Nathalie Behnke, FernUniversität in Hagen - DVPW
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Geme<strong>in</strong>same Tagung der Deutschen Vere<strong>in</strong>igung für Politische Wissenschaft (<strong>DVPW</strong>), der<br />
Österreichischen Gesellschaft für Politikwissenschaft (ÖGPW) und der Schweizerischen<br />
Vere<strong>in</strong>igung für Politische Wissenschaft (SVPW)<br />
„Die Verfassung der Demokratien“<br />
21. bis 23. November 2008 an der Universität Osnabrück<br />
Abstracts zu Workshop 5: Verfassungsreformen im Vergleich<br />
Leitung: <strong>Nathalie</strong> <strong>Behnke</strong>, <strong>FernUniversität</strong> <strong>Hagen</strong>; Arthur Benz, <strong>FernUniversität</strong> <strong>Hagen</strong>; Dietmar Braun,<br />
Université de Lausanne; Florian Grotz, Universität Lüneburg; Kathar<strong>in</strong>a Holz<strong>in</strong>ger, Universität<br />
Konstanz; Klaus Poier, Universität Graz<br />
Florian Grotz (Universität Lüneburg)<br />
Klaus Poier (Universität Graz)<br />
Verfassungsreformen ohne constitutional moment: Deutschland, Österreich und die<br />
Schweiz im Vergleich<br />
Während der vergangenen Jahre kam es <strong>in</strong> Deutschland, Österreich und der Schweiz fast<br />
gleichzeitig zu Versuchen, die nationale Verfassungsordnung grundlegend zu modernisieren.<br />
In der Schweiz wurde nach jahrzehntelangen Ansätzen mit der Bundesverfassung 2000 e<strong>in</strong>e<br />
neue, wenn auch <strong>in</strong> weiten Teile „nachgeführte“ Verfassung beschlossen. In Deutschland<br />
wurde 2006 nach mehrjähriger Vorarbeit die formal umfangreichste Grundgesetzänderung<br />
seit Bestehen der Bundesrepublik verabschiedet, wobei der Reformprozess mit E<strong>in</strong>setzung<br />
e<strong>in</strong>er weiteren „Föderalismuskommission“ e<strong>in</strong>e unmittelbare Fortsetzung fand. In Österreich<br />
sollte e<strong>in</strong> eigens e<strong>in</strong>gerichteter „Konvent“ (2003-2005) e<strong>in</strong>en Vorschlag für e<strong>in</strong>e neue<br />
Verfassung ausarbeiten, kam jedoch zu ke<strong>in</strong>em abschließenden Ergebnis. In der Zwischenzeit<br />
wurden e<strong>in</strong>zelne „Pakete“ e<strong>in</strong>er großen Verfassungsreform vorgelegt, die zum Teil bereits<br />
beschlossen s<strong>in</strong>d, zum größeren Teil gerade verhandelt werden.<br />
Obwohl <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em Land e<strong>in</strong> constitutional moment (Ackerman 1999) erkennbar war und man<br />
<strong>in</strong> Bundesstaaten eigentlich nur <strong>in</strong>krementelle Veränderungen des konstitutionellen Rahmens<br />
erwarten sollte (Benz 2007), erschien die Idee e<strong>in</strong>er „großen Verfassungsreform“ offenbar <strong>in</strong><br />
allen drei Fällen attraktiv. Wie s<strong>in</strong>d diese nahezu zeitgleichen Reform<strong>in</strong>itiativen zustande<br />
gekommen? Lassen sich dabei jenseits von länderspezifischen Ausgangsbed<strong>in</strong>gungen auch<br />
geme<strong>in</strong>same Erklärungsmuster identifizieren, allenfalls auch solche, die für föderalstaatliche<br />
Kontexte „typisch“ s<strong>in</strong>d? Der vorliegende Beitrag überprüft zunächst, <strong>in</strong>wiefern bestehende<br />
Ansätze der Vergleichenden Politikwissenschaft bzw. Föderalismusforschung zu e<strong>in</strong>er<br />
Erklärung der „großen“ Reform<strong>in</strong>itiativen beitragen können. Diese Überlegungen münden <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong> Modell, das gleichermaßen exogene und endogene Problemkonstellationen berücksichtigt<br />
und sie mit den Ebenen des verfassungspolitischen Prozesses (Akteure, Verfahren, Inhalte)<br />
verb<strong>in</strong>det. Auf dieser Basis erfolgt e<strong>in</strong>e vergleichende Analyse der drei Länderfälle, die<br />
Geme<strong>in</strong>samkeiten und Unterschiede der „reformauslösenden“ Variablenkonstellationen<br />
differenziert herausarbeitet. Abschließend soll der Frage nachgegangen werden, <strong>in</strong>wieweit vor<br />
dem H<strong>in</strong>tergrund der tatsächlichen „reformauslösenden“ Faktoren und aus dem<br />
<strong>in</strong>ternationalen Vergleich von großen Verfassungs(ver)änderungen das Fehlen e<strong>in</strong>es<br />
constitutional moment für Probleme und – auch zu verzeichnende – Misserfolge der<br />
Reformbestrebungen <strong>in</strong> Deutschland, Österreich und der Schweiz verantwortlich gemacht<br />
werden kann.<br />
1
Annegret Eppler M.A., Ass. iur.<br />
Jüngste Föderalismusreformen <strong>in</strong> Deutschland, Österreich und der Schweiz als<br />
Europäisierungsschritte<br />
Das Verhältnis von europäischer Integration und föderaler bzw. regionaler Anpassungen der<br />
nationalen Institutionensysteme, die <strong>in</strong> den letzten Jahrzehnten erfolgt s<strong>in</strong>d, wurde analysiert<br />
(Grotz, Florian 2007; für Deutschland z.B. Knodt, Michèle 2000). Auch die jüngsten Ansätze<br />
zu Reformen der föderalen Kompetenzordnungen <strong>in</strong> Deutschland, Österreich und der Schweiz<br />
können – so die zentrale These des geplanten Vortrags – als Europäisierungsschritte<br />
<strong>in</strong>terpretiert werden. Europäisierung als theoretisches Konzept kann den E<strong>in</strong>fluss der<br />
europäischen Integration auf föderale Systeme veranschaulichen. Neuere Ansätze der<br />
Europäisierung untersuchen, wie die EU auf ihre Mitgliedstaaten und deren politische<br />
Ordnungen zurückwirkt. Dieser Beitrag folgt der Def<strong>in</strong>ition von Radaelli und Bulmer aus dem<br />
Jahr 2005:<br />
"Europeanization consists of (a) construction, (b) diffusion, and (c) <strong>in</strong>stitutionalization of<br />
formal and <strong>in</strong>formal<br />
rules, procedures, policy paradigms, styles, ways of do<strong>in</strong>g th<strong>in</strong>gs, and shared beliefs and<br />
norms which are first<br />
def<strong>in</strong>ed and consolidated <strong>in</strong> the EU policy process and then <strong>in</strong>corporated <strong>in</strong> the logic of<br />
domestic (national and<br />
subnational) discourse, political structures, and public policies."<br />
Als föderal organisierte EU-Mitgliedstaaten s<strong>in</strong>d Deutschland und Österreich <strong>in</strong> das System<br />
der europäischen Multi-Level Governance e<strong>in</strong>gebunden. Die EU übt auf die föderalen<br />
Ordnungen dieser Staaten e<strong>in</strong>en Anpassungsdruck aus durch bestimmte <strong>in</strong>stitutionelle<br />
Politikmodelle (etwa Politikstil und Verwaltungsstruktur <strong>in</strong> der Umweltpolitik) bzw. durch<br />
das Erfordernis, im sich verändernden europäischen Rahmen zu agieren und<br />
wettbewerbsfähig zu bleiben (Stichwort „Europafähigkeit“). Obwohl die Schweiz ke<strong>in</strong> EU-<br />
Mitgliedstaat ist, unterliegt auch sie e<strong>in</strong>em Anpassungsdruck <strong>in</strong> Sachen Effizienz und<br />
Wettbewerbsfähigkeit, der von der EU ausgeht. E<strong>in</strong> Ziel der schweizerischen<br />
Föderalismusreform war die Steigerung ihrer „Europafähigkeit“ und die Reform kann unter<br />
dem Europäisierungsaspekt<br />
diskutiert werden.<br />
Ursachen für die großen Reformanläufe der drei Föderalstaaten und Erklärungen für ihre<br />
sach<strong>in</strong>haltlichen Ergebnisse können mith<strong>in</strong> <strong>in</strong> Anpassungsleistungen der föderalen Ordnungen<br />
an europäische Herausforderungen gesehen werden. Europäisierungsansätze sollten <strong>in</strong> die<br />
aktuelle wissenschaftliche Diskussion über Ursachen, Verlauf und Ergebnisse föderaler<br />
Reformen <strong>in</strong>tegriert werden.<br />
Ob tatsächlich e<strong>in</strong>e Veränderung bzw. Reform stattf<strong>in</strong>det und wie diese aussieht, hängt nicht<br />
nur vom europäischen Anpassungsdruck ab, sondern wird auch von nationalen Faktoren<br />
bee<strong>in</strong>flusst. Europäisierungsansätze beziehen beispielsweise <strong>in</strong>stitutionelle Reformh<strong>in</strong>dernisse<br />
auf nationaler Ebene mit e<strong>in</strong> – wie etwa spezifische Verhandlungsstrukturen <strong>in</strong> Föderalstaaten<br />
–, die e<strong>in</strong>e Anpassung erschweren oder verh<strong>in</strong>dern. Dies ist e<strong>in</strong>e der Stellen, an der die<br />
Brücke geschlagen werden könnte und „Föderalismustheorien“, mit denen Verlauf und<br />
Ergebnis der föderalen Reformprozesse auf e<strong>in</strong>en Staat konzentriert erklärt werden (wie etwa<br />
der akteurszentrierte Institutionalismus oder der historische Institutionalismus), mit den<br />
Europäisierungsansätzen verbunden werden könnten.<br />
2
Jan<strong>in</strong>e Re<strong>in</strong>hard M.A. , Universität Konstanz<br />
Vertragsreformen <strong>in</strong> der EU unter dem Druck der Erweiterung.<br />
Auslöser und Motive von Verfassungswandel im europäischen Mehrebenensystem<br />
Me<strong>in</strong> Paper wird Erweiterungen als Auslöser und Motive von Vertragsreformen <strong>in</strong> der<br />
Europäischen Union (EU) behandeln. In der politischen Diskussion wird gerade vor großen<br />
Erweiterungen wie der Osterweiterung oder e<strong>in</strong>em möglichen Türkeibeitritt das Problem der<br />
Aufnahmefähigkeit der EU sowie der <strong>in</strong>stitutionellen Handlungsfähigkeit thematisiert. Daher<br />
ist anzunehmen, dass Erweiterungen – zum<strong>in</strong>dest unter bestimmten Bed<strong>in</strong>gungen –<br />
