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1 Prof. Dr. Winfried Thaa / Dr. Markus Linden, Universität ... - DVPW

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1<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. <strong>Winfried</strong> <strong>Thaa</strong> / <strong>Dr</strong>. <strong>Markus</strong> <strong>Linden</strong>, <strong>Universität</strong> Trier<br />

Entpolitisierung durch deliberative Rationalisierung?<br />

Ergebnisse des Projekts „Die politische Repräsentation von Fremden und Armen“<br />

(Teilprojekt C7 im DFG-Sonderforschungsbereich 600 „Fremdheit und Armut.<br />

Wandel von Inklusions- und Exklusionsformen von der Antike bis zur Gegenwart“)<br />

1. Das Projekt<br />

Die vergangenen Jahre sahen einen Bedeutungsverlust parlamentarischer, durch parteipolitische<br />

Konfliktlinien geprägter Formen der politischen Entscheidungsfindung. Insbesondere in Politik-<br />

bereichen, in denen für notwendig erachtete Reformen ein parteiübergreifender Konsens als<br />

wünschenswert oder die Regierungsmehrheit als nicht gesichert galt, gewannen deliberative<br />

Gremien an Bedeutung. Dies betrifft weniger ihre Anzahl, als vielmehr die prominente Rolle,<br />

die derartige Gremien in der öffentlichen Debatte und bei der Vorbereitung der parlamentari-<br />

schen Gesetzgebung spielten („Hartz-“, „Rürup-“, „Süssmuth-Kommission“). Walter Steinmeier<br />

spricht dies noch in seiner Funktion als Kanzleramtsminister offen an, wenn er formuliert, die<br />

von der rotgrünen Regierung initiierten Konsensrunden und Foren seien „Beispiele für eine<br />

neue, ergebnisorientierte Dialogkultur zwischen Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und kritischer<br />

Öffentlichkeit. Sie sind reform- und ergebnisorientiert und zielen auf einen ‚innovativen Kon-<br />

sens’ jenseits der traditionellen ideologischen Gräben“ (Steinmeier 2001: 265).<br />

Die Instrumentalisierung der Konsensrunden und Kommissionen scheint also offensichtlich.<br />

Dennoch sollte nicht übersehen werden, dass sich ihre Befürworter – wie das knappe Zitat<br />

Steinmeiers unterstreicht – rechtfertigend auf deliberative Demokratietheorien beziehen. 1 Auch<br />

die Teilnehmer an diesen Runden selbst verstanden ihre Mitwirkung nicht im Sinne einer klassi-<br />

schen Interessenpolitik. In den von uns durchgeführten Interviews artikulierten etwa einige von<br />

ihnen, sie wären zwar als Vertreter einer bestimmten Gruppe in die Kommission berufen wor-<br />

den, aber nicht, um deren Interessen einzubringen, sondern um konsensorientiert Probleme zu<br />

lösen. Von daher scheint es uns bei allen Unterschieden zwischen den genannten Kommissionen<br />

und den Idealvorstellungen einer diskursiven Meinungs- und Willensbildung gerechtfertigt, die-<br />

se Kommissionen als deliberative Gremien einzuordnen und ihre Funktionsweise und Leistun-<br />

gen für die Repräsentation sogenannter schwacher Interessen genauer zu untersuchen.<br />

1 Bspw. Gerhard Schröder (1998: 62f.) in seiner ersten Regierungserklärung: „[D]ie Republik der Neuen Mitte<br />

ist auch eine Republik des Diskurses. Er findet nicht hinter den verschlossenen Türen der Gremienvorstände<br />

statt. Die Neue Mitte sucht den Konsens über das beste Ergebnis und nicht den Kompromiss über den kleinsten<br />

gemeinsamen Nenner“.


2<br />

Dies geschieht nicht vor einem neutralen, normfreien Hintergrund. Wie bekannt sehen sich<br />

Vertreter deliberativer Demokratievorstellungen in der Tradition der partizipatorischen Demo-<br />

kratietheorie. Habermas selbst spricht noch in „Faktizität und Geltung“ in Bezug auf sein Mo-<br />

dell deliberativer Demokratie von einer „diskurstheoretischen Lesart radikaler Demokratie“<br />

(Habermas 1992: 451). Einen herausragenden Stellenwert in der Selbstbeschreibung deliberati-<br />

ver Demokratie nimmt die Fähigkeit zur Inklusion aller von einer Entscheidung Betroffenen,<br />

insbesondere aber gerade sogenannter schwacher, also wenig organisations- und konfliktfähiger<br />

Interessen ein. Demgegenüber gehen wir davon aus, dass deliberative Gremien eigene Exklusi-<br />

onsmechanismen hervorbringen und einen entpolitisierenden Effekt haben. Genauer überprüfen<br />

wir mit unserem Projekt die folgenden drei Annahmen:<br />

(1) Deliberative Gremien führen zu einer Rationalisierung der politischen Auseinanderset-<br />

zung. Sie gehen von der Prämisse aus, es gebe allgemein akzeptable, vernünftige Prob-<br />

lemlösungen. Die Internalisierung dieser Annahme bei den Teilnehmern beratender<br />

Gremien führt zur Dominanz vermeintlicher Allgemeininteressen und universalisierbarer<br />

Normen gegenüber spezifischen Interessen und kulturellen Wertprämissen einzelner<br />

