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Ketelhut, Jörn - DVPW

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Richterliche Verfassungspolitik im europäischen Mehrebenensystem:<br />

Strategisches Handeln und institutioneller Wandel<br />

<strong>Jörn</strong> <strong>Ketelhut</strong>, Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg<br />

ketelhut@hsu-hh.de<br />

Zusammenfassung<br />

Ziel des Papers ist es, den EuGH als einen verfassungspolitischen Akteur in den Mittelpunkt<br />

der Betrachtungen zu rücken und die Schritte im Prozess der richterlichen<br />

Verfassungsentwicklung als Ergebnis einer strategisch ausgerichteten Rechtsprechung zu<br />

interpretieren. In diese Zusammenhang wird ein Ansatz entwickelt, der versucht, das<br />

strategische Element im richterlichen Entscheidungsverhalten über den Umgang mit Leit- und<br />

Ordnungsideen einzufangen, die sich in dogmatischen bzw. rhetorischen Figuren und<br />

juristischen Argumentationsstilen »verbergen«. Es soll gezeigt werden, welche Ideen der<br />

EuGH bei der Ausdifferenzierung der gemeinschaftlichen Verfassungsordnung herangezogen<br />

hat und wie die rechtlichen Grundlagen der europäischen Integration dadurch verändert<br />

worden sind.<br />

Gliederung:<br />

1. Das konstitutionelle Europa und die Rechtsprechung des EuGH<br />

2. Richterliche Verfassungspolitik als strategisches »Ideenmanagement«<br />

3. Der EuGH und die Konstitutionalisierung des Gemeinschaftsrechts<br />

3.1 Die rechtliche Grundordnung der europäischen Integration<br />

3.2 Das Verhältnis zwischen dem europäischen und dem nationalen Recht<br />

3.3 .Die richterliche Herausbildung der konstitutionellen Strukturprinzipien des<br />

Gemeinschaftsrechts<br />

3.3.1 Die Direktwirkung des Gemeinschaftsrechts<br />

3.3.2 Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts<br />

4. Ideen, strategische Rechtsprechung und institutioneller Wandel<br />

5. Fazit<br />

Paper zur Präsentation im Workshop 6: »Die ›Verfassung‹ der Europäischen Union –<br />

Aktuelle Entwicklungen und demokratische Legitimation« im Rahmen der 3-Länder-Tagung<br />

»Die Verfassung der Demokratien« der <strong>DVPW</strong>, der ÖGPW und der SVPW, Universität<br />

Osnabrück, 21. bis 23. November 2008.<br />

Achtung! Grobentwurf vom 17. November 2008 – Kommentare sind herzlich willkommen!


<strong>Jörn</strong> <strong>Ketelhut</strong>: Richterliche Verfassungspolitik im europäischen Mehrebenensystem 2<br />

1. Das konstitutionelle Europa und die Rechtsprechung des EuGH<br />

Europa befindet sich seit dem Jahr 2005 in einer tiefen Verfassungskrise – so lautet jedenfalls<br />

die Diagnose, die in journalistischen und wissenschaftlichen Beiträgen angesichts des durch<br />

die ablehnenden Referenden in Frankreich (29. 5. 2005) und den Niederlanden (1. 6. 2005)<br />

gescheiterten Projekts, dem europäischen Integrationsprozess eine konstitutionelle Grundlage<br />

zu geben, vielfach zu finden ist (vgl. Mayer 2007). Auch die »Rettungsversuche«, mit dem<br />

am 13. 12. 2007 unterzeichneten Reformvertrag von Lissabon, möglichst viele substantielle<br />

Elemente des Verfassungsentwurfs auf dem »konventionellen« Wege in ein neues<br />

Grundlagendokument der EU zu überführen und dadurch einen Ausweg aus der Krise zu<br />

finden, sind durch das am 12. 6. 2008 ausgesprochene »Nein« der irischen Bevölkerung in<br />

eine äußerst ungünstige Lage manövriert worden. Das Schicksal der gescheiterten Verfassung<br />

droht damit in gewisser Hinsicht auf den Vertrag von Lissabon abzufärben.<br />

Gegenwärtig ist das Ratifikationsverfahren in vier der 27 Mitgliedstaaten, nämlich in<br />

Deutschland, Schweden, Tschechien und Polen, noch nicht endgültig abgeschlossen: Der<br />

schwedische Reichstag wird erst in diesen Tagen über den Reformvertrag befinden (20. 11.<br />

2008), in Tschechien und der Bundesrepublik stehen Entscheidungen der Verfassungsgerichte<br />

über das europäische Vertragswerk aus und der nicht gerade für seine Europabegeisterung<br />

bekannte polnische Staatspräsident hat die Ausfertigung der Ratifikationsurkunde an die<br />

Lösung der irischen Frage geknüpft. Insgesamt genug Hürden, an denen die Bemühungen,<br />

Europa durch den Reformvertrag von Lissabon eine am Text – und Geist? – des<br />

Verfassungsentwurfs ausgerichtete neue rechtliche Grundlage zu geben, noch scheitern<br />

können. Wie auch immer die Entscheidungen in den mehr oder weniger »unsicheren«<br />

Mitgliedstaaten letztendlich auch ausfallen mögen, fristgerecht wird der Vertrag jedenfalls<br />

nicht in Kraft treten können. Nachverhandlungen zur Rolle Irlands in der zukünftigen EU sind<br />

schon jetzt unvermeidlich.<br />

Ist durch das Scheitern des Verfassungsvertrages die Chance, dem Prozess der europäischen<br />

Integration eine qualitativ höherrangige rechtliche Grundlage zu geben und die in der EU<br />

vereinten Staaten immer mehr in Richtung einer »ever closer union« (Dinan 1999) zu lenken,<br />

bereits vertan? Ein Blick in die Geschichte rät einerseits zur Gelassenheit und mahnt<br />

andererseits Euroskeptiker und Verfassungsgegner, nicht zu früh zu jubilieren: Betrachtet man<br />

die Verfassungskrise und die auf Widerstände stoßende Ratifikation des Reformvertrages<br />

nämlich im Zusammenhang mit dem Gesamtverlauf der europäischen Integration, so stellen<br />

diese Ereignisse für sich genommen keine Besonderheiten dar. Erfolge wie Rückschläge<br />

sowie Phasen der Stagnation haben die Bemühungen, die Einigung Europas voranzutreiben,<br />

stets begleitet (Kluth 2007: 10; Haltern 2005: 39 ff; Oppermann 2005: 10 ff). Schwierigkeiten<br />

bei der Annahme eines neuen Vertragswerkes müssen seit den 1990er Jahren eher als Regel,<br />

denn als die Ausnahme betrachtet werden. So begleiteten Nachverhandlungen auf Grund von<br />

gescheiterten nationalen Referenden bereits die Ratifikationsprozesse der Verträge von<br />

Maastricht (1992) und Nizza (2003). In beiden Fällen konnten Lösungen gefunden werden,<br />

die das Inkrafttreten der neuen EU-Grundlagendokumente ermöglichten. Warum sollte dies<br />

also nicht auch für den Vertrag von Lissabon gelten?<br />

Ein Blick in die Geschichte, insbesondere in die Rechtsgeschichte der europäischen<br />

Integration ist aber auch aus einem anderen Grund instruktiv: Er zeigt nämlich, dass die EU<br />

bereits seit langer Zeit über eine entwickelte Verfassung verfügt. Gerade dieser Umstand wird<br />

in der politischen Auseinandersetzung und der Medienberichterstattung über das Projekt,<br />

Europa eine Verfassung zu geben, vielfach übersehen. Wirft man hingegen einen Blick in die<br />

Arbeiten der Forscher, die sich in den letzten Jahrzehnten aus juristischer oder<br />

politikwissenschaftlicher Perspektive intensiv mit der rechtlichen Dimension der<br />

europäischen Integration beschäftigt haben, so lässt sich erkennen, dass das »konstitutionelle«<br />

