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4 4 4 4 4 4 - HSG Marbach/Rielingshausen

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Chronik<br />

Die Anfänge des Turnens in <strong>Marbach</strong><br />

Die Turnbewegung hat es trotz<br />

allem schwer, Fuß zu fassen, da<br />

die Bevölkerung überwiegend<br />

im Acker- und Weinbau und der<br />

Viehzucht beschäftigt ist und darin<br />

genug körperliche Ertüchtigung<br />

sieht. Anfangs zeigt die bäuerliche<br />

Bevölkerung ihren Widerstand<br />

gegen die Einführung des<br />

Turnunterrichts an den Schulen.<br />

Sie sieht darin eine „befehlsmäßige,<br />

militärische Ausrichtung“,<br />

die sie ablehnt und deren Sinn<br />

sie nicht einsieht.<br />

Auch die kirchlichen Institutionen<br />

scheinen sich über das Für<br />

und Wider nicht immer einig zu<br />

sein, denn ein Kirchenkonvent<br />

in Benningen kommt zu dem<br />

Schluss, „daß es solcher Leibesübungen<br />

.... nicht bedürfe, daß<br />

diese Übungen Verwegenheit<br />

erwecken, wodurch die Kinder<br />

Schaden nehmen können, ...“<br />

und auch die Einstellung vieler<br />

<strong>Marbach</strong>er drückt sich darin aus:<br />

„Schafft fleißig bei euren Eltern,<br />

dann habt ihr Bewegung genug“.<br />

In einem der damals schon<br />

üblichen Leserbriefe im <strong>Marbach</strong>er<br />

Postillon antwortet der<br />

„Turnvereins-Ausschuß“ im Juni<br />

1899 auf die „Vormittagspredigt“<br />

von Dekan Färber, der sich „der<br />

nachstehenden Redewendung<br />

in etwa folgenden Worten“ bedient:<br />

„Wir haben da ein Beispiel<br />

in unserer eigenen Gemeinde.<br />

Da schreiben Männer, die sich<br />

Christen nennen wollen, eine<br />

Turnfahrt aus in derselben Zeitung,<br />

in welcher die Gedenkfeier<br />

für Johannes Brenz bekannt<br />

gemacht wird, dicht daneben,<br />

groß und prahlerisch,... .“ Dekan<br />

Färber spricht weiter von einer<br />

„Entheiligung des Sonntags“ und<br />

fragt „wie sich solche Männer<br />

von den Heiden unterscheiden“.<br />

Der Schreiber des Turnvereins<br />

wundert sich über die „Ausfälle<br />

des Geistlichen“, die „berechtigte<br />

Verstimmung hervorgerufen<br />

haben“. Weiter fragt er, „warum<br />

er sich gerade den Turnverein<br />

zum Ziele seiner Verunglimpfungen<br />

gewählt“ hat. Die Turner<br />

müssten schließlich die Sonntage<br />

nehmen, da sie „an den Wochentagen<br />

der Werktagsarbeit<br />

obliegen“. Und von einer Entheiligung<br />

könne keine Rede sein, da<br />

der Ausflug „lediglich den Zweck<br />

hatte, sich an der schönen Gegend<br />

und der Natur zu erfreuen“.<br />

Zur weiteren Klärung dieser Angelegenheit<br />

wolle man diese vor<br />

den Landesturntag bringen, „daß<br />

die nötigen Schritte gegen dieses<br />

unbillige Gebahren .... eingeleitet<br />

werden“.<br />

Noch im Jahr 1904 tut sich die<br />

Kirche schwer, dem Turnen Positives<br />

abzugewinnen, denn bei<br />

der Einweihung der Turnhalle<br />

verbietet Stadtpfarrer Klinger der<br />

Schuljugend und dem Jünglingsverein<br />

die Teilnahme an den Feierlichkeiten.<br />

Ein Oberamtsarzt versucht Jahre<br />

später den Eltern die Notwendigkeit<br />

von Sport und Turnen für<br />

die Kinder nahe zu bringen. Er<br />

empfiehlt: „Die Eltern sollten ihren<br />

Kindern etwas weniger Most<br />