Gruppen von Betroffenen.<br />

(2) Im Gegensatz zum Inklusionsanspruch deliberativer Demokratietheorien fördern „ratio-<br />

nal“ beratschlagende Expertenkommissionen im Vergleich zu herkömmlichen Formen<br />

der Entscheidungsfindung die Exklusion bestimmter Interessen und Wertvorstellungen.<br />

Dies gilt insbesondere für solche Interessen und Wertvorstellungen, zu deren Rechtferti-<br />

gung sich keine ökonomische Funktionalität ins Feld führen lässt.<br />

(3) Neben der Entpolitisierung des parlamentarischen Entscheidungsprozesses kommt deli-<br />

berativen Gremien die Funktion zu, öffentliche Debatten zu beeinflussen. Dies geschieht<br />

durch die Verbreitung bestimmter Deutungsmuster, also durch die zunächst symbolisch<br />

wirkende Fokussierung der Debatte auf vermeintlich rationale Problemlösungen.<br />

Zur Überprüfung dieser Annahmen gliedert sich das Projekt in drei Teiluntersuchungen, wobei<br />

die beiden empirischen Teiluntersuchungen sich auf den Zeitraum zwischen 1998 und 2005 be-<br />

ziehen und die Wirkungsweise der sog. „Hartz-“ und „Süssmuth-Kommission“ genauer in den<br />

Blick nehmen:<br />

(1) Vergleichende Untersuchung des Repräsentationsverständnisses verschiedener demokra-<br />

tietheoretischer Ansätze (1. Teiluntersuchung)<br />

(2) Vergleichende Darstellung und Analyse von Fallstudien zur Vermittlung und Durchset-<br />

zung der Interessen von Fremden und Armen (2. Teiluntersuchung)


3<br />

(3) Analyse der symbolischen Repräsentation von Fremden und Armen sowie der Semantik<br />

von Fremdheit und Armut im politischen Diskurs (3. Teiluntersuchung)<br />

Ergebnisse aus allen drei Teiluntersuchungen sind bereits verschiedentlich veröffentlicht. 2 Im<br />

Folgenden werden wir nur kurz auf Ergebnisse der ersten und zweiten Teiluntersuchung einge-<br />

hen, d.h. wir werden uns darauf beschränken, die theoretische Kritik an deliberativen Demokra-<br />

tietheorien, so weit sie ihre entpolitisierenden Auswirkungen und die Vertretung sogenannter<br />

schwacher Interessen betrifft, zusammenzufassen und exemplarisch die Ergebnisse aus einem<br />

Vergleich zwischen der Funktionsweise der „Süssmuth-Kommission“ und der parlamentari-<br />

schen Repräsentation von Migranteninteressen während der Ära Schröder vorzustellen.<br />

2. Kognitivierung und Entpolitisierung in deliberativen Demokratietheorien<br />

Anknüpfend an den von verschiedener Seite formulierten grundsätzlichen Einwänden gegen<br />

eine Übertragung der idealen Verfahrensnormen kooperativer Wahrheitssuche auf den Prozess<br />

demokratischer Willensbildung 3 lassen sich schon auf der konzeptionellen Ebene einer diskurs-<br />

theoretisch begründeten deliberativen Demokratietheorie erwartbare Probleme und Defizite der<br />

politischen Repräsentation bestimmen. Aus unserer Sicht ist besonders die in deliberativen De-<br />

mokratiekonzeptionen angelegte Tendenz zur Informalisierung und Kognitivierung der politi-<br />

schen Entscheidungsprozesse hervorzuheben, durch die im Ergebnis konkrete Handlungsbezie-<br />

hungen zwischen Repräsentierten und ihren Repräsentanten, deren Verantwortlichkeit sowie die<br />

Zurechenbarkeit von Entscheidungen geschwächt, der Vernunftstatus und die Allgemeinver-<br />

bindlichkeit der politischen Willensbildung jedoch gestärkt werden.<br />

Habermas bestimmt – in dieser Hinsicht genau wie Rousseau – Demokratie als Einheit von<br />

individueller und öffentlicher Autonomie. 4 Teilt man ein reflexives Verständnis demokratischer<br />

Selbstregierung, so ist sie nur durch eine wie auch immer herzustellende Einheit von individuel-<br />

lem und öffentlichem Willen zu verwirklichen. Jeder Mehrheitsbeschluss, der nicht beanspru-<br />

chen kann, einen allgemeinen und vernünftigen Willen auszudrücken, kommt einer Fremdherr-<br />

schaft über die Minderheit gleich. Habermas will, vereinfacht gesagt, dieses Herrschaftsproblem<br />

loswerden, indem er die repräsentativen Institutionen des demokratischen Rechtsstaates in einen<br />

übergeordneten Prozess der diskursiven Meinungs- und Willensbildung einordnet. Dazu entwi-<br />

2 Vgl. etwa Blaes-Hermanns 2006, 2007; <strong>Linden</strong> 2007, 2008a, 2008b; <strong>Thaa</strong> 2007a, 2007b. Ein weiterer Band mit<br />

eigenen Projektergebnissen sowie Beiträgen von Michael Vester, Ingo Bode, Helen Schwenken, Sven T. Siefken,<br />

Hartmut Häußermann, Sabine Ruß und Jan Schneider wird in Kürze erscheinen (<strong>Linden</strong>/<strong>Thaa</strong> 2009).<br />

3 Vgl. dazu für viele Blanke 1994; McCarthy 1994; Nullmeier 1995; Coles 2000.<br />

4 Rousseau brachte dies in seiner berühmten Formulierung der Aufgabe des Gesellschaftsvertrages prägnant auf<br />

den Punkt: „Es muß eine Gesellschaftsform gefunden werden, in der jeder einzelne mit allen verbündet, nur sich<br />

selbst gehorcht und so frei bleibt wie zuvor“ (Rousseau 1977: 73).