Europa längst Realität geworden ist (vgl. Stein 1981; Weiler 1991; Stone Sweet 2000;


<strong>Jörn</strong> <strong>Ketelhut</strong>: Richterliche Verfassungspolitik im europäischen Mehrebenensystem 3<br />

Möllers 2003). Maßgeblichen Anteil an dieser Entwicklung hatte der in Luxemburg ansässige<br />

Europäische Gerichtshof (EuGH). Das konstitutionelle Europa, so wie es sich heute<br />

präsentiert, ist im Wesentlichen eine Schöpfung seiner kreativen, ein verfassungsgerichtliches<br />

Selbstverständnis widerspiegelnden Rechtsprechung (vgl. Höreth 2008: 51 ff). Schon früh<br />

begann der EuGH damit, in den Gründungsakten der drei Europäischen Gemeinschaften weit<br />

mehr zu sehen, als nur gewöhnliche völkerrechtliche Verträge. Für ihn zeichneten sie sich<br />

vielmehr durch eine gewisse »verfassungsähnliche« Qualität aus. Seit den 1960er Jahren hat<br />

der EuGH seine Judikatur zum Status und zur Reichweite des europäischen Rechts an dieser<br />

Perspektive ausgerichtet. Dem EuGH gelang es, das Gemeinschaftsrecht in einer Reihe von<br />

aufeinander aufbauenden, rechtsdogmatisch als »revolutionär« eingestuften Entscheidungen<br />

(Weiler 1991, 1994) komplett aus völkerrechtlich ausgerichteten Deutungszusammenhängen<br />

zu lösen und den europäischen Regelungen eine gegenüber dem Recht der Mitgliedstaaten<br />

höherrangige Position einzuräumen. Just diesen Prozess gilt es im Folgenden ein wenig<br />

genauer zu betrachten. Dabei steht die Rechtsprechung des EuGH zur Direktwirkung und zum<br />

Vorrang des Gemeinschaftsrechts im Mittelpunkt des Interesses. In ihr lassen sich sehr gut die<br />

»Politikziele« (Haltern 2005: 59) erkennen, die in der EuGH-Rechtsprechung seither<br />

»hartnäckig präsent sind«.<br />

2. Richterliche Verfassungspolitik als strategisches »Ideenmanagement«<br />

Die einzelnen Schritte im Prozess der richterlichen Verfassungsentwicklung, die sich in der<br />

Ausgestaltung des Prinzips der Direktwirkung und des Vorrang-Grundsatzes widerspiegeln,<br />

erscheinen in der juristischen Literatur vielfach als bloße Ausdifferenzierungen und<br />

Konkretisierungen eines bereits in den Verträgen rudimentär angelegten Bauplans (vgl.<br />

Everling 2000; Mayer 2005: 457; Bogdandy 2003). Daher findet sich in europarechtlichen<br />

Abhandlungen, die sich mit der Konstitutionalisierung aus einer rein formal-juristischen<br />

Perspektive auseinandersetzten und dabei den politisch-institutionellen Kontext der<br />

Entscheidungen vollständig ausblenden, häufig die These, die EuGH-Rechtsprechung folge<br />

ausschließlich den sachlogischen Konsequenzen und funktionalen Erfordernissen, die sich<br />

direkt aus den vertraglich festgelegten Zielsetzungen und Strukturentscheidungen ergeben.<br />

Wirft man hingegen einen Blick in die politikwissenschaftliche Literatur oder jene<br />

rechtswissenschaftlichen Studien, die offen für eine politische »Kontextualisierung«<br />

bestimmter dogmatischer Entwicklung sind, so gelangt man zu einer gänzlich anderen<br />

Ansicht. Hier wird häufig das Bild eines strategisch operierenden EuGH gezeichnet, der mit<br />

seiner Rechtsprechung durchaus politische Absichten verbindet (Volkansek 1996; Wincott<br />

1995; Slaughter/Mattli 1998), diese aber in der »technischen« Sprache des Rechts geschickt<br />

zu verbergen versteht (Burley/Mattli 1993). Gerade die Entscheidungen, mit denen der EuGH<br />

die Entwicklung der konstitutionellen Strukturprinzipien des europäischen Rechts<br />

vorangetrieben hat, erscheinen in dieser Perspektive als Serie cleverer Schachzüge, um das<br />

gemeinschaftliche Rechtssystem seinen Bedürfnissen entsprechend umzugestalten.<br />

Gleichwohl setzt dies den EuGH noch lange nicht in eine Position, die es ihm erlaube würde,<br />

das politische Kräftefeld, dem er ausgesetzt ist, vollständig zu kontrollieren. Nach wie vor ist<br />

er darauf angewiesen, dass sich ihm günstige Gelegenheiten (Wincott 1995: 584) bieten, um<br />

mittels seiner Rechtsprechung die Reichweite der europäischen Normen zu erweitern. Zudem<br />

ist er auch auf die Unterstützung anderer Akteure, insbesondere die der nationalen Gerichte<br />

angewiesen (Burley/Mattli 1993; Weiler 1993; Stone Sweet 2000; Alter 1996, 1998, 2002).<br />

Diese haben sich jedoch nicht immer auf die Seite des EuGH geschlagen. Dies zeigt sich an<br />

der Kritik, die dem EuGH in der Frage des Vorrangs immer noch von höchstrichterlicher<br />

Seite entgegen gebracht wird. Allerdings hat der EuGH es aber auch verstanden, die Chancen,<br />

die sich im boten, äußerst effizient zu nutzen. Wincott hat den EuGH daher in Anlehnung an


<strong>Jörn</strong> <strong>Ketelhut</strong>: Richterliche Verfassungspolitik im europäischen Mehrebenensystem 4<br />

einen von Cram (1993) zu Charakterisierung der EU-Kommission geprägten Begriff als einen<br />

»purposeful opportunist« (Wincott 1995: 584) bezeichnet.<br />

Der vom EuGH an den Tag gelegte »purposeful opportunism«, lässt sich zusammen mit<br />

seinem Selbstverständnis als Verfassungsgericht (Höreth 2008) trefflich in einen Ansatz<br />

integrieren, der das »strategische« Element im richterlichen Entscheidungsverhalten über<br />

Leit- und Ordnungsideen einzufangen versucht, die sich in dogmatischen bzw. rhetorischen<br />

Figuren und juristischen Argumentationsstilen »verbergen«. Leit- und Ordnungsideen werden<br />

in der juristischen Methodendiskussion als Vorverständnisse, leitende Wertgesichtspunkte<br />

oder Rechtsprinzipien behandelt (vgl. Larenz 1991: 126ff). In ihnen offenbaren sich<br />

»grundlegende Ordnungsvorstellungen bezüglich elementarer privater, gesellschaftlichwirtschaftlicher<br />

und politischer Verhältnisse« (Hofmann 1986: 207). Da sie als »normative<br />

Strukturentscheidungen, die wesentliche Anliegen einer Rechtsordnung zum Ausdruck«<br />

(Bogdandy 2004: 156) bringen, sind sie Bestandteil der jeweils am Fall neu zu generierenden<br />

juristischen Systembildung. Sie können als sinnstiftendes Element einer richterlichen<br />

Entscheidung und »imaginative construction of a complete worldview« (Kahn 1999: 2)<br />

betrachtet werden.<br />

Gerichte sind bei der Auslegung des Rechts nicht darauf beschränkt, auf die Leit- und<br />

Ordnungsideen zurückzugreifen, die sie im »Sinnspeicher« des Rechts bereits vorfinden. Sie<br />

können über ihre Rechtsprechung auch neue Leit- und Ordnungsideen generieren, die<br />

vermittelt über die fallspezifische Begründung einer Rechtsauslegung in den rechtlichen<br />

Diskurs einfließen, wo sie konserviert werden und fortan als sinnstiftendes Element zur<br />

