programm,<br />
es wird noch besser. So konnte <strong>im</strong> Falle<br />
des SWR die regionale Berichterstattung <strong>im</strong><br />
Vergleich zu den Möglichkeiten der Vorgängeranstalten<br />
deutlich verstärkt werden.<br />
_ Künstliche Nachbarschaft<br />
So angesehen SDR und SWF als jeweils eigenständige<br />
Häuser waren, sie blieben – anders als<br />
etwa der HR und der SWF, bei denen Landes-<br />
und Sendergrenze deckungsgleich sind – künstliche<br />
Nachbarn. Bedingt durch die Aufteilung<br />
Deutschlands 1945 in Besatzungszonen, teilten<br />
ihre Sendegebiete das Bundesland Baden-Württemberg;<br />
zugleich schloss das Sendegebiet des<br />
SWF neben diesem halben Land das komplette<br />
Bundesland Rheinland-Pfalz ein. Und weil Radio<br />
nicht an einer Autobahn, der A 8 zwischen<br />
Karlsruhe und Stuttgart als ehemaliger Zonengrenze,<br />
haltmacht, waren die Programme des<br />
SWF in weiten Teilen des SDR-Sendegebietes<br />
zu empfangen – und umgekehrt. Politik und<br />
Rundfunk haben sich diese künstliche Nachbarschaft<br />
50 Jahre lang geleistet, in einem doppelten<br />
Sinn. Außer fürs Programm-Machen<br />
floss viel Geld und Energie in Selbsterhaltung.<br />
»Wer baut, der bleibt«, hieß ein süffisanter Leitspruch<br />
<strong>im</strong> SWF. Der SDR wuchs mit dem Anspruch,<br />
von einer Landeshauptstadt aus zu senden.<br />
Und baute ebenfalls. Zwei große Schiffe<br />
kreuzten in einem überschaubaren Gewässer.<br />
Als das Geld weniger wurde, drohte eine Umverteilung<br />
gegen den Anspruch und Willen des<br />
Gebührenzahlers: Weniger Geld für das »An<strong>im</strong>ationsprogramm«<br />
auf dem Deck, mehr Geld<br />
für Kombüse und Diesel.<br />
Hermann Fünfgeld und Peter Voß, die Intendanten<br />
von SDR und SWF, aber auch schon<br />
Voß’ Vorgänger Willibald Hilf hatten bereits<br />
Felder der Zusammenarbeit geschaffen, um<br />
das Geld, wie der Mannhe<strong>im</strong>er Fünfgeld sagen<br />
würde, »zusammenzuhalten«: das gemeinsame<br />
Fernsehprogramm (an dem auch der SR mitwirkt),<br />
ein gemeinsames Kulturradio und ein<br />
Hörfunkprogramm mit regionalen Fenstern.<br />
Aber die Hebe- und Tauchversuche reichten<br />
nicht aus. Mit der Einführung des dualen<br />
Rundfunksystems in Deutschland Anfang der<br />
80er Jahre war es – auch – be<strong>im</strong> öffentlichrechtlichen<br />
Rundfunk mit Zuwachsraten wie<br />
in den 70ern vorbei. Seit vielen Jahren fangen<br />
die Erhöhungen der Rundfunkgebühren die<br />
medienspezifische Teuerungsrate nur noch teilweise<br />
auf.<br />
Es ist das rundfunkhistorische Verdienst<br />
von Hermann Fünfgeld und Peter Voß, seinerzeit<br />
erkannt zu haben: Wenn SDR und SWF<br />
jetzt nicht fusionieren, könnten die Häuser in<br />
zehn, zwanzig Jahren zwar noch die Gehälter<br />
der Mitarbeiter zahlen, müssten jedoch mit<br />
weniger Programm auskommen. Oder mit weniger<br />
Programmqualität! Das würde – und hier<br />
liegt der Schlüssel zur damaligen weitsichtigen<br />
Motivation von Fünfgeld und Voß – SDR und<br />
SWF die Gebührenakzeptanz entziehen und<br />
das öffentlich-rechtliche System, Garant unseres<br />
demokratisch verfassten Zusammenlebens, als<br />
Ganzes gefährden.<br />
Zu diesem Schritt gehörte aber nicht nur<br />
Weitsicht, sondern auch Mut, denn die Politik<br />
hatte das Thema »Neuordnung des öffentlichrechtlichen<br />
Rundfunks <strong>im</strong> Südwesten« nach<br />
diversen Versuchen, die alle gescheitert waren,<br />
