11.01.2013 Aufrufe

Nathalie Behnke, FernUniversität in Hagen - DVPW

Nathalie Behnke, FernUniversität in Hagen - DVPW

Nathalie Behnke, FernUniversität in Hagen - DVPW

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Geme<strong>in</strong>same Tagung der Deutschen Vere<strong>in</strong>igung für Politische Wissenschaft (<strong>DVPW</strong>), der<br />

Österreichischen Gesellschaft für Politikwissenschaft (ÖGPW) und der Schweizerischen<br />

Vere<strong>in</strong>igung für Politische Wissenschaft (SVPW)<br />

„Die Verfassung der Demokratien“<br />

21. bis 23. November 2008 an der Universität Osnabrück<br />

Abstracts zu Workshop 5: Verfassungsreformen im Vergleich<br />

Leitung: <strong>Nathalie</strong> <strong>Behnke</strong>, <strong>FernUniversität</strong> <strong>Hagen</strong>; Arthur Benz, <strong>FernUniversität</strong> <strong>Hagen</strong>; Dietmar Braun,<br />

Université de Lausanne; Florian Grotz, Universität Lüneburg; Kathar<strong>in</strong>a Holz<strong>in</strong>ger, Universität<br />

Konstanz; Klaus Poier, Universität Graz<br />

Florian Grotz (Universität Lüneburg)<br />

Klaus Poier (Universität Graz)<br />

Verfassungsreformen ohne constitutional moment: Deutschland, Österreich und die<br />

Schweiz im Vergleich<br />

Während der vergangenen Jahre kam es <strong>in</strong> Deutschland, Österreich und der Schweiz fast<br />

gleichzeitig zu Versuchen, die nationale Verfassungsordnung grundlegend zu modernisieren.<br />

In der Schweiz wurde nach jahrzehntelangen Ansätzen mit der Bundesverfassung 2000 e<strong>in</strong>e<br />

neue, wenn auch <strong>in</strong> weiten Teile „nachgeführte“ Verfassung beschlossen. In Deutschland<br />

wurde 2006 nach mehrjähriger Vorarbeit die formal umfangreichste Grundgesetzänderung<br />

seit Bestehen der Bundesrepublik verabschiedet, wobei der Reformprozess mit E<strong>in</strong>setzung<br />

e<strong>in</strong>er weiteren „Föderalismuskommission“ e<strong>in</strong>e unmittelbare Fortsetzung fand. In Österreich<br />

sollte e<strong>in</strong> eigens e<strong>in</strong>gerichteter „Konvent“ (2003-2005) e<strong>in</strong>en Vorschlag für e<strong>in</strong>e neue<br />

Verfassung ausarbeiten, kam jedoch zu ke<strong>in</strong>em abschließenden Ergebnis. In der Zwischenzeit<br />

wurden e<strong>in</strong>zelne „Pakete“ e<strong>in</strong>er großen Verfassungsreform vorgelegt, die zum Teil bereits<br />

beschlossen s<strong>in</strong>d, zum größeren Teil gerade verhandelt werden.<br />

Obwohl <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em Land e<strong>in</strong> constitutional moment (Ackerman 1999) erkennbar war und man<br />

<strong>in</strong> Bundesstaaten eigentlich nur <strong>in</strong>krementelle Veränderungen des konstitutionellen Rahmens<br />

erwarten sollte (Benz 2007), erschien die Idee e<strong>in</strong>er „großen Verfassungsreform“ offenbar <strong>in</strong><br />

allen drei Fällen attraktiv. Wie s<strong>in</strong>d diese nahezu zeitgleichen Reform<strong>in</strong>itiativen zustande<br />

gekommen? Lassen sich dabei jenseits von länderspezifischen Ausgangsbed<strong>in</strong>gungen auch<br />

geme<strong>in</strong>same Erklärungsmuster identifizieren, allenfalls auch solche, die für föderalstaatliche<br />

Kontexte „typisch“ s<strong>in</strong>d? Der vorliegende Beitrag überprüft zunächst, <strong>in</strong>wiefern bestehende<br />

Ansätze der Vergleichenden Politikwissenschaft bzw. Föderalismusforschung zu e<strong>in</strong>er<br />

Erklärung der „großen“ Reform<strong>in</strong>itiativen beitragen können. Diese Überlegungen münden <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong> Modell, das gleichermaßen exogene und endogene Problemkonstellationen berücksichtigt<br />

und sie mit den Ebenen des verfassungspolitischen Prozesses (Akteure, Verfahren, Inhalte)<br />

verb<strong>in</strong>det. Auf dieser Basis erfolgt e<strong>in</strong>e vergleichende Analyse der drei Länderfälle, die<br />

Geme<strong>in</strong>samkeiten und Unterschiede der „reformauslösenden“ Variablenkonstellationen<br />

differenziert herausarbeitet. Abschließend soll der Frage nachgegangen werden, <strong>in</strong>wieweit vor<br />

dem H<strong>in</strong>tergrund der tatsächlichen „reformauslösenden“ Faktoren und aus dem<br />

<strong>in</strong>ternationalen Vergleich von großen Verfassungs(ver)änderungen das Fehlen e<strong>in</strong>es<br />

constitutional moment für Probleme und – auch zu verzeichnende – Misserfolge der<br />

Reformbestrebungen <strong>in</strong> Deutschland, Österreich und der Schweiz verantwortlich gemacht<br />

werden kann.<br />

1


Annegret Eppler M.A., Ass. iur.<br />

Jüngste Föderalismusreformen <strong>in</strong> Deutschland, Österreich und der Schweiz als<br />

Europäisierungsschritte<br />

Das Verhältnis von europäischer Integration und föderaler bzw. regionaler Anpassungen der<br />

nationalen Institutionensysteme, die <strong>in</strong> den letzten Jahrzehnten erfolgt s<strong>in</strong>d, wurde analysiert<br />

(Grotz, Florian 2007; für Deutschland z.B. Knodt, Michèle 2000). Auch die jüngsten Ansätze<br />

zu Reformen der föderalen Kompetenzordnungen <strong>in</strong> Deutschland, Österreich und der Schweiz<br />

können – so die zentrale These des geplanten Vortrags – als Europäisierungsschritte<br />

<strong>in</strong>terpretiert werden. Europäisierung als theoretisches Konzept kann den E<strong>in</strong>fluss der<br />

europäischen Integration auf föderale Systeme veranschaulichen. Neuere Ansätze der<br />

Europäisierung untersuchen, wie die EU auf ihre Mitgliedstaaten und deren politische<br />

Ordnungen zurückwirkt. Dieser Beitrag folgt der Def<strong>in</strong>ition von Radaelli und Bulmer aus dem<br />

Jahr 2005:<br />

"Europeanization consists of (a) construction, (b) diffusion, and (c) <strong>in</strong>stitutionalization of<br />

formal and <strong>in</strong>formal<br />

rules, procedures, policy paradigms, styles, ways of do<strong>in</strong>g th<strong>in</strong>gs, and shared beliefs and<br />

norms which are first<br />

def<strong>in</strong>ed and consolidated <strong>in</strong> the EU policy process and then <strong>in</strong>corporated <strong>in</strong> the logic of<br />

domestic (national and<br />

subnational) discourse, political structures, and public policies."<br />

Als föderal organisierte EU-Mitgliedstaaten s<strong>in</strong>d Deutschland und Österreich <strong>in</strong> das System<br />

der europäischen Multi-Level Governance e<strong>in</strong>gebunden. Die EU übt auf die föderalen<br />

Ordnungen dieser Staaten e<strong>in</strong>en Anpassungsdruck aus durch bestimmte <strong>in</strong>stitutionelle<br />

Politikmodelle (etwa Politikstil und Verwaltungsstruktur <strong>in</strong> der Umweltpolitik) bzw. durch<br />

das Erfordernis, im sich verändernden europäischen Rahmen zu agieren und<br />

wettbewerbsfähig zu bleiben (Stichwort „Europafähigkeit“). Obwohl die Schweiz ke<strong>in</strong> EU-<br />

Mitgliedstaat ist, unterliegt auch sie e<strong>in</strong>em Anpassungsdruck <strong>in</strong> Sachen Effizienz und<br />

Wettbewerbsfähigkeit, der von der EU ausgeht. E<strong>in</strong> Ziel der schweizerischen<br />

Föderalismusreform war die Steigerung ihrer „Europafähigkeit“ und die Reform kann unter<br />

dem Europäisierungsaspekt<br />

diskutiert werden.<br />

Ursachen für die großen Reformanläufe der drei Föderalstaaten und Erklärungen für ihre<br />

sach<strong>in</strong>haltlichen Ergebnisse können mith<strong>in</strong> <strong>in</strong> Anpassungsleistungen der föderalen Ordnungen<br />

an europäische Herausforderungen gesehen werden. Europäisierungsansätze sollten <strong>in</strong> die<br />

aktuelle wissenschaftliche Diskussion über Ursachen, Verlauf und Ergebnisse föderaler<br />

Reformen <strong>in</strong>tegriert werden.<br />

Ob tatsächlich e<strong>in</strong>e Veränderung bzw. Reform stattf<strong>in</strong>det und wie diese aussieht, hängt nicht<br />

nur vom europäischen Anpassungsdruck ab, sondern wird auch von nationalen Faktoren<br />

bee<strong>in</strong>flusst. Europäisierungsansätze beziehen beispielsweise <strong>in</strong>stitutionelle Reformh<strong>in</strong>dernisse<br />

auf nationaler Ebene mit e<strong>in</strong> – wie etwa spezifische Verhandlungsstrukturen <strong>in</strong> Föderalstaaten<br />

–, die e<strong>in</strong>e Anpassung erschweren oder verh<strong>in</strong>dern. Dies ist e<strong>in</strong>e der Stellen, an der die<br />

Brücke geschlagen werden könnte und „Föderalismustheorien“, mit denen Verlauf und<br />

Ergebnis der föderalen Reformprozesse auf e<strong>in</strong>en Staat konzentriert erklärt werden (wie etwa<br />

der akteurszentrierte Institutionalismus oder der historische Institutionalismus), mit den<br />

Europäisierungsansätzen verbunden werden könnten.<br />

2


Jan<strong>in</strong>e Re<strong>in</strong>hard M.A. , Universität Konstanz<br />

Vertragsreformen <strong>in</strong> der EU unter dem Druck der Erweiterung.<br />

Auslöser und Motive von Verfassungswandel im europäischen Mehrebenensystem<br />

Me<strong>in</strong> Paper wird Erweiterungen als Auslöser und Motive von Vertragsreformen <strong>in</strong> der<br />

Europäischen Union (EU) behandeln. In der politischen Diskussion wird gerade vor großen<br />

Erweiterungen wie der Osterweiterung oder e<strong>in</strong>em möglichen Türkeibeitritt das Problem der<br />

Aufnahmefähigkeit der EU sowie der <strong>in</strong>stitutionellen Handlungsfähigkeit thematisiert. Daher<br />

ist anzunehmen, dass Erweiterungen – zum<strong>in</strong>dest unter bestimmten Bed<strong>in</strong>gungen –<br />

Vertragsreformen auslösen können. Die zentrale Fragestellung me<strong>in</strong>es Papers soll daher<br />

lauten: Unter welchen Bed<strong>in</strong>gungen lösen Erweiterungsrunden Verfassungsreformen aus<br />

und unter welchen Bed<strong>in</strong>gungen s<strong>in</strong>d die angestrebten Reformen erfolgreich?<br />