Verfügung stehen (vgl. Lhotta 2004: 71 ff; Lhotta/<strong>Ketelhut</strong> 2006: 398 ff). Gerade die vom<br />

EuGH erfolgreich betriebene Umformung eines Systems völkerrechtlicher Verträge in eine<br />

supranationale Verfassungsordnung ist ein gutes Beispiel für einen derartigen Einsatz von<br />

Leit- und Ordnungsideen. Auch lässt sich in diesem Zusammenhang ein gewisses<br />

strategisches Element erkennen, das sich im geschickten Ausschöpfen von<br />

Gelegenheitsstrukturen bemerkbar macht (Wincott 1995: 585 ff).<br />

Der Prozess der Konstitutionalisierung kann somit als ein Lehrstück im richterlichen<br />

»Ideenmanagement« (vgl. Lhotta/<strong>Ketelhut</strong> 2006) gelten. Im Folgenden soll gezeigt werden,<br />

welche leitenden Gesichtspunkte der EuGH bei der Ausdifferenzierung der<br />

gemeinschaftlichen Verfassungsordnung herangezogen hat und wie die rechtlichen<br />

Grundlagen der europäischen Integration durch diese in wiederkehrenden »argumentative<br />

frameworks« (Stone Sweet 2002: 124) wirkenden Prinzipien verändert worden ist.<br />

3. Der EuGH und die Konstitutionalisierung des Gemeinschaftsrechts<br />

3.1. Die rechtliche Grundordnung der europäischen Integration<br />

Bei der Errichtung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im Jahre 1957/58<br />

stellte sich die Verfassungsfrage noch nicht. Den sechs Gründungsstaaten der EWG und der<br />

zeitgleich ins Leben gerufenen Atomenergiegemeinschaft (Euratom) – Belgien, Frankreich,<br />

Italien, Luxemburg, den Niederlanden und der jungen Bundesrepublik – stand es fern, die<br />

durch die Römischen Verträge geschaffene rechtlich-organisatorische Architektur als<br />

»Verfassung« zu bezeichnen, noch ihre wie auch immer gestaltete Umwandlung in eine<br />

solche einzufordern (Grimm 2005: 177). Vielmehr konstituierten die Verträge auf der<br />

Grundlage des Völkerrechts zwei neue supranationale Organisationen, die neben die bereits<br />

1951 gegründete Montanunion, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGSK),<br />

traten. Die beiden neuen Gemeinschaften sollten dem europäischen Integrationsprojekt, das<br />

durch das Scheitern der EVG-Verträge ins Stocken geraten war, neuen Schwung verleihen.<br />

Gestützt auf die Vorschläge der Benelux-Staaten, die Volkswirtschaften der EGKS-Staaten in


<strong>Jörn</strong> <strong>Ketelhut</strong>: Richterliche Verfassungspolitik im europäischen Mehrebenensystem 5<br />

einem Binnenmarkt zu vereinigen, wurde auf der Konferenz von Messina (1955) der Weg für<br />

das Projekt einer umfassenden wirtschaftlichen Integration geebnet, deren Ausgangspunkt<br />

eine Zollunion zwischen den Mitgliedstaaten sein sollte. Vor allem auf das Drängen der<br />

französischen Delegation hin verständigte man sich zudem auf die Gründung einer<br />

Gemeinschaft zur Erforschung und friedlichen Nutzung der Atomenergie. Im Gegensatz zum<br />

EGKS-Vertrag, der für die Dauer von 50 Jahren abgeschlossen wurde, sollten die beiden<br />

neuen Gemeinschaften aber auf unbestimmte Zeit eingerichtet werden.<br />

Obwohl mit den Gründungsverträgen die Organe der drei Gemeinschaften eingerichtet und<br />

mit Kompetenzen ausgestattet wurden, sahen damalige Beobachter darin noch lange nicht die<br />

Notwendigkeit, die vertraglichen Grundlagen des europäischen Integrationsprozesses,<br />

insbesondere den weitreichenden EWG-Vertrag, als Verfassung zu charakterisieren: Der<br />

Verfassungsbegriff »bezog sich vielmehr auf die in der Volkssouveränität wurzelnde, in<br />

Gesetzesform ergehende rechtliche Grundordnung von Staaten. Mit der Errichtung der<br />

Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft war dagegen eine Staatsgründung weder beabsichtigt<br />

noch erfolgt. Die Gemeinschaft bildete eine supranationale Organisation, errichtet und<br />

getragen von souveränen Staaten, begrenzten Zwecken dienend und ausgestattet allein mit<br />

denjenigen Befugnissen und Mitteln, die ihr die Staaten übertragen hatten« (Grimm 2005: 177<br />

f.). Gleichwohl war die EWG von Beginn an eine supranationale Organisation besonderer Art,<br />

denn in »ihr verbanden und verpflichteten sich die Staaten nicht bloß zu abgestimmtem<br />

Handeln in einzelnen Politikfeldern, sondern übertrugen Handlungsbefugnisse, die sie bis<br />

dahin je für sich besessen und ausgeübt hatten, auf die Staatengemeinschaft zur Ausübung mit<br />

Wirkung für die Mitglieder. Damit ging sie über die traditionelle Vergemeinschaftungsform<br />

von internationalen Bündnissen, Allianzen oder Ligen hinaus. Während diese Organisationen<br />

gewöhnlich keine Souveränitätsrechte zur eigenen Wahrnehmung erhalten, sondern nur den<br />

organisatorischen Rahmen für die konzertierte Wahrnehmung bestimmter Souveränitätsrechte<br />

durch die Mitgliedstaaten bilden, wurde die Europäische Gemeinschaft selber Inhaber von<br />

Souveränitätsrechten, darunter Gesetzgebungsrechten, die die Staaten ihr abgetreten hatten<br />

und deren Gebrauch durch die Organe der Gemeinschaft sie gegen sich gelten lassen mussten.<br />

Obwohl völkerrechtlicher Gründung überschritt die Gemeinschaft damit den Rahmen des<br />

klassischen Völkerrechts« (Grimm 2005: 178). Genau hier setzt der Prozess der<br />

Konstitutionalisierung ein.<br />

3.2. Das Verhältnis zwischen dem europäischen und dem nationalen Recht<br />

Die richterliche Umformung des durch die Gründungsverträge geschaffene Normensystems in<br />

eine effektive, d. h. durchsetzungsfähige Rechtsordnung kreist im Wesentlichen um die Frage,<br />

in welchem Verhältnis europäisches und innerstaatliches Rechts zueinander stehen. Die<br />

Verträge äußerten sich hierzu nicht ausdrücklich. Aus ihnen ging lediglich hervor, dass<br />

Verordnungen allgemeine und unmittelbare Geltung beanspruchten. Aus diesem Grund waren<br />

die Regierungen davon überzeugt, dass alle anderen Normen des primären sowie sekundären<br />

Gemeinschaftsrechts unter Anwendung klassischer völkerrechtlicher Maßstäbe nur nach einer<br />

entsprechenden nationalen Transformationsgesetzgebung Wirkung in den Mitgliedstaaten<br />

entfalten (Stein 1981: 4).<br />

Dieser Auffassung konnte sich der EuGH jedoch nicht anschließen. Er verfolgte stattdessen<br />

eine Rechtsprechung, die zunächst einzelnen Vertragsvorschriften und später auch<br />

Bestimmungen des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts direkte Wirkung einräumte. Damit<br />

wurde allerdings das Problem von Normenkonflikten akut: Wie sollte im Fall eines<br />

Aufeinandertreffens von zwei widersprüchlichen Vorschriften, die beide Anspruch auf<br />

Gültigkeit erheben, verfahren werden? Sollte die gemeinschaftliche oder die nationale<br />

Regelung Vorrang genießen? Der EuGH löste diese prekäre Situation ausschließlich zu<br />

Gunsten des Gemeinschaftsrechts. Dies ist aus einer supranationalen Warte betrachtet mehr