von der Tagesordnung genommen – wenigstens<br />
einstweilen. Die Ministerpräsidenten Erwin<br />
Teufel und Kurt Beck gaben aber das Signal:<br />
Wenn die Intendanten ein gemeinsames Konzept<br />
vorlegen, können wir darüber sprechen!<br />
Nach dieser Voraussetzung sah es zunächst<br />
nicht aus. Hermann Fünfgeld trat mit dem<br />
Konzept eines »Landessenders« an, die Ländergrenzen<br />
sollten auch Sendegebietsgrenzen<br />
sein. Peter Voß entwickelte zusammen mit dem<br />
damaligen SWF-Hauptabteilungsleiter Produktion,<br />
Hermann Eicher, das Konzept einer »bei-<br />
Die »Väter« der Fusion <strong>im</strong> Südwesten:<br />
SDR-Intendant Hermann Fünfgeld (l.) mit<br />
Peter Voß, damals noch SWF-Intendant<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08
trittsoffenen Zwei-Länder-Anstalt«, sprich eines<br />
Rundfunkhauses für – mindestens – Baden-<br />
Württemberg und Rheinland-Pfalz. Dass sich<br />
Voß’ Konzept durchsetzte, lag nicht am legendären<br />
Temperament des Vollblutjournalisten,<br />
sondern an der rationalen Einsicht aller Beteiligten<br />
in Sendern und Politik, dass eine eigene<br />
<strong>ARD</strong>-Anstalt für Rheinland-Pfalz, wo ja schon<br />
das ZDF seinen Sitz hatte, die Probleme ganz<br />
wörtlich verschieben und nicht lösen würde.<br />
Man hätte, um das marit<strong>im</strong>e Bild zu bemühen,<br />
das Gewässer geteilt, aber die Zahl der Schiffe<br />
belassen.<br />
_ Fusionseffekt für das Programm<br />
Rein rechnerisch ging mit der SWR-Gründung<br />
Programm <strong>im</strong> Hörfunk verloren – SDR und<br />
SWF verfügten über jeweils zwei eigene Programme<br />
und gestalteten zwei weitere Programme<br />
gemeinsam. Nach dem 1. 9. 1998 gab<br />
es vier Radioprogramme, SWR1 bis SWR4.<br />
Zugleich hat diese Fusion aber auch Programm<br />
geschöpft – die Entwicklung von DASDING,<br />
dem mult<strong>im</strong>edialen Jugendangebot des SWR,<br />
und von SWR cont.ra, dem digitalen <strong>Information</strong>sradio,<br />
wäre ohne sie nicht möglich gewesen.<br />
Hier wurden Menschen und Geld frei, um das<br />
Hörfunkangebot des SWR gemäß dem Programmauftrag<br />
des SWR und den Ansprüchen<br />
der Hörer entsprechend neu zu justieren. Das<br />
bedeutete nicht Expansion, wie Kritiker des<br />
öffentlich-rechtlichen Systems gern behaupten,<br />
sondern Diversifizierung.<br />
Im Fernsehen standen die Effekte der Fusion<br />
schon bald – ganz wörtlich – vor aller Augen.<br />
Der SWR startete mit zwei gestärkten Landesprogrammen<br />
in einem gemeinsamen Dritten<br />
Programm, und das in dem Bewusstsein, dass<br />
regionale Berichterstattung für die Zuschauer<br />
<strong>im</strong>mer wichtiger wird. Durch die Bündelung<br />
von Produktionskapazitäten gelang es, die Marken<br />
von SDR und SWF in der <strong>ARD</strong> mit neuen<br />
Impulsen zu versehen. Und ganz neue Marken<br />
zu setzen – das »<strong>ARD</strong>-Buffet« zum Beispiel gehört<br />
zu den programmlichen Neuschöpfungen,<br />
die aus der deutschen Fernsehlandschaft wegen<br />
ihres großen Erfolges nicht mehr wegzudenken<br />
sind.<br />
_ Wirtschaftliche Effekte der Fusion<br />
Es ist nicht ganz einfach zu sagen, wie viel<br />
Synergieeffekte und Einsparungen durch den<br />
Zusammenschluss von SDR und SWF erzielt<br />
worden sind. Denn natürlich verursacht die<br />
Erwin Teufel (l.) und Kurt Beck bei der<br />
Unterzeichnung des Staatsvertrags über den<br />
Südwestrundfunk <strong>im</strong> Mai 1997<br />