Um die Fragestellung zu beantworten, werden die bisherigen europäischen Vertragsreformen<br />

bis zum Vertrag von Lissabon (2007) <strong>in</strong> Bezug zu den bisherigen sechs Erweiterungsrunden 1<br />

gesetzt. Dabei wird diachron und vergleichend untersucht, <strong>in</strong>wieweit die bevorstehenden<br />

Erweiterungen jeweils e<strong>in</strong>e Vertragsreform bee<strong>in</strong>flusst haben. Auf methodischer Ebene ist<br />

hierbei die zentrale Frage, wie man Auslöser und Motive für Verfassungsreformen –<br />

<strong>in</strong>sbesondere auch von länger zurück liegenden – identifizieren und nachweisen kann.<br />

E<strong>in</strong>e Zunahme der Mitgliedstaaten (MS) durch Erweiterungen (mehr Mitgliedstaaten,<br />

steigende Heterogenität) stellt e<strong>in</strong>e Herausforderung für die Regelung der Machtverteilung<br />

und die Effizienz im europäischen Mehrebenensystem dar. Fraglich ist dabei, wie Macht und<br />

Kompetenzen zwischen den Mitgliedstaaten und der EU durch Regelungen der horizontalen<br />

(zwischen den MS) und vertikalen (zwischen MS und EU) Kooperation geregelt und unter<br />

sich wandelnden Rahmenbed<strong>in</strong>gungen (Erweiterungen) geändert werden. Die Entwicklung<br />

der folgenden Aspekte über die Vertragreformen h<strong>in</strong>weg bildet daher die abhängige Variable<br />

der Untersuchung:<br />

• Änderung der <strong>in</strong>stitutionellen Vorkehrungen für mehr Mitgliedstaaten, wie: Anzahl<br />

der Kommissare, Anzahl der Abgeordneten im Europäischen Parlament (EP), Rotation<br />

der Präsidentschaft, Gewichtung der Stimmen der e<strong>in</strong>zelnen Mitgliedsstaaten.<br />

• Zunehmende E<strong>in</strong>führung der qualifizierten Mehrheit anstatt des<br />

E<strong>in</strong>stimmigkeitserfordernisses<br />

• Übernahme der Verstärkten Zusammenarbeit <strong>in</strong> die Verträge<br />

Um e<strong>in</strong>e Kausalität zwischen den Vertragsreformen und Erweiterungen <strong>in</strong> der EU<br />

aufzuzeigen, sollen die relevanten Dokumente zu den Vertragsreformen daraufh<strong>in</strong> untersucht<br />

werden, ob sie die bevorstehende Erweiterung als e<strong>in</strong> Motiv für die Reformen anführen.<br />

Dabei s<strong>in</strong>d sowohl die Dokumente des Rates und der Regierungskonferenzen als auch die<br />

supranationaler Akteure wie der Kommission und dem Europäischen Parlament Gegenstand<br />

der Analyse. Diese Analyse wird voraussichtlich zeigen, dass die Erweiterungsrunden <strong>in</strong><br />

unterschiedlichem Maße zu Vertragsreformen geführt haben. Zu untersuchen ist daher, unter<br />

welchen Bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>e Erweiterung zur Vertragsreform führt. Mögliche E<strong>in</strong>flussfaktoren<br />

könnten beispielsweise se<strong>in</strong>: Die Anzahl der neuen Mitgliedsländer (treten nur 3 oder 10 bei),<br />

Heterogenität (politisch, wirtschaftliche, kulturell) der neuen Mitgliedsländern im Vergleich<br />

zur EU oder die absolute Anzahl der Mitgliedsstaaten der EU nach der Erweiterung. Auch<br />

könnte entscheidend für die Durchsetzung der Reform se<strong>in</strong>, ob die Vorschläge vom Rat oder<br />

von supranationalen Akteuren wie der Kommission oder dem Parlament vorgebracht werden.<br />

1 1973: Großbritannien, Dänemark, England (� 9 Mitgliedsstaaten), 1981: Griechenland (� 10 MS), 1986:<br />

Portugal, Spanien (� 12 MS), 1995: Österreich, F<strong>in</strong>nland, Schweden (� 15 MS), 2004: 10 Mittel- und<br />

Osteuropäische Länder (� 25 MS), 2007: Bulgarien, Rumänien (� 27 MS).<br />

3


Günther Guggenberger, Wien<br />

Zwischen Geme<strong>in</strong>wohl<strong>in</strong>tention, Interessenswerkzeug und Spiegelbild des Landes<br />

Die ukra<strong>in</strong>ische Verfassung im Wandel<br />

Die Verfassung ist das grundlegende Regelwerke für die <strong>in</strong>stitutionelle Organisation und das<br />

politische Handeln <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Staat. Sie def<strong>in</strong>iert die zentralen politischen und wirtschaftlichen<br />

Normen, die territoriale Gliederung, die Beziehungen zwischen Zentralstaat und Gliedstaaten<br />

sowie die Beziehungen zu anderen Staaten. Demokratische Verfassungen zeichnen sich<br />

<strong>in</strong>sbesondere dadurch aus, dass sie neben der Def<strong>in</strong>ition der zentralen Institutionen auch jene<br />

Regelungen bestimmen, die die Pr<strong>in</strong>zipien der Gleichheit, Freiheit und Kontrolle zur<br />

Anwendung br<strong>in</strong>gen sollen.<br />

Im Gegensatz zu den meisten mittel-osteuropäischen Staaten, <strong>in</strong> denen die<br />

parlamentarischen Versammlungen im Zuge der Wende relativ rasch Verfassungen<br />

verabschiedeten, welche die Demokratie und die Marktwirtschaft <strong>in</strong> den Mittelpunkt stellten,<br />

dauerte der Verfassungsänderungsprozess <strong>in</strong> den postsowjetischen Staaten bis Mitte der<br />

1990er Jahre an. Deshalb verwunderte es nicht, dass nach der Annahme der neuen,<br />

demokratischen Verfassungen <strong>in</strong> diesen osteuropäischen Staaten ähnliche Probleme auftraten<br />

wie <strong>in</strong> den westlicheren Ländern, von denen die meisten zum<strong>in</strong>dest ansatzweise <strong>in</strong> der<br />

Vergangenheit demokratische Erfahrungen machten. Konkret geme<strong>in</strong>t ist damit die <strong>in</strong> vielen<br />

Bereichen vorhandene Kluft zwischen Verfassung und Realverfassung, die Instabilität der<br />

Institutionen und die ger<strong>in</strong>ge Effizienz ihrer Aktivitäten.<br />

Die Verfassung der Ukra<strong>in</strong>e vom 28. Juni 1996 war das Produkt e<strong>in</strong>es langen R<strong>in</strong>gens<br />

zwischen dem Staatspräsidenten und dem Parlament, der kle<strong>in</strong>ste geme<strong>in</strong>same Nenner für<br />

verschiedene Persönlichkeiten und Fraktionen, denen es vor allem um den eigenen E<strong>in</strong>fluss<br />

und weniger um das Wohl des Staates g<strong>in</strong>g. Dies begünstigte zahlreiche Unklarheiten und<br />

Lücken des Regelwerkes, welche vom damaligen Präsidenten Kutschma dafür benutzt<br />

wurden, um se<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluss soweit auszudehnen, dass die Ukra<strong>in</strong>e vor der „Orangenen<br />

Revolution“ zu Recht das Image e<strong>in</strong>es halb-autoritären Staates hatte.<br />

Bis zur Präsidentschaftswahl von 2004 gab es zahlreiche Initiativen zur<br />

Verfassungsänderung, wobei zuletzt paradoxerweise vom autoritären Präsidenten selbst<br />

Vorschläge zur Stärkung des Parlaments im <strong>in</strong>stitutionellen Gefüge kamen. Wirkliche<br />

Veränderungen wurden erst im Zuge der „Orangenen Revolution“ möglich, als unter<br />

wesentlicher Mitwirkung externer Akteure, besonders aus der EU, e<strong>in</strong>e Neuausrichtung des<br />

politischen Systems als parlamentarisch-präsidentielle Demokratie vorgenommen wurde.<br />

Trotzdem wird <strong>in</strong> der Ukra<strong>in</strong>e auch heute die Verfassungsdiskussion heftig geführt; sie<br />

ist bei weitem ke<strong>in</strong> politisch stabiles und effizient regiertes Land. Zwar wurde der<br />

Entscheidungsspielraum des Parlamentes und der durch die Parlamentsmehrheit getragenen<br />

Regierung erweitert, doch verh<strong>in</strong>dern zahlreiche <strong>in</strong>ter<strong>in</strong>stitutionelle Konflikte die Annahme<br />

und Umsetzung von Beschlüssen. In den Regionen und Bezirken beh<strong>in</strong>dern sich Initiativen<br />

des Präsidenten und der Regierung gegenseitig. Lange Zeit schränkten <strong>in</strong> vielen Bereichen<br />

monopolistische Strukturen die wirtschaftliche Freiheit e<strong>in</strong>. Von der <strong>in</strong> der Verfassung<br />

vorgesehenen lokalen Selbstverwaltung kann nach wie vor kaum gesprochen werden und es<br />

gibt noch weitere Punkte der ukra<strong>in</strong>ischen Verfassung, die von e<strong>in</strong>er Verwirklichung weit<br />

entfernt s<strong>in</strong>d.<br />

Neben der Beschreibung der bisherigen Verfassungsentwicklung werden im Rahmen<br />

des Vortrages folgende Fragen beantwortet werden:<br />

- Welches Bild von den E<strong>in</strong>stellungen <strong>in</strong> der Bevölkerung bezüglich der<br />

Gestaltung des politischen Systems liefern die Me<strong>in</strong>ungsumfragen? War und ist<br />

die ukra<strong>in</strong>ische (Real)Verfassung nicht nur Ausdruck des Machtkampfes von<br />

Eliten, sondern auch Ausdruck der Me<strong>in</strong>ungen <strong>in</strong> der Bevölkerung <strong>in</strong>sgesamt?<br />

4


- Welche Rolle spiel(t)en externe Akteure (EU, OSZE, Europarat, USA,<br />

Russland) für die Verfassungsentwicklung?<br />

- Ist die umstrittene ukra<strong>in</strong>ische Verfassung e<strong>in</strong> Reflex auf die Heterogenität und<br />

relative Offenheit des Landes?<br />

- Wodurch erklärt sich der doch unübersehbare Trend h<strong>in</strong> zur Festigung der von<br />

der Verfassung vorgesehenen demokratischen Institutionen?<br />

<strong>Nathalie</strong> <strong>Behnke</strong>, <strong>FernUniversität</strong> <strong>in</strong> <strong>Hagen</strong><br />

"Die Analyse von Verhandlungen <strong>in</strong> Verfassungsreformprozessen –<br />

Fragestellungen und Instrumente"<br />

Das Verhandlungsverhalten <strong>in</strong> Verfassungsreformprozessen ist von dem <strong>in</strong> Policy-Prozessen<br />

signifikant verschieden. Zwar spielen Interessenkonflikte und somit e<strong>in</strong>e Barga<strong>in</strong><strong>in</strong>g-<br />

Orientierung unter den Akteuren e<strong>in</strong>e wichtige Rolle. Da die Interessenkonflikte sich aber<br />

nicht unmittelbar auf die Regeln beziehen, die zur Disposition stehen, sondern sich aus den<br />

Wirkungen ergeben, die die Verfassungsregeln <strong>in</strong> der Arena der Alltagspolitik entfalten,<br />

wirken die Konflikte nur mittelbar und können durch geme<strong>in</strong>same konstitutionelle Interessen<br />