Vertragsreformen auslösen können. Die zentrale Fragestellung me<strong>in</strong>es Papers soll daher<br />
lauten: Unter welchen Bed<strong>in</strong>gungen lösen Erweiterungsrunden Verfassungsreformen aus<br />
und unter welchen Bed<strong>in</strong>gungen s<strong>in</strong>d die angestrebten Reformen erfolgreich?<br />
Um die Fragestellung zu beantworten, werden die bisherigen europäischen Vertragsreformen<br />
bis zum Vertrag von Lissabon (2007) <strong>in</strong> Bezug zu den bisherigen sechs Erweiterungsrunden 1<br />
gesetzt. Dabei wird diachron und vergleichend untersucht, <strong>in</strong>wieweit die bevorstehenden<br />
Erweiterungen jeweils e<strong>in</strong>e Vertragsreform bee<strong>in</strong>flusst haben. Auf methodischer Ebene ist<br />
hierbei die zentrale Frage, wie man Auslöser und Motive für Verfassungsreformen –<br />
<strong>in</strong>sbesondere auch von länger zurück liegenden – identifizieren und nachweisen kann.<br />
E<strong>in</strong>e Zunahme der Mitgliedstaaten (MS) durch Erweiterungen (mehr Mitgliedstaaten,<br />
steigende Heterogenität) stellt e<strong>in</strong>e Herausforderung für die Regelung der Machtverteilung<br />
und die Effizienz im europäischen Mehrebenensystem dar. Fraglich ist dabei, wie Macht und<br />
Kompetenzen zwischen den Mitgliedstaaten und der EU durch Regelungen der horizontalen<br />
(zwischen den MS) und vertikalen (zwischen MS und EU) Kooperation geregelt und unter<br />
sich wandelnden Rahmenbed<strong>in</strong>gungen (Erweiterungen) geändert werden. Die Entwicklung<br />
der folgenden Aspekte über die Vertragreformen h<strong>in</strong>weg bildet daher die abhängige Variable<br />
der Untersuchung:<br />
• Änderung der <strong>in</strong>stitutionellen Vorkehrungen für mehr Mitgliedstaaten, wie: Anzahl<br />
der Kommissare, Anzahl der Abgeordneten im Europäischen Parlament (EP), Rotation<br />
der Präsidentschaft, Gewichtung der Stimmen der e<strong>in</strong>zelnen Mitgliedsstaaten.<br />
• Zunehmende E<strong>in</strong>führung der qualifizierten Mehrheit anstatt des<br />
E<strong>in</strong>stimmigkeitserfordernisses<br />
• Übernahme der Verstärkten Zusammenarbeit <strong>in</strong> die Verträge<br />
Um e<strong>in</strong>e Kausalität zwischen den Vertragsreformen und Erweiterungen <strong>in</strong> der EU<br />
aufzuzeigen, sollen die relevanten Dokumente zu den Vertragsreformen daraufh<strong>in</strong> untersucht<br />
werden, ob sie die bevorstehende Erweiterung als e<strong>in</strong> Motiv für die Reformen anführen.<br />
Dabei s<strong>in</strong>d sowohl die Dokumente des Rates und der Regierungskonferenzen als auch die<br />
supranationaler Akteure wie der Kommission und dem Europäischen Parlament Gegenstand<br />
der Analyse. Diese Analyse wird voraussichtlich zeigen, dass die Erweiterungsrunden <strong>in</strong><br />
unterschiedlichem Maße zu Vertragsreformen geführt haben. Zu untersuchen ist daher, unter<br />
welchen Bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>e Erweiterung zur Vertragsreform führt. Mögliche E<strong>in</strong>flussfaktoren<br />
könnten beispielsweise se<strong>in</strong>: Die Anzahl der neuen Mitgliedsländer (treten nur 3 oder 10 bei),<br />
Heterogenität (politisch, wirtschaftliche, kulturell) der neuen Mitgliedsländern im Vergleich<br />
zur EU oder die absolute Anzahl der Mitgliedsstaaten der EU nach der Erweiterung. Auch<br />
könnte entscheidend für die Durchsetzung der Reform se<strong>in</strong>, ob die Vorschläge vom Rat oder<br />
von supranationalen Akteuren wie der Kommission oder dem Parlament vorgebracht werden.<br />
1 1973: Großbritannien, Dänemark, England (� 9 Mitgliedsstaaten), 1981: Griechenland (� 10 MS), 1986:<br />
Portugal, Spanien (� 12 MS), 1995: Österreich, F<strong>in</strong>nland, Schweden (� 15 MS), 2004: 10 Mittel- und<br />
Osteuropäische Länder (� 25 MS), 2007: Bulgarien, Rumänien (� 27 MS).<br />
3
Günther Guggenberger, Wien<br />
Zwischen Geme<strong>in</strong>wohl<strong>in</strong>tention, Interessenswerkzeug und Spiegelbild des Landes<br />
Die ukra<strong>in</strong>ische Verfassung im Wandel<br />
Die Verfassung ist das grundlegende Regelwerke für die <strong>in</strong>stitutionelle Organisation und das<br />
politische Handeln <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Staat. Sie def<strong>in</strong>iert die zentralen politischen und wirtschaftlichen<br />
Normen, die territoriale Gliederung, die Beziehungen zwischen Zentralstaat und Gliedstaaten<br />
sowie die Beziehungen zu anderen Staaten. Demokratische Verfassungen zeichnen sich<br />
<strong>in</strong>sbesondere dadurch aus, dass sie neben der Def<strong>in</strong>ition der zentralen Institutionen auch jene<br />
Regelungen bestimmen, die die Pr<strong>in</strong>zipien der Gleichheit, Freiheit und Kontrolle zur<br />
Anwendung br<strong>in</strong>gen sollen.<br />
Im Gegensatz zu den meisten mittel-osteuropäischen Staaten, <strong>in</strong> denen die<br />
parlamentarischen Versammlungen im Zuge der Wende relativ rasch Verfassungen<br />
verabschiedeten, welche die Demokratie und die Marktwirtschaft <strong>in</strong> den Mittelpunkt stellten,<br />
dauerte der Verfassungsänderungsprozess <strong>in</strong> den postsowjetischen Staaten bis Mitte der<br />
1990er Jahre an. Deshalb verwunderte es nicht, dass nach der Annahme der neuen,<br />
demokratischen Verfassungen <strong>in</strong> diesen osteuropäischen Staaten ähnliche Probleme auftraten<br />
wie <strong>in</strong> den westlicheren Ländern, von denen die meisten zum<strong>in</strong>dest ansatzweise <strong>in</strong> der<br />
Vergangenheit demokratische Erfahrungen machten. Konkret geme<strong>in</strong>t ist damit die <strong>in</strong> vielen<br />
Bereichen vorhandene Kluft zwischen Verfassung und Realverfassung, die Instabilität der<br />
Institutionen und die ger<strong>in</strong>ge Effizienz ihrer Aktivitäten.<br />
Die Verfassung der Ukra<strong>in</strong>e vom 28. Juni 1996 war das Produkt e<strong>in</strong>es langen R<strong>in</strong>gens<br />
zwischen dem Staatspräsidenten und dem Parlament, der kle<strong>in</strong>ste geme<strong>in</strong>same Nenner für<br />
verschiedene Persönlichkeiten und Fraktionen, denen es vor allem um den eigenen E<strong>in</strong>fluss<br />
und weniger um das Wohl des Staates g<strong>in</strong>g. Dies begünstigte zahlreiche Unklarheiten und<br />
Lücken des Regelwerkes, welche vom damaligen Präsidenten Kutschma dafür benutzt<br />
wurden, um se<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluss soweit auszudehnen, dass die Ukra<strong>in</strong>e vor der „Orangenen<br />
Revolution“ zu Recht das Image e<strong>in</strong>es halb-autoritären Staates hatte.<br />
Bis zur Präsidentschaftswahl von 2004 gab es zahlreiche Initiativen zur<br />
Verfassungsänderung, wobei zuletzt paradoxerweise vom autoritären Präsidenten selbst<br />
Vorschläge zur Stärkung des Parlaments im <strong>in</strong>stitutionellen Gefüge kamen. Wirkliche<br />
Veränderungen wurden erst im Zuge der „Orangenen Revolution“ möglich, als unter<br />
wesentlicher Mitwirkung externer Akteure, besonders aus der EU, e<strong>in</strong>e Neuausrichtung des<br />
politischen Systems als parlamentarisch-präsidentielle Demokratie vorgenommen wurde.<br />
Trotzdem wird <strong>in</strong> der Ukra<strong>in</strong>e auch heute die Verfassungsdiskussion heftig geführt; sie<br />
ist bei weitem ke<strong>in</strong> politisch stabiles und effizient regiertes Land. Zwar wurde der<br />
Entscheidungsspielraum des Parlamentes und der durch die Parlamentsmehrheit getragenen<br />
Regierung erweitert, doch verh<strong>in</strong>dern zahlreiche <strong>in</strong>ter<strong>in</strong>stitutionelle Konflikte die Annahme<br />
und Umsetzung von Beschlüssen. In den Regionen und Bezirken beh<strong>in</strong>dern sich Initiativen<br />
des Präsidenten und der Regierung gegenseitig. Lange Zeit schränkten <strong>in</strong> vielen Bereichen<br />
monopolistische Strukturen die wirtschaftliche Freiheit e<strong>in</strong>. Von der <strong>in</strong> der Verfassung<br />
vorgesehenen lokalen Selbstverwaltung kann nach wie vor kaum gesprochen werden und es<br />
gibt noch weitere Punkte der ukra<strong>in</strong>ischen Verfassung, die von e<strong>in</strong>er Verwirklichung weit<br />
entfernt s<strong>in</strong>d.<br />
Neben der Beschreibung der bisherigen Verfassungsentwicklung werden im Rahmen<br />
des Vortrages folgende Fragen beantwortet werden:<br />
- Welches Bild von den E<strong>in</strong>stellungen <strong>in</strong> der Bevölkerung bezüglich der<br />
Gestaltung des politischen Systems liefern die Me<strong>in</strong>ungsumfragen? War und ist<br />
die ukra<strong>in</strong>ische (Real)Verfassung nicht nur Ausdruck des Machtkampfes von<br />
Eliten, sondern auch Ausdruck der Me<strong>in</strong>ungen <strong>in</strong> der Bevölkerung <strong>in</strong>sgesamt?<br />
4
- Welche Rolle spiel(t)en externe Akteure (EU, OSZE, Europarat, USA,<br />
Russland) für die Verfassungsentwicklung?<br />
- Ist die umstrittene ukra<strong>in</strong>ische Verfassung e<strong>in</strong> Reflex auf die Heterogenität und<br />
relative Offenheit des Landes?<br />
- Wodurch erklärt sich der doch unübersehbare Trend h<strong>in</strong> zur Festigung der von<br />
der Verfassung vorgesehenen demokratischen Institutionen?<br />
<strong>Nathalie</strong> <strong>Behnke</strong>, <strong>FernUniversität</strong> <strong>in</strong> <strong>Hagen</strong><br />