Zusammenlegung zweier mittelgroßer Sender<br />
zunächst auch Aufwand, etwa für Dienstreisen,<br />
neue Briefbögen und mehr. Doch die fusionsbedingten<br />
Einsparungen überwiegen nach kurzer<br />
Zeit diese Mehraufwendungen bei weitem:<br />
Allein in der Gebührenperiode 2001 bis 2004<br />
um 27,4 Mio Euro, in der Gebührenperiode<br />
2005 bis 2008 werden es weitere 61 Mio Euro<br />
sein.<br />
Dabei sollte man gewahr bleiben, dass ein<br />
öffentlich-rechtlicher Sender ganz bewusst<br />
kein kommerzielles Unternehmen ist, das Gewinn<br />
erzielen und max<strong>im</strong>ieren muss. Es erfüllt<br />
einen Grundversorgungsauftrag, wie ihn das<br />
Bundesverfassungsgericht formuliert hat, und<br />
bezieht dafür Gebühren von seinen Hörern<br />
und Zuschauern. Frei werdendes Geld wird in<br />
gesellschaftlich relevantes Programm investiert<br />
– vielfach in Programm, das kein kommerzieller<br />
Anbieter leistet. Öffentlich-rechtlicher Rundfunk<br />
ist eine Infrastrukturleistung für die Wissensgesellschaft.<br />
Und doch gibt es wirtschaftliche Eckdaten,<br />
Prognosen und Erwartungen: etwa den Abbau<br />
von 650 Planstellen, womit die Organisation<br />
SWR schlanker und – um wieder das Bild<br />
vom Schiff zu bemühen – besser manövrierbar<br />
wurde. Das war ein klarer Anspruch an den<br />
öffentlich-rechtlichen Rundfunk, nachdem die<br />
Sendeanstalten bereits seit der Rezession Ende<br />
der 70er Jahre ihren Umbau eingeleitet hatten<br />
und auch der öffentliche Dienst reorganisiert<br />
worden war.<br />
Zehn Jahre SWR <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 151
152<br />
Alles digital: Morningshow-Moderator<br />
Michael Wirbitzky <strong>im</strong> neuen SWR3-Studio<br />
Die Tatsache, dass es <strong>im</strong> Südwesten seit<br />
1998 nicht mehr zwei, sondern einen Produktionsbetrieb<br />
gibt, nur noch eine Verwaltung die<br />
Kantinen in Stuttgart, Baden-Baden und Mainz<br />
steuert, ein gemeinsames Play-Out-Center in<br />
Baden-Baden das Fernsehprogramm abspielt,<br />
keine unterschiedlichen Programmplanungs-<br />
Systeme mehr eingesetzt werden, eröffnet enormes<br />
Sparpotenzial: Es handelt sich fraglos um<br />
Millionen von Euro, die bei diesen und vielen<br />
anderen Beispielen Jahr für Jahr frei werden<br />
und in das Programm fließen (können).<br />
In ein Programm, dessen Plattformen sich<br />
in den zehn Jahren seit der Fusion dramatisch<br />
diversifiziert haben. In den Überlegungen von<br />
Hermann Fünfgeld und Peter Voß spielten<br />
die zwei Modernisierungsschübe des öffentlichrechtlichen<br />
Rundfunks, das Internet und die<br />
Digitalisierung, noch keine Rolle. Diese Entwicklungen<br />
waren Anfang der 90er Jahre nicht<br />
absehbar, weder in ihrem Tempo noch in ihrer<br />
D<strong>im</strong>ension. Gleichwohl schrieb Peter Voß<br />
schon <strong>im</strong> Jahr 1996: »Wir brauchen mehr Flexibilität<br />
auf einem sich radikal verändernden<br />
Medienmarkt mit seinen neuen Herausforderungen.«<br />
Die Herausforderungen Internet und<br />
Digitalisierung verlangen, das Schiff SWR weiter<br />
umzubauen, Hierarchien zu hinterfragen,<br />
neue Berufsbilder zu schaffen, die bisweilen<br />
noch vorhandenen Schlagbäume zwischen den<br />
klassischen Medien Radio und Fernsehen zu<br />
heben. Mit einem Wort: Sie verlangen Beweglichkeit<br />
– eine Beweglichkeit, für die der<br />
Zusammenschluss von SDR und SWF die entscheidende<br />
Voraussetzung geschaffen hat.<br />