überlagert werden. Tatsächlich lassen sich <strong>in</strong> Verfassungsreformprozessen durchaus<br />

diskursive Elemente identifizieren, und zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> bestimmten Phasen des<br />

Reformprozesses werden verschiedene Positionen relativ ergebnisoffen diskutiert. Somit s<strong>in</strong>d<br />

die Logik und Dynamik konstitutioneller Verhandlungsprozesse nur partiell durch formelle<br />

Barga<strong>in</strong><strong>in</strong>g-Modelle zu erfassen. Andererseits s<strong>in</strong>d auch policy-nahe eher pragmatisch<br />

formulierte Verhandlungstheorien wenig geeignet, das spezielle Wechselspiel von Argu<strong>in</strong>g<br />

und Barga<strong>in</strong><strong>in</strong>g analytisch zu erschließen.<br />

Ziel dieses Beitrags ist es daher, das analytische Potenzial verschiedener Formulierungen von<br />

Verhandlungstheorien (aus der ökonomischen Theorie der Politik, aus den <strong>in</strong>ternationalen<br />

Beziehungen und aus der Policy-Forschung) für das Verständnis konstitutioneller<br />

Verhandlungsprozesse auszuloten und hieraus erste Formulierungen für e<strong>in</strong> analytisches<br />

Instrument zu generieren, das der spezifischen Motivationsstruktur der Akteure <strong>in</strong><br />

Verfassungsreformprozessen gerecht wird.<br />

5


Astrid Lorenz (Humboldt-Universität zu Berl<strong>in</strong>)<br />

Warum kooperieren Akteure bei Verfassungsänderungen?<br />

Auf faktisch jede Initiative für e<strong>in</strong>e Verfassungsänderung reagieren die Nicht<strong>in</strong>itiatoren mit<br />

e<strong>in</strong>er Fülle von E<strong>in</strong>wänden, oft fundamentaler Art. Der vorgeschlagene Beitrag befasst sich<br />

mit der grundlegenden Frage, wie und warum unter diesen Bed<strong>in</strong>gungen Verhandlungen<br />

überhaupt <strong>in</strong> Gang kommen und dann durch geme<strong>in</strong>same Entscheidungen abgeschlossen<br />

werden. Es geht darum, wie Kooperationsbereitschaft konzeptionell erfasst bzw. erklärt<br />

werden kann. Wie <strong>in</strong> dem DFG-Forschungsprojekt 2 , auf dem die präsentierten Überlegungen<br />

basieren, richten sie sich nicht auf e<strong>in</strong>en bestimmten Typus der Verfassungsänderung (bspw.<br />

Reform, Änderung e<strong>in</strong>er bestimmten Materie) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmten Systemtyp (z.B.<br />

Föderalstaat), sondern auf Verfassungsänderungen <strong>in</strong> ihrer Breite <strong>in</strong> Demokratien <strong>in</strong> ihrer<br />

Breite, d.h. alltagspolitische oder „normale“ Verfassungsänderungen. Diese können, obwohl<br />

sie zumeist <strong>in</strong>krementalistisch angelegt s<strong>in</strong>d und auf den ersten Blick vielleicht wenig<br />

spektakulär ersche<strong>in</strong>en, kumulativ den Gehalt und die normative Kohärenz von Verfassungen<br />

erheblich verändern, so dass die angestrebte Schutzfunktion besonderer Entscheidungsregeln<br />

für Verfassungsänderungen unter Umständen nicht erfüllt wird. Da „normale“<br />

Verfassungsänderungen sehr oft und von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt<br />

stattf<strong>in</strong>den, ist dies durchaus ke<strong>in</strong> re<strong>in</strong> theoretisches Gedankenspiel.<br />

Vorgestellt werden sollen zum e<strong>in</strong>en potenziell erklärende Variablen, die bl<strong>in</strong>d<br />

gegenüber Aushandlungsprozessen s<strong>in</strong>d. Dies s<strong>in</strong>d beispielsweise die Reichweite e<strong>in</strong>er<br />

vorgeschlagenen Verfassungsänderung, der zeitliche Abstand zu früheren<br />

Verfassungsänderungen, der Typ des politischen Systems, die Verfassungsänderungshürde<br />

(Rigidität) oder die generelle Gew<strong>in</strong>n- und Verluststruktur/Konfliktlast e<strong>in</strong>es Vorhabens. So<br />

bee<strong>in</strong>flusst der Abstand zu früheren Verfassungsänderungen die Entscheidungskosten und<br />

damit möglicherweise das Kooperationsverhalten der Akteure.<br />

Zum anderen wird e<strong>in</strong>e Analyse vorgeschlagen, die nach grundsätzlichen<br />

Interaktionsorientierungen der Aushandlungsbeteiligten unterscheidet, die sich während<br />

Aushandlungsprozessen üblicherweise ändern. Dabei wird zwischen e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>dividualistischen,<br />

altruistischen, kooperativen und kompetitiven Interaktionsorientierung differenziert. Dieser<br />

konzeptionelle Zugang wird durch die Vermutung geleitet, dass Kooperationsbereitschaft<br />

zwar nur bei e<strong>in</strong>er kooperativen Interaktionsorientierung selbstverständlich ist, dass sie aber<br />

auch bei anderen Interaktionsorientierungen herbeigeführt werden kann, wenn bestimmte<br />

Voraussetzungen vorliegen. Diese Voraussetzungen unterscheiden sich vermutlich je nach<br />

Interaktionsorientierung. Um sie zu orten, wird e<strong>in</strong>e Reihe von Variablen vorgeschlagen,<br />

deren jeweilige Ausprägung bei dist<strong>in</strong>kten Interaktionsorientierungen beobachtet werden<br />

könnte. Sie beziehen sich auf die beteiligten Akteure (Verhandlungsmacht, substanzielle<br />

Motivation u.ä.), ihren Umgang mit der Initiative (z.B. Reaktion auf Komplexität, Risiken,<br />

Bedeutung sachfremder Erwägungen, Konfliktpunkte), ihre Interaktionen (z.B. Art der<br />

Verhandlungsarena) sowie auf den <strong>in</strong>stitutionellen Rahmen (z.B. Berücksichtigung des<br />

Verfahrensweges, B<strong>in</strong>dekraft erzielter Übere<strong>in</strong>künfte) und weiteren Kontext (z.B.<br />

Kontextsensitivität der Verhandlungen). Beispielsweise könnte es se<strong>in</strong>, dass bei Akteuren, die<br />

ke<strong>in</strong> besonderes Interesse an e<strong>in</strong>em Vorhaben hegen, das Angebot e<strong>in</strong>es Paket- oder<br />

Tauschgeschäfts wichtig ist, um e<strong>in</strong>e Kooperationsbereitschaft und den Übergang zu e<strong>in</strong>em<br />

anderen Verhandlungsmodus herbeizuführen, dass aber die Bedeutung solcher Geschäfte<br />

dann abnimmt, selbst wenn das Angebot nie umgesetzt wurde und vorher erhobene E<strong>in</strong>wände<br />

nicht ausgeräumt wurden (bspw. durch Überzeugung oder Veränderung von Formulierungen).<br />

2 Der Titel des Projekts lautet „Verfassungsänderungen <strong>in</strong> etablierten Demokratien“.<br />

6


Wie zu erkennen ist, s<strong>in</strong>d beide Ansätze zur Erklärung von Kooperation bei<br />

„normalen“, zumeist <strong>in</strong>krementalistischen Verfassungsänderungen mite<strong>in</strong>ander vere<strong>in</strong>bar, sie<br />

setzen aber jeweils unterschiedliche Schwerpunkte. Der e<strong>in</strong>e Ansatz aggregiert Prozesse zu<br />

Entscheidungen und eignet sich gut für Langzeitanalysen zur Verfassungspolitik von Staaten<br />

oder den Vergleich der generellen Kooperationsneigung <strong>in</strong> der Verfassungspolitik<br />

unterschiedlicher politischer Systeme („Verfassungskultur“). Der andere Ansatz modelliert<br />

die Entscheidungsf<strong>in</strong>dung als Prozess und kann dadurch beispielsweise eher erklären, warum<br />

es trotz asymmetrischer Gew<strong>in</strong>n- und Verluststrukturen zur Kooperation kommt, warum und<br />

<strong>in</strong>wiefern Akteure ihre Kooperationsbereitschaft trotz sche<strong>in</strong>barer E<strong>in</strong>igung wieder<br />

e<strong>in</strong>schränken und <strong>in</strong>wiefern die Kooperationsneigung rational fundiert ist. Beide Ansätze<br />

lassen sich vermutlich auch für die Analyse des spezifischen Typs weiter reichender<br />

Änderungen, d.h. Verfassungsreformen, nutzen.<br />

Daniel F<strong>in</strong>ke / Thomas König, Universität Mannheim<br />

Quo vadis Europa - oder wie stabil s<strong>in</strong>d staatliche Reformpositionen?<br />

In den letzten Jahren haben die Mitgliedstaaten der EU mehrere Versuche unternommen, das<br />

allgeme<strong>in</strong> als obsolet e<strong>in</strong>gestufte Institutionengefüge der EU zu reformieren. Maßgeblicher<br />

Anlass zu diesen Reformversuchen gab vor allem die Osterweiterung um 12 Staaten, aber<br />

auch die abnehmende öffentliche Unterstützung der Europäischen Integration und die<br />

anhaltende Diskussion über das Demokratiedefizit europäischer Entscheidungen.<br />

Konkretisiert wurden diese Reformbestrebungen mit Änderungswünschen über die<br />

Abstimmungsregeln im Rat, die Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens sowie die<br />

Neuorganisation der Kommission und teilweise des Europäischen Parlaments. Die Bühne für<br />

diese Verhandlungen waren stets Regierungskonferenzen, auf denen e<strong>in</strong> Konsens aller<br />

Regierungsvertreter notwendig war, um anschließend das Reformvorhaben <strong>in</strong> den<br />

Mitgliedstaaten zu ratifizieren (Moravcsik 1998, König and Hug 2006, Slap<strong>in</strong> 2008).<br />

In der Literatur werden Erfolg und Scheitern dieser Reformbemühungen mit den<br />

Positionen der Regierungsvertreter und den Ratifikationsakteuren <strong>in</strong> den Mitgliedstaaten<br />

erklärt. In Anlehnung an Schell<strong>in</strong>g (1960) und Putnam (1988) zeigen empirische Analysen<br />

dieser Regierungskonferenzen, dass „schwache“ Staaten, die hohe nationale<br />

Ratifikationshürden besitzen, bisweilen besser ihre Reformpositionen durchsetzen können.<br />

Weiterh<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d diejenigen Staaten oftmals im Vorteil, deren Positionen nahe am Erhalt des<br />

Status quo liegen. Vor allem bei den jüngsten Verfassungsverhandlungen wurde offenbar,<br />

dass auch die Organisation des Verhandlungsablaufs, <strong>in</strong>sbesondere die doppelte<br />

Agendasetzungsfunktion des Konventspräsidiums, nicht nur entscheidenden E<strong>in</strong>fluss auf das<br />

Verhandlungsergebnis, sondern auch auf das Scheitern der Ratifikationsprozesse hatte.<br />