4<br />

ckelt er sein Modell einer „zweigleisigen deliberativen Politik“ (Habermas 1992: 369), in der<br />

die Entscheidungen der parlamentarischen Vertreter an die einer breiten, autonomen Öffentlich-<br />

keit entspringende kommunikative Macht zurückgebunden bleiben. Das bei Rousseau in der<br />

Evidenz des Gemeinwohls enthaltene Vernunftmoment verlagert er dabei in die diskursive<br />

Struktur der Meinungs- und Willensbildung, die eine „vernünftige Qualität ihrer Ergebnisse“<br />

erwarten lässt (Habermas 1992: 369). Herrschaft oder Fremdbestimmung sind dann durch die<br />

kognitive Umdeutung demokratischer Entscheidungen beseitigt. Aus der evidenztheoretischen<br />

Begründung des volonté générale bei Rousseau wird bei Habermas eine prozeduralistische Be-<br />

gründung. Öffentliche und private Autonomie lassen sich vereinbaren, sofern die Verfahren der<br />

Willenbildung so gestaltet sind, „dass ihre falliblen Ergebnisse die Vermutung praktischer Ver-<br />

nunft für sich haben“ (Habermas 1992: 626).<br />

Die Vernunftvermutung gründet dabei auf dem deliberativen Charakter der Willensbildung,<br />

das heißt in der Rückführung der Entscheidungen auf den ‚zwanglosen Zwang’ des besseren<br />

Arguments und damit letztlich in einer unterstellten Wahrheitsfähigkeit politischer Entscheidun-<br />

gen. 5 Der Bürger, der sich demokratisch zustande gekommenen Gesetzen unterordnet, gehorcht,<br />

so gesehen, dann letztlich sich selbst, er bleibt, wie es bei Rousseau heißt, „so frei wie zuvor“<br />

(Rousseau 1977: 73), weil die Gesetze Ausdruck eines allgemeinen, vernünftigen Willens sind.<br />

Da es die Allgemeinheit des Willens nicht mehr aus der direkten Zustimmung des einzelnen<br />

Bürgers ableitet, sondern aus dem Erkenntnischarakter des deliberativen Prozesses in seiner<br />

Gesamtheit, entschärft das diskurstheoretische Demokratiemodell das Problem der Fremdbe-<br />

stimmung im Repräsentationsverhältnis. Die Diskurse im Parlament müssen zwar „aus techni-<br />

schen Gründen“ repräsentativ geführt werden, dürfen aber dennoch nicht nach dem Stellvertre-<br />

termodell gedeutet werden (Habermas 1992: 224). Habermas versteht das Parlament nur als<br />

„organisierten Mittelpunkt oder Fokus des gesellschaftsweiten Kommunikationskreislaufs einer<br />

im ganzen nicht-organisierbaren Öffentlichkeit“ (Habermas 1992: 224). Politische Repräsentati-<br />

on kann aufgrund dieser Umdeutung dann mit einer positiven epistemischen Funktion in eine<br />

normative Theorie partizipatorischer Demokratie integriert werden. Im Ergebnis relativieren<br />

sich die Willens- und Handlungsbeziehungen zwischen Repräsentierten und Repräsentanten<br />

gegenüber der kommunikativ verflüssigten und letztlich kognitiv bestimmten Volkssouveränität.<br />

Die Repräsentationsbeziehung wird zum Moment eines übergeordneten kognitiven Prozesses<br />

transformiert. 6 An dieser Stelle besteht bereits innerhalb einer deliberativen Demokratietheorie<br />

5 Ausführlich zur Kritik dieser kognitiven Fassung politischer Willensbildung vgl. <strong>Thaa</strong> 2007.<br />

6 Habermas fasst dies selbst wie folgt zusammen: „Wenn wir jedoch der demokratischen Willensbildung auch<br />

eine epistemische Funktion zuschreiben [...] dann zieht das demokratische Verfahren seine legitimierende Kraft<br />

nicht mehr nur, und nicht einmal mehr in erster Linie, aus Partizipation und Willensäußerung, sondern aus der


5<br />

die Möglichkeit, den im Kern kognitiven Prozess der Willensbildung dem Parlament weitge-<br />

hend vorauszusetzen, bzw. in einem durch zivilgesellschaftliche Beratungsformen geprägten<br />

„Regieren ohne Regierung“ auch ganz auf parlamentarische Formen der Repräsentation zu ver-<br />

zichten. 7<br />

In der politischen Praxis wird eine diskurstheoretisch verstandene Deliberation die Repräsen-<br />

tation spezifischer Interessen der „epistemischen“ Funktion der demokratischen Willensbildung<br />

unterordnen und insofern auch entpolitisierend wirken. Die kognitive Ausrichtung der Willens-<br />

bildung delegitimiert Außenseiterpositionen und begünstigt Interessen und Meinungen, die ei-<br />

nen strengen Allgemeinheitsanspruch geltend machen können. Zunächst scheint dies das Ge-<br />

wicht moralischer Normen in der politischen Auseinandersetzung zu erhöhen. Zweifellos ver-<br />

folgt Habermas auch in seinem gesamten Werk das Ziel einer Stärkung universalisierbarer Ge-<br />

rechtigkeitsnormen, und zwar sowohl gegenüber den Werten partikularer Gemeinschaften als<br />

auch gegenüber den Imperativen gesellschaftlicher Teilsysteme. Ein Blick auf tatsächliche poli-<br />

tische Auseinandersetzungen über moralische Normen – ob in Menschenrechtsfragen, der De-<br />

batte zu Gentechnik oder den Konflikten über die Kriterien sozialer Gerechtigkeit in der Reform<br />

des Sozialstaates – zeigt jedoch, dass moralische Normen in aller Regel nicht nur umstritten<br />

sind, sondern stets auch in Gefahr stehen, durch funktionale, insbesondere durch ökonomische<br />