_ Zwei Modernisierungschübe<br />
Ich hatte in den vergangenen zehn Jahren bisweilen<br />
den Eindruck, dass die negativen Begleiterscheinungen<br />
einer Fusion – Sorge um<br />
die Qualität der journalistischen Produkte,<br />
persönliche (auch verständliche!) Unruhe der<br />
Mitarbeiter, schwierige Überführung der alten<br />
Struktur in die neue – wenigstens in einem<br />
Sinne etwas Gutes hatten: Das Bewusstsein für<br />
Qualitätssicherung und die Einsicht in notwendige<br />
Veränderungen war bereits geschärft,<br />
als die genannten Modernisierungsschübe die<br />
<strong>ARD</strong>-Häuser erreichten.<br />
Eine Dekade nach seiner Gründung leistet<br />
der SWR seinen Grundversorgungsauftrag<br />
auch auf der Plattform Internet und n<strong>im</strong>mt die<br />
Online-Federführung in der <strong>ARD</strong> wahr. Und er<br />
stellt sich den Herausforderungen des digitalen<br />
Zeitalters. Das SWR3-Studio in Baden-Baden<br />
oder das in Planung befindliche neue Produktionsgebäude<br />
in Stuttgart, in dem traditionelle<br />
und Neue Medien zusammenwachsen, setzen<br />
moderne, europaweit beachtete Konzepte<br />
des Programmgestaltens um. Damit schlägt<br />
der SWR einen Weg ein, wie ihn auch andere<br />
<strong>ARD</strong>-Häuser bereits gehen, zuletzt Radio Bremen<br />
mit seinem neuen Funkhaus und der SR<br />
mit seinem tr<strong>im</strong>edialen News Room. Dort sind<br />
die Grenzen zwischen den Medien bereits so<br />
gut wie aufgehoben. Der digitale Workflow verlangt<br />
von den Mitarbeitern eine »neue Denke«.<br />
Sie lassen sich darauf ein in der Gewissheit, dass<br />
damit ihr Sender – und mit ihm das Konzept<br />
des öffentlich-rechtlichen Rundfunks – zukunftsfähig<br />
bleibt.<br />
War die neue Beweglichkeit, die durch<br />
die Fusion <strong>im</strong> Südwesten entstand, auch für<br />
die Flotte, der das junge Schiff angehört, von<br />
Nutzen? Das Zusammengehen von SDR und<br />
SWF hat die Kräfteverhältnisse innerhalb der<br />
<strong>ARD</strong> verändert. Der SWF hatte <strong>im</strong> <strong>ARD</strong>-<br />
Größenvergleich auf Platz fünf und der SDR<br />
auf Platz sechs gelegen. Der SWR war über<br />
Nacht das zweitgrößte Haus in der <strong>ARD</strong>. Nach<br />
dem 1. 9. 1998 gab es <strong>im</strong> Verbund die Sorge, der<br />
SWR werde seine neue Größe mit Stärke verwechseln.<br />
Nichts davon ist eingetreten. Als der<br />
<strong>ARD</strong>-Vorsitz an den SWR fiel, musste SWR-<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08
Gründungsintendant Peter Voß unter anderem<br />
den <strong>ARD</strong>-Finanzausgleich neu regeln – und tat<br />
es in einer Weise, dass die kleinen <strong>ARD</strong>-Häuser<br />
genügend Zeit bekamen (und sie auch nutzten)<br />
für den notwendigen inneren Umbau.<br />
_ Zwei Bundesländer – ein Orchester<br />
Größe verpflichtet – auch den SWR. Er leistet<br />
heute zahlreiche Verwaltungsaufgaben für<br />
den SR, etwa be<strong>im</strong> Gebühreneinzug. Der SR<br />
kann seine Ressourcen auf seine publizistische<br />
Leistung konzentrieren. Das Motto »Dort<br />
zusammengehen, wo möglich, dort getrennt<br />
bleiben, wo nötig« wandten SWR und SR auch<br />
auf das Feld der Klangkörper an: Aus dem<br />
Rundfunk-Sinfonieorchester Saarbrücken und<br />
dem Rundfunkorchester Kaiserslautern entstand<br />
die Deutsche Radio Philharmonie. Dank<br />
dieses fusionierten Rundfunkorchesters werden<br />
beide Traditionsorte für Rundfunkmusik weiter<br />