Demgegenüber spielt die Größe e<strong>in</strong>es Staates oder die Länge se<strong>in</strong>er Mitgliedschaft ke<strong>in</strong>e<br />

besondere Rolle bei diesen Reformverhandlungen. Inhaltlich werden diese Verhandlungen<br />

durch mehrere Reformdimensionen charakterisiert, die sich zu e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>stitutionellen und e<strong>in</strong>er<br />

funktionalen Dimension zusammenfassen lassen. Trotz dieser teilweise sehr detaillierten<br />

empirischen E<strong>in</strong>sichten <strong>in</strong> die Verhandlungsergebnisse e<strong>in</strong>zelner Regierungskonferenzen ist<br />

bislang wenig darüber bekannt, ob und warum Regierungsvertreter ihre Reformpositionen<br />

beibehalten oder über die Zeit h<strong>in</strong>weg ändern (Asp<strong>in</strong>wall 2007). Dabei machen Ereignisse wie<br />

bspw. der Madrider Terroranschlag und der darauf folgende spanische Regierungswechsel<br />

deutlich, wie wichtig solche Positionswechsel für e<strong>in</strong> Reformvorhaben s<strong>in</strong>d. Offensichtlich<br />

7


setzte sich auch der französische Präsident Chirac zuletzt für e<strong>in</strong>e Reform der Mehrheitsregel<br />

im M<strong>in</strong>isterrat e<strong>in</strong>, deren Erhalt von ihm bei der Regierungskonferenz zuvor mit aller Macht<br />

verteidigt wurde.<br />

Trotz der Relevanz solcher Positionswechsel für Erfolg und Scheitern von<br />

Reformvorhaben ist wenig darüber bekannt, <strong>in</strong> welchem Ausmaß und warum diese<br />

stattf<strong>in</strong>den. Um diese Forschungslücke über Wandel und Stabilität mitgliedstaatlicher<br />

Reformpositionen zu schließen, soll <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Schritt bestimmt werden, welche Positionen die<br />

Regierungsvertreter <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em geme<strong>in</strong>samen Reformraum über die Zeit h<strong>in</strong>weg e<strong>in</strong>genommen<br />

haben. Dieses anspruchsvolle methodische Vorhaben, das die <strong>in</strong>haltliche Verknüpfung<br />

mehrerer Verhandlungsräume von e<strong>in</strong>zelnen Regierungskonferenzen erfordert, soll<br />

ermöglichen, das Ausmaß an Wandel zu erfassen und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em zweiten Schritt zu fragen,<br />

welche Gründe hierfür verantwortlich s<strong>in</strong>d. Bei den Ursachen für Wandel lassen sich <strong>in</strong> erster<br />

Annäherung EU-bezogene und nationale Faktoren unterscheiden, die e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluss auf die<br />

Positionen der Mitgliedstaaten ausüben können. Mit Blick auf die EU-Ebene wird erwartet,<br />

dass Mitgliedstaaten ihre Reformpositionen <strong>in</strong> Reaktion auf ihre Erfahrungen mit EU-<br />

Politiken anpassen. Es. soll untersucht werden, ob ihr „Erfolg“ bei der Transposition und<br />

Implementation bzw. der Erfolg der anderen Mitgliedstaaten e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluss ausübt. Macht<br />

bspw. e<strong>in</strong> Mitgliedstaat negative Erfahrungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Bereich, dann dürfte sich se<strong>in</strong>e<br />

gegebenenfalls positive E<strong>in</strong>stellung ändern und vice versa.<br />

Bei der nationalen Ebene bietet sich an, die öffentliche Me<strong>in</strong>ung, Wahlen sowie<br />

Veränderungen <strong>in</strong> der Regierungszusammentsetzung und sozioökonomische Veränderungen<br />

für Positionswandel <strong>in</strong> Betracht zu ziehen. Dabei soll auch die Interaktion zwischen der<br />

<strong>in</strong>stitutionellen und der funktionalen Reformdimension berücksichtigt werden.<br />

Das Erfassen von Positionswandel <strong>in</strong> diesem zweidimensionalen Reformraum ist<br />

methodisch ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>faches Unterfangen, da sich im Zeitverlauf die Reformagenda, die Gruppe<br />

der relevanten Akteure und die Konfliktmuster verändern können. Um diese Probleme zu<br />

bewältigen, werden umfassende Daten über mitgliedstaatliche Positionen zu spezifischen<br />

<strong>in</strong>stitutionellen und substantiellen Reformthemen verwendet. Diese sollen helfen, die<br />

Fragestellung auf unterschiedlichen Modell- bzw. Abstraktionsebenen zu beantworten. So ist<br />

es mittels statistischer Modellierung möglich, spezifische <strong>in</strong>stitutionelle Änderungen <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>zelnen Politikbereichen zu betrachten als auch die globalen Konfliktmuster zu<br />

identifizieren.<br />

References<br />

Asp<strong>in</strong>wall, Mark D. (2007) 'Government Preferences on European Integration: An Empirical<br />

Test on Five Theories.' British Journal of Political Science 37: 89-114.<br />

Hösli, Madele<strong>in</strong>e and Christ<strong>in</strong>e Arnold (2006) "Coalition-Formation, Cleavages and Vot<strong>in</strong>g<br />

Behavior <strong>in</strong> the Council of the European Union" unpublished paper.<br />

König, T. and Hug, S. (eds.) (2006) 'Preference Formation and European Constitutionbuild<strong>in</strong>g.<br />

A Comparative Study <strong>in</strong> Member States and Accession Countries.' Routledge,<br />

London.<br />

Moravscik, A. (1998) 'The Choice for Europe: Social Purpose and State Power from Mess<strong>in</strong>a<br />

toMaastricht.' Cornell University Press, Ithaca.<br />

Slap<strong>in</strong>, Jonathan B. (2008) “Barga<strong>in</strong><strong>in</strong>g Power at Europe’s Intergovernmental Conferences:<br />

Test<strong>in</strong>g Institutional and Intergovernmental Theories.” International Organization. 62(1).<br />

8


Arthur Benz, <strong>FernUniversität</strong> <strong>in</strong> <strong>Hagen</strong><br />

Misslungene Reform und erfolgreiches Scheitern. Verfassungspolitik <strong>in</strong> Deutschland<br />

und Kanada<br />

Zusammenfassung<br />

Die Verfassungsentwicklung und Verfassungspolitik <strong>in</strong> Kanada und Deutschland stellen <strong>in</strong><br />

vielerlei H<strong>in</strong>sicht Kontrastfälle dar, weshalb der Vergleich aufschlussreich ist. Unter den<br />

Bed<strong>in</strong>gungen des kanadischen Föderalismus s<strong>in</strong>d Verfassungsreformen extrem schwierig und<br />

Versuche e<strong>in</strong>er grundlegenden Reform scheiterten. Im deutschen Bundesstaat stellen<br />

Verfassungsprobleme als auch die Regeln der Verfassungsänderung vergleichsweise ger<strong>in</strong>ge<br />

Hürden für e<strong>in</strong>e Reform dar, die <strong>in</strong> der Tat 2006 erfolgte. Dennoch gelang es <strong>in</strong> Kanada, den<br />

Föderalismus zu stabilisieren, während <strong>in</strong> Deutschland die eigentlichen Probleme ungelöst<br />

geblieben s<strong>in</strong>d. Man könnte hieraus schließen, dass Verfassungsreformen <strong>in</strong> föderativen<br />

Systemen unbedeutend s<strong>in</strong>d. Dies trifft aber, wie an den beiden Fällen gezeigt wird, nicht zu.<br />

Vielmehr kann gezeigt werden, dass <strong>in</strong> beiden Ländern unterschiedliche Wege der<br />

Verfassungspolitik beschritten wurden. Im Vergleich werden die Bed<strong>in</strong>gungen und Folgen<br />

dieser Wege untersucht.<br />

J. Prof. Dr. Christoph Hönnige<br />

Impliziter Verfassungswandel im Mehrebenensystem durch die Änderung der<br />

höchstrichterlichen Verfassungs<strong>in</strong>tepretation.<br />

E<strong>in</strong> Vergleich der Verfassungsgerichte Deutschlands und Österreichs.<br />

Impliziter Verfassungswandel f<strong>in</strong>det unterhalb der für e<strong>in</strong>en expliziten Verfassungswandel<br />

vorgesehenen Kanäle statt. Zu diesen mehr oder weniger bedeutenden de facto Änderungen<br />

zählen die Auslegung von normalen Gesetzen, der Verzicht auf Praktizierung von<br />

Verfassungsnormen oder e<strong>in</strong> modifiziertes Verständnis dieser Normen. Die Auswirkungen<br />

können dabei genauso weit reichend se<strong>in</strong> wie die von explizitem Verfassungswandel. Die<br />

wirkungsmächtigste Variante impliziten Verfassungswandels ist die Interpretation der<br />

Verfassung durch die Verfassungsgerichte (Kneip 2006).<br />

Höchstrichterliche Rechtsprechung ist im Zeitverlauf allerd<strong>in</strong>gs nicht stabil.<br />

Verfassungsgerichte verändern ihre Position zu verschiedenen Themen sowohl <strong>in</strong><br />

staatsorganisatorischen wie auch <strong>in</strong> gesellschaftlichen Fragen, wie beispielsweise bei der<br />

Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern, Abtreibung, Wehrdienst und Religion <strong>in</strong><br />

der Schule. Dies kann auf verschiedene Weise geschehen. Zum e<strong>in</strong>en durch die vollständige<br />

oder teilweise Annullierung e<strong>in</strong>er Norm, also die vollständige oder teilweise<br />

Wiederherstellung des Status Quo, zum anderen durch die verfassungskonforme<br />

Interpretation e<strong>in</strong>es Gesetzes und ausführliche Reglegungen <strong>in</strong> der Begründung e<strong>in</strong>es Urteils.<br />

Ziel dieses Beitrages ist es die Gründe für den Wandel der Rechtsprechung zu untersuchen.<br />

Dabei rücken zwei Variablen <strong>in</strong> den Vordergrund: Zum ersten, <strong>in</strong>wieweit die Änderung durch<br />

e<strong>in</strong>en Wandel der öffentlichen Me<strong>in</strong>ung erklärt werden kann, zum zweiten durch e<strong>in</strong>e<br />

Veränderung der Zusammensetzung der Richterbank.<br />

9


Die öffentliche Me<strong>in</strong>ung spielt nach bisherigem <strong>in</strong>ternationalen (z.B. Gibson et al. 1998) und<br />

nationalem (Schaal 2000) Forschungsstand e<strong>in</strong>e erhebliche Rolle <strong>in</strong> der Erklärung des<br />

Verhaltens von Verfassungsrichtern. Verfassungsgerichte besitzen ke<strong>in</strong>e formalen<br />

Möglichkeiten, ihre Urteile durchzusetzen und s<strong>in</strong>d deshalb auf die Unterstützung der<br />

öffentliche Me<strong>in</strong>ung angewiesen (vgl. Vanberg 2005). Die Hypothese ist also, dass e<strong>in</strong>e<br />

Anpassung der Rechtsprechung dann erfolgt, wenn sich die Me<strong>in</strong>ung der Bevölkerung zu<br />

e<strong>in</strong>em bestimmten Thema e<strong>in</strong>em Wandel unterzieht.<br />

Die Zusammensetzung der Richterbank sowie die politischen E<strong>in</strong>stellungen der Richter ist <strong>in</strong><br />

der Literatur zum US Supreme Court ist e<strong>in</strong>e der zentralen erklärenden Variablen für<br />

Entscheidungen des Gerichtes sowie das Verhalten von e<strong>in</strong>zelnen Verfassungsrichtern (vgl.<br />

Segal/Spaeth 2002 etc.), während für europäische Gerichte diese Variable bisher<br />

vernachlässigt wurde und erst seit neuestem <strong>in</strong> den Vordergrund rückt (Hönnige 2007). Die<br />