Erfordernisse relativiert zu werden. Erst recht gilt dies für ethische Argumente, die in der Unter-<br />

scheidung von Habermas ja per definitionem auf kontrovers interpretierbare Ordnungsprinzipien<br />

und Wertvorstellungen einer Gesellschaft und ihrer Geschichte zurückgreifen müssen und des-<br />

halb nur schwerlich zwingende Begründungen generieren können. 8<br />

Anders dagegen verhält es sich mit allem, was als vermeintlich funktionale Notwendigkeit<br />

der politischen Auseinandersetzung vorauszusetzen ist, sei es im Namen der „Modernisierung“,<br />

der Ökonomie oder des technischen Fortschritts. Aus diesem Reservoir kann sich der „zwanglo-<br />

se Zwang des besseren Arguments“ bedienen und in den deliberativen Verfahren der Willens-<br />

bildung die erwünschte Vernunftvermutung der Ergebnisse hervorbringen. Die nicht verallge-<br />

meinerbaren Interessen kleiner, funktional unbedeutender Gruppen dürften demgegenüber ge-<br />

ringere Durchsetzungschancen besitzen. Im herkömmlichen parlamentarischen Prozess dagegen<br />

können sie versuchen, Advokatoren und Bündnispartner zu finden und darauf hoffen, ihre An-<br />

allgemeinen Zugänglichkeit eines deliberativen Prozesses, dessen Beschaffenheit die Erwartung auf rational akzeptable<br />

Ergebnisse begründet“ (Habermas 1998: 166).<br />

7 In diesem Sinn entwickelte Rainer Schmalz-Bruns die Demokratietheorie von Jürgen Habermas zu einer Theorie<br />

der Demokratisierung transnationalen Regierens weiter. Die theoretische Konsequenz, mit der er dies tut,<br />

enthüllt dann allerdings auch die Problematik einer Gewichtsverlagerung vom Parlament auf informelle Formen<br />

der Meinungs- und Willensbildung, wie sie bereits bei Habermas angelegt ist (vgl. dazu Schmalz-Bruns 1999<br />

und 2002; zur Kritik daran vgl. <strong>Thaa</strong> 1999 und 2001).<br />

8 Vgl. dazu auch Nullmeier 2000: 107.


6<br />

liegen durch politische Tauschgeschäfte zumindest teilweise zu verwirklichen. Mit anderen<br />

Worten: Gerade wegen ihres vermeintlichen Vernunftanspruchs können deliberative Gremien –<br />

ganz im Sinn der obigen Äußerung Steinmeiers – Reformziele unter Umständen konsequenter<br />

und rücksichtloser durchsetzen als dies im normalen parlamentarischen Betrieb mit seinen viel-<br />

fältigen Rücksichtsnahmen und Bündnisstrukturen möglich ist.<br />

Die Theorie des kommunikativen Handelns ging von der erklärten Absicht aus, die systemi-<br />

schen Imperative aus Wirtschaft und Staatsapparat durch eine radikale Demokratisierung zu-<br />

mindest in Schach zu halten, wenn nicht zurückzudrängen (vgl. Habermas 1986: 392f.). Ihre<br />

Weiterentwicklung zu einer diskurstheoretischen Konzeption deliberativer Demokratie lässt<br />

eher das Gegenteil befürchten. Die Informalisierung und Kognitivierung politischer Repräsenta-<br />

tion und ihre Lösung von verantwortlichen Handlungsbeziehungen erleichtern es, im Namen<br />

einer allgemeingültigen Vernunft konkurrierende politische Alternativen durch vermeintliche<br />

Funktionserfordernisse aus Gesellschaft und Ökonomie zu verdrängen und die Interessen kleine-<br />

rer Gruppen dem Allgemeinwohl unterzuordnen.<br />

3. Entpolitisierung durch Deliberation? Die deliberativ-rationale und parlamentarisch-<br />

parteipolitische Repräsentation von Migranteninteressen in der Ära Schröder 9<br />

Die empirische Überprüfung der dargestellten theoretischen Grundannahmen über die Wir-<br />

kungsweisen deliberativer Gremien erfolgt unter anderem im Rahmen einer Fallstudie zur Un-<br />

abhängigen Kommission „Zuwanderung“ (sog. „Süssmuth-Kommission“, im Folgenden UKZ)<br />

und ihrer Stellung im politischen Prozess. Dabei steht zunächst einmal die Frage im Mittel-<br />

punkt, welche Unterschiede bei der Repräsentation von Migranteninteressen im parlamenta-<br />

risch-parteipolitischen Prozess und in der UKZ zu verzeichnen sind, wo also die Interessen wel-<br />

cher Migrantengruppen aus welchen Gründen besser repräsentiert wurden.<br />

3.1 Die Repräsentation von Migranteninteressen in der „Süssmuth-Kommission“<br />

Die UKZ wurde vom damaligen Bundesinnenminister Otto Schily im September 2000 mit 21<br />