"Die Analyse von Verhandlungen <strong>in</strong> Verfassungsreformprozessen –<br />
Fragestellungen und Instrumente"<br />
Das Verhandlungsverhalten <strong>in</strong> Verfassungsreformprozessen ist von dem <strong>in</strong> Policy-Prozessen<br />
signifikant verschieden. Zwar spielen Interessenkonflikte und somit e<strong>in</strong>e Barga<strong>in</strong><strong>in</strong>g-<br />
Orientierung unter den Akteuren e<strong>in</strong>e wichtige Rolle. Da die Interessenkonflikte sich aber<br />
nicht unmittelbar auf die Regeln beziehen, die zur Disposition stehen, sondern sich aus den<br />
Wirkungen ergeben, die die Verfassungsregeln <strong>in</strong> der Arena der Alltagspolitik entfalten,<br />
wirken die Konflikte nur mittelbar und können durch geme<strong>in</strong>same konstitutionelle Interessen<br />
überlagert werden. Tatsächlich lassen sich <strong>in</strong> Verfassungsreformprozessen durchaus<br />
diskursive Elemente identifizieren, und zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> bestimmten Phasen des<br />
Reformprozesses werden verschiedene Positionen relativ ergebnisoffen diskutiert. Somit s<strong>in</strong>d<br />
die Logik und Dynamik konstitutioneller Verhandlungsprozesse nur partiell durch formelle<br />
Barga<strong>in</strong><strong>in</strong>g-Modelle zu erfassen. Andererseits s<strong>in</strong>d auch policy-nahe eher pragmatisch<br />
formulierte Verhandlungstheorien wenig geeignet, das spezielle Wechselspiel von Argu<strong>in</strong>g<br />
und Barga<strong>in</strong><strong>in</strong>g analytisch zu erschließen.<br />
Ziel dieses Beitrags ist es daher, das analytische Potenzial verschiedener Formulierungen von<br />
Verhandlungstheorien (aus der ökonomischen Theorie der Politik, aus den <strong>in</strong>ternationalen<br />
Beziehungen und aus der Policy-Forschung) für das Verständnis konstitutioneller<br />
Verhandlungsprozesse auszuloten und hieraus erste Formulierungen für e<strong>in</strong> analytisches<br />
Instrument zu generieren, das der spezifischen Motivationsstruktur der Akteure <strong>in</strong><br />
Verfassungsreformprozessen gerecht wird.<br />
5
Astrid Lorenz (Humboldt-Universität zu Berl<strong>in</strong>)<br />
Warum kooperieren Akteure bei Verfassungsänderungen?<br />
Auf faktisch jede Initiative für e<strong>in</strong>e Verfassungsänderung reagieren die Nicht<strong>in</strong>itiatoren mit<br />
e<strong>in</strong>er Fülle von E<strong>in</strong>wänden, oft fundamentaler Art. Der vorgeschlagene Beitrag befasst sich<br />
mit der grundlegenden Frage, wie und warum unter diesen Bed<strong>in</strong>gungen Verhandlungen<br />
überhaupt <strong>in</strong> Gang kommen und dann durch geme<strong>in</strong>same Entscheidungen abgeschlossen<br />
werden. Es geht darum, wie Kooperationsbereitschaft konzeptionell erfasst bzw. erklärt<br />
werden kann. Wie <strong>in</strong> dem DFG-Forschungsprojekt 2 , auf dem die präsentierten Überlegungen<br />
basieren, richten sie sich nicht auf e<strong>in</strong>en bestimmten Typus der Verfassungsänderung (bspw.<br />
Reform, Änderung e<strong>in</strong>er bestimmten Materie) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmten Systemtyp (z.B.<br />
Föderalstaat), sondern auf Verfassungsänderungen <strong>in</strong> ihrer Breite <strong>in</strong> Demokratien <strong>in</strong> ihrer<br />
Breite, d.h. alltagspolitische oder „normale“ Verfassungsänderungen. Diese können, obwohl<br />
sie zumeist <strong>in</strong>krementalistisch angelegt s<strong>in</strong>d und auf den ersten Blick vielleicht wenig<br />
spektakulär ersche<strong>in</strong>en, kumulativ den Gehalt und die normative Kohärenz von Verfassungen<br />
erheblich verändern, so dass die angestrebte Schutzfunktion besonderer Entscheidungsregeln<br />
für Verfassungsänderungen unter Umständen nicht erfüllt wird. Da „normale“<br />
Verfassungsänderungen sehr oft und von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt<br />
stattf<strong>in</strong>den, ist dies durchaus ke<strong>in</strong> re<strong>in</strong> theoretisches Gedankenspiel.<br />
Vorgestellt werden sollen zum e<strong>in</strong>en potenziell erklärende Variablen, die bl<strong>in</strong>d<br />
gegenüber Aushandlungsprozessen s<strong>in</strong>d. Dies s<strong>in</strong>d beispielsweise die Reichweite e<strong>in</strong>er<br />
vorgeschlagenen Verfassungsänderung, der zeitliche Abstand zu früheren<br />
Verfassungsänderungen, der Typ des politischen Systems, die Verfassungsänderungshürde<br />
(Rigidität) oder die generelle Gew<strong>in</strong>n- und Verluststruktur/Konfliktlast e<strong>in</strong>es Vorhabens. So<br />
bee<strong>in</strong>flusst der Abstand zu früheren Verfassungsänderungen die Entscheidungskosten und<br />
damit möglicherweise das Kooperationsverhalten der Akteure.<br />
Zum anderen wird e<strong>in</strong>e Analyse vorgeschlagen, die nach grundsätzlichen<br />
Interaktionsorientierungen der Aushandlungsbeteiligten unterscheidet, die sich während<br />
Aushandlungsprozessen üblicherweise ändern. Dabei wird zwischen e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>dividualistischen,<br />
altruistischen, kooperativen und kompetitiven Interaktionsorientierung differenziert. Dieser<br />
konzeptionelle Zugang wird durch die Vermutung geleitet, dass Kooperationsbereitschaft<br />
zwar nur bei e<strong>in</strong>er kooperativen Interaktionsorientierung selbstverständlich ist, dass sie aber<br />
auch bei anderen Interaktionsorientierungen herbeigeführt werden kann, wenn bestimmte<br />
Voraussetzungen vorliegen. Diese Voraussetzungen unterscheiden sich vermutlich je nach<br />
Interaktionsorientierung. Um sie zu orten, wird e<strong>in</strong>e Reihe von Variablen vorgeschlagen,<br />
deren jeweilige Ausprägung bei dist<strong>in</strong>kten Interaktionsorientierungen beobachtet werden<br />
könnte. Sie beziehen sich auf die beteiligten Akteure (Verhandlungsmacht, substanzielle<br />
Motivation u.ä.), ihren Umgang mit der Initiative (z.B. Reaktion auf Komplexität, Risiken,<br />
Bedeutung sachfremder Erwägungen, Konfliktpunkte), ihre Interaktionen (z.B. Art der<br />
Verhandlungsarena) sowie auf den <strong>in</strong>stitutionellen Rahmen (z.B. Berücksichtigung des<br />
Verfahrensweges, B<strong>in</strong>dekraft erzielter Übere<strong>in</strong>künfte) und weiteren Kontext (z.B.<br />
Kontextsensitivität der Verhandlungen). Beispielsweise könnte es se<strong>in</strong>, dass bei Akteuren, die<br />
ke<strong>in</strong> besonderes Interesse an e<strong>in</strong>em Vorhaben hegen, das Angebot e<strong>in</strong>es Paket- oder<br />
Tauschgeschäfts wichtig ist, um e<strong>in</strong>e Kooperationsbereitschaft und den Übergang zu e<strong>in</strong>em<br />
anderen Verhandlungsmodus herbeizuführen, dass aber die Bedeutung solcher Geschäfte<br />
dann abnimmt, selbst wenn das Angebot nie umgesetzt wurde und vorher erhobene E<strong>in</strong>wände<br />
nicht ausgeräumt wurden (bspw. durch Überzeugung oder Veränderung von Formulierungen).<br />
2 Der Titel des Projekts lautet „Verfassungsänderungen <strong>in</strong> etablierten Demokratien“.<br />
6
Wie zu erkennen ist, s<strong>in</strong>d beide Ansätze zur Erklärung von Kooperation bei<br />
„normalen“, zumeist <strong>in</strong>krementalistischen Verfassungsänderungen mite<strong>in</strong>ander vere<strong>in</strong>bar, sie<br />
setzen aber jeweils unterschiedliche Schwerpunkte. Der e<strong>in</strong>e Ansatz aggregiert Prozesse zu<br />
Entscheidungen und eignet sich gut für Langzeitanalysen zur Verfassungspolitik von Staaten<br />
oder den Vergleich der generellen Kooperationsneigung <strong>in</strong> der Verfassungspolitik<br />
unterschiedlicher politischer Systeme („Verfassungskultur“). Der andere Ansatz modelliert<br />
die Entscheidungsf<strong>in</strong>dung als Prozess und kann dadurch beispielsweise eher erklären, warum<br />
es trotz asymmetrischer Gew<strong>in</strong>n- und Verluststrukturen zur Kooperation kommt, warum und<br />
<strong>in</strong>wiefern Akteure ihre Kooperationsbereitschaft trotz sche<strong>in</strong>barer E<strong>in</strong>igung wieder<br />
e<strong>in</strong>schränken und <strong>in</strong>wiefern die Kooperationsneigung rational fundiert ist. Beide Ansätze<br />
lassen sich vermutlich auch für die Analyse des spezifischen Typs weiter reichender<br />
Änderungen, d.h. Verfassungsreformen, nutzen.<br />
Daniel F<strong>in</strong>ke / Thomas König, Universität Mannheim<br />
Quo vadis Europa - oder wie stabil s<strong>in</strong>d staatliche Reformpositionen?<br />
In den letzten Jahren haben die Mitgliedstaaten der EU mehrere Versuche unternommen, das<br />
allgeme<strong>in</strong> als obsolet e<strong>in</strong>gestufte Institutionengefüge der EU zu reformieren. Maßgeblicher<br />
Anlass zu diesen Reformversuchen gab vor allem die Osterweiterung um 12 Staaten, aber<br />
auch die abnehmende öffentliche Unterstützung der Europäischen Integration und die<br />
anhaltende Diskussion über das Demokratiedefizit europäischer Entscheidungen.<br />
Konkretisiert wurden diese Reformbestrebungen mit Änderungswünschen über die<br />
Abstimmungsregeln im Rat, die Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens sowie die<br />
Neuorganisation der Kommission und teilweise des Europäischen Parlaments. Die Bühne für<br />
diese Verhandlungen waren stets Regierungskonferenzen, auf denen e<strong>in</strong> Konsens aller<br />
Regierungsvertreter notwendig war, um anschließend das Reformvorhaben <strong>in</strong> den<br />