Hypothese ist, dass bei Wechsel der politischen Zusammensetzung des Gerichtes auch e<strong>in</strong><br />

Wechsel der Verfassungs<strong>in</strong>terpretation erfolgt (vgl. Baum 1992), weil die Richter bei der<br />

Rechtsprechung ihren politischen Präferenzen folgen.<br />

Empirisch unterlegt wird der theoretische Teil dieses Beitrages durch e<strong>in</strong>e quantitative<br />

Übersicht über die Positionsveränderungen des Bundesverfassungsgerichtes sowie des<br />

österreichischen Verfassungsgerichtshofes zu wesentlichen Fragestellungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Most<br />

Similar Systems Design (Przeworksi/Teune 1970). Auf e<strong>in</strong>e Untersuchung des<br />

schweizerischen Bundesgerichtes wird verzichtet, da dieses nicht die Möglichkeit hat,<br />

Normen auf Bundesebene zu annullieren.<br />

Literatur:<br />

Baum, Lawrence (1992): Membership Change and Collective Vot<strong>in</strong>g Change <strong>in</strong> the United-<br />

States-Supreme-Court. In: Journal of Politics 54 (1). 3-24.<br />

Gibson, James L., Gregory A. Caldeira und Vanessa A. Baird (1998): On the Legitimacy of<br />

National High Courts. In: American Political Science Review 92 (2). 343-358.<br />

Hönnige, Christoph (2006): Die Entscheidungen von Verfassungsgerichten – e<strong>in</strong> Spiegel ihrer<br />

Zusammensetzung?, <strong>in</strong>: Bräun<strong>in</strong>ger, Th./<strong>Behnke</strong>, J. (Hg.): Jahrbuch für Handlungs- und<br />

Entscheidungstheorie Bd. 4, 179-214.<br />

Kneip, Sascha (2006): Demokratieimmanente Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, <strong>in</strong>:<br />

Becker, M./Zimmerl<strong>in</strong>g, R. (Hg.): Politik und Recht. PVS-Sonderheft 36/2006.<br />

Wiesbaden, 259-281.<br />

Przeworski, Adam und Henry Teune (1970): The Logic of Comparative Social Inquiry.<br />

Malabar: R.E. Krieger Pub. Co.<br />

Segal, Jeffrey A. und Harold J. Spaeth (2002): The Supreme Court and the Attitud<strong>in</strong>al Model<br />

Revisited. Cambridge: Cambridge University Press.<br />

Schaal, Gary S. (2000): Vertrauen <strong>in</strong> das Bundesverfassungsgericht und die Akzeptanz se<strong>in</strong>er<br />

Entscheidungen als Indikatoren der Geltung und Akzeptanz konstitutioneller<br />

Ordnungsvorstellungen. In: Zeitschrift für Rechtssoziologie 21 (2). 419-446.<br />

Vanberg, Georg (2005): The Politics of Constitutional Review <strong>in</strong> Germany. Cambridge, UK:<br />

Cambridge University Press.<br />

10


Sab<strong>in</strong>e Kropp, Universität Düsseldorf<br />

Umverteilung föderaler Machtressourcen als Konstante?<br />

Verfassungsdynamik im föderalen System Russlands<br />

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat sich der Typus des föderalen Systems <strong>in</strong><br />

Russland zwei Mal umfassend gewandelt: von e<strong>in</strong>em formal (ethno-)föderalen, tatsächlich<br />

aber stark zentralisierten und asymmetrischen Typus zum Ende der Sowjetunion zu e<strong>in</strong>em<br />

dezentralisierten, stark asymmetrischen Vertragsföderalismus ohne e<strong>in</strong>deutige<br />

Rechtssystematik <strong>in</strong> der Regierungszeit Jelz<strong>in</strong>s, <strong>in</strong> dem die „Föderationssubjekte“ ihre<br />

Ressourcen zu Lasten e<strong>in</strong>er Schwächung der Zentralmacht e<strong>in</strong>zusetzen wussten. Ab 2000,<br />

dem Amtsantritt Vladimir Put<strong>in</strong>s, s<strong>in</strong>d wiederum schrittweise Maßnahmen ergriffen worden,<br />

die auf e<strong>in</strong>e Rezentralisierung politischer Macht zugunsten des Zentrums zielen und den Grad<br />

der Asymmetrie abflachen sollen. Präsident und Duma, <strong>in</strong> der die Partei „E<strong>in</strong>iges Russland“<br />

nun erneut e<strong>in</strong>e Zweidrittelmehrheit erzielen konnte, griffen hierfür jedoch nicht auf<br />

Verfassungsreformen zurück. Vielmehr ist das föderale System wesentlich durch e<strong>in</strong>fache<br />

Gesetze, z.B. durch e<strong>in</strong>e Neufassung des Parteiengesetzes und der Wahlgesetzgebung oder<br />

durch den Wahlmodus der Gouverneure, aber auch durch Dekrete des Präsidenten zum<br />

adm<strong>in</strong>istrativen Aufbau Russlands, systematisch neu konfiguriert worden. Nach den Duma-<br />

und Präsidentschaftswahlen von 2007/8 ist es wiederum nicht ausgeschlossen, dass der<br />

Zugriff auf föderale Institutionen <strong>in</strong>nerhalb der doppelköpfigen Exekutive neu geregelt wird.<br />

Das föderale System Russlands ist somit e<strong>in</strong> Beispiel für e<strong>in</strong>e hohe Verfassungsdynamik <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em (semi-)autoritären System, <strong>in</strong> dem ke<strong>in</strong>e expliziten Verfassungsreformen<br />

vorgenommen werden müssen, um Machtressourcen zwischen Gliedstaaten und Zentralstaat<br />

umzuverteilen. Kompetenz- und Machtverschiebungen zwischen den Ebenen waren bislang<br />

vielmehr während des gesamten Untersuchungszeitraums seit 1990 von situationsbezogenen<br />

Tauschgeschäften, durch selektive Anreize seitens des Zentrums und, auf der Seite der<br />

regionalen Ebene, durch die mangelnde Fähigkeit zu kollektivem Handeln geprägt. Elemente<br />

der Gewaltenhemmung wurden dadurch beschädigt bzw. sie haben sich erst gar nicht<br />

ausbilden können. Sie wurden – noch bevor sich e<strong>in</strong>e Regelb<strong>in</strong>dung der Akteure im Zuge des<br />

Transformationsprozesses entwickeln konnte – <strong>in</strong> e<strong>in</strong> System der <strong>in</strong>formalen Machtteilung<br />

zwischen den Eliten überführt.<br />

Prägend für die Entwicklung des föderalen Systems s<strong>in</strong>d Mechanismen des politischen<br />

Tauschs, Klientelismus und Patronage. Angesichts der Instabilität von formalen Institutionen,<br />

angesichts von Tauschgeschäften, die allen ressourcenstarken Akteuren kurzfristige Gew<strong>in</strong>ne<br />

versprechen, und vor dem H<strong>in</strong>tergrund des offenkundigen Fehlens dessen, was <strong>in</strong> der<br />

Rechtstheorie als „<strong>in</strong>terner Standpunkt“ gegenüber Rechtsnormen bezeichnet wird, greifen<br />

Akteure <strong>in</strong> Russland auf <strong>in</strong>formelle Strukturen als Handlungsressourcen zurück. E<strong>in</strong> nicht<br />

unbeträchtlicher Teil der politischen Akteure profitiert somit davon, dass formale<br />

Institutionen schwach bleiben und durch <strong>in</strong>formelle Strukturen überlagert werden. Die<br />

Instabilität von Institutionen und Möglichkeiten zum planvollen „eng<strong>in</strong>eer<strong>in</strong>g“ werden zudem<br />

dadurch gefördert, dass föderale Institutionen kaum durch gesellschaftliche Organisationen<br />

untersetzt oder <strong>in</strong> diese „e<strong>in</strong>gebettet“ s<strong>in</strong>d.<br />

Das Fallbeispiel Russland gibt somit e<strong>in</strong>erseits Anlass zu überprüfen, <strong>in</strong>wiefern<br />

Pfadabhängigkeiten <strong>in</strong> der Entwicklung föderaler Systeme nicht ebenfalls und wesentlich<br />

durch <strong>in</strong>formale Institutionen hergestellt werden. Es verdeutlicht ebenfalls die Grenzen von<br />

Dezentralisierung und Rezentralisierung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em System, <strong>in</strong> dem die dafür jeweils<br />

e<strong>in</strong>gesetzten Maßnahmen auf labilen Tauschgeschäften zwischen Akteuren der bundes- und<br />

gliedstaatlichen Ebene beruhen.<br />

11


Bett<strong>in</strong>a Helbig, <strong>FernUniversität</strong> <strong>in</strong> <strong>Hagen</strong><br />

Dynamiken des belgischen Verfassungswandels <strong>in</strong> historischer Rekonstruktion<br />

Verfassungsreformprozesse und anhaltende Konflikte über die Dezentralisierung weiterer<br />

Kompetenzen prägen die politische Debatte <strong>in</strong> Belgien. Die erste Verfassungsrevision von<br />

1970 kann als kritische Weggabelung <strong>in</strong> diesem Prozess betrachtet werden. Weitreichende<br />

Kontextveränderungen <strong>in</strong> ökonomischer und gesellschaftlicher H<strong>in</strong>sicht im Vorfeld und e<strong>in</strong><br />

erhöhter Problemdruck <strong>in</strong> den Beziehungen zwischen Flamen und Wallonen eröffneten e<strong>in</strong><br />

„w<strong>in</strong>dow of opportunity“ für expliziten Verfassungswandel. Mit der Schaffung von<br />

Geme<strong>in</strong>schaften und der Aussicht zur Errichtung von Regionen als substaatliche E<strong>in</strong>heiten<br />

wurde mit der Reform der wichtige Schritt auf dem Weg der Föderalisierung des<br />

E<strong>in</strong>heitsstaates beschritten. Die Notwendigkeit zu weiteren Reformen war jedoch bereits im<br />

Ergebnis der ersten Reform angelegt, Nicht-E<strong>in</strong>igung und Vertagung e<strong>in</strong>zelner Gegenstände<br />

begründen auch <strong>in</strong> nachfolgenden Reformen zu e<strong>in</strong>em Teil die anhaltende Diskussion. Für die<br />

Dynamik und die Richtung des Wandels s<strong>in</strong>d sie als Erklärungsfaktoren jedoch nicht<br />

ausreichend. Abseits der kritischen Weggabelung zeichnet sich die Verfassungsentwicklung<br />

Belgiens durch verschiedene Prozesse impliziten Wandels aus, die sowohl explizite Reformen<br />

maßgeblich bee<strong>in</strong>flussen, als auch Ursache von Dynamiken des gesamten Reformprozesses<br />

s<strong>in</strong>d. Die Errichtung der Kulturgeme<strong>in</strong>schaften 1970 (ab 1980 Geme<strong>in</strong>schaften) konnte auf<br />

der Schaffung der Sprachgebiete von 1932 und der Festlegung der Sprachgrenze 1962<br />

aufbauen. Das Territorialitätspr<strong>in</strong>zip bei der Sprachverwendung wurde demnach durch<br />

Veränderungen unterhalb der Verfassungsebene bereits angelegt.<br />

Folgende Fragen stehen daher im Mittelpunkt des Papiers: Welche Faktoren treiben die<br />

fortlaufenden Verfassungsdiskussionen <strong>in</strong> Belgien an? Welche Zusammenhänge bestehen<br />

zwischen implizitem und explizitem Verfassungswandel und welche Dynamiken löst die<br />