<strong>Jörn</strong> <strong>Ketelhut</strong>: Richterliche Verfassungspolitik im europäischen Mehrebenensystem 6<br />

als verständlich, denn stünde es im Ermessen des jeweiligen nationalen Gesetzgebers, über<br />

die Gültigkeit einer gemeinschaftlichen Norm zu befinden und sie ggf. durch eine<br />

konkurrierende zu ersetzen, wäre die »europäische Rechtsordnung zu einem Flickteppich<br />

geworden, in dem einige Bestimmungen in einigen Mitgliedstaaten und andere anderswo<br />

anwendbar gewesen wären« (Scharpf 1999: 56). Dieser Problematik entzog sich der EuGH,<br />

indem er jeder unmittelbar anwendbaren Vertragsbestimmung Vorrang vor sämtlichen<br />

nationalen Rechtsnormen, einschließlich des Verfassungsrechts, einräumte und diese<br />

Jurisdiktion später auch auf die EG-Sekundärgesetzgebung ausdehnte.<br />

3.3. Die richterliche Herausbildung der konstitutionellen Strukturprinzipien des<br />

Gemeinschaftsrechts<br />

3.3.1. Die Direktwirkung des Gemeinschaftsrechts<br />

Der erste Schritt auf dem Wege zu einer konstitutionalisierten europäischen Rechtsordnung<br />

wurde im Jahre 1963 mit der Entscheidung »van Gend & Loos« getan. Der EuGH nahm einen<br />

relativ unspektakulären Fall, der eine zollrechtliche Materie betraf, zum Anlass, um das<br />

Besondere des europäischen Gemeinschaftsrechts herauszuarbeiten. Das Bemerkenswerte an<br />

diesem Urteil ist, jedenfalls wenn man es aus der dualistischen Tradition des Völkerrechts<br />

kommend betrachtet, dass Privatleute und Unternehmer ausdrücklich als Adressaten des<br />

Gemeinschaftsrechts anerkannt werden (Mayer 2005: 457). Dies begründete der EuGH mit<br />

der programmatischen Zielsetzung des EWG-Vertrages, einen funktionstüchtigen<br />

gemeinsamen Markt zu errichten. Da der Vertrag mit seinen Regelungen zur Steuerung des<br />

Marktes unmittelbar auf natürliche und juristische Personen in den EWG-Mitgliedstaaten<br />

ausstrahlt,<br />

»ist zugleich gesagt, daß dieser Vertrag mehr ist als ein Abkommen, das nur<br />

wechselseitige Verpflichtungen zwischen den vertragschließenden Staaten<br />

begründet. Diese Auffassung wird durch die Präambel des Vertrages bestätigt,<br />

die sich nicht nur an die Regierungen, sondern auch an die Völker richtet. Sie<br />

findet eine noch augenfälligere Bestätigung in der Schaffung von Organen,<br />

welchen Hoheitsrechte übertragen sind, deren Ausübung in gleicher Weise die<br />

Mitgliedstaaten wie die Staatsbürger berührt« (Rs. 26/62, Slg. 1963: 1/24 f).<br />

Da sich der EWG-Vertrag auch an Einzelne richtet, sei es erforderlich, dass sie sich vor<br />

Gericht auf die Bestimmungen des Vertrages berufen können. Der EuGH stellte fest, dass<br />

»die Gemeinschaft eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstellt, zu deren<br />

Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souveränitätsrechte<br />

eingeschränkt haben, eine Rechtsordnung deren Rechtssubjekte nicht nur die<br />

Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind. Das von der Gesetzgebung der<br />

Mitgliedstaaten unabhängige Gemeinschaftsrecht soll daher den Einzelnen ebenso wie<br />

es ihnen Pflichten auferlegt, auch Rechte verleihen. Solche Rechte entstehen nicht nur,<br />

wenn der Vertrag dies ausdrücklich bestimmt, sondern auch auf Grund von<br />

eindeutigen Verpflichtungen, die der Vertrag den Einzelnen wie auch den<br />

Mitgliedstaaten und den Organen der Gemeinschaft auferlegt«(Rs. 26/62, Slg. 1963:<br />

1/25).<br />

Mit dieser Formel verankerte der EuGH den Grundsatz der Direktwirkung im<br />

Gemeinschaftsrecht. Er besagt, dass alle durchgriffsfähigen Normen des EG-Rechts auf<br />

nationaler Ebene direkte Rechtsbeziehungen begründen können. Die Bestimmungen müssen<br />

nur so ausgestaltet sein, dass sich aus ihnen klare und uneingeschränkte Verpflichtungen<br />

ergeben, die ohne weitere Durchführungsmaßnahmen der Gemeinschaft oder der Mitgliedstaaten<br />

zur Anwendung gelangen können. Eine derartig vollständige Regelung bedarf keiner


<strong>Jörn</strong> <strong>Ketelhut</strong>: Richterliche Verfassungspolitik im europäischen Mehrebenensystem 7<br />

vermittelnden Gesetzgebung, um verbindliche Wirkung zu erlangen; die Vorschrift selbst ist<br />

als geltendes Recht zu betrachten und von den staatlichen Stellen entsprechend anzuwenden.<br />

Auch wenn die Norm sich ausdrücklich an die Mitgliedstaaten richtet, darf nicht<br />

ausgeschlossen werden, dass sie auch für Unternehmen oder Privatleute individuelle Rechte<br />

begründet, die zu schützen sind. Von der Direktwirkung waren zunächst nur einzelne Artikel<br />

der Gründungsverträge betroffen. In der Folgezeit dehnte der EuGH diesen Grundsatz aber<br />

auch auf das Sekundärrecht aus. Insbesondere die Rechtsprechung zur direkten<br />

Anwendbarkeit von Richtlinien und zum Staatshaftungsanspruch stellen dabei weitere<br />

wichtigen Schritt im Konstitutionalisierungsprozess dar.<br />

Im Gegensatz zu Verordnungen, die in allen Teilen verbindlich sind und unmittelbar in jedem<br />

Mitgliedstaat gelten, räumen Richtlinien den Mitgliedstaaten einen gewissen<br />

Ermessenspielraum bei der Umsetzung der vereinbarten Regelung ein. Verbindlich ist nur das<br />

festgelegte Ziel, die Wahl der Form und der Mittel bleibt den Mitgliedstaaten überlassen:<br />

»EG-Richtlinien müssen also als eine Art Rahmengesetz in der Regel erst von den<br />

Parlamenten der Mitgliedstaaten in nationales Recht umgesetzt werden, um in den nationalen<br />

Rechtsordnungen wirksam zu werden. Sie gleichen in dieser Hinsicht internationalen<br />

Verträgen, die ebenfalls nur die Staaten verpflichten und nur in bezug auf das angegebene<br />

Ziel. Allerdings steht die Umsetzung von EG-Richtlinien nicht wie bei völkerrechtlichen<br />

Verträgen im Ermessen der nationalen Gesetzgeber; die EG-Länder sind vielmehr<br />

verpflichtet, Richtlinien vollständig und innerhalb der vorgegebenen Fristen umzusetzen«<br />

(Wolf-Niedermaier 1997: 84).<br />

Somit stellt sich die Frage, welche Wirkung Richtlinien entfalten, wenn die nationalen<br />

Parlamente es unterlassen, sie vollständig und fristgerecht in innerstaatliches Recht zu<br />

überführen. Der EuGH sah es als geboten, in dieser Ausnahmesituation eine Direktwirkung<br />

des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts zu prüfen und Einzelnen somit die Möglichkeit<br />

einzuräumen, sich für den Fall einer unterbliebenen oder nicht ordnungsgemäßen Umsetzung<br />

unmittelbar auf den Text des Rechtaktes zu berufen. Der EuGH hatte diese Auffassung<br />

erstmals in der Rechtssache »Franz Grad« (1970), in der es um die Frage nach der<br />

Europarechtskonformität einer deutschen Straßenverkehrssteuer (»Leberpfennig«) ging,<br />

vertreten. Der EuGH gelangte hier zu der Ansicht, dass neben Verordnungen auch andere<br />