bespielt. Die Alternative hätte gelautet, mindestens<br />
einen – oder irgendwann beide? – Klangkörper<br />
aufzulösen.<br />
Nicht zu unterschätzen ist die Signalwirkung,<br />
die von der Fusion <strong>im</strong> Südwesten auf Gesellschaft<br />
und Politik ausging. SDR und SWF<br />
stellten nichts weniger als die Reformfähigkeit<br />
des öffentlich-rechtlichen Rundfunks unter Beweis.<br />
Die Gründung des SWR fiel in eine Zeit,<br />
als der Rechtfertigungsdruck auf <strong>ARD</strong> und ZDF<br />
bereits zunahm. Rufe nach mehr Wirtschaftlichkeit<br />
wurden <strong>im</strong>mer lauter. Der Reformprozess<br />
innerhalb der <strong>ARD</strong>, der zuvor meist auf<br />
der Ebene des theoretischen Gedankenspiels<br />
stattfand, erhielt mit der ersten realen Rundfunkfusion<br />
einen wichtigen Impuls.<br />
Die abschließende Frage an den öffentlichrechtlichen<br />
Rundfunk und konkret an die <strong>ARD</strong><br />
lautet: Taugt die Fusion von SDR und SWF als<br />
ein Beispiel, das Schule machen soll? Der RBB<br />
ist der zweite Sender, der aus einer Sender-Ehe<br />
hervorgegangen ist, aus Motiven, die mit den<br />
Gründen für die Reform <strong>im</strong> Südwesten durchaus<br />
vergleichbar sind: Als Folge des Zweiten<br />
Weltkriegs wurde Berlin publizistisch in eine<br />
Insellage versetzt. Diese Insellage war so künstlich<br />
wie die Zweiteilung Baden-Württembergs in<br />
zwei Sendegebiete.<br />
In Berlin ist die Rundfunkfusion der politischen<br />
Fusion vorausgegangen, denn zuvor hatte<br />
es schon den (fehlgeschlagenen) Versuch einer<br />
Vereinigung der Länder Berlin und Brandenburg<br />
gegeben. Doch wird vermutlich erst eine<br />
umfassende Neuregelung der Ländergrenzen die<br />
Rundfunkgrenzen infrage stellen. Kein <strong>ARD</strong>-<br />
Haus muss fürs Erste den »steinigen Weg« einer<br />
Fusion gehen, den Xavier Naidoo – wenigstens<br />
für mich – besungen hat. Aber die aktuellen<br />
Aufgaben, etwa das Zusammenführen der traditionellen<br />
und Neuen Medien, sind auch nicht<br />
vergnügungssteuerpflichtig. Gleichwohl sind<br />
diese Schritte notwendig, um den Bürgerinnen<br />
und Bürgern auch in Zukunft die Leistungen<br />
des öffentlich-rechtlichen Rundfunks anbieten<br />
zu können. Und das ist ein Ziel, für das sich so<br />
manche Anstrengung lohnt.<br />
Peter Boudgoust,<br />
Intendant des SWR<br />
Zehn Jahre SWR <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08 153
154<br />
»Ihr gutes öffentliches Recht« – die Imagekampagne<br />
von <strong>ARD</strong> und ZDF<br />
»Bei <strong>ARD</strong> und ZDF sitzen Sie in der ersten<br />
Reihe« lautete der Slogan der ersten gemeinsamen<br />
Imagekampagne von <strong>ARD</strong> und ZDF, der<br />
auch heute noch – fast 20 Jahre später –<br />
in der Erinnerung der Bundesbürger verankert<br />
ist. Wann <strong>im</strong>mer in Gesprächen und Diskussionen<br />
von einer ersten Reihe die Rede ist,<br />
assoziieren die Gesprächspartner diesen Slogan,<br />
der von Fachleuten als ungemein stark<br />
eingeschätzt wurde und der es zum geflügelten<br />
Wort geschafft hat.<br />
Auf der Erfahrung mit diesem »Werbeklassiker«<br />
(»Werben & Verkaufen«) basiert die Idee<br />
für eine neue Gemeinschaftskampagne von<br />
<strong>ARD</strong> und ZDF. Auf die Erfolgsgeschichte von<br />
der ersten Reihe sollte ein neuer Werbefeldzug<br />
mit einem ebenfalls allgemeingültigen Slogan<br />
mit vergleichbarer Wirkung folgen. Wieder<br />