Interaktion zwischen beiden Formen aus?<br />

Verfassungswandel wird hier als Institutionenwandel im Rahmen von historischen Ansätzen<br />

untersucht. Dabei wird e<strong>in</strong> Verständnis von Pfadabhängigkeit zugrunde gelegt, welches die<br />

Existenz von positiven Feedbackeffekten als Mechanismus der Reproduktion e<strong>in</strong>er Institution<br />

anerkennt, gleichzeitig diese erweitert um Prozesse, die auf e<strong>in</strong>er Institution aufbauen oder<br />

ihre weitere Entwicklung bee<strong>in</strong>flussen, ohne mit der Entstehung der Institution verbunden<br />

gewesen zu se<strong>in</strong>. Diese Bee<strong>in</strong>flussung vollzieht sich nicht nur <strong>in</strong> Form von Verstärkung,<br />

sondern kann auch Transformationen oder kle<strong>in</strong>e Veränderungen unterhalb der Institution<br />

be<strong>in</strong>halten, die eventuell zu e<strong>in</strong>em späteren Zeitpunkt im Wandel der Institution zum Tragen<br />

kommen. Übersetzt auf die Institution der Verfassung bedeutet dies, dass zur Erklärung von<br />

Verfassungswandel durch große Reformen an kritischen Weggabelungen die Interaktion mit<br />

Prozessen unterhalb der Verfassung berücksichtigt werden muss. Verschiedene Prozesse<br />

können dabei unterschiedliche Arten von Entwicklung aufweisen: positive Feedbackeffekte,<br />

Anpassung an neue Funktionen, Stabilität trotz umfassender expliziter Reformen oder auch<br />

Bee<strong>in</strong>flussung der Richtung e<strong>in</strong>er expliziten Reform. Dieses Zusammenspiel von implizitem<br />

Wandel mit expliziten Verfassungsreformen soll <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Dynamik mit Hilfe e<strong>in</strong>er<br />

historischen Rekonstruktion und e<strong>in</strong>em weiter gefassten Konzept von Pfadabhängigkeit<br />

untersucht werden.


Jan Biesenbender, Universität Konstanz<br />

Die Messung von Verfassungswandel am Beispiel der EU<br />

Seit den Römischen Verträgen von 1957 lässt sich e<strong>in</strong>e stetige Veränderung der europäischen<br />

Geme<strong>in</strong>schaftsverträge beobachten. Bisher gab es mit dem Fusionsvertrag (1965), der<br />

E<strong>in</strong>heitlichen Europäischen Akte (1986) sowie den Verträgen von Maastricht (1992),<br />

Amsterdam (1997), Nizza (2001) und dem Verfassungsprojekt mit se<strong>in</strong>em vorläufigen<br />

Endpunkt durch den Vertrag von Lissabon (2007) fünf erfolgreiche und e<strong>in</strong> bisher nicht<br />

abgeschlossenes Verfahren der Vertragsrevision.<br />

Die Geme<strong>in</strong>schaftsverträge, ähnlich den Verfassungen von Föderalstaaten, haben<br />

<strong>in</strong>sbesondere die Funktion, die Allokation von Macht zu regeln. Dabei beschreibt die<br />

horizontale Machtverteilung das Verhältnis der supranationalen Institutionen Rat, Parlament<br />

und Kommission zue<strong>in</strong>ander sowie das Verhältnis zwischen den im Rat repräsentierten<br />

Mitgliedstaaten. Die vertikale Machtverteilung dagegen beschreibt die Kompetenzverteilung<br />

zwischen den Mitgliedstaaten und der europäischen Ebene.<br />

Offensichtlich unterscheiden sich die oben genannten sechs Fälle des Verfassungswandels<br />

deutlich im H<strong>in</strong>blick auf den Grad der Veränderung der Machtverteilung. Zur Erklärung ist<br />

<strong>in</strong>sbesondere an die Entscheidungsregeln für Vertragsänderungen und die Anzahl an Veto-<br />

Spielern bzw. die Varianz der Idealpunkte von Veto-Spielern sowie das<br />

Verhandlungsverfahren (IGC vs. Konvent) zu denken. Bevor jedoch jene unabhängigen<br />

Variablen identifiziert werden können, muss zunächst der Grad der Veränderung gemessen<br />

werden, so dass die genannten Fälle historisch vergleichbar werden. Hierzu wird<br />

folgendermaßen vorgegangen:<br />

In der horizontalen Dimension soll e<strong>in</strong>e Machtverschiebung immer dann gegeben se<strong>in</strong>, wenn<br />

neu e<strong>in</strong>geführte bzw. veränderte Entscheidungsverfahren zur Anwendung kommen sowie<br />

zweitens veränderte Mehrheitsregeln im M<strong>in</strong>isterrat gelten. Empirisch sehen wir bei den<br />

Entscheidungsverfahren e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong>e Stärkung supranationaler Akteure, <strong>in</strong>sbesondere des<br />

Europäischen Parlaments, sowie im Rat e<strong>in</strong>e Entwicklung weg von der E<strong>in</strong>stimmigkeit h<strong>in</strong> zu<br />

qualifizierten Mehrheiten. Für die vertikale Machtverteilung wird die E<strong>in</strong>führung neuer<br />

Politiken auf der EU-Ebene sowie der Grad der Integration dieser Politiken bestimmt. Um die<br />

Veränderungen zu quantifizieren werden dann die <strong>in</strong> den jeweiligen Verträgen<br />

festgeschriebenen Entscheidungsverfahren, Ratsmehrheiten und der Grad der vertikalen<br />

Machtverteilung auf Ord<strong>in</strong>alskalen angeordnet. So lässt sich schließlich jedem Vertrag e<strong>in</strong>e<br />

Anzahl von Punkten zuordnen, deren Summe e<strong>in</strong>en Vergleich ermöglicht.<br />

Im Rahmen des Workshops soll der zu Grunde liegende Datensatz zu den<br />

Verfassungsreformen vorgestellt werden sowie erste Messergebnisse zur Veränderung der<br />

Machtverteilung <strong>in</strong> der EU präsentiert werden. Überdies sollen methodische Fragen der<br />

Operationalisierung diskutiert werden.<br />

12


Kolja Raube<br />

Die Reform von Außenpolitik <strong>in</strong> der Europäischen Union<br />

Verfassungsreformen <strong>in</strong> föderalen politischen Systemen werden zumeist mit der Reform der<br />

horizontalen und vertikalen Macht- und Ressourcenverteilung <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung gebracht.<br />

Interessanterweise unterliegt die Kompetenz- und Entscheidungsebene von Außenpolitik nur<br />

selten dem „expliziten“ Verfassungswandel.<br />

Die Europäische Union ist längst als „emerg<strong>in</strong>g federal system“, nicht nur von<br />

Politikwissenschaftlern, sondern auch Rechtswissenschaftlern anerkannt worden (Weiler<br />

1991; Risse/Börzel 2000). Die Begrifflichkeit des Föderalismus <strong>in</strong> der Außenpolitik deutet<br />

wie im Kontext anderer Politiken auf die Notwendigkeit h<strong>in</strong>, Außenpolitik entlang<br />

geme<strong>in</strong>samer und geteilter Zuständigkeiten zu denken (Ehrenzeller/Hrbek/Ma<strong>in</strong>verni/Thürer<br />

2002). Dies gilt auch für die EU (Raube 2007). Dabei zeigt sich, dass wir <strong>in</strong>nerhalb der EU<br />

unterschiedliche Grade an „Föderalisierung“ beobachten können – je nachdem, welchen<br />

Bereich von Außenpolitik wir beobachten. Kompetenzen der Geme<strong>in</strong>schaftsebene s<strong>in</strong>d<br />

ausgeprägter im Bereich der Handelspolitik als beispielsweise im Bereich der Geme<strong>in</strong>samen<br />

Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben je<br />

nach Regelungsmaterien unterschiedlich umfangreich Kompetenzen an die EU abgegeben.<br />

Anders als <strong>in</strong> Nationalstaaten, <strong>in</strong> denen Außenpolitik häufig die Kompetenz der<br />

bundesstaatlichen Ebene bed<strong>in</strong>gt (Wheare 1963; Rokkan 2000), verbleibt <strong>in</strong> der Europäischen<br />

Union e<strong>in</strong> großer Teil außenpolitischer Kompetenzen auf der Subebene der Mitgliedstaaten<br />

(Raube 2007).<br />

Der hier vorgestellte Beitrag untersucht, wie sich Verfassungswandel <strong>in</strong> der Außenpolitik der<br />

EU vollzieht. Es wird zum e<strong>in</strong>en der „explizite“ Wandel durch Vertragsreform und<br />

<strong>in</strong>sbesondere den vorliegenden Vertrag von Lissabon untersucht. E<strong>in</strong> besonderer Fokus liegt<br />

hierbei auf der Frage, ob die Vertragsreform e<strong>in</strong>en Erfolg im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er effektiveren,<br />

effizienteren und kohärenteren Politik durch der <strong>in</strong>stitutionellen Veränderungen<br />

organisatorischer und kompetenzrechtlicher Natur darstellen. Zum anderen wird der<br />

„implizite“ Verfassungswandel durch die Rechtsprechung des EuGH untersucht, der<br />

zunehmend die Kompetenzbereiche nicht nur der Geme<strong>in</strong>schaften und der Mitgliedstaaten,<br />

sondern <strong>in</strong>sbesondere zwischen Kommission und Rat, also Geme<strong>in</strong>schaftshandeln und GASP,<br />

entlang des bisherigen Art. 47 EUV abgrenzt (Cremona 2008). Die zentrale Frage des<br />

vorliegenden Beitrages ist, ob der Verfassungswandel der Organisations- und<br />

Entscheidungsstrukturen <strong>in</strong> der Außenpolitik der EU, bspw. durch die E<strong>in</strong>richtung e<strong>in</strong>es<br />

„neuen“ Hohen Repräsentanten und e<strong>in</strong>es Außenpolitisches Dienstes, die formale Trennung<br />

von Geme<strong>in</strong>schafs- und GASP-Aufgaben ergänzen könnte und e<strong>in</strong>e „Föderalisierung“ im<br />

S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Brüsselisierung <strong>in</strong> jenen Bereichen der Außenpolitik der EU herbeiführen könnte,<br />

die bislang der GASP zugeordnet werden (Vgl. Diedrichs/Wessels 2002).<br />

Literatur<br />

Cremona, Marise (2008): Coherence through Law: What difference will the Treaty of Lisbon<br />

make? In: Hamburg Review of Social Sciences, Special Issue on Coherence <strong>in</strong> EU<br />

Foreign Policy, Vol. 4, No. 1.<br />

Diedrichs, Udo; Wessels, Wolfgang (2002): Federal Structures and Foreign Policy of<br />

International and Supranational Organisations –The Case of the Common Foreign and<br />

Security Policy: The European Union as a Model for a New Federal Actor, <strong>in</strong>:<br />

13


Bl<strong>in</strong>denbacher, Raoul; Arnold Koller (Eds.): Federalism <strong>in</strong> a chang<strong>in</strong>g world – learn<strong>in</strong>g<br />

from each other. McGill-Queen`s University Press, 131-148.<br />

Ehrenzeller, Bernhard; Hrbek, Rudolf; Ma<strong>in</strong>verni, Giorgio; Thürer, Daniel (2002): Federalism<br />

and Foreign Relations, <strong>in</strong>: Bl<strong>in</strong>denbacher, Raoul; Arnold Koller (Eds.): Federalism <strong>in</strong> a<br />

chang<strong>in</strong>g world – learn<strong>in</strong>g from each other. McGill-Queen`s University Press, 53-73.<br />