Akte des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts, in diesem Fall Entscheidungen des Rates, unter<br />

bestimmten Umständen unmittelbare Wirkungen entfalten könnten. Im Jahr 1974 entschied<br />

der EuGH dann in Fortführung dieser Rechtsprechung, dass Einzelne auch aus Richtlinien<br />

unmittelbar geltende Rechte ableiten können: In der Entscheidung »van Duyn« heißt es dazu:<br />

»Mit der den Richtlinien durch Artikel 189 zuerkannten verbindlichen Wirkung wäre<br />

es unvereinbar, grundsätzlich auszuschließen, daß betroffene Personen sich auf die<br />

durch die Richtlinie auferlegte Verpflichtung berufen können. Insbesondere in den<br />

Fällen, in denen die Gemeinschaftsbehörden die Mitgliedstaaten durch Richtlinie zu<br />

einem bestimmten Verhalten verpflichten, würde die nützliche Wirkung (›effet utile‹)<br />

einer solchen Maßnahme abgeschwächt, wenn die staatlichen Gerichte sie nicht als<br />

Bestandteil des Gemeinschaftsrechts berücksichtigen könnten« (Rs. 41/74, Slg. 1974:<br />

1337 Rnr. 12).<br />

Hinter dieser Argumentation verbirgt sich die Logik, es den Mitgliedstaaten nicht zu<br />

gestatten, sich ggf. auf eigene Versäumnisse bei der Umsetzung des Sekundärrechts zu<br />

berufen, um individuelle Rechtsansprüche abzuweisen. Greifen kann die Direktwirkung von<br />

Vorschriften des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts aber nur, wenn es die Mitgliedstaaten<br />

unterlassen, sie innerhalb der dafür vorgesehenen Zeit ordnungsgemäß in innerstaatliches<br />

Recht zu überführen. Vor dem Ablauf dieser Frist sind die Voraussetzungen für die direkte<br />

Anwendbarkeit nicht gegeben und es steht dem Gesetzgeber frei, diese Materie<br />

eigenverantwortlich zu regeln. Verstreicht diese Zeitspanne ungenutzt, muss der EuGH im


<strong>Jörn</strong> <strong>Ketelhut</strong>: Richterliche Verfassungspolitik im europäischen Mehrebenensystem 8<br />

Zweifelsfall über jede Detailregelung einzeln entscheiden und prüfen, ob sie sich dazu eignet,<br />

direkte Rechtsbeziehungen zwischen den Mitgliedstaten und ihren Bürgern zu erzeugen.<br />

Dabei ist zu berücksichtigen, dass nur solche Bestimmungen in Betracht gezogen werden, die<br />

eine begünstigende Wirkung erzielen. Daher ist es ausgeschlossen, dass Privatleute durch eine<br />

unvollständig oder nicht fristgemäß umgesetzte Richtlinie belastet werden. Im Verhältnis der<br />

Bürger untereinander ist die direkte Anwendbarkeit einer Richtlinie allerdings<br />

ausgeschlossen, denn in »einem Rechtsstreit zwischen Privaten entspricht die Berechtigung<br />

aus einer Richtlinie für den einen einer Belastung aus der Richtlinie für den anderen. Letzterer<br />

kann aber – anders als der richtliniensäumige Staat –nichts dafür, dass Richtlinienrecht nicht<br />

ordnungsgemäß umgesetzt ist, er weiß wohlmöglich von einer Richtlinie gar nichts« (Mayer<br />

1995: 466).<br />

Um einen Ausgleich für die Folgen dieses Nullsummenspiels zu schaffen, entwickelte der<br />

EuGH einen Haftungsanspruch für mitgliedstaatliche Verletzungen des Europarechts. In der<br />

»Francovich«-Entscheidung (1991) heißt es dazu:<br />

»Die volle Wirksamkeit der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen wäre<br />

beeinträchtigt und der Schutz der durch sie begründeten Rechte gemindert, wenn der<br />

einzelne nicht die Möglichkeit hätte, für den Fall eine Entschädigung zu erlangen, daß<br />

seine Rechte durch einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht verletzt werden, der<br />

einem Mitgliedstaat zuzurechnen ist. Die Möglichkeit einer Entschädigung durch den<br />

Mitgliedstaat ist vor allem dann unerläßlich, wenn die volle Wirkung der<br />

gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen ... davon abhängt, daß der Staat tätig wird,<br />

und der einzelne deshalb im Falle einer Untätigkeit des Staates die ihm durch das<br />

Gemeinschaftsrecht zuerkannten Rechte vor den nationalen Gerichten nicht geltend<br />

machen kann. Der Grundsatz einer Haftung des Staates für Schäden, die dem<br />

einzelnen durch dem Staat zurechenbare Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht<br />

entstehen, folgt somit aus dem Wesen der mit dem EWG-Vertrag geschaffenen<br />

Rechtsordnung« (Rs. C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991: I-5357, Rnr. 33 ff).<br />

Mit dem Grundsatz der Staatshaftung »krönte« der EuGH seine Rechtsprechung zur<br />

Direktwirkung des EG-Rechts: Er hatte das Gemeinschaftsrecht dahingehend auslegt, dass<br />

sich Rechtsverstöße für die Mitgliedstaaten nicht mehr auszahlen. Im Gegensatz zum<br />

Völkerrecht, wo die Beachtung bzw. Umsetzung von internationalen Übereinkünften primär<br />

von politischen Erwägungen abhängt und es zudem keine effektiven Durchsetzungs- oder<br />

Sanktionsmechanismen gibt, zahlt sich die Missachtung des europäischen Rechts für die<br />

Mitgliedstaaten nicht aus. Im Gegenteil: Nur die fehlerhafte oder nicht fristgerechte<br />

Umsetzung des europäischen Rechts ermöglicht die direkte Anwendung einer europäischen<br />

Norm oder begründet Staatshaftungsansprüche. Die Mitgliedstaaten erzeugen die Grundlage<br />

für die richterlichen Eingriffsmöglichkeiten des EuGH durch eine Verletzung ihrer<br />

Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft somit selbst. Dieser »positive Anreiz« zum<br />

gemeinschaftskonformen Verhalten trägt damit zum Schutze der (unmittelbar) aus<br />

europäischem Recht fließenden Ansprüche von Privatleuten und Unternehmungen bei. Voll<br />

entfalten konnte sich die Direktwirkung des Gemeinschaftsrechts jedoch erst im<br />

Zusammenhang mit der Vorrang-Rechtsprechung des EuGH.<br />

3.3.2. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts<br />

Die Entscheidung »van Gend & Loos«, mit der der EuGH seinen Rechtsprechung zur<br />

Direktwirkung begründete, ließ die Frage nach dem Rang des Gemeinschaftsrechts noch<br />

unbeantwortet. Doch bereits ein Jahr später ergriff der EuGH die Gelegenheit, umfassend<br />

dazu Stellung zu beziehen und den Grundsatz des (Anwendungs-) Vorrangs zu entwickeln.<br />

Der EuGH nutze abermals einen verhältnismäßig unbedeutenden Ausgangsrechtsstreit, bei<br />

dem es um die ausstehende Zahlung einer geringfügigen Stromrechnung ging, um


<strong>Jörn</strong> <strong>Ketelhut</strong>: Richterliche Verfassungspolitik im europäischen Mehrebenensystem 9<br />

»europäische Rechtsgeschichte zu schreiben« (Mayer 1995: 458). Ähnlich wie ein Jahr zuvor<br />

stützte der EuGH in »Costa gegen ENEL« (1964) seine gesamte Argumentation auf den<br />

besonderen Charakter des EWG-Vertrages und der durch ihn geschaffenen Rechtsordnung.<br />