sollten die Vorzüge der öffentlich-rechtlichen<br />
Programme herausgestellt werden, um Position<br />
und Positionierung von <strong>ARD</strong> und ZDF<br />
und ihrer Programmfamilie zu stärken und als<br />
unverzichtbar für die Gesellschaft der Bundesrepublik<br />
Deutschland ins Bewusstsein zu<br />
rücken.<br />
Im Laufe des Jahres 2007 erarbeitete eine<br />
von den Intendanten Markus Schächter (ZDF),<br />
Fritz Raff (SR) und Jobst Plog (NDR) eingesetzte<br />
Arbeitsgruppe ein Agenturbriefing. Ausgangspunkt<br />
war die Erkenntnis, dass in einem<br />
sich stetig verändernden Medienmarkt – u. a.<br />
durch die fortschreitende Digitalisierung und<br />
das damit verbundene Anwachsen der Zahl<br />
kommerzieller Programmangebote – die öffentlich-rechtlichen<br />
Sender sich vor allem mit<br />
den Punkten Auffindbarkeit und Unverwechselbarkeit<br />
auseinandersetzen müssen. Durch<br />
die Darstellung des gesamten Leistungsspek-<br />
trums und der Qualität (»Leuchttürme«) sollte<br />
nach Vorstellung der Intendanten die Position<br />
behauptet und ausgebaut werden. Mit der<br />
Verdeutlichung und Hervorhebung des (Mehr-)<br />
Werts der öffentlich-rechtlichen Programme<br />
für die Gesellschaft muss darüber hinaus die<br />
Legit<strong>im</strong>ation des gebührenfinanzierten Rundfunks<br />
untermauert werden.<br />
Die Kampagne sollte zugleich negativ-<br />
kritischen Bewertungen des öffentlich-rechtlichen<br />
Rundfunks – verstaubt, bieder, unflexibel,<br />
be leh rend – sowie der Unwissenheit<br />
über den Leistungsumfang der <strong>ARD</strong>- bzw. ZDF-<br />
Programmfamilie, der Dritten und der kooperierten<br />
Programme, der Radiowellen, der<br />
Internet-Angebote und Videotexte entgegen<br />
treten. Zugleich sollen die positiven Aspekte in<br />
der Wahrnehmung der Bürgerinnen und Bürger<br />
gestützt werden: glaubwürdig, seriös, souverän,<br />
verlässlich, informativ, unterhaltend,<br />
innovativ, kompetent, weltoffen, unabhängig,<br />
vielfältig, kundennah. Das Spektrum der positiv<br />
bewerteten Eigenschaften umfasst zudem<br />
die vielen Veranstaltungen, Veranstaltungspartnerschaften,<br />
Förderpreise und ähnliches.<br />
Nach dem Agenturpitch mit namhaften<br />
nationalen Werbeagenturen <strong>im</strong> ersten Halbjahr<br />
2007 gaben die Intendanten Markus Schächter,<br />
Fritz Raff und Jobst Plog grünes Licht für<br />
die Umsetzung des Vorschlags der Frankfurter<br />
Agentur Ogilvy & Mather, die in Stil, Tonalität<br />
und Vielfalt die Intentionen der Auftraggeber<br />
in Richtung selbstbewusst, mutig, entspannt<br />
und emotional inklusive eines starken Cla<strong>im</strong>s<br />
am besten realisiert hatte. Nach mehreren Prä -<br />
sentationen <strong>im</strong> Intendantenkreis, bei der<br />
Gremienkonferenz und bei den Kommunikationschefs<br />
konnte die Agentur in Abst<strong>im</strong>mung<br />
Artikel <strong>ARD</strong>-JAHRBUCH 08
mit der Redaktionsgruppe – bestehend aus<br />
Vertretern der Hauptabteilung Kommunikation<br />
und Marketing des ZDF, der Kommunikationschefs<br />
der vorsitzführenden Anstalt SR,<br />
des WDR, des NDR (in enger Zusammenarbeit<br />
mit Vertretern der GEZ) und des <strong>Ersten</strong> – die<br />
Umsetzung der Ideen- und Ideenskizzen in<br />
Angriff nehmen. Die Planung in Kooperation<br />
mit der Medienagentur OMD sah einen Kampagnenstart<br />
für den Spätherbst 2007 in einer<br />
Media-Mix-Strategie mit den Medien Print, TV,<br />