Mitgliedern eingesetzt und legte ihren im Konsens verabschiedeten, mehr als 300 Seiten umfas-<br />

senden Abschlussbericht im Juli 2001 vor. Ihre Aufgabe bestand laut Einsetzungsbeschluss dar-<br />

in, „konkrete Empfehlungen für eine zukünftige Zuwanderungspolitik zu erarbeiten“ (UKZ<br />

2001: 295). Die Arbeit und die Ergebnisse der Kommission wurden von der Öffentlichkeit un-<br />

terschiedlich aufgenommen. Während Konservative eine zu starke Öffnung für Zuwanderer be-<br />

klagten, kommentierten sozialdemokratische, grüne, liberale und linke Vertreter den Bericht<br />

9 Die im Folgenden verkürzt dargestellten Ergebnisse werden bald ausführlicher publiziert (<strong>Linden</strong> 2009).


7<br />

positiv. Friedrich Merz, zu dieser Zeit Fraktionschef der Union im Bundestag, kritisierte unter<br />

anderem die seines Erachtens zu liberale Haltung des Berichts in der Frage des Asylmiss-<br />

brauchs. 10 Kirchen und Gewerkschaften begrüßten hingegen die Vorschläge. 11 Der Vorsitzende<br />

des Bundesausländerbeirats, Memet Kilic, bezeichnete den Bericht als „Meilenstein“. 12<br />

Damit scheinen die Fronten eigentlich klar zu sein. Die UKZ galt in der öffentlichen Wahr-<br />

nehmung als migrantenfreundliches Gremium. Davon zeugt auch ihre Besetzung. Es lässt sich<br />

dort zwar kein Vertreter eines Migrantenverbands finden, dafür aber umso mehr Personen, die<br />

explizit als Advokatoren von Migranten auftraten: Roland Schilling vom UNHCR, zwei Kir-<br />

chenverteter (Bischof Karl Ludwig Kohlwage und Weihbischof Josef Voß) sowie mehrere Poli-<br />

tiker, die für ihre liberalen Ansichten in der Migrationspolitik bekannt sind (u.a. Rita Süssmuth,<br />

Hajo Hoffmann, Cornelia Schmalz-Jacobsen). Eine von Mitgliedern und Kommentatoren als<br />

dem „Abwehrparadigma“ zugetan und eher konservativ beschriebene Fraktion bestand aus le-<br />

diglich zwei Mitgliedern, Horst Eylmann (CDU) sowie dem Juristen Kay Hailbronner (Zinterer<br />

2004: 280f. u. 288f.). In den von Projektseite vorgenommenen Interviews unterstrichen die Mit-<br />

glieder den vermeintlich innovativ-rationalen Charakter der Kommissionsarbeit. 13<br />

Zur Analyse der Repräsentation von Migranteninteressen haben wir, im Gegensatz zu abwei-<br />

chenden Ansätzen (z.B. Schneider 2007 u. 2009), die Interessen verschiedener Migrantengrup-<br />

pen unterschieden. Für manche dieser Gruppen liest sich der UKZ-Bericht äußerst positiv: An<br />

erster Stelle zu nennen sind dabei ausländische Hochqualifizierte, die gerne in Deutschland<br />

Arbeit finden würden. Über die Einrichtung eines Punktesystems soll dieser Personengruppe<br />

permanent die Zuwanderung und der dauerhafte Verbleib im Land ermöglicht werden. Die Ar-<br />

gumentation im Bericht zeigt, dass es der UKZ dabei nicht um die Schaffung von Möglichkeiten<br />

für Zuwanderer ging, sondern um „eine im gesamtgesellschaftlichen Interesse liegende Zuwan-<br />

derung“ (UKZ 2001: 11). 14 Maßstab für dieses konsensfähige „allgemeine Interesse“ war der<br />

angenommene ökonomische Gesamtnutzen. Geringqualifizierten wird hingegen keine dauer-<br />

hafte Bleibeperspektive offeriert. Sie können laut Kommissionsvorschlag als Saisonarbeiter an-<br />

gestellt werden, „um die Wettbewerbsfähigkeit in den betroffenen Wirtschaftssektoren zu erhal-<br />

ten“ (UKZ 2001: 115). Wichtig sei es jedoch zu verhindern, dass daraus „zusätzliche Ansprüche<br />

gegenüber den deutschen sozialen Sicherungssystemen entstehen“ (UKZ 2001: 115). Außerdem<br />

10 Vgl. Associated Press World Stream, Meldung v. 07.07.2001.<br />

11 Vgl. Süddeutsche Zeitung v. 06.07.2001, 8.<br />

12 Vgl. die tageszeitung v. 07.07.2001, 7.<br />

13 Typisch ist folgende Aussage: „Die Kommissionsarbeit war für mich sehr wohltuend und auch informativ. Wir<br />

hatten Wissenschaftler dabei, die sehr fundiert an diese Fragen herangegangen sind. ... Das war eine sehr erhellende<br />

Sache, das hat mir schon viel geholfen muss ich sagen“ (Hoffmann 2007).<br />

14 „Es geht hier um Menschen an deren Zuwanderung die Bundesrepublik ein hohes Eigeninteresse hat“ (UKZ<br />

2001: 89).