Doch im Gegensatz zu seiner früheren Rechtsprechung löste er in der Begründung nun<br />

sämtliche Bindungen zum internationalen Recht und verfestigte damit seinen<br />

»verfassungsrechtlich« anmutenden Interpretationsansatz (Stein 1981: 11 f). Während der<br />

EuGH in »van Gend & Loos« noch festgestellt hatte, dass der EWG-Vertrag eine »neue<br />

Rechtsordnung des Völkerrechts« (EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963: 1/2). konstituiert, ging er nun<br />

dazu über, die Eigenständigkeit des gemeinschaftlichen Rechtssystems in den Mittelpunkt<br />

seiner Argumentation zu rücken:<br />

»Zum Unterschied von gewöhnlichen internationalen Verträgen hat der EWG-Vertrag<br />

eine eigene Rechtsordnung geschaffen, die bei seinem Inkrafttreten in die<br />

Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen und von ihren Gerichten<br />

anzuwenden ist. Denn durch die Gründung einer Gemeinschaft für unbegrenzte Zeit,<br />

die mit eigenen Organen, mit der Rechts- und Geschäftsfähigkeit, mit internationaler<br />

Handlungsfähigkeit und insbesondere mit echten, aus der Beschränkung der Zuständigkeit<br />

der Mitgliedstaaten oder der Übertragung von Hoheitsrechten der<br />

Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft herrührenden Hoheitsrechten ausgestattet ist,<br />

haben die Mitgliedstaaten, wenn auch in begrenztem Gebiet, ihre Souveränitätsrechte<br />

beschränkt und so einen Rechtskörper geschaffen, der für ihre Angehörigen und sie<br />

selbst verbindlich ist« (EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963: 1/25).<br />

Der EuGH brachte damit zum Ausdruck, dass die Mitgliedstaaten einen Teil ihrer<br />

Souveränitätsrechte auf eine neue Entscheidungsebene übertragen und dadurch eine neue<br />

Rechtsordnung geschaffen hatten. Daraus ergab sich, dass die »Herren der Verträge« in den<br />

vom Europarecht erfassten Bereichen nicht mehr in vollem Umfange auf ihre eigenen<br />

Gestaltungskompetenzen zurückgreifen konnten. Die Ausübung der ehemals nationalen<br />

Aufgaben fiel nunmehr in den gemeinschaftlichen Kompetenzrahmen und richtete sich jetzt<br />

nach gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben (Wolf-Niedermayer 1997: 74 f).<br />

Um die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts in allen Mitgliedstaaten zu<br />

gewährleisten, war es erforderlich, dem EG-Recht daher eine umfassende »Sperrwirkung«<br />

(Joerges 1996: 81) einzuräumen. Das bedeutete, dass nationale Regelungen, soweit sie in den<br />

Bereich der europäischen Kompetenzen vordrangen, »gemeinschaftsverträglich« gestaltet<br />

werden mussten, denn<br />

»Wortlaut und Geist des Vertrages haben zur Folge, daß es den Staaten unmöglich ist,<br />

gegen eine von ihnen auf der Grundlage der Gegenseitigkeit angenommenen<br />

Rechtsordnung nachträglich einseitige Maßnahmen ins Feld zu führen« (EuGH, Rs.<br />

26/62, Slg. 1963, 1/25).<br />

Allerdings bleibt in diesem Zusammenhang anzumerken, dass im Gegenzug die<br />

Gemeinschaft, deren Kompetenzordnung ja dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung<br />

unterliegt, ebenfalls verpflichtet ist, die exklusiven staatlichen Zuständigkeitsbereiche zu<br />

respektieren. Der EuGH sollte in seiner Argumentation aber nicht näher auf diesen durchaus<br />

berechtigten Einwand eingehen. Er war vielmehr daran interessiert, mit seiner<br />

verfassungsrechtlich anmutenden, von völkerrechtlichen Maßstäben abweichenden<br />

Interpretation des EWG-Vertrages einen Beitrag zu leisten, um die Funktionstüchtigkeit der<br />

europäischen Rechtsordnung sicherzustellen. Er begründete das aus<br />

Effektivitätsgesichtspunkten durchaus notwendige Vorrangprinzip damit, dass<br />

»dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden<br />

Recht wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten<br />

innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können, wenn ihm nicht sein Charakter<br />

als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der<br />

Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll« (Rs. 6/64, Slg. 1964: 1270)


<strong>Jörn</strong> <strong>Ketelhut</strong>: Richterliche Verfassungspolitik im europäischen Mehrebenensystem 10<br />

Dem unmittelbar wirkenden europäischen Gemeinschaftsrecht ist somit im Falle eines<br />

Normenkonfliktes, der Vorrang vor sämtlichen entgegenstehenden Bestimmungen des innerstaatlichen<br />

Rechts einzuräumen. Die abweichenden Vorschriften werden dadurch aber<br />

nicht automatisch aufgehoben oder ungültig. Das Prinzip des Vorrangs ist vielmehr als<br />

Anwendungsvorrang zu verstehen, der Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten<br />

verpflichtet, jede dem EG-Recht entgegenstehende Regelung des nationalen Rechts im Konfliktfall<br />

nicht anzuwenden. Diese Rechtsprechung hat der EuGH in zahlreichen Entscheidungen<br />

bestätigt und weiter ausgebaut. Brisant erwies sich in diesem Zusammenhang die<br />

Rigorosität und Absolutheit mit der der EuGH die vorrangige Anwendung des Europarechts<br />

auch gegenüber dem nationalen Verfassungsrecht einforderte.<br />

Bereits in »Costa gegen ENEL« deutet die Formulierung der »wie auch immer gearteten innerstaatlichen<br />

Rechtsvorschriften« an, dass auch das Verfassungsrecht vom Vorrangprinzip<br />

erfasst wird. Einige Jahre später wurde der EuGH deutlich konkreter. Der Fall der »Internationalen<br />

Handelsgesellschaft« (1970) warf die Frage auf, ob bei einem Verstoß einer EWG-<br />

Verordnung gegen verfassungsrechtlich verbürgte Grundrechtsgewährleistungen der Vorranganspruch<br />

des Gemeinschaftsrechts hinter die Verfassungsgrundsätze des Mitgliedstaates<br />

zurücktreten müsse. Das mit dem Fall befasste Finanzgericht Frankfurt/Main hatte diese<br />

Auffassung in seinem Vorlagebeschluss vertreten. Der EuGH sollte sich dieser<br />

Argumentation aber nicht anschließen. Denn die<br />

»einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts würde beeinträchtigt, wenn bei der<br />

Entscheidung über die Gültigkeit von Handlungen der Gemeinschaftsorgane Normen<br />

oder Grundsätze des nationalen Rechts herangezogen würden. Die Gültigkeit solcher<br />

Handlungen kann nur nach dem Gemeinschaftsrecht beurteilt werden, denn dem vom<br />

Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht<br />

können wegen seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen<br />

Rechtsvorschriften vorgehen, wenn ihm nicht der Charakter als Gemeinschaftsrecht<br />

aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage<br />

gestellt werden soll. Daher kann es die Gültigkeit einer Gemeinschaftshandlung oder<br />

deren Geltung in einem Mitgliedstaat nicht berühren, wenn geltend gemacht wird, die<br />

Grundrechte in der ihnen von der Verfassung dieses Staates gegebenen Gestalt oder<br />

die Strukturprinzipien der nationalen Verfassung seien verletzt« (Rs. 11/70, Slg. 1970,<br />

S. 1125 ff., hier S. 1135, Rnr. 3).<br />

Der Vorrang des EG-Rechts galt also uneingeschränkt und erstreckte sich auch auf die<br />

Bestimmungen des nationalen Verfassungsrechts, selbst in grundrechtsrelevaten<br />

Sachverhalten. Somit konnten die mitgliedstaatlichen Verfassungen keinen hinreichenden<br />

Schutz vor möglichen Grundrechtsverletzungen durch das europäische Recht (mehr) bieten.<br />