geben und sie dafür turnen lassen!“<br />

Doch auch dieser Appell<br />

scheitert mehr oder weniger am<br />

Widerstand der ländlichen Bevölkerung.<br />

Anmerkung aus heutiger Sicht<br />

zum Disput von 1899 von Pfarrer<br />

Klaus Dieterle, Ev. Kirchengemeinde<br />

<strong>Marbach</strong> (im Dezember<br />

2010):<br />

Die hier dokumentierten Angriffe<br />

von kirchlicher Seite gegen<br />

die Turnerbewegung sind aus<br />

heutiger Sicht nur schwer nachvollziehbar.<br />

Kirche und Staat<br />

nahmen zunächst Anstoß am<br />

turnerischen Geschehen. In den<br />

Anfängen der Turnerbewegung<br />

verhängte der Staat Preußen<br />

1819 sogar eine Turnsperre.<br />

Heute hat der Sport eine ganz<br />

andere Bedeutung wie vor 100<br />

oder gar 150 Jahren. Nach und<br />

nach wurden der Sport und das<br />

Turnen „gesellschaftsfähig“.<br />

Wie die Chronik belegt, ging es<br />

der Kirche in der Auseinandersetzung<br />

mit der Turnerbewegung<br />

vor allem um die Sonntagsheiligung.<br />

Mit der Industrialisierung<br />

brachen sich neue Formen der<br />

Lebensgestaltung Bahn. Es kam<br />

zur Ausbildung eines bürgerlichen<br />

Selbstbewusstseins mit<br />

liberalen oder nationalen Tendenzen,<br />

das den kirchlichen Einfluss<br />

auf die Lebens- und auch<br />

die Sonntagsgestaltung zurückdrängte.<br />

Die Sonntagsunternehmungen<br />

der Vereine, das Sportgeschehen,<br />

die Ausfahrten traten<br />

in der Tat in eine gewisse Konkurrenz<br />

zum Sonntagsgottesdienst<br />

und der kirchlichen Vorstellung<br />

der Sonntagsheiligung und fanden<br />

deshalb Missfallen bei den<br />

Geistlichen.<br />

Dann ist festzustellen, dass die<br />

Kirche wie auch die ländliche Be-<br />

völkerung insgesamt große Vorbehalte<br />

gegenüber „den Leibesübungen“<br />

und der körperlichen<br />

Ausbildung hatte. Die Zurschaustellung<br />

des Körpers, die Freude<br />

an der Bewegung um ihrer<br />

selbst willen, die Demonstration<br />

von Stärke und Leistung riefen<br />

moralische Einwände hervor und<br />

standen gegen die herkömmlichen<br />

Vorstellungen von Sitte und<br />

Anstand. Das Körperliche war<br />

der Arbeit untergeordnet und das<br />

Geistige wurde dem Leiblichen<br />

übergeordnet.<br />

Musterriege 1898<br />

Chronik<br />

Die Anfänge des Turnens in <strong>Marbach</strong><br />

Inwiefern die Liaison der Turnerbewegung<br />

mit dem Politischen<br />

zur Kritik von Seiten der Kirche<br />

führte, lässt sich aus der Chronik<br />

nicht erkennen. Ein Zitat weist<br />

allerdings darauf hin, dass die<br />

bäuerliche Bevölkerung ihr eine<br />

„militärische Ausrichtung“ unterstellte.<br />

Das Verhältnis der Kirchen heute<br />

zu Vereinen und Sport hat<br />

sich wesentlich gewandelt. Die<br />

Bedeutung des Sports und der<br />

Vereine für das gesellschaftliche<br />

Leben steht für die Kirchen außer<br />

Frage. In vielen Bereichen<br />

wird eine Zusammenarbeit angestrebt.<br />

Geblieben ist für die<br />

Kirche allerdings die Frage, wie<br />

der Sonntag als Tag der Ruhe<br />

und Besinnung und der Feier des<br />

Gottesdienstes erhalten werden<br />

kann und der Sonntagsschutz<br />

nicht immer mehr ausgehöhlt<br />

wird.<br />

(Pfarrer Klaus Dieterle)<br />

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