Raube, Kolja (2007): Die Verfassungsaußenpolitik der Europäischen Union – Die<br />

Geme<strong>in</strong>same Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Konvent zur Zukunft<br />

Europas. Nomos.<br />

Risse, Thomas; Börzel, Tanja (2000): Who`s afraid of a European Federation? How to<br />

Constitutionalise a Multi-Level Governance, <strong>in</strong>: Joerges, Christian; Yves Mény; Joseph<br />

H.H. Weiler (Eds.): What k<strong>in</strong>d of Constitution for what k<strong>in</strong>d of polity? San Domenico,<br />

2000, 45-69.<br />

Rokkan, Ste<strong>in</strong> (2000): Staat, Nation und Demokratie <strong>in</strong> Europa – Die teorie Ste<strong>in</strong> Rokkans<br />

aus se<strong>in</strong>en gesammelten Werken (rekonstruiert und e<strong>in</strong>geleitet von Peter Flora).<br />

Suhrkamp: Frankfurt a.M.<br />

Wheare, K. C. (1963): Federal Government. Oxford University Press.<br />

Weiler, Joseph H.H. (1991): The Tranformation of Europe, <strong>in</strong>: Yale Law Journal, 2403 ff.<br />

Prof. Dr. Roland Lhotta (Hamburg)<br />

„Ideational gaps“ und das Scheitern von Verfassungsreformen <strong>in</strong> Mehrebenensystemen<br />

I.<br />

Die Diagnose des Scheiterns von Verfassungsreformen gehört zum Inventar des deutschen<br />

Bundesstaates seit 1949. Dieser E<strong>in</strong>druck überwiegt auch h<strong>in</strong>sichtlich der jüngsten Reform im<br />

Anschluss an die Arbeit der zunächst gescheiterten KOMBO. Neben den bereits bekannten<br />

Gründen wie z. B. <strong>in</strong>stitutionelles Eigen<strong>in</strong>teresse der <strong>in</strong>volvierten Akteure, Reproduktion des<br />

Systems der Politikverflechtung <strong>in</strong> den Reformgremien, Konsenszwang und E<strong>in</strong>igung auf<br />

dem kle<strong>in</strong>sten geme<strong>in</strong>samen Nenner, Pfadabhängigkeit und „locked-<strong>in</strong> choices“, unitarische<br />

Grundstruktur des deutschen Bundesstaates usw. wurde im Nachgang zur Föderalismusreform<br />

I geltend gemacht, dass deren ger<strong>in</strong>ger Ertrag mit dem Fehlen e<strong>in</strong>er konsistenten und von den<br />

meisten Akteuren geteilten Leitidee erklärbar sei, weswegen das Resultat der<br />

Reformbemühungen letztlich e<strong>in</strong>em „orientierungslosen Aushandeln“ geschuldet war (Benz<br />

2007: 28). Andere Autoren wiederum machen e<strong>in</strong> bei den (Reform-) Akteuren tief verankertes<br />

„mentales Grundkonzept“ zum deutschen Bundesstaat aus, das den Zentralstaat als<br />

unantastbare Größe nehme, weswegen Reformen – wenn überhaupt – nur unter der<br />

Voraussetzung realisierbar seien, dass es bei dieser Unantastbarkeit bleibt (L<strong>in</strong>der 2007: 14).<br />

Unabhängig davon, welche der beiden Varianten man als erklärungskräftig ansieht, ist<br />

bemerkenswert, dass sie – ohne dies weiter zu vertiefen – e<strong>in</strong>e Variable <strong>in</strong>s Spiel br<strong>in</strong>gen, die<br />

im historischen Institutionalismus, noch mehr aber <strong>in</strong> Beiträgen des „constructivist<br />

<strong>in</strong>stitutionalism“ (Hay 2006; Blyth 2002) sowie des „<strong>in</strong>terpretivist <strong>in</strong>stitutionalism“ (Smith<br />

1988; Clayton/Gillman 1999; Gillman/Clayton 1999) e<strong>in</strong>e wichtige Rolle spielt: Ideen<br />

(Rueschemeyer 2006; Hochschild 2006). Diese teilweise unterkonzeptionalisierte Variable<br />

soll im Mittelpunkt des hier vorgeschlagenen Beitrags stehen, mit dem Ziel, e<strong>in</strong>e<br />

14


systematische, theoretisch ambitionierte Erklärung für erfolgreiche und nicht erfolgreiche<br />

Verfassungsreformen, lies: <strong>in</strong>stitutionellen Wandel zu entwickeln.<br />

II.<br />

Ideen werden im Neo-Institutionalismus nicht nur als zentrale Elemente der S<strong>in</strong>nstiftung und<br />

der Handlungsanleitung (March/Olsen 1989), sondern auch als Auslöser von<br />

<strong>in</strong>stitutionellem Wandel betrachtet – „as part of an overall sequence of <strong>in</strong>stitutional change,<br />

ideas reduce uncerta<strong>in</strong>ty, act as coalition-build<strong>in</strong>g resources, empower agents to contest<br />

exist<strong>in</strong>g <strong>in</strong>stitutions, act as resources <strong>in</strong> the construction of new <strong>in</strong>stitutions, and f<strong>in</strong>ally<br />

coord<strong>in</strong>ate agents‘ expectations, thereby reproduc<strong>in</strong>g <strong>in</strong>stitutional stability.“ (Blyth 2002: 15)<br />

Die für <strong>in</strong>stitutionellen Wandel und damit auch Verfassungsreformen zuständigen politischen<br />

Akteure „appropriate strategically a world replete with <strong>in</strong>stitutions and ideas about<br />

<strong>in</strong>stitutions. Their perceptions about what is feasible, legitimate, and possible, and desirable<br />

are shaped both by by <strong>in</strong>stitutional environment <strong>in</strong> which they f<strong>in</strong>d themselves and by exist<strong>in</strong>g<br />

policy paradigms and world views.“ (Hay 2006: 65) Dabei ist es e<strong>in</strong> entscheidender Aspekt,<br />

wann die für Institutionen eigentlich stabilisierend, weil s<strong>in</strong>nstiftend wirkende Eigenschaft<br />

von Ideen umschlägt <strong>in</strong> „paradigmatic shifts as herald<strong>in</strong>g significant <strong>in</strong>stitutional change“<br />

(Hay 2006: 65).<br />

Nach allen bisher vorliegenden Studien zum Hergang und Resultat der Föderalismusreform I<br />

ist e<strong>in</strong> solcher „ideational change“ <strong>in</strong>dessen ausgeblieben bzw. konnte von der Idee des<br />

Wettbewerbsföderalismus (Schatz/van Ooyen/Wertes 2000) nicht ausgelöst werden. Der<br />

Beitrag wird ausgehend vom deutschen Bundesstaat e<strong>in</strong>en Vorschlag entwickeln, wie Ideen<br />

als „Trigger“ von Verfassungsreformen operationalisiert und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em komparativ<br />

e<strong>in</strong>setzbaren Modell zur Diagnose und Erklärung des Scheiterns von Verfassungsreformen<br />

verwendet werden können.<br />

Literatur:<br />

Benz, Arthur (2007), Die Föderalismusreform <strong>in</strong> der „Entflechtungsfalle“ (Theodor-<br />

Eschenburg-Vorlesung 2006), hrsg. von der Eberhard Karls Universität Tüb<strong>in</strong>gen,<br />

Institut für Politikwissenschaft.<br />

Blyth, Mark (2002), Great Transformations. Economic Ideas and Institutional Change <strong>in</strong> the<br />

Twentieth Century, Cambdridge.<br />

Burgess, Susan R. (1993), Beyond Instrumental Politics. The New Institutionalism, Legal<br />

Rhetoric, and Judicial Supremacy, <strong>in</strong>: Polity 24, S. 445-459.<br />

Clayton, Cornell W./Gillman, Howard (eds.) (1999). Supreme Court Decision Mak<strong>in</strong>g: New<br />

Institutionalist Approaches. Chicago & London: University of Chicago Press.<br />

Elazar, Daniel J. (1991), Explor<strong>in</strong>g Federalism, Tuscaloosa & London.<br />

Feeley, Malcolm M./Rub<strong>in</strong>, Edward L. (2000), Judicial Policy-Mak<strong>in</strong>g and the Modern State.<br />

How the Courts reformed America’s Prisons, Cambridge.<br />

Gillman, Howard (1994). “On Construct<strong>in</strong>g a Science of Judicial Politics”, <strong>in</strong>: Law and<br />

Society Review 28, S. 355-376.<br />

Gillman, Howard/Clayton, Cornell W. (eds.) (1999), The Supreme Court <strong>in</strong> American<br />

Politics: New Institutionalist Interpretations. Lawrence: University Press of Kansas.<br />

Hay, Col<strong>in</strong> (2006), Constructivist Institutionalism, <strong>in</strong>: Oxford Handbook of Political<br />

Institutions, ed. by R. A. W. Rhodes, Sarah A. B<strong>in</strong>der & Bert A. Rockman, Oxford,<br />

56-74.<br />

Hochschild, Jennifer L. (2006), How Ideas affect Actions, <strong>in</strong>: Oxford Handbook of<br />

Contextual Political Analysis, ed. by Robert E. Good<strong>in</strong> & Charles Tilly, Oxford, 284-<br />

296.<br />

Immergut, Ellen (1998). “The Theoretical Core of the New Institutionalism”, <strong>in</strong>: Politics and<br />

Society 26, 5-34.<br />

15


Lhotta, Roland/Ketelhut, Jörn (2006), Verfassungsgerichte als judizielle Manager von<br />

Ordnungs- und Leitideen: E<strong>in</strong>e neo-<strong>in</strong>stitutionalistische Perspektive, <strong>in</strong>: Michael<br />

Becker/Ruth Zimmerl<strong>in</strong>g (Hrsg.), Politik und Recht (PVS-Sonderheft 36), Wiesbaden,<br />

397-415.<br />

L<strong>in</strong>der, Wolf (2007), Die deutsche Föderalismusreform – von außen betrachtet. E<strong>in</strong> Vergleich<br />

von Systemproblemen des deutschen und des schweizerischen Föderalismus, <strong>in</strong>: PVS<br />

48, H. 1, 3-16.<br />

March, James G./Olsen, Johan P. (1989), Rediscover<strong>in</strong>g Institutions. The Organizational<br />

Basis of Politics, New York & London.<br />

Rueschemeyer, Dietrich (2006), Why and how Ideas matter, <strong>in</strong>: Oxford Handbook of<br />

Contextual Political Analysis, ed. by Robert E. Good<strong>in</strong> & Charles Tilly, Oxford, 227-<br />

251.<br />

Scharpf, Fritz W. (2006), Recht und Politik <strong>in</strong> der Reform des deutschen Föderalismus, <strong>in</strong>:<br />

Michael Becker/Ruth Zimmerl<strong>in</strong>g (Hrsg.), Politik und Recht (PVS-Sonderheft 36),<br />

Wiesbaden, 306-332.<br />

Scharpf, Fritz W. (2007), Verfassungsreform mit Vetospielern, <strong>in</strong>: Klaus Dieter Wolf (Hrsg.),<br />

Staat und Gesellschaft – fähig zur Reform? 23. Wissenschaftlicher Kongress der<br />