Mitgliedstaaten zu ratifizieren (Moravcsik 1998, König and Hug 2006, Slap<strong>in</strong> 2008).<br />
In der Literatur werden Erfolg und Scheitern dieser Reformbemühungen mit den<br />
Positionen der Regierungsvertreter und den Ratifikationsakteuren <strong>in</strong> den Mitgliedstaaten<br />
erklärt. In Anlehnung an Schell<strong>in</strong>g (1960) und Putnam (1988) zeigen empirische Analysen<br />
dieser Regierungskonferenzen, dass „schwache“ Staaten, die hohe nationale<br />
Ratifikationshürden besitzen, bisweilen besser ihre Reformpositionen durchsetzen können.<br />
Weiterh<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d diejenigen Staaten oftmals im Vorteil, deren Positionen nahe am Erhalt des<br />
Status quo liegen. Vor allem bei den jüngsten Verfassungsverhandlungen wurde offenbar,<br />
dass auch die Organisation des Verhandlungsablaufs, <strong>in</strong>sbesondere die doppelte<br />
Agendasetzungsfunktion des Konventspräsidiums, nicht nur entscheidenden E<strong>in</strong>fluss auf das<br />
Verhandlungsergebnis, sondern auch auf das Scheitern der Ratifikationsprozesse hatte.<br />
Demgegenüber spielt die Größe e<strong>in</strong>es Staates oder die Länge se<strong>in</strong>er Mitgliedschaft ke<strong>in</strong>e<br />
besondere Rolle bei diesen Reformverhandlungen. Inhaltlich werden diese Verhandlungen<br />
durch mehrere Reformdimensionen charakterisiert, die sich zu e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>stitutionellen und e<strong>in</strong>er<br />
funktionalen Dimension zusammenfassen lassen. Trotz dieser teilweise sehr detaillierten<br />
empirischen E<strong>in</strong>sichten <strong>in</strong> die Verhandlungsergebnisse e<strong>in</strong>zelner Regierungskonferenzen ist<br />
bislang wenig darüber bekannt, ob und warum Regierungsvertreter ihre Reformpositionen<br />
beibehalten oder über die Zeit h<strong>in</strong>weg ändern (Asp<strong>in</strong>wall 2007). Dabei machen Ereignisse wie<br />
bspw. der Madrider Terroranschlag und der darauf folgende spanische Regierungswechsel<br />
deutlich, wie wichtig solche Positionswechsel für e<strong>in</strong> Reformvorhaben s<strong>in</strong>d. Offensichtlich<br />
7
setzte sich auch der französische Präsident Chirac zuletzt für e<strong>in</strong>e Reform der Mehrheitsregel<br />
im M<strong>in</strong>isterrat e<strong>in</strong>, deren Erhalt von ihm bei der Regierungskonferenz zuvor mit aller Macht<br />
verteidigt wurde.<br />
Trotz der Relevanz solcher Positionswechsel für Erfolg und Scheitern von<br />
Reformvorhaben ist wenig darüber bekannt, <strong>in</strong> welchem Ausmaß und warum diese<br />
stattf<strong>in</strong>den. Um diese Forschungslücke über Wandel und Stabilität mitgliedstaatlicher<br />
Reformpositionen zu schließen, soll <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Schritt bestimmt werden, welche Positionen die<br />
Regierungsvertreter <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em geme<strong>in</strong>samen Reformraum über die Zeit h<strong>in</strong>weg e<strong>in</strong>genommen<br />
haben. Dieses anspruchsvolle methodische Vorhaben, das die <strong>in</strong>haltliche Verknüpfung<br />
mehrerer Verhandlungsräume von e<strong>in</strong>zelnen Regierungskonferenzen erfordert, soll<br />
ermöglichen, das Ausmaß an Wandel zu erfassen und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em zweiten Schritt zu fragen,<br />
welche Gründe hierfür verantwortlich s<strong>in</strong>d. Bei den Ursachen für Wandel lassen sich <strong>in</strong> erster<br />
Annäherung EU-bezogene und nationale Faktoren unterscheiden, die e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluss auf die<br />
Positionen der Mitgliedstaaten ausüben können. Mit Blick auf die EU-Ebene wird erwartet,<br />
dass Mitgliedstaaten ihre Reformpositionen <strong>in</strong> Reaktion auf ihre Erfahrungen mit EU-<br />
Politiken anpassen. Es. soll untersucht werden, ob ihr „Erfolg“ bei der Transposition und<br />
Implementation bzw. der Erfolg der anderen Mitgliedstaaten e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluss ausübt. Macht<br />
bspw. e<strong>in</strong> Mitgliedstaat negative Erfahrungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Bereich, dann dürfte sich se<strong>in</strong>e<br />
gegebenenfalls positive E<strong>in</strong>stellung ändern und vice versa.<br />
Bei der nationalen Ebene bietet sich an, die öffentliche Me<strong>in</strong>ung, Wahlen sowie<br />
Veränderungen <strong>in</strong> der Regierungszusammentsetzung und sozioökonomische Veränderungen<br />
für Positionswandel <strong>in</strong> Betracht zu ziehen. Dabei soll auch die Interaktion zwischen der<br />
<strong>in</strong>stitutionellen und der funktionalen Reformdimension berücksichtigt werden.<br />
Das Erfassen von Positionswandel <strong>in</strong> diesem zweidimensionalen Reformraum ist<br />
methodisch ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>faches Unterfangen, da sich im Zeitverlauf die Reformagenda, die Gruppe<br />
der relevanten Akteure und die Konfliktmuster verändern können. Um diese Probleme zu<br />
bewältigen, werden umfassende Daten über mitgliedstaatliche Positionen zu spezifischen<br />
<strong>in</strong>stitutionellen und substantiellen Reformthemen verwendet. Diese sollen helfen, die<br />
Fragestellung auf unterschiedlichen Modell- bzw. Abstraktionsebenen zu beantworten. So ist<br />
es mittels statistischer Modellierung möglich, spezifische <strong>in</strong>stitutionelle Änderungen <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>zelnen Politikbereichen zu betrachten als auch die globalen Konfliktmuster zu<br />
identifizieren.<br />
References<br />
Asp<strong>in</strong>wall, Mark D. (2007) 'Government Preferences on European Integration: An Empirical<br />
Test on Five Theories.' British Journal of Political Science 37: 89-114.<br />
Hösli, Madele<strong>in</strong>e and Christ<strong>in</strong>e Arnold (2006) "Coalition-Formation, Cleavages and Vot<strong>in</strong>g<br />
Behavior <strong>in</strong> the Council of the European Union" unpublished paper.<br />
König, T. and Hug, S. (eds.) (2006) 'Preference Formation and European Constitutionbuild<strong>in</strong>g.<br />
A Comparative Study <strong>in</strong> Member States and Accession Countries.' Routledge,<br />
London.<br />
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toMaastricht.' Cornell University Press, Ithaca.<br />
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Test<strong>in</strong>g Institutional and Intergovernmental Theories.” International Organization. 62(1).<br />
8
Arthur Benz, <strong>FernUniversität</strong> <strong>in</strong> <strong>Hagen</strong><br />
Misslungene Reform und erfolgreiches Scheitern. Verfassungspolitik <strong>in</strong> Deutschland<br />
und Kanada<br />
Zusammenfassung<br />
Die Verfassungsentwicklung und Verfassungspolitik <strong>in</strong> Kanada und Deutschland stellen <strong>in</strong><br />
vielerlei H<strong>in</strong>sicht Kontrastfälle dar, weshalb der Vergleich aufschlussreich ist. Unter den<br />
Bed<strong>in</strong>gungen des kanadischen Föderalismus s<strong>in</strong>d Verfassungsreformen extrem schwierig und<br />
Versuche e<strong>in</strong>er grundlegenden Reform scheiterten. Im deutschen Bundesstaat stellen<br />
Verfassungsprobleme als auch die Regeln der Verfassungsänderung vergleichsweise ger<strong>in</strong>ge<br />
Hürden für e<strong>in</strong>e Reform dar, die <strong>in</strong> der Tat 2006 erfolgte. Dennoch gelang es <strong>in</strong> Kanada, den<br />
Föderalismus zu stabilisieren, während <strong>in</strong> Deutschland die eigentlichen Probleme ungelöst<br />
geblieben s<strong>in</strong>d. Man könnte hieraus schließen, dass Verfassungsreformen <strong>in</strong> föderativen<br />
Systemen unbedeutend s<strong>in</strong>d. Dies trifft aber, wie an den beiden Fällen gezeigt wird, nicht zu.<br />
Vielmehr kann gezeigt werden, dass <strong>in</strong> beiden Ländern unterschiedliche Wege der<br />
Verfassungspolitik beschritten wurden. Im Vergleich werden die Bed<strong>in</strong>gungen und Folgen<br />
dieser Wege untersucht.<br />
J. Prof. Dr. Christoph Hönnige<br />
Impliziter Verfassungswandel im Mehrebenensystem durch die Änderung der<br />
höchstrichterlichen Verfassungs<strong>in</strong>tepretation.<br />
E<strong>in</strong> Vergleich der Verfassungsgerichte Deutschlands und Österreichs.<br />
Impliziter Verfassungswandel f<strong>in</strong>det unterhalb der für e<strong>in</strong>en expliziten Verfassungswandel<br />
vorgesehenen Kanäle statt. Zu diesen mehr oder weniger bedeutenden de facto Änderungen<br />
zählen die Auslegung von normalen Gesetzen, der Verzicht auf Praktizierung von<br />
Verfassungsnormen oder e<strong>in</strong> modifiziertes Verständnis dieser Normen. Die Auswirkungen<br />
können dabei genauso weit reichend se<strong>in</strong> wie die von explizitem Verfassungswandel. Die<br />
wirkungsmächtigste Variante impliziten Verfassungswandels ist die Interpretation der<br />
Verfassung durch die Verfassungsgerichte (Kneip 2006).<br />
Höchstrichterliche Rechtsprechung ist im Zeitverlauf allerd<strong>in</strong>gs nicht stabil.<br />
Verfassungsgerichte verändern ihre Position zu verschiedenen Themen sowohl <strong>in</strong><br />
staatsorganisatorischen wie auch <strong>in</strong> gesellschaftlichen Fragen, wie beispielsweise bei der<br />
Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern, Abtreibung, Wehrdienst und Religion <strong>in</strong><br />