Obwohl der EuGH den Vorranganspruch des EG-Rechts gegenüber sämtlichen »Normen des<br />

nationalen Rechts unabhängig von ihrer jeweiligen Position in der Normenhierarchie oder von<br />

dem Zeitpunkt ihrer Inkraftsetzung« (Haltern 2005: 284) geltend gemacht hatte, unterbreitete<br />

er in »Internationale Handelsgesellschaft« einen Vorschlag zur Kompensation des nicht<br />

greifenden innerstaatlichen Grundrechteschutzes und brachte sich dabei selbst ins Spiel.<br />

Schließlich war er vertraglich dazu befähigt, individuellen Rechtsschutz gegenüber den Akten<br />

der Gemeinschaft zu gewähren. Um nun einen effektiven Grundrechteschutz sicherzustellen<br />

musste auf der europäische Ebene »nur« eine gemeinschaftsrechtliche Gewährleistung an die<br />

Stelle der in den nationalen Verfassungen festgelegten treten (Mayer 2005: 284).<br />

Da die immer umfassender werdende Regelung des Wirtschaftslebens durch europäische<br />

Vorgaben Verstöße gegen verfassungsrechtlich verbürgte Garantien immer wahrscheinlicher<br />

werden ließ, sollte sich dem EuGH hier zukünftig ein breites Betätigungsfeld eröffnen.<br />

Gerade die Wettbewerbsvorschriften, Marktordnungen, Preisregime sowie Ein- und<br />

Ausfuhrbestimmungen standen in enger Beziehung mit dem Recht auf Eigentum und dem<br />

Recht auf freie Berufsausübung. Die Gemeinschaft konnte zum damaligen Zeitpunkt jedoch


<strong>Jörn</strong> <strong>Ketelhut</strong>: Richterliche Verfassungspolitik im europäischen Mehrebenensystem 11<br />

keinen dem nationalen Standard entsprechenden Grundrechteschutz nachweisen. Es existierte<br />

kein verbindlicher Katalog europäischer Grundrechte. Die Gründungsverträge äußerten sich<br />

lediglich zu den vier Marktfreiheiten. Daher sah sich der EuGH aufgefordert, den darüber<br />

hinausreichenden Bestand an gemeinschaftlich verbürgten Grundrechtsgarantien schrittweise<br />

richterrechtlich zu entwickeln. Er orientierte sich dabei nicht nur an den gemeinsamen<br />

Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten, sondern berücksichtigte auch internationale<br />

Abkommen zum Schutz der Grund- und Menschenrechte. In besonderem Maße stützte er sich<br />

aber auf die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), der alle EWG-Mitgliedstaaten<br />

beigetreten waren (Mayer 2005: 463). Diese unterschiedlichen Rechtsquellen führte der<br />

EuGH zusammen und erarbeitete in den folgenden Jahren und Jahrzehnten einen umfangreichen<br />

Kanon von gemeinschaftlich geschützten Grundrechtsgarantien, zu denen u. a. der<br />

Schutz des Eigentums, die Freiheit der Berufsausübung, die Achtung des Privatlebens, die<br />

Unverletzlichkeit der Wohnung, die Achtung des Familienlebens, die Vereinigungsfreiheit,<br />

die Meinungsfreiheit, die Religionsfreiheit sowie der Anspruch auf effektiven gerichtlichen<br />

Schutz und weitere grundlegende prozessuale Rechte zählen. Damit war gleichzeitig ein<br />

weiterer Schritt auf dem Weg zu einer konstitutionalisierten europäischen Rechtsordnung<br />

getan.<br />

4. Ideen, strategische Rechtsprechung und institutioneller Wandel<br />

Im Folgenden soll die soeben skizzierte Entwicklung der beiden grundlegenden<br />

konstitutionellen Strukturprinzipien des Gemeinschaftsrechts im Verbindung mit dem weiter<br />

oben entworfenen theoretischen Überlegungen vorgenommen werden. Dabei ist der Blick<br />

zunächst auf die Rechtsprechung des EuGH zur Frage der Direktwirkung des<br />

Gemeinschaftsrechts gerichtet. Gerade die in der Entscheidung »van Gend & Loos«<br />

vertretene Argumentation demonstriert in anschaulicher Weise, das »strategische« abwägende<br />

Vorgehen des EuGH, auf dem sein erfolgreiches »Ideenmanagement« beruht. Der glückliche<br />

Umstand, dass die Vorlage des Rechtsstreits aus den Niederlanden stammte, einem Land mit<br />

einem monistisch ausgerichteten Rechtssystem, schaffte für den EuGH unglaublich günstige<br />

Voraussetzungen, dem europäischen Recht zunächst Konturen und dann Durchschlagskraft zu<br />

verleihen.<br />

Um die Argumentation des EuGH richtig würdigen zu können, ist es erforderlich, sich genau<br />

mit dem Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits und den im Verfahren vor dem EuGH<br />

vertretenen Positionen vertraut zu machen. Erst dadurch wird deutlich, wie eng die<br />

Entscheidung »van Gend & Loos« mit der ein Jahr später entwickelten Vorrang-<br />

Rechtsprechung verwoben ist und als Beispiel für erfolgreich betriebenen<br />

»Ideenmanagement« interpretiert werden kann. Worum genau kreist nun der<br />

Ausgangsechtstreit, der den EuGH im Jahre 1963 auf dem Wege des<br />

Vorabentscheidungsverfahrens erreicht hatte? Der Sachverhalt lässt sich wie folgt<br />

zusammenfasen: Eine niederländische Firma hatte im Jahr 1960 eine Chemikalie aus der<br />

Bundesrepublik Deutschland importiert. Zum damaligen Zeitpunkt galt in den Niederlanden<br />

ein BENELUX-Protokoll, welches die Einfuhr von Erzeugnissen dieser Produktgruppe mit<br />

einem erhöhten Zoll belegte. Die niederländische Finanzbehörde hatte daraufhin einen<br />

Importzoll erhoben. Die betroffene Firma legte Rechtsmittel ein und berief sich dabei auf die<br />

im EWG-Vertrag festgelegte Zollfreiheit des Warenverkehrs. Das mit dem Fall befasste<br />

niederländische Gericht, die Amsterdamer Tariefcommissie, stellte dem EuGH daraufhin die<br />

Frage, ob diese Vorschrift so zu verstehen sei, dass sie individuelle Rechte begründe, die in<br />

einem innerstaatlichen Rechtsstreit zu berücksichtigen seien.<br />

Sämtliche der damals sechs mitgliedstaatlichen Regierungen beteiligten sich mit<br />

Stellungnahmen an dem Verfahren. Sie bestritten in ihnen vehement die Zuständigkeit des


<strong>Jörn</strong> <strong>Ketelhut</strong>: Richterliche Verfassungspolitik im europäischen Mehrebenensystem 12<br />

EuGH. Sie führten zur Begründung ihrs Standpunktes an, die vom niederländischen Gericht<br />

aufgeworfene Frage beträfe überhaupt nicht die Auslegung des Vertrages, sondern sei<br />

vielmehr eine ausschließlich nach den Maßstäben des nationalen Verfassungsrechts zu<br />

lösenden Aufgabe. Diese Position tritt besonders deutlich in den Ausführungen der belgischen<br />

Regierung zu Tage. Die Mitgliedstaaten brachten in ihren Stellungahmen somit<br />

unmissverständlich zum Ausdruck, dass der EuGH nicht darüber befinden könne, »ob den<br />

Vorschriften des EWG-Vertrages der Vorrang von niederländischen Gesetzesvorschriften und<br />

vor anderen von den Niederlanden abgeschlossenen und in das innerstaatliche Recht<br />

aufgenommenen Vereinbarungen zukomme« (EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963: 13). Dies sei<br />

ausschließlich die Angelegenheit der nationalen Gerichte. 1<br />

Die Europäische Kommission widersetzte sich dieser Argumentation vehement. Sie sprach<br />

sich stattdessen dafür aus, die interne Wirkung der Vertragsvorschriften nicht vom nationalen<br />