8<br />

soll Geringqualifizierten wie Fachkräften über die sogenannte Engpassdiagnose (UKZ 2001:<br />

104f.) oder nach Zahlung einer Gebühr durch den Arbeitgeber (UKZ 2001: 106-109) der vorü-<br />

bergehende Aufenthalt in Deutschland ermöglicht werden.<br />

Dass die beiden Gewerkschaftsvertreter dem vorgeschlagenen Gesamtsystem zur Zuwande-<br />

rung von Arbeitskräften, das ja auch als Einfallstor für erhöhten Mobilitätsdruck und verhinderte<br />

Lohnanpassung auf allen Qualifikationsebenen angesehen werden kann, zustimmten, verwun-<br />

dert. 15 Roland Issen (2007), der als Gewerkschaftsvertreter in der Kommission saß, verwies uns<br />

gegenüber auf die gesamtgesellschaftliche Notwendigkeit der vorgeschlagenen Politik. Er führte<br />

aus, dass ihn vor allem die vorgebrachten wissenschaftlichen Analysen zur demographischen<br />

Entwicklung überzeugt hätten.<br />

Eine Migrantengruppe, auf deren Interessen im Kommissionsbericht explizit verwiesen wird,<br />

sind die dauerhaft und berechtigt in Deutschland lebenden (und „integrationswilligen“)<br />

Migranten. Diesbezüglich werden zahlreiche Integrationsangebote (z.B. Integrationskurse) of-<br />

feriert und einige praktische Verbesserungen der Lebenssituation vorgeschlagen (vgl. UKZ<br />

2001: 199-265). Als handlungsleitendes Motiv für die Kommissionsvorschläge fungiert der Be-<br />

griff der „Integration“, wobei dieser vom Begriff der „Assimilation“ unterschieden wird. Ziel sei<br />

es, „Zuwanderern eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kultu-<br />

rellen und politischen Leben unter Respektierung kultureller Vielfalt zu ermöglichen“ (UKZ<br />

2001: 200). Die Interessen der hier dauerhaft lebenden Migranten werden im Kommissionsbe-<br />

richt im Lichte dieser Grundidee, die dabei als umfassende Leitmaxime für einen mit ökonomi-<br />

scher Prosperität gekoppelten sozialen Frieden fungiert, vorgebracht. Verwiesen wird dabei auf<br />

das Prinzip des „Förderns und Forderns“.<br />

Zweifelhaft erscheint die Repräsentationsleistung der Kommission gegenüber einer anderen<br />

Migrantengruppe: den Flüchtlingen. Trotzdem äußerten sich deren Advokatoren (z.B. Pro Asyl,<br />

der UNHCR und die Kirchen) lobend über die betreffenden Vorschläge, die von den beiden<br />

letztgenannten mit beschlossen worden waren. 16 Im Nachhinein wurde es aus Flüchtlingsper-<br />

spektive als Erfolg dargestellt, dass die UKZ am Grundrecht auf Asyl festhielt und von der<br />

Umwandlung in eine institutionelle Garantie abgesehen wurde. Das verwundert, da Kirchen und<br />

Flüchtlingshilfeorganisationen seit der Einführung des restriktiveren neuen Asylrechts im Jahr<br />

1993 dessen vermeintliche Defizite beklagen (vgl. z.B. amnesty international Deutschland 1999;<br />

EKD/Deutsche Bischofskonferenz 1997). Darüber wurde in der Kommission jedoch gar nicht<br />

15 Im Kommissionsbericht heißt es beispielsweise: „Arbeitskräfteknappheit könnte ... bei sonst unveränderten<br />

Bedingungen Lohndruck und eine Erhöhung der Produktionskosten auslösen“ (UKZ 2001: 32).<br />

16 Vgl. die Dokumentation in der Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik, 21. Jg., Heft 5/2001, 328f.<br />

u. die Meldungen von Agence France Press v. 04.07.2001.


9<br />

diskutiert. Die beiden von der UKZ eingeholten Rechtsgutachten (Alleweldt et al. 2001; Klein<br />

2001) sollten vielmehr prüfen, ob sich der Schutz aus Art. 16a GG in eine institutionelle Garan-<br />

tie umwandeln lasse. Zudem wurden die Gutachter gefragt, inwiefern die Rechtswegegarantie<br />

aus Art. 19 IV GG in Asylsachen eingeschränkt werden könnte. Die Kommission beschäftigte<br />

sich also primär mit Fragen, die im parlamentarischen Prozess keine Mehrheit bekommen hätten<br />

und angesichts der vorliegenden Konzepte der Parteien (mit Ausnahme der CSU und eines Vor-<br />

stoßes von Otto Schily, den dieser aber schnell zurücknahm) gar nicht zur Debatte standen.<br />

Die Ergebnisse der Rechtsgutachten waren für die Vertreter einer restriktiven Flüchtlingspo-<br />

litik ernüchternd. Beide Gutachten kommen zu dem Schluss, dass man im deutschen Asyl- und<br />

Flüchtlingsrecht bereits in weiten Teilen beim völkerrechtlichen Mindeststandard angelangt sei.<br />

Die Umwandlung des Art. 16a GG erübrige sich deshalb. Eine wirksame Einschränkung der<br />

Rechtswegegarantie sei nicht möglich. Diese Einschätzungen wurden von der UKZ übernom-<br />

men (2001: 125-128). Eine Rückkehr zur alten Regelung wird mit der Begründung abgelehnt,<br />

sie „käme nur dann in Betracht, wenn geltend gemacht werden könnte, dass seit 1993 Asylbe-<br />

werbern, die tatsächlich schutzberechtigt sind, der Zugang nach Deutschland in unzumutbarer<br />

Weise erschwert oder zu Unrecht verweigert worden ist. Davon hat sich die Kommission nicht<br />