der Schule. Dies kann auf verschiedene Weise geschehen. Zum e<strong>in</strong>en durch die vollständige<br />
oder teilweise Annullierung e<strong>in</strong>er Norm, also die vollständige oder teilweise<br />
Wiederherstellung des Status Quo, zum anderen durch die verfassungskonforme<br />
Interpretation e<strong>in</strong>es Gesetzes und ausführliche Reglegungen <strong>in</strong> der Begründung e<strong>in</strong>es Urteils.<br />
Ziel dieses Beitrages ist es die Gründe für den Wandel der Rechtsprechung zu untersuchen.<br />
Dabei rücken zwei Variablen <strong>in</strong> den Vordergrund: Zum ersten, <strong>in</strong>wieweit die Änderung durch<br />
e<strong>in</strong>en Wandel der öffentlichen Me<strong>in</strong>ung erklärt werden kann, zum zweiten durch e<strong>in</strong>e<br />
Veränderung der Zusammensetzung der Richterbank.<br />
9
Die öffentliche Me<strong>in</strong>ung spielt nach bisherigem <strong>in</strong>ternationalen (z.B. Gibson et al. 1998) und<br />
nationalem (Schaal 2000) Forschungsstand e<strong>in</strong>e erhebliche Rolle <strong>in</strong> der Erklärung des<br />
Verhaltens von Verfassungsrichtern. Verfassungsgerichte besitzen ke<strong>in</strong>e formalen<br />
Möglichkeiten, ihre Urteile durchzusetzen und s<strong>in</strong>d deshalb auf die Unterstützung der<br />
öffentliche Me<strong>in</strong>ung angewiesen (vgl. Vanberg 2005). Die Hypothese ist also, dass e<strong>in</strong>e<br />
Anpassung der Rechtsprechung dann erfolgt, wenn sich die Me<strong>in</strong>ung der Bevölkerung zu<br />
e<strong>in</strong>em bestimmten Thema e<strong>in</strong>em Wandel unterzieht.<br />
Die Zusammensetzung der Richterbank sowie die politischen E<strong>in</strong>stellungen der Richter ist <strong>in</strong><br />
der Literatur zum US Supreme Court ist e<strong>in</strong>e der zentralen erklärenden Variablen für<br />
Entscheidungen des Gerichtes sowie das Verhalten von e<strong>in</strong>zelnen Verfassungsrichtern (vgl.<br />
Segal/Spaeth 2002 etc.), während für europäische Gerichte diese Variable bisher<br />
vernachlässigt wurde und erst seit neuestem <strong>in</strong> den Vordergrund rückt (Hönnige 2007). Die<br />
Hypothese ist, dass bei Wechsel der politischen Zusammensetzung des Gerichtes auch e<strong>in</strong><br />
Wechsel der Verfassungs<strong>in</strong>terpretation erfolgt (vgl. Baum 1992), weil die Richter bei der<br />
Rechtsprechung ihren politischen Präferenzen folgen.<br />
Empirisch unterlegt wird der theoretische Teil dieses Beitrages durch e<strong>in</strong>e quantitative<br />
Übersicht über die Positionsveränderungen des Bundesverfassungsgerichtes sowie des<br />
österreichischen Verfassungsgerichtshofes zu wesentlichen Fragestellungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Most<br />
Similar Systems Design (Przeworksi/Teune 1970). Auf e<strong>in</strong>e Untersuchung des<br />
schweizerischen Bundesgerichtes wird verzichtet, da dieses nicht die Möglichkeit hat,<br />
Normen auf Bundesebene zu annullieren.<br />
Literatur:<br />
Baum, Lawrence (1992): Membership Change and Collective Vot<strong>in</strong>g Change <strong>in</strong> the United-<br />
States-Supreme-Court. In: Journal of Politics 54 (1). 3-24.<br />
Gibson, James L., Gregory A. Caldeira und Vanessa A. Baird (1998): On the Legitimacy of<br />
National High Courts. In: American Political Science Review 92 (2). 343-358.<br />
Hönnige, Christoph (2006): Die Entscheidungen von Verfassungsgerichten – e<strong>in</strong> Spiegel ihrer<br />
Zusammensetzung?, <strong>in</strong>: Bräun<strong>in</strong>ger, Th./<strong>Behnke</strong>, J. (Hg.): Jahrbuch für Handlungs- und<br />
Entscheidungstheorie Bd. 4, 179-214.<br />
Kneip, Sascha (2006): Demokratieimmanente Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, <strong>in</strong>:<br />
Becker, M./Zimmerl<strong>in</strong>g, R. (Hg.): Politik und Recht. PVS-Sonderheft 36/2006.<br />
Wiesbaden, 259-281.<br />
Przeworski, Adam und Henry Teune (1970): The Logic of Comparative Social Inquiry.<br />
Malabar: R.E. Krieger Pub. Co.<br />
Segal, Jeffrey A. und Harold J. Spaeth (2002): The Supreme Court and the Attitud<strong>in</strong>al Model<br />
Revisited. Cambridge: Cambridge University Press.<br />
Schaal, Gary S. (2000): Vertrauen <strong>in</strong> das Bundesverfassungsgericht und die Akzeptanz se<strong>in</strong>er<br />
Entscheidungen als Indikatoren der Geltung und Akzeptanz konstitutioneller<br />
Ordnungsvorstellungen. In: Zeitschrift für Rechtssoziologie 21 (2). 419-446.<br />
Vanberg, Georg (2005): The Politics of Constitutional Review <strong>in</strong> Germany. Cambridge, UK:<br />
Cambridge University Press.<br />
10
Sab<strong>in</strong>e Kropp, Universität Düsseldorf<br />
Umverteilung föderaler Machtressourcen als Konstante?<br />
Verfassungsdynamik im föderalen System Russlands<br />
Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat sich der Typus des föderalen Systems <strong>in</strong><br />
Russland zwei Mal umfassend gewandelt: von e<strong>in</strong>em formal (ethno-)föderalen, tatsächlich<br />
aber stark zentralisierten und asymmetrischen Typus zum Ende der Sowjetunion zu e<strong>in</strong>em<br />
dezentralisierten, stark asymmetrischen Vertragsföderalismus ohne e<strong>in</strong>deutige<br />
Rechtssystematik <strong>in</strong> der Regierungszeit Jelz<strong>in</strong>s, <strong>in</strong> dem die „Föderationssubjekte“ ihre<br />
Ressourcen zu Lasten e<strong>in</strong>er Schwächung der Zentralmacht e<strong>in</strong>zusetzen wussten. Ab 2000,<br />
dem Amtsantritt Vladimir Put<strong>in</strong>s, s<strong>in</strong>d wiederum schrittweise Maßnahmen ergriffen worden,<br />
die auf e<strong>in</strong>e Rezentralisierung politischer Macht zugunsten des Zentrums zielen und den Grad<br />
der Asymmetrie abflachen sollen. Präsident und Duma, <strong>in</strong> der die Partei „E<strong>in</strong>iges Russland“<br />
nun erneut e<strong>in</strong>e Zweidrittelmehrheit erzielen konnte, griffen hierfür jedoch nicht auf<br />
Verfassungsreformen zurück. Vielmehr ist das föderale System wesentlich durch e<strong>in</strong>fache<br />
Gesetze, z.B. durch e<strong>in</strong>e Neufassung des Parteiengesetzes und der Wahlgesetzgebung oder<br />
durch den Wahlmodus der Gouverneure, aber auch durch Dekrete des Präsidenten zum<br />
adm<strong>in</strong>istrativen Aufbau Russlands, systematisch neu konfiguriert worden. Nach den Duma-<br />
und Präsidentschaftswahlen von 2007/8 ist es wiederum nicht ausgeschlossen, dass der<br />
Zugriff auf föderale Institutionen <strong>in</strong>nerhalb der doppelköpfigen Exekutive neu geregelt wird.<br />
Das föderale System Russlands ist somit e<strong>in</strong> Beispiel für e<strong>in</strong>e hohe Verfassungsdynamik <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em (semi-)autoritären System, <strong>in</strong> dem ke<strong>in</strong>e expliziten Verfassungsreformen<br />
vorgenommen werden müssen, um Machtressourcen zwischen Gliedstaaten und Zentralstaat<br />
umzuverteilen. Kompetenz- und Machtverschiebungen zwischen den Ebenen waren bislang<br />
vielmehr während des gesamten Untersuchungszeitraums seit 1990 von situationsbezogenen<br />
Tauschgeschäften, durch selektive Anreize seitens des Zentrums und, auf der Seite der<br />
regionalen Ebene, durch die mangelnde Fähigkeit zu kollektivem Handeln geprägt. Elemente<br />
der Gewaltenhemmung wurden dadurch beschädigt bzw. sie haben sich erst gar nicht<br />
ausbilden können. Sie wurden – noch bevor sich e<strong>in</strong>e Regelb<strong>in</strong>dung der Akteure im Zuge des<br />
Transformationsprozesses entwickeln konnte – <strong>in</strong> e<strong>in</strong> System der <strong>in</strong>formalen Machtteilung<br />
zwischen den Eliten überführt.<br />
Prägend für die Entwicklung des föderalen Systems s<strong>in</strong>d Mechanismen des politischen<br />
Tauschs, Klientelismus und Patronage. Angesichts der Instabilität von formalen Institutionen,<br />
angesichts von Tauschgeschäften, die allen ressourcenstarken Akteuren kurzfristige Gew<strong>in</strong>ne<br />
versprechen, und vor dem H<strong>in</strong>tergrund des offenkundigen Fehlens dessen, was <strong>in</strong> der<br />
Rechtstheorie als „<strong>in</strong>terner Standpunkt“ gegenüber Rechtsnormen bezeichnet wird, greifen<br />
Akteure <strong>in</strong> Russland auf <strong>in</strong>formelle Strukturen als Handlungsressourcen zurück. E<strong>in</strong> nicht<br />
unbeträchtlicher Teil der politischen Akteure profitiert somit davon, dass formale<br />
Institutionen schwach bleiben und durch <strong>in</strong>formelle Strukturen überlagert werden. Die<br />
Instabilität von Institutionen und Möglichkeiten zum planvollen „eng<strong>in</strong>eer<strong>in</strong>g“ werden zudem<br />
dadurch gefördert, dass föderale Institutionen kaum durch gesellschaftliche Organisationen<br />
untersetzt oder <strong>in</strong> diese „e<strong>in</strong>gebettet“ s<strong>in</strong>d.<br />
Das Fallbeispiel Russland gibt somit e<strong>in</strong>erseits Anlass zu überprüfen, <strong>in</strong>wiefern<br />
Pfadabhängigkeiten <strong>in</strong> der Entwicklung föderaler Systeme nicht ebenfalls und wesentlich<br />
durch <strong>in</strong>formale Institutionen hergestellt werden. Es verdeutlicht ebenfalls die Grenzen von<br />
Dezentralisierung und Rezentralisierung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em System, <strong>in</strong> dem die dafür jeweils<br />