Recht der Mitgliedstaaten abhängig zu machen. Sie hielt es vielmehr für geboten, diese direkt<br />

aus dem Vertrag abzuleiten. Um die Effektivität des Gemeinschaftsrechts nicht in zu<br />

gefährden und seine in allen Mitgliedstaaten einheitliche Anwendung zu gewährleisten, sei es<br />

daher erforderlich nicht nur eine die direkte Wirkung zu bejahen, sondern zudem von einem<br />

Vorrang auszugehen (EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963: 14). Auch der in dem Verfahren<br />

zuständige Generalanwalt führte seinem Schlussantrag aus, dass die vom niederländischen<br />

Gericht aufgeworfene Frage in gemeinschaftsrechtlicher Hinsicht nicht ohne eine<br />

entsprechende Berücksichtigung des normhierarchischen Aspekts beantwortet werden könne.<br />

Er machte in den Verträgen allerdings keine von den Mitgliedstaaten eindeutig festgelegte<br />

Entscheidung für die Begründung eines gemeinschaftsrechtlich Vorrang-Prinzips aus. Daher<br />

blieb ihm nichts anderes übrig, als die Lösung der Frage nach dem Vorrang eines<br />

internationalen Normwerkes im nationalen Verfassungsrecht zu suchen (Haltern 2005: 276).<br />

Da die Verfassungen der Mitgliedstaaten in diesem für die Beurteilung des Falls zentralen<br />

Punkt aber weit voneinander abwichen und so die die einheitliche Anwendung des Vertrages<br />

nicht in hinreichendem Maße garantiert werden konnte, sprach sich der Generalanwalt in<br />

seinem Schlussantrag letztlich dagegen aus, der strittigen Vorschrift eine Direktwirkung<br />

zuzusprechen (EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963: 1).<br />

Die Kommission hingegen konnte dieser Auffassung nicht folgen. Für sie ergaben sich trotz<br />

des Fehlens einer eindeutig ausgewiesenen Vorrang-Regelung bereits aus »rechtlichen<br />

Struktur des Vertrages und der durch ihn geschaffenen Rechtsordnung« hinreichende<br />

Möglichkeiten, auch Einzelnen direkt wirkende, von den nationalen Gerichten zu schützenden<br />

Rechte einzuräumen. Die Kommission schloss daraus, dass »der nationalen Richter die<br />

Verpflichtung habe, den Rechtsvorschriften der Gemeinschaft den Vorrang vor dem<br />

entgegenstehenden nationalen Gesetzen zu geben, auch wenn diese später ergangen sind«<br />

(EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963: 15 f). Dieser Ansicht sollte sich auch der EuGH anschließen.<br />

Allerdings verzichtete er darauf, die Vorrangfrage, die in der Auseinandersetzung zwischen<br />

den Mitgliedstaaten, der Kommission und dem Generalanwalt über den Status und die<br />

Reichweite des Gemeinschaftsrechts eine so zentrale Rolle gespielt hatte, überhaupt zu<br />

erwähnen. Wie lässt sich das erklären?<br />

Verantwortlich dafür ist die günstige Ausgangssituation des Falls, der ja auf einer Vorlage<br />

eines niederländischen Gerichts beruhte. Das niederländische Verfassungsrecht erlaubte es<br />

nämlich, eine direkt anwendbare Norm des Völkerrechts – und um eine solche ging es in dem<br />

Verfahren – vorrangig gegenüber konfligierenden nationalen Bestimmungen durchzusetzen.<br />

Die Vorrangfrage musste also gar nicht geklärt werden. Sie war bereits durch das monistisch<br />

ausgerichtete niederländische Rechtssystem entschieden (Haltern 2005: 271). Somit konnte<br />

der EuGH sich darauf konzentrieren, zu prüfen, ob der Vertrag in bezug auf die Rechte<br />

Einzelner von nationalen Gerichten zu berücksichtigen ist. Die Frage des vorlegenden<br />

Gerichtes beantwortete er dahingehend, dass die vertraglich festgelegte Vorschrift über die<br />

Abschaffung der Zölle ein klares und uneingeschränktes Verbot beinhalte, das keiner weiteren


<strong>Jörn</strong> <strong>Ketelhut</strong>: Richterliche Verfassungspolitik im europäischen Mehrebenensystem 13<br />

rechtlichen Präzisierung bedürfe. Die Bestimmung könne daher ohne einen begleitenden Akt<br />

des nationalen Gesetzgebers angewendet werden. Damit gab der EuGH dem niederländischen<br />

Gericht eine Auslegungshilfe an die Hand, die es ermöglichte, das Gemeinschaftsrecht<br />

vorrangig durchzusetzen. Ohne die günstige Ausgangslage, die sich dem EuGH durch die<br />

Vorlage eines niederländischen Gerichts bot, hätte er sich wohl oder übel eingehend mit der<br />

Vorrangfrage beschäftigen müssen. Dies machten die Stellungnahmen der Kommission und<br />

des Generalanwalts mehr als deutlich. Vielleicht wäre dann seine Rechtsprechung deutlich<br />

zurückhaltender ausgefallen. So konnte er jedoch die günstige Gelegenheit nutzen und ein am<br />

Grundgedanken des individuellen Rechtsschutzes ausgerichtetes Argumentationsmuster<br />

entwerfen, das seither als ein ständig wiederkehrendes Element in der Rechtsprechung des<br />

EuGH präsent ist. Gleichwohl lassen sich auch aus der Entscheidung »van Gend & Loos«<br />

Aussagen über die Beantwortung der Vorrangfrage ableiten. Schließlich gehörte das Thema<br />

zu den beherrschenden Diskussionsgegenständen während des Verfahrens. So schwingt die<br />

Beantwortung der Vorrangfrage in »van Gend & Loos« bereits mit. Die macht sich u. a. darin<br />

bemerkbar, dass der der EuGH im Vertrag weit mehr, sieht als »ein Abkommen das nur<br />

wechselseitige Verpflichtungen zwischen den vertragschließenden Staaten begründet«<br />

(EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963: 24). Schemenhaft lässt sich hier die Bereitschaft erkennen, den<br />

Vertrag als »Verfassung im Entstehen« (Haltern 2005: 275) zu begreifen. In dieser Hinsicht<br />

war es kein weiter Weg, ein Jahr später den Vorrang dieser auf Dynamik angelegten<br />

»Vertragsverfassung« auch ausdrücklich einzufordern. Die Gelegenheit dazu bot sich dem<br />

EuGH durch ein Vorabentscheidungsersuchen eines italienischen Gerichts.<br />

In der Entscheidung der Rechtssache »Costa/ENEL« formulierte der EuGH basierend auf der<br />

bereits in »van Gend & Loos« entwickelten Argumentation Regeln, wie der Konflikt<br />

zwischen einer direkt wirkenden Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts und einer<br />

anderslautenden Norm des nationalen Rechts zu lösen ist. Um die Einheitlichkeit des<br />

Gemeinschaftsrechts zu garantieren und dadurch die Verwirklichung der in den Verträgen<br />

festgelegten Integrationsziele in allen Mitgliedstaaten sicherzustellen, entschied sich der<br />

EuGH in »Costa/ENEL« dafür, den Vorrang des gemeinschaftlichen Rechts gegenüber<br />

sämtlichen Bestimmungen des nationalen Rechts einzufordern. Damit hatte sich der EuGH<br />

schließlich der Position angenähert, die die Kommission in ihrer Stellungnahme zum Fall<br />

»van Gend & Loos« mit Nachdruck vertreten hatte (Wincott 1995: 589). Allerdings konnte<br />

der EuGH in »Costa/ENEL« die Entwicklung des Vorranges auf bereits im<br />

Gemeinschaftsrecht verankerte Argumentationsmuster stützen. Nämlich auf die, die er ein<br />

Jahr zuvor selbst geschaffen hatte.<br />

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