Radio und Internet vor. Gleichzeitig wurde beschlossen,<br />
die bestehenden Senderwerbungen<br />
sowie die GEZ-Kampagne unberührt von dem<br />
neuen Feldzug fortzusetzen.<br />
Anfang November vergangenen Jahres<br />
star teten <strong>ARD</strong> und ZDF diese neue Gemeinschaftskampagne<br />
mit dem Cla<strong>im</strong> »<strong>ARD</strong> und<br />
ZDF. Ihr gutes öffentliches Recht«. Am Anfang<br />
der von Ogilvy & Mather konzipierten Kampagne<br />
stand ein TV-Spot, der das Recht auf<br />
ein pädagogisch wertvolles Kinderprogramm<br />
kommuniziert. Zu einer Punk-Version der<br />
Pippi-Langstrumpf-Titelmelodie zeigt der Film<br />
jede Menge Kinder, die neugierig ihre Welt<br />
erkunden. Dabei probieren sie natürlich auch<br />
Dinge aus, die nicht unbedingt jedes Elternherz<br />
höher schlagen lassen. Aber das ist auch<br />
gut so. Denn Kinder haben das Recht, neugierig<br />
zu sein. Deshalb gibt es bei <strong>ARD</strong>, ZDF und<br />
KI.KA mehr Programme für kleine Entdecker<br />
als anderswo. Der Spot wurde am ersten<br />
Kampagnen-Wochenende <strong>im</strong> Umfeld der <strong>ARD</strong>-<br />
»Sportschau«, vor »Wetten, dass . . ?«, dem<br />
»Tatort« und einer Rosamunde-Pilcher Verfilmung<br />
gestartet und erzielte so schon an den<br />
ersten beiden Tagen 40 Mio Kontakte.<br />
Ergänzt wurde die Kampagne in der Zwischenzeit<br />
durch drei weitere Fernsehspots<br />
zum Thema <strong>Information</strong>, zum Thema Fußball-<br />
Europameisterschaft (inklusive einer Kinoversion<br />
während der EM) und zum Thema<br />
<strong>ARD</strong>/ZDF-Imagekampagne<br />
Digitalisierung sowie durch viele Radiospots,<br />
Anzeigen in Printmedien und Internet und<br />
Plakatmotive.<br />
Grundsätzlich will die Kampagne erreichen,<br />
dass die Vielfalt, Freiheit und Qualität, die der<br />
öffentlich-rechtliche Rundfunk bietet, als persönlicher<br />
selbstverständlicher Besitzstand der<br />
Menschen begriffen wird. Als ein Besitzstand,<br />
den man sich nicht einfach wegnehmen lässt.<br />
Als etwas, auf das man ein Recht hat.<br />
So soll erreicht werden, dass nicht nur der<br />
Kopf, sondern auch der Bauch sagt: »Gut, dass<br />
es <strong>ARD</strong> und ZDF gibt.«<br />
Mit dem Cla<strong>im</strong> proklamiert die neue Gemeinschaftskampagne<br />
die Rechte der deutschen<br />
Fernsehzuschauer und Radiohörer, die<br />
so nur von <strong>ARD</strong> und ZDF garantiert werden<br />
können. Die Kampagne macht klar, dass man<br />
das Recht hat, alle Meinungen zu hören. Deshalb<br />
gibt es bei <strong>ARD</strong> und ZDF mehr Politmagazine<br />
als anderswo. Die Zuschauer haben<br />
das Recht, die Deutsche Nationalmannschaft<br />
unverschlüsselt zu sehen. Deshalb haben sich<br />
<strong>ARD</strong> und ZDF die Rechte an der EM 2008 gesichert.<br />
Auch in den kommenden Monaten sollen<br />
die wichtigsten Rechte mit dem Schwerpunkt<br />
auf TV und Print in der Öffentlichkeit<br />
noch breiter bekannt gemacht werden.<br />
Inzwischen wird der Slogan auch bei Veranstaltungen<br />
erfolgreich eingesetzt (Medienveranstaltungen,<br />
Internationale Funkausstellung<br />
etc.), um das angestrebte Ziel einer größeren<br />
Akzeptanz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks<br />
bei Otto Normalverbraucher ebenso wie<br />
bei Medienpolitikern zu erreichen. Der zusätzlich<br />
gewünschte Effekt: die Steigerung der Akzeptanz<br />
des Gebührensystems.<br />
Peter Meyer / Rolf-Dieter Ganz