e<strong>in</strong>gesetzten Maßnahmen auf labilen Tauschgeschäften zwischen Akteuren der bundes- und<br />
gliedstaatlichen Ebene beruhen.<br />
11
Bett<strong>in</strong>a Helbig, <strong>FernUniversität</strong> <strong>in</strong> <strong>Hagen</strong><br />
Dynamiken des belgischen Verfassungswandels <strong>in</strong> historischer Rekonstruktion<br />
Verfassungsreformprozesse und anhaltende Konflikte über die Dezentralisierung weiterer<br />
Kompetenzen prägen die politische Debatte <strong>in</strong> Belgien. Die erste Verfassungsrevision von<br />
1970 kann als kritische Weggabelung <strong>in</strong> diesem Prozess betrachtet werden. Weitreichende<br />
Kontextveränderungen <strong>in</strong> ökonomischer und gesellschaftlicher H<strong>in</strong>sicht im Vorfeld und e<strong>in</strong><br />
erhöhter Problemdruck <strong>in</strong> den Beziehungen zwischen Flamen und Wallonen eröffneten e<strong>in</strong><br />
„w<strong>in</strong>dow of opportunity“ für expliziten Verfassungswandel. Mit der Schaffung von<br />
Geme<strong>in</strong>schaften und der Aussicht zur Errichtung von Regionen als substaatliche E<strong>in</strong>heiten<br />
wurde mit der Reform der wichtige Schritt auf dem Weg der Föderalisierung des<br />
E<strong>in</strong>heitsstaates beschritten. Die Notwendigkeit zu weiteren Reformen war jedoch bereits im<br />
Ergebnis der ersten Reform angelegt, Nicht-E<strong>in</strong>igung und Vertagung e<strong>in</strong>zelner Gegenstände<br />
begründen auch <strong>in</strong> nachfolgenden Reformen zu e<strong>in</strong>em Teil die anhaltende Diskussion. Für die<br />
Dynamik und die Richtung des Wandels s<strong>in</strong>d sie als Erklärungsfaktoren jedoch nicht<br />
ausreichend. Abseits der kritischen Weggabelung zeichnet sich die Verfassungsentwicklung<br />
Belgiens durch verschiedene Prozesse impliziten Wandels aus, die sowohl explizite Reformen<br />
maßgeblich bee<strong>in</strong>flussen, als auch Ursache von Dynamiken des gesamten Reformprozesses<br />
s<strong>in</strong>d. Die Errichtung der Kulturgeme<strong>in</strong>schaften 1970 (ab 1980 Geme<strong>in</strong>schaften) konnte auf<br />
der Schaffung der Sprachgebiete von 1932 und der Festlegung der Sprachgrenze 1962<br />
aufbauen. Das Territorialitätspr<strong>in</strong>zip bei der Sprachverwendung wurde demnach durch<br />
Veränderungen unterhalb der Verfassungsebene bereits angelegt.<br />
Folgende Fragen stehen daher im Mittelpunkt des Papiers: Welche Faktoren treiben die<br />
fortlaufenden Verfassungsdiskussionen <strong>in</strong> Belgien an? Welche Zusammenhänge bestehen<br />
zwischen implizitem und explizitem Verfassungswandel und welche Dynamiken löst die<br />
Interaktion zwischen beiden Formen aus?<br />
Verfassungswandel wird hier als Institutionenwandel im Rahmen von historischen Ansätzen<br />
untersucht. Dabei wird e<strong>in</strong> Verständnis von Pfadabhängigkeit zugrunde gelegt, welches die<br />
Existenz von positiven Feedbackeffekten als Mechanismus der Reproduktion e<strong>in</strong>er Institution<br />
anerkennt, gleichzeitig diese erweitert um Prozesse, die auf e<strong>in</strong>er Institution aufbauen oder<br />
ihre weitere Entwicklung bee<strong>in</strong>flussen, ohne mit der Entstehung der Institution verbunden<br />
gewesen zu se<strong>in</strong>. Diese Bee<strong>in</strong>flussung vollzieht sich nicht nur <strong>in</strong> Form von Verstärkung,<br />
sondern kann auch Transformationen oder kle<strong>in</strong>e Veränderungen unterhalb der Institution<br />
be<strong>in</strong>halten, die eventuell zu e<strong>in</strong>em späteren Zeitpunkt im Wandel der Institution zum Tragen<br />
kommen. Übersetzt auf die Institution der Verfassung bedeutet dies, dass zur Erklärung von<br />
Verfassungswandel durch große Reformen an kritischen Weggabelungen die Interaktion mit<br />
Prozessen unterhalb der Verfassung berücksichtigt werden muss. Verschiedene Prozesse<br />
können dabei unterschiedliche Arten von Entwicklung aufweisen: positive Feedbackeffekte,<br />
Anpassung an neue Funktionen, Stabilität trotz umfassender expliziter Reformen oder auch<br />
Bee<strong>in</strong>flussung der Richtung e<strong>in</strong>er expliziten Reform. Dieses Zusammenspiel von implizitem<br />
Wandel mit expliziten Verfassungsreformen soll <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Dynamik mit Hilfe e<strong>in</strong>er<br />
historischen Rekonstruktion und e<strong>in</strong>em weiter gefassten Konzept von Pfadabhängigkeit<br />
untersucht werden.
Jan Biesenbender, Universität Konstanz<br />
Die Messung von Verfassungswandel am Beispiel der EU<br />
Seit den Römischen Verträgen von 1957 lässt sich e<strong>in</strong>e stetige Veränderung der europäischen<br />
Geme<strong>in</strong>schaftsverträge beobachten. Bisher gab es mit dem Fusionsvertrag (1965), der<br />
E<strong>in</strong>heitlichen Europäischen Akte (1986) sowie den Verträgen von Maastricht (1992),<br />
Amsterdam (1997), Nizza (2001) und dem Verfassungsprojekt mit se<strong>in</strong>em vorläufigen<br />
Endpunkt durch den Vertrag von Lissabon (2007) fünf erfolgreiche und e<strong>in</strong> bisher nicht<br />
abgeschlossenes Verfahren der Vertragsrevision.<br />
Die Geme<strong>in</strong>schaftsverträge, ähnlich den Verfassungen von Föderalstaaten, haben<br />
<strong>in</strong>sbesondere die Funktion, die Allokation von Macht zu regeln. Dabei beschreibt die<br />
horizontale Machtverteilung das Verhältnis der supranationalen Institutionen Rat, Parlament<br />
und Kommission zue<strong>in</strong>ander sowie das Verhältnis zwischen den im Rat repräsentierten<br />
Mitgliedstaaten. Die vertikale Machtverteilung dagegen beschreibt die Kompetenzverteilung<br />
zwischen den Mitgliedstaaten und der europäischen Ebene.<br />
Offensichtlich unterscheiden sich die oben genannten sechs Fälle des Verfassungswandels<br />
deutlich im H<strong>in</strong>blick auf den Grad der Veränderung der Machtverteilung. Zur Erklärung ist<br />
<strong>in</strong>sbesondere an die Entscheidungsregeln für Vertragsänderungen und die Anzahl an Veto-<br />
Spielern bzw. die Varianz der Idealpunkte von Veto-Spielern sowie das<br />
Verhandlungsverfahren (IGC vs. Konvent) zu denken. Bevor jedoch jene unabhängigen<br />
Variablen identifiziert werden können, muss zunächst der Grad der Veränderung gemessen<br />
werden, so dass die genannten Fälle historisch vergleichbar werden. Hierzu wird<br />
folgendermaßen vorgegangen:<br />
In der horizontalen Dimension soll e<strong>in</strong>e Machtverschiebung immer dann gegeben se<strong>in</strong>, wenn<br />
neu e<strong>in</strong>geführte bzw. veränderte Entscheidungsverfahren zur Anwendung kommen sowie<br />
zweitens veränderte Mehrheitsregeln im M<strong>in</strong>isterrat gelten. Empirisch sehen wir bei den<br />
Entscheidungsverfahren e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong>e Stärkung supranationaler Akteure, <strong>in</strong>sbesondere des<br />
Europäischen Parlaments, sowie im Rat e<strong>in</strong>e Entwicklung weg von der E<strong>in</strong>stimmigkeit h<strong>in</strong> zu<br />
qualifizierten Mehrheiten. Für die vertikale Machtverteilung wird die E<strong>in</strong>führung neuer<br />
Politiken auf der EU-Ebene sowie der Grad der Integration dieser Politiken bestimmt. Um die<br />
Veränderungen zu quantifizieren werden dann die <strong>in</strong> den jeweiligen Verträgen<br />
festgeschriebenen Entscheidungsverfahren, Ratsmehrheiten und der Grad der vertikalen<br />
Machtverteilung auf Ord<strong>in</strong>alskalen angeordnet. So lässt sich schließlich jedem Vertrag e<strong>in</strong>e<br />
Anzahl von Punkten zuordnen, deren Summe e<strong>in</strong>en Vergleich ermöglicht.<br />
Im Rahmen des Workshops soll der zu Grunde liegende Datensatz zu den<br />
Verfassungsreformen vorgestellt werden sowie erste Messergebnisse zur Veränderung der<br />
Machtverteilung <strong>in</strong> der EU präsentiert werden. Überdies sollen methodische Fragen der<br />
Operationalisierung diskutiert werden.<br />
12
Kolja Raube<br />
Die Reform von Außenpolitik <strong>in</strong> der Europäischen Union<br />
Verfassungsreformen <strong>in</strong> föderalen politischen Systemen werden zumeist mit der Reform der<br />
horizontalen und vertikalen Macht- und Ressourcenverteilung <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung gebracht.<br />
Interessanterweise unterliegt die Kompetenz- und Entscheidungsebene von Außenpolitik nur<br />
selten dem „expliziten“ Verfassungswandel.<br />
Die Europäische Union ist längst als „emerg<strong>in</strong>g federal system“, nicht nur von<br />
Politikwissenschaftlern, sondern auch Rechtswissenschaftlern anerkannt worden (Weiler<br />
1991; Risse/Börzel 2000). Die Begrifflichkeit des Föderalismus <strong>in</strong> der Außenpolitik deutet<br />
wie im Kontext anderer Politiken auf die Notwendigkeit h<strong>in</strong>, Außenpolitik entlang<br />
geme<strong>in</strong>samer und geteilter Zuständigkeiten zu denken (Ehrenzeller/Hrbek/Ma<strong>in</strong>verni/Thürer<br />
2002). Dies gilt auch für die EU (Raube 2007). Dabei zeigt sich, dass wir <strong>in</strong>nerhalb der EU<br />
unterschiedliche Grade an „Föderalisierung“ beobachten können – je nachdem, welchen<br />
Bereich von Außenpolitik wir beobachten. Kompetenzen der Geme<strong>in</strong>schaftsebene s<strong>in</strong>d<br />
ausgeprägter im Bereich der Handelspolitik als beispielsweise im Bereich der Geme<strong>in</strong>samen<br />
Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben je<br />
nach Regelungsmaterien unterschiedlich umfangreich Kompetenzen an die EU abgegeben.<br />
Anders als <strong>in</strong> Nationalstaaten, <strong>in</strong> denen Außenpolitik häufig die Kompetenz der<br />
bundesstaatlichen Ebene bed<strong>in</strong>gt (Wheare 1963; Rokkan 2000), verbleibt <strong>in</strong> der Europäischen<br />
Union e<strong>in</strong> großer Teil außenpolitischer Kompetenzen auf der Subebene der Mitgliedstaaten<br />
(Raube 2007).<br />
Der hier vorgestellte Beitrag untersucht, wie sich Verfassungswandel <strong>in</strong> der Außenpolitik der<br />
EU vollzieht. Es wird zum e<strong>in</strong>en der „explizite“ Wandel durch Vertragsreform und<br />
<strong>in</strong>sbesondere den vorliegenden Vertrag von Lissabon untersucht. E<strong>in</strong> besonderer Fokus liegt<br />
hierbei auf der Frage, ob die Vertragsreform e<strong>in</strong>en Erfolg im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er effektiveren,<br />
effizienteren und kohärenteren Politik durch der <strong>in</strong>stitutionellen Veränderungen<br />
organisatorischer und kompetenzrechtlicher Natur darstellen. Zum anderen wird der<br />
„implizite“ Verfassungswandel durch die Rechtsprechung des EuGH untersucht, der<br />
zunehmend die Kompetenzbereiche nicht nur der Geme<strong>in</strong>schaften und der Mitgliedstaaten,<br />
sondern <strong>in</strong>sbesondere zwischen Kommission und Rat, also Geme<strong>in</strong>schaftshandeln und GASP,<br />
entlang des bisherigen Art. 47 EUV abgrenzt (Cremona 2008). Die zentrale Frage des<br />
vorliegenden Beitrages ist, ob der Verfassungswandel der Organisations- und<br />
Entscheidungsstrukturen <strong>in</strong> der Außenpolitik der EU, bspw. durch die E<strong>in</strong>richtung e<strong>in</strong>es<br />
„neuen“ Hohen Repräsentanten und e<strong>in</strong>es Außenpolitisches Dienstes, die formale Trennung<br />
von Geme<strong>in</strong>schafs- und GASP-Aufgaben ergänzen könnte und e<strong>in</strong>e „Föderalisierung“ im<br />
S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Brüsselisierung <strong>in</strong> jenen Bereichen der Außenpolitik der EU herbeiführen könnte,<br />
die bislang der GASP zugeordnet werden (Vgl. Diedrichs/Wessels 2002).<br />
Literatur<br />
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make? In: Hamburg Review of Social Sciences, Special Issue on Coherence <strong>in</strong> EU<br />
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13
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Risse, Thomas; Börzel, Tanja (2000): Who`s afraid of a European Federation? How to<br />
Constitutionalise a Multi-Level Governance, <strong>in</strong>: Joerges, Christian; Yves Mény; Joseph<br />
H.H. Weiler (Eds.): What k<strong>in</strong>d of Constitution for what k<strong>in</strong>d of polity? San Domenico,<br />
2000, 45-69.<br />
Rokkan, Ste<strong>in</strong> (2000): Staat, Nation und Demokratie <strong>in</strong> Europa – Die teorie Ste<strong>in</strong> Rokkans<br />
aus se<strong>in</strong>en gesammelten Werken (rekonstruiert und e<strong>in</strong>geleitet von Peter Flora).<br />
Suhrkamp: Frankfurt a.M.<br />
Wheare, K. C. (1963): Federal Government. Oxford University Press.<br />
Weiler, Joseph H.H. (1991): The Tranformation of Europe, <strong>in</strong>: Yale Law Journal, 2403 ff.<br />
Prof. Dr. Roland Lhotta (Hamburg)<br />
„Ideational gaps“ und das Scheitern von Verfassungsreformen <strong>in</strong> Mehrebenensystemen<br />
I.<br />
Die Diagnose des Scheiterns von Verfassungsreformen gehört zum Inventar des deutschen<br />
Bundesstaates seit 1949. Dieser E<strong>in</strong>druck überwiegt auch h<strong>in</strong>sichtlich der jüngsten Reform im<br />
Anschluss an die Arbeit der zunächst gescheiterten KOMBO. Neben den bereits bekannten<br />
Gründen wie z. B. <strong>in</strong>stitutionelles Eigen<strong>in</strong>teresse der <strong>in</strong>volvierten Akteure, Reproduktion des<br />
Systems der Politikverflechtung <strong>in</strong> den Reformgremien, Konsenszwang und E<strong>in</strong>igung auf<br />
dem kle<strong>in</strong>sten geme<strong>in</strong>samen Nenner, Pfadabhängigkeit und „locked-<strong>in</strong> choices“, unitarische<br />
Grundstruktur des deutschen Bundesstaates usw. wurde im Nachgang zur Föderalismusreform<br />
I geltend gemacht, dass deren ger<strong>in</strong>ger Ertrag mit dem Fehlen e<strong>in</strong>er konsistenten und von den<br />
meisten Akteuren geteilten Leitidee erklärbar sei, weswegen das Resultat der<br />
Reformbemühungen letztlich e<strong>in</strong>em „orientierungslosen Aushandeln“ geschuldet war (Benz<br />
2007: 28). Andere Autoren wiederum machen e<strong>in</strong> bei den (Reform-) Akteuren tief verankertes<br />
„mentales Grundkonzept“ zum deutschen Bundesstaat aus, das den Zentralstaat als<br />
unantastbare Größe nehme, weswegen Reformen – wenn überhaupt – nur unter der<br />
Voraussetzung realisierbar seien, dass es bei dieser Unantastbarkeit bleibt (L<strong>in</strong>der 2007: 14).<br />
Unabhängig davon, welche der beiden Varianten man als erklärungskräftig ansieht, ist<br />
bemerkenswert, dass sie – ohne dies weiter zu vertiefen – e<strong>in</strong>e Variable <strong>in</strong>s Spiel br<strong>in</strong>gen, die<br />
im historischen Institutionalismus, noch mehr aber <strong>in</strong> Beiträgen des „constructivist<br />
<strong>in</strong>stitutionalism“ (Hay 2006; Blyth 2002) sowie des „<strong>in</strong>terpretivist <strong>in</strong>stitutionalism“ (Smith<br />
1988; Clayton/Gillman 1999; Gillman/Clayton 1999) e<strong>in</strong>e wichtige Rolle spielt: Ideen<br />
(Rueschemeyer 2006; Hochschild 2006). Diese teilweise unterkonzeptionalisierte Variable<br />
soll im Mittelpunkt des hier vorgeschlagenen Beitrags stehen, mit dem Ziel, e<strong>in</strong>e<br />
14
systematische, theoretisch ambitionierte Erklärung für erfolgreiche und nicht erfolgreiche<br />
Verfassungsreformen, lies: <strong>in</strong>stitutionellen Wandel zu entwickeln.<br />
II.<br />
Ideen werden im Neo-Institutionalismus nicht nur als zentrale Elemente der S<strong>in</strong>nstiftung und<br />
der Handlungsanleitung (March/Olsen 1989), sondern auch als Auslöser von<br />
<strong>in</strong>stitutionellem Wandel betrachtet – „as part of an overall sequence of <strong>in</strong>stitutional change,<br />
ideas reduce uncerta<strong>in</strong>ty, act as coalition-build<strong>in</strong>g resources, empower agents to contest<br />
exist<strong>in</strong>g <strong>in</strong>stitutions, act as resources <strong>in</strong> the construction of new <strong>in</strong>stitutions, and f<strong>in</strong>ally<br />
coord<strong>in</strong>ate agents‘ expectations, thereby reproduc<strong>in</strong>g <strong>in</strong>stitutional stability.“ (Blyth 2002: 15)<br />
Die für <strong>in</strong>stitutionellen Wandel und damit auch Verfassungsreformen zuständigen politischen<br />
Akteure „appropriate strategically a world replete with <strong>in</strong>stitutions and ideas about<br />
<strong>in</strong>stitutions. Their perceptions about what is feasible, legitimate, and possible, and desirable<br />
are shaped both by by <strong>in</strong>stitutional environment <strong>in</strong> which they f<strong>in</strong>d themselves and by exist<strong>in</strong>g<br />
policy paradigms and world views.“ (Hay 2006: 65) Dabei ist es e<strong>in</strong> entscheidender Aspekt,<br />
wann die für Institutionen eigentlich stabilisierend, weil s<strong>in</strong>nstiftend wirkende Eigenschaft<br />
von Ideen umschlägt <strong>in</strong> „paradigmatic shifts as herald<strong>in</strong>g significant <strong>in</strong>stitutional change“<br />
(Hay 2006: 65).<br />
Nach allen bisher vorliegenden Studien zum Hergang und Resultat der Föderalismusreform I<br />
ist e<strong>in</strong> solcher „ideational change“ <strong>in</strong>dessen ausgeblieben bzw. konnte von der Idee des<br />
Wettbewerbsföderalismus (Schatz/van Ooyen/Wertes 2000) nicht ausgelöst werden. Der<br />
Beitrag wird ausgehend vom deutschen Bundesstaat e<strong>in</strong>en Vorschlag entwickeln, wie Ideen<br />
als „Trigger“ von Verfassungsreformen operationalisiert und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em komparativ<br />
e<strong>in</strong>setzbaren Modell zur Diagnose und Erklärung des Scheiterns von Verfassungsreformen<br />
verwendet werden können.<br />
Literatur:<br />
Benz, Arthur (2007), Die Föderalismusreform <strong>in</strong> der „Entflechtungsfalle“ (Theodor-<br />
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Institut für Politikwissenschaft.<br />
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15
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Michael Becker/Ruth Zimmerl<strong>in</strong>g (Hrsg.), Politik und Recht (PVS-Sonderheft 36),<br />
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Deutschen Vere<strong>in</strong>igung für Politische Wissenschaft, Baden-Baden, 47-57.<br />
Schatz, Heribert/Van Ooyen, Robert/Werthes, Sascha (2000), Wettbewerbsföderalismus.<br />
Aufstieg und Fall e<strong>in</strong>es politischen Streibegriffs, Baden-Baden.<br />
Smith, Rogers (1988). “Political Jurisprudence, the ‘New Institutionalism’, and the Future of<br />
Public Law”, American Political Science Review 82, 89-108.<br />
Björn Uhlmann, Institut d’Etudes Politiques et Internationales, Université de Lausanne<br />