Deutschen Vere<strong>in</strong>igung für Politische Wissenschaft, Baden-Baden, 47-57.<br />

Schatz, Heribert/Van Ooyen, Robert/Werthes, Sascha (2000), Wettbewerbsföderalismus.<br />

Aufstieg und Fall e<strong>in</strong>es politischen Streibegriffs, Baden-Baden.<br />

Smith, Rogers (1988). “Political Jurisprudence, the ‘New Institutionalism’, and the Future of<br />

Public Law”, American Political Science Review 82, 89-108.<br />

Björn Uhlmann, Institut d’Etudes Politiques et Internationales, Université de Lausanne<br />

Verfassungsreform <strong>in</strong> der Schweiz<br />

Die Absicht der Arbeit ist es, relevante Variablen zu isolieren, die erfolgreiche und erfolglose<br />

Verfassungsreformen erklären können. Um die <strong>in</strong>stitutionellen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen konstant<br />

zu halten und <strong>in</strong>tervenierende Variablen zu kontrollieren, wird e<strong>in</strong> Land, die Schweiz, als<br />

Untersuchungse<strong>in</strong>heit ausgewählt. Innerhalb der Schweiz sollen während der Periode 1990 bis<br />

2006 mehrere Verfassungsreformen im Vergleich angeschaut werden. Es wird unterstellt,<br />

dass Erfolg und Misserfolg von Verfassungsänderungen anhand des damit verbundenen<br />

Konfliktes erklärt werden können. Verfassungsreformen werden demnach umso schwieriger,<br />

je mehr Konflikte sich damit verb<strong>in</strong>den oder je <strong>in</strong>tensiver diese Konflikte s<strong>in</strong>d. Auf der<br />

Grundlage dieser unabhängigen Variable werden Fälle von Verfassungsreformen ausgewählt.<br />

Erfolg oder Misserfolg der Reform wird mittels Zustimmung oder Ablehnung <strong>in</strong> der<br />

Volksabstimmung gemessen, da <strong>in</strong> der Schweiz alle Verfassungsänderungen dem Verdikt des<br />

Stimmvolkes unterliegen. Um e<strong>in</strong>e grösstmögliche Varianz der unabhängigen Variable zu<br />

haben, sollen Fälle ausgewählt werden, die sich bezüglich des Konfliktniveaus und/ oder des<br />

Abstimmungsresultates unterscheiden, z.B. konfliktiv und angenommen, konfliktiv und<br />

verworfen, wenig konfliktiv und angenommen und wenig konfliktiv und verworfen.<br />

Das Design erlaubt es, <strong>in</strong>tervenierende Variablen als erklärende Faktoren zu analysieren,<br />

wobei das Hauptaugenmerk auf den Präferenzen der unterschiedlichen Akteure und der<br />

Machtverteilung im Parlament liegt. Dabei soll vertiefend auf die Prozessdimension der<br />

Verfassungsreform und die unterschiedlichen Arenen, Ideengenerierung,<br />

Entscheidungsf<strong>in</strong>dung und Ratifikation, e<strong>in</strong>gegangen werden. Der Beitrag ist e<strong>in</strong>e<br />

16


Weiterentwicklung e<strong>in</strong>es bestehenden Arbeitspapiers (Braun/Uhlmann/Himmelsbach 2008).<br />

Die wesentliche Neuerung besteht denn auch <strong>in</strong> der Ausweitung der Fallzahl von<br />

Verfassungsänderungen <strong>in</strong> der Schweiz und soll dazu dienen, das schon vorhandene<br />

Kausalmodell für Verfassungsreformen zu verfe<strong>in</strong>ern.<br />

Stefan Köppl, Akademie für Politische Bildung Tutz<strong>in</strong>g<br />

Besonderheiten, Scheitern und Erfolg von Verfassungsreformen<br />

Überlegungen aus vergleichender Perspektive<br />

Der systematische länderübergreifende Vergleich von Verfassungsreformprozessen steckt<br />

noch <strong>in</strong> den K<strong>in</strong>derschuhen. Erforderlich s<strong>in</strong>d daher primär konzeptionelle Vorarbeiten, an<br />

denen sich spätere Fallstudien orientieren können, die wiederum Voraussetzung für den<br />

komparativen Zugriff s<strong>in</strong>d. Der vorliegende Beitrag versucht e<strong>in</strong>e Komb<strong>in</strong>ation aus<br />

konzeptionellen Überlegungen und ersten empirischen Befunden, die e<strong>in</strong>em laufenden<br />

<strong>in</strong>ternational vergleichenden Projekt über Verfassungsreformprozesse bzw. –versuche <strong>in</strong><br />

Deutschland, Kanada, Italien und der Schweiz entstammen. Ausgehend von e<strong>in</strong>em bereits<br />

vorliegenden Instrumentarium für die vergleichende Analyse von<br />

Verfassungsreformprozessen1 widmet sich der Beitrag den Besonderheiten solcher Prozesse,<br />

die sich vor allem aus den formal und <strong>in</strong>formal hohen Konsenshürden ergeben, aber auch aus<br />

der Pfadabhängigkeit der Verfassungsvorgeschichte und des Reformprozesses selbst. Der<br />

zweite Schwerpunkt liegt auf Erfolg und Scheitern von Verfassungsreformprozessen, für<br />

deren Erklärung die Empirie <strong>in</strong>struktive H<strong>in</strong>weise liefert.<br />

Ihre Besonderheiten legen nahe, dass Verfassungsreformprozesse mehr als „gewöhnliche“<br />

politische Prozesse <strong>in</strong> Begriffen der Verhandlungssysteme analysiert werden müssen.<br />

Insbesondere s<strong>in</strong>d die entsprechenden <strong>in</strong>härenten Blockadepotentiale (etwa Anzahl,<br />

Positionierung und Verhalten von Veto-Spielern) sowie die e<strong>in</strong>schlägigen Instrumente der<br />

Blockadeüberw<strong>in</strong>dung (etwa Ausgleichszahlungen und Paketlösungen) zu betrachten.<br />

In der Empirie ist zu beobachten, dass die klassischen Barga<strong>in</strong><strong>in</strong>g-Strategien zur Lösung<br />

distributiver Konflikte bei Verfassungsreformen nur sehr begrenzt wirksam s<strong>in</strong>d. Denn hier<br />

handelt es sich um Fragen, die zum e<strong>in</strong>en massiv <strong>in</strong> die künftigen E<strong>in</strong>flusschancen der<br />

beteiligten Akteure e<strong>in</strong>greifen (können) und zum anderen <strong>in</strong> normativ-ideologischer H<strong>in</strong>sicht<br />

<strong>in</strong> weiten Teilen deren nicht verhandelbaren Kernbestand berühren.<br />

E<strong>in</strong> weiterer Blick auf konkrete Reformprozesse lässt vermuten, dass Erfolg und Scheitern<br />

e<strong>in</strong>es Verfassungsreformversuchs auch mit se<strong>in</strong>er <strong>in</strong>haltlichen Reichweite zusammenhängen.<br />

So ist <strong>in</strong> diesem Kontext aus konzeptioneller Sicht die unterschiedliche Bandbreite von<br />

Verfassungsreformen zu thematisieren: Vorgeschlagen wird e<strong>in</strong>e Typologie, die sich<br />

zwischen den Extrempolen „Totalrevision“ und „Verfassungsänderung“ bewegt. Für die<br />

systematische Erklärung von Erfolg und Scheitern ist die Differenzierung unterschiedlicher<br />

Typen von Verfassungsreformprozessen wichtig, da bereits im Typ e<strong>in</strong>es Reformversuchs<br />

jeweils unterschiedliche Erfolgs- bzw. Misserfolgspotentiale begründet se<strong>in</strong> können.<br />

Es weist manches darauf h<strong>in</strong>, dass groß angelegte Reformprojekte deutlich mehr Gefahr<br />

laufen, ergebnislos zu scheitern, als <strong>in</strong>haltlich begrenzte Vorhaben. Als Beispiel hierfür kann<br />

Italien dienen, wo seit 1983 <strong>in</strong>zwischen vier groß angelegte Reformversuche scheiterten, e<strong>in</strong>e<br />

17


Teilreform des Regionalismus dagegen die Hürden überwand. In e<strong>in</strong>e ähnliche Richtung weist<br />

das deutsche Beispiel, wo die Ausklammerung der F<strong>in</strong>anzbeziehungen (Föderalismusreform<br />

II) die Erfolgschancen der Föderalismusreform I deutlich erhöhte.<br />

1 Köppl, Stefan (2007): Zur vergleichenden Analyse von Verfassungsreformprozessen.<br />

Konzeptionelle Überlegungen,<br />

<strong>in</strong>: Wolf, Klaus Dieter (Hg.): Staat und Gesellschaft – fähig zur Reform? Der 23.<br />

wissenschaftliche Kongress<br />

der Deutschen Vere<strong>in</strong>igung für Politische Wissenschaft, Baden-Baden, S. 77-95.<br />

Esther Marie Seha<br />

Verfasssungen, die als Kerndokumente demokratischer politischer Systeme fungieren, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong><br />

den vergangenen Jahrzehnten <strong>in</strong> den etablierten wie den jungen Demokratien Europas<br />

verhäuft Gegenstand <strong>in</strong>stitutionenpolitischer Reformen geworden. Wenngleich sich<br />

Verfassungen und Verfassungspolitik als Kernbereiche der Diszipl<strong>in</strong> für die empirischvergleichende<br />

politikwissenschaftliche Forschung ideal anbieten, ist dieses Potential bislang<br />

weitgehend ungenutzt geblieben. Neben e<strong>in</strong>zelnen Fallstudien fehlt es bislang noch an<br />

geeigneten theoretischen Untersuchungsansätzen sowie der Entwicklung<br />

politikwissenschaftlicher Konzepte zur Untersuchung der verfassungspolitischen Reformen.<br />

In der Studie, die auf der 3-Länder-Tagung <strong>in</strong> Osnabrück vorgestellt werden soll, wird daher<br />

anhand der jüngst erfolgten Verfassungsreformen <strong>in</strong> F<strong>in</strong>nland, Österreich und der Schweiz<br />

unternommen, Bed<strong>in</strong>gungsfaktoren für das Gel<strong>in</strong>gen bzw. Scheitern der Reformvorhaben<br />

herauszuarbeiten. Dazu werden methodische Grundlagen der Vergleichenden Regierungslehre<br />

sowie neo-<strong>in</strong>stitutionalistische Ansätze zur Untersuchung der Genese und Entwicklung<br />

politischer Institutionen <strong>in</strong>duktiv zu e<strong>in</strong>em Erklärungsmodell verdichtet, mit dem<br />

Bed<strong>in</strong>gungsfaktoren generiert und <strong>in</strong> der Literatur zitierte Argumente <strong>in</strong> qualitativvergleichenden<br />

Fallstudien geprüft werden können.<br />

Ausgehend von den empirischen Ergebnissen der Studie sollen die Konsequenzen für die<br />

politikwissenschaftliche Verfassungsforschung diskutiert werden. Dabei wird <strong>in</strong>sbesondere<br />

Augenmerk auf die Veränderungen der Institution Verfassung unter gewandelten Rahmen-<br />

und Funktionsbed<strong>in</strong>gungen gelegt, die sich mitunter <strong>in</strong> der <strong>in</strong>haltlichen Konvergenz<br />

verfassungspolitischer Reformprozesse sowie e<strong>in</strong>em Funktionswandel der Verfassung <strong>in</strong><br />

europäischen Demokratien manifestieren.<br />

18

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!