überzeugen können“ (UKZ 2001: 125). Eine solche Prüfung wurde jedoch weder vorgenommen<br />

noch als Auftrag an die Gutachter erteilt. In der rot-grünen Koalitionsvereinbarung (1998: 39)<br />

hieß es demgegenüber noch: „Die Dauer der Abschiebungshaft und des Flughafenverfahrens<br />

werden im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes überprüft.“<br />

Dem aus Flüchtlingsperspektive als Erfolg dargestellten Vorschlag, das Grundrecht auf Asyl<br />

und die Rechtswegegarantie beizubehalten, stehen andere Kommissionsergebnisse gegenüber,<br />

die kaum im Interesse dieser Migrantengruppe liegen dürften. Beklagt wird grundsätzlich ein<br />

„Vollzugsdefizit bei der Rückführung“ (UKZ 2001: 140). Diesbezüglich plädiert die UKZ für<br />

eine, Flüchtlinge im Vergleich zur vorgefundenen Rechtslage teilweise erheblich benachteili-<br />

gende, Änderung der jeweiligen Fristen und Abschiebungsmodalitäten (UKZ 2001: 143). Beim<br />

Folgeantragverfahren seien verspätet vorgetragene Gründe grundsätzlich als irrelevant anzuse-<br />

hen und die Rückführung schneller zu vollziehen (UKZ 2001: 143). Am Ausschluss des Asyl-<br />

rechts im Falle selbstgeschaffener Nachfluchtgründe (z.B. politische Betätigung nach der Ein-<br />

reise nach Deutschland) wird nicht gerüttelt (UKZ 2001: 141 u. 162f.). Die verbindliche Einfüh-<br />

rung von Härtefallkommissionen wird abgelehnt (UKZ 2001: 171). Im Bericht der UKZ (2001:<br />

128) heißt es zusammenfassend: „Entscheidend sind wirksame einfach-gesetzliche und admi-<br />

nistrative Maßnahmen zur Straffung der Asylverfahren und gegen unberechtigten Aufenthalt.“<br />

In einer der fluchtpolitischen Kernfragen – der Frage der Anerkennung geschlechtsspezifischer


10<br />

und nichtstaatlicher Verfolgung als Asylgrund – konnte sich die Kommission nicht einigen<br />

(UKZ 2001: 162).<br />

Interessant ist, dass die Empfehlungen zur Asyl- und Flüchtlingspolitik von der Kommission<br />

häufig als Vorschläge im Interesse der Migranten dargestellt wurden. So wird beispielsweise<br />

argumentiert, die möglichst schnelle Entscheidung bzw. Rückführung komme letztlich den<br />

Flüchtlingen zu Gute: „Es entspricht humanitärem Handeln, diesen Menschen so schnell wie<br />

möglich Gewissheit darüber zu geben, dass sie in Sicherheit sind. … Je länger der Aufenthalt<br />

andauert, desto mehr lösen sich in dieser Zeit die Bindungen zum Heimatland“ (UKZ 2001:<br />

131). Die Frage, wie viel Flüchtlingen die räumliche Bindung zum Heimatland bedeutet, bleibt<br />

ungestellt.<br />

Was sind die Gründe für die defizitäre Repräsentation von Flüchtlingen in der UKZ? Zum ei-<br />

nen spielte es sicherlich eine Rolle, dass lange über die (parlamentarisch außer Reichweite ste-<br />

hende) Abschaffung des Grundrechts auf Asyl gestritten wurde. Die Vertreter von Flüchtlingsin-<br />

teressen hatten also schon einen „Erfolg“ zu verzeichnen, der von ihnen auch als solcher darge-<br />

stellt wurde. Als übergeordneter Grund für die mangelhafte Repräsentation von Flüchtlingen<br />

muss die spezielle Situation in der Kommission angesehen werden. Über Migranteninteressen,<br />

die nicht an ein primär ökonomisch definiertes Gemeinwohl rückkoppelbar sind, konnte dort<br />

nämlich in aller Regel kein Konsens erzielt werden, weshalb sie bisweilen kaum thematisiert<br />

wurden. Beispiele bilden: die geschlechtsspezifische und nichtstaatliche Verfolgung, die Härte-<br />

fallregelung, das Wahlrecht für Ausländer oder Probleme des Flughafenverfahrens. Das Kom-<br />

missionsergebnis ist Ausdruck eines gesamtgesellschaftlichen Effizienzparadigmas, in das Par-<br />

tikularanliegen kaum Eingang fanden. 17<br />

Von der Kommission wurde eine Trennlinie zwischen „nützlichen“ und „unnützen“<br />

Migranten gezogen. Dies hatte zur Folge, dass die Interessen und der Wert von Migrantengrup-<br />

pen gegeneinander aufgewogen wurden. An folgendem Zitat aus dem Bericht wird das beson-<br />

ders deutlich: „Defizite im Rückkehr- und Rückführungsbereich schränken … den Spielraum für<br />

eine Zuwanderung aus demographischen und arbeitsmarktpolitischen Gründen in zweifacher<br />

Hinsicht ein. Zum einen eröffnen sie den Ausreisepflichtigen Aufenthaltsperspektiven, die ihrer-<br />

seits eine ungewollte Zuwanderung auslösen. … Eine nicht ausreichend konsequente Rückfüh-<br />

rungspraxis verringert zum Zweiten auch die Zahl der freiwilligen Ausreisen (‚Nachahmungsef-<br />

fekt’)“ (UKZ 2001: 150).<br />

17 Eine Ausnahme bilden Kinder. So spricht man sich z..B. gegen eine Meldepflicht für „Illegale“ in Schulen aus.<br />

Offensichtlich übersteigert die gefühlte moralische Verpflichtung in diesem spezifischen Fall den selbstauferlegten<br />

Zwang zur Rationalität.


11<br />

Trotz dieser ökonomisch-gemeinwohlorientierten Betrachtungsperspektive wurde der Kom-<br />

missionsbericht von Flüchtlingsorganisationen positiv kommentiert. Dabei kam es zu interessan-<br />

ten Umdeutungen. PRO ASYL lobte zum Beispiel die konsequente Hervorhebung der Schutz-<br />

bedürftigkeit von nichtstaatlich und aufgrund ihres Geschlechts verfolgten Personen. 18 Der<br />

Kommissionsbericht enthält aber keinen Vorschlag zur Verbesserung der Situation der davon<br />

Betroffenen. Demgegenüber wurde der erste Referentenentwurf (Schily-Entwurf 2001a u.<br />

2001b) zum Zuwanderungsgesetz wegen seiner angeblichen Illiberalität teilweise heftig kriti-<br />

siert. Der UNHCR beklagte z.B. die Nichtberücksichtigung geschlechtsspezifischer und nicht-<br />

staatlicher Verfolgung sowie den Ausschluss selbstverantworteter Nachfluchtgründe; die Evan-<br />

gelische Kirche vermisste die Einführung einer Härtefallregelung. 19 In der UKZ hatten die Ver-<br />

treter dieser Organisationen die nunmehr kritisierten Bestimmungen jedoch selbst beschlossen.<br />

3.2 Die parlamentarische Repräsentation von Migranteninteressen 1998-2005<br />

Bei der Analyse der parlamentarischen Repräsentation von Migranteninteressen in den Jahren<br />

zwischen 1998 bis 2005 sind zwei Politikprozesse voneinander zu unterscheiden: Die 1999 be-<br />

schlossene Reform des Staatsbürgerschaftsrechts 20 sowie die im Jahr 2000 einsetzende und erst<br />

im Jahr 2004 durch Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes endende Diskussion zum Zu-<br />

wanderungsrecht. Beide Debatten fanden unter großer öffentlicher Anteilnahme statt, wobei<br />

letztere von der UKZ mitgeprägt wurde, während erstere einen klassisch-parlamentarischen Par-<br />

teienkonflikt darstellt.<br />

3.2.1 Die Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts<br />

Analysiert man die beiden Bundestagsdebatten zur Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts im<br />

Jahr 1999, 21 so treten die grundsätzlichen Unterschiede zu deliberativ-rationalen Entscheidungs-<br />

prozessen deutlich zu Tage. Die Debatten wurden in einem hohen Maße konfliktiv geführt. Es<br />

geht um die Zurschaustellung und Begründung der jeweils eigenen Position. Man sucht nicht<br />

den Konsens, sondern die Unterstützung der Mehrheit und der eigenen Klientel. Die Emotionali-<br />

tät der Diskussion spiegelt sich in Äußerungen, die wohl keineswegs im Migranteninteresse wa-<br />

ren. So verbanden Konservative die Vorlage häufig mit dem Thema „Kriminalität“, z.B. mit<br />

dem Fall des jugendlichen Serienstraftäters „Mehmet“.<br />

18 Vgl. Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik, 21. Jg., Heft 5/2001, 238.<br />

19 Vgl. Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik, 21. Jg., Heft 6/2001, 285f.<br />

20 Beschlossen wurde das sog. „Optionsmodell“. In Deutschland geborenen Kindern ausländischer Eltern wurde<br />

damit (auch rückwirkend) die Möglichkeit gegeben, bis spätestens zum 23. Lebensjahr zwei Pässe zu haben.<br />

Außerdem wurde die zur Einbürgerung berechtigende Aufenthaltsdauer von Migranten in Deutschland wesentlich<br />

herabgesetzt.<br />

21 Bundestags-Plenarprotokoll 14/28; Bundestags-Plenarprotokoll 14/40.


12<br />

Trotz (oder gerade wegen) dieser Emotionalität zeugen die Plenarprotokolle jedoch von einem<br />

grundsätzlichen Vorteil des parlamentarischen Verfahrens für die Repräsentation von Migran-<br />

teninteressen. Die Argumente, die von den Befürwortern der Liberalisierung des Staatsbürger-<br />

schaftsrechts vorgebracht wurden, weisen nämlich sehr häufig einen partikularen Bezug auf. Die<br />

Neuregelung wurde gerade damit legitimiert, dass sie im Interesse von Migranten sei. Jene ar-<br />

gumentativ hervorgehobenen „Notwendigkeiten“, die im Bericht der UKZ fast ausschließlich<br />

aus gesamtökonomischen Erwägungen resultieren, wurden in den Debatten zum Staatsbürger-<br />

schaftsrecht als Resultat legitimer Individualansprüche dargestellt. In der gesamten Debatte, also<br />

nicht nur im Bundestag sondern auch in den Verlautbarungen der Parteien und bei der Anhörung<br />

im Innenausschuss (1999a und 1999b), sprachen die Befürworter der Liberalisierung die Belan-<br />

ge von Migranten direkt an, ohne bei ihrer Argumentation den Umweg über das Allgemeinwohl<br />

oder ökonomische Aspekte gehen zu müssen.<br />

Interessant ist, dass auch die Gegner der Neuregelung als Argumentationsstrategie im Laufe<br