Verfassungsreform <strong>in</strong> der Schweiz<br />
Die Absicht der Arbeit ist es, relevante Variablen zu isolieren, die erfolgreiche und erfolglose<br />
Verfassungsreformen erklären können. Um die <strong>in</strong>stitutionellen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen konstant<br />
zu halten und <strong>in</strong>tervenierende Variablen zu kontrollieren, wird e<strong>in</strong> Land, die Schweiz, als<br />
Untersuchungse<strong>in</strong>heit ausgewählt. Innerhalb der Schweiz sollen während der Periode 1990 bis<br />
2006 mehrere Verfassungsreformen im Vergleich angeschaut werden. Es wird unterstellt,<br />
dass Erfolg und Misserfolg von Verfassungsänderungen anhand des damit verbundenen<br />
Konfliktes erklärt werden können. Verfassungsreformen werden demnach umso schwieriger,<br />
je mehr Konflikte sich damit verb<strong>in</strong>den oder je <strong>in</strong>tensiver diese Konflikte s<strong>in</strong>d. Auf der<br />
Grundlage dieser unabhängigen Variable werden Fälle von Verfassungsreformen ausgewählt.<br />
Erfolg oder Misserfolg der Reform wird mittels Zustimmung oder Ablehnung <strong>in</strong> der<br />
Volksabstimmung gemessen, da <strong>in</strong> der Schweiz alle Verfassungsänderungen dem Verdikt des<br />
Stimmvolkes unterliegen. Um e<strong>in</strong>e grösstmögliche Varianz der unabhängigen Variable zu<br />
haben, sollen Fälle ausgewählt werden, die sich bezüglich des Konfliktniveaus und/ oder des<br />
Abstimmungsresultates unterscheiden, z.B. konfliktiv und angenommen, konfliktiv und<br />
verworfen, wenig konfliktiv und angenommen und wenig konfliktiv und verworfen.<br />
Das Design erlaubt es, <strong>in</strong>tervenierende Variablen als erklärende Faktoren zu analysieren,<br />
wobei das Hauptaugenmerk auf den Präferenzen der unterschiedlichen Akteure und der<br />
Machtverteilung im Parlament liegt. Dabei soll vertiefend auf die Prozessdimension der<br />
Verfassungsreform und die unterschiedlichen Arenen, Ideengenerierung,<br />
Entscheidungsf<strong>in</strong>dung und Ratifikation, e<strong>in</strong>gegangen werden. Der Beitrag ist e<strong>in</strong>e<br />
16
Weiterentwicklung e<strong>in</strong>es bestehenden Arbeitspapiers (Braun/Uhlmann/Himmelsbach 2008).<br />
Die wesentliche Neuerung besteht denn auch <strong>in</strong> der Ausweitung der Fallzahl von<br />
Verfassungsänderungen <strong>in</strong> der Schweiz und soll dazu dienen, das schon vorhandene<br />
Kausalmodell für Verfassungsreformen zu verfe<strong>in</strong>ern.<br />
Stefan Köppl, Akademie für Politische Bildung Tutz<strong>in</strong>g<br />
Besonderheiten, Scheitern und Erfolg von Verfassungsreformen<br />
Überlegungen aus vergleichender Perspektive<br />
Der systematische länderübergreifende Vergleich von Verfassungsreformprozessen steckt<br />
noch <strong>in</strong> den K<strong>in</strong>derschuhen. Erforderlich s<strong>in</strong>d daher primär konzeptionelle Vorarbeiten, an<br />
denen sich spätere Fallstudien orientieren können, die wiederum Voraussetzung für den<br />
komparativen Zugriff s<strong>in</strong>d. Der vorliegende Beitrag versucht e<strong>in</strong>e Komb<strong>in</strong>ation aus<br />
konzeptionellen Überlegungen und ersten empirischen Befunden, die e<strong>in</strong>em laufenden<br />
<strong>in</strong>ternational vergleichenden Projekt über Verfassungsreformprozesse bzw. –versuche <strong>in</strong><br />
Deutschland, Kanada, Italien und der Schweiz entstammen. Ausgehend von e<strong>in</strong>em bereits<br />
vorliegenden Instrumentarium für die vergleichende Analyse von<br />
Verfassungsreformprozessen1 widmet sich der Beitrag den Besonderheiten solcher Prozesse,<br />
die sich vor allem aus den formal und <strong>in</strong>formal hohen Konsenshürden ergeben, aber auch aus<br />
der Pfadabhängigkeit der Verfassungsvorgeschichte und des Reformprozesses selbst. Der<br />
zweite Schwerpunkt liegt auf Erfolg und Scheitern von Verfassungsreformprozessen, für<br />
deren Erklärung die Empirie <strong>in</strong>struktive H<strong>in</strong>weise liefert.<br />
Ihre Besonderheiten legen nahe, dass Verfassungsreformprozesse mehr als „gewöhnliche“<br />
politische Prozesse <strong>in</strong> Begriffen der Verhandlungssysteme analysiert werden müssen.<br />
Insbesondere s<strong>in</strong>d die entsprechenden <strong>in</strong>härenten Blockadepotentiale (etwa Anzahl,<br />
Positionierung und Verhalten von Veto-Spielern) sowie die e<strong>in</strong>schlägigen Instrumente der<br />
Blockadeüberw<strong>in</strong>dung (etwa Ausgleichszahlungen und Paketlösungen) zu betrachten.<br />
In der Empirie ist zu beobachten, dass die klassischen Barga<strong>in</strong><strong>in</strong>g-Strategien zur Lösung<br />
distributiver Konflikte bei Verfassungsreformen nur sehr begrenzt wirksam s<strong>in</strong>d. Denn hier<br />
handelt es sich um Fragen, die zum e<strong>in</strong>en massiv <strong>in</strong> die künftigen E<strong>in</strong>flusschancen der<br />
beteiligten Akteure e<strong>in</strong>greifen (können) und zum anderen <strong>in</strong> normativ-ideologischer H<strong>in</strong>sicht<br />
<strong>in</strong> weiten Teilen deren nicht verhandelbaren Kernbestand berühren.<br />
E<strong>in</strong> weiterer Blick auf konkrete Reformprozesse lässt vermuten, dass Erfolg und Scheitern<br />
e<strong>in</strong>es Verfassungsreformversuchs auch mit se<strong>in</strong>er <strong>in</strong>haltlichen Reichweite zusammenhängen.<br />
So ist <strong>in</strong> diesem Kontext aus konzeptioneller Sicht die unterschiedliche Bandbreite von<br />
Verfassungsreformen zu thematisieren: Vorgeschlagen wird e<strong>in</strong>e Typologie, die sich<br />
zwischen den Extrempolen „Totalrevision“ und „Verfassungsänderung“ bewegt. Für die<br />
systematische Erklärung von Erfolg und Scheitern ist die Differenzierung unterschiedlicher<br />
Typen von Verfassungsreformprozessen wichtig, da bereits im Typ e<strong>in</strong>es Reformversuchs<br />
jeweils unterschiedliche Erfolgs- bzw. Misserfolgspotentiale begründet se<strong>in</strong> können.<br />
Es weist manches darauf h<strong>in</strong>, dass groß angelegte Reformprojekte deutlich mehr Gefahr<br />
laufen, ergebnislos zu scheitern, als <strong>in</strong>haltlich begrenzte Vorhaben. Als Beispiel hierfür kann<br />
Italien dienen, wo seit 1983 <strong>in</strong>zwischen vier groß angelegte Reformversuche scheiterten, e<strong>in</strong>e<br />
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Teilreform des Regionalismus dagegen die Hürden überwand. In e<strong>in</strong>e ähnliche Richtung weist<br />
das deutsche Beispiel, wo die Ausklammerung der F<strong>in</strong>anzbeziehungen (Föderalismusreform<br />
II) die Erfolgschancen der Föderalismusreform I deutlich erhöhte.<br />
1 Köppl, Stefan (2007): Zur vergleichenden Analyse von Verfassungsreformprozessen.<br />
Konzeptionelle Überlegungen,<br />
<strong>in</strong>: Wolf, Klaus Dieter (Hg.): Staat und Gesellschaft – fähig zur Reform? Der 23.<br />
wissenschaftliche Kongress<br />
der Deutschen Vere<strong>in</strong>igung für Politische Wissenschaft, Baden-Baden, S. 77-95.<br />
Esther Marie Seha<br />
Verfasssungen, die als Kerndokumente demokratischer politischer Systeme fungieren, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong><br />
den vergangenen Jahrzehnten <strong>in</strong> den etablierten wie den jungen Demokratien Europas<br />
verhäuft Gegenstand <strong>in</strong>stitutionenpolitischer Reformen geworden. Wenngleich sich<br />
Verfassungen und Verfassungspolitik als Kernbereiche der Diszipl<strong>in</strong> für die empirischvergleichende<br />
politikwissenschaftliche Forschung ideal anbieten, ist dieses Potential bislang<br />
weitgehend ungenutzt geblieben. Neben e<strong>in</strong>zelnen Fallstudien fehlt es bislang noch an<br />
geeigneten theoretischen Untersuchungsansätzen sowie der Entwicklung<br />
politikwissenschaftlicher Konzepte zur Untersuchung der verfassungspolitischen Reformen.<br />
In der Studie, die auf der 3-Länder-Tagung <strong>in</strong> Osnabrück vorgestellt werden soll, wird daher<br />
anhand der jüngst erfolgten Verfassungsreformen <strong>in</strong> F<strong>in</strong>nland, Österreich und der Schweiz<br />
unternommen, Bed<strong>in</strong>gungsfaktoren für das Gel<strong>in</strong>gen bzw. Scheitern der Reformvorhaben<br />
herauszuarbeiten. Dazu werden methodische Grundlagen der Vergleichenden Regierungslehre<br />
sowie neo-<strong>in</strong>stitutionalistische Ansätze zur Untersuchung der Genese und Entwicklung<br />
politischer Institutionen <strong>in</strong>duktiv zu e<strong>in</strong>em Erklärungsmodell verdichtet, mit dem<br />
Bed<strong>in</strong>gungsfaktoren generiert und <strong>in</strong> der Literatur zitierte Argumente <strong>in</strong> qualitativvergleichenden<br />
Fallstudien geprüft werden können.<br />
Ausgehend von den empirischen Ergebnissen der Studie sollen die Konsequenzen für die<br />
politikwissenschaftliche Verfassungsforschung diskutiert werden. Dabei wird <strong>in</strong>sbesondere<br />
Augenmerk auf die Veränderungen der Institution Verfassung unter gewandelten Rahmen-<br />
und Funktionsbed<strong>in</strong>gungen gelegt, die sich mitunter <strong>in</strong> der <strong>in</strong>haltlichen Konvergenz<br />
verfassungspolitischer Reformprozesse sowie e<strong>in</strong>em Funktionswandel der Verfassung <strong>in</strong><br />
europäischen Demokratien manifestieren.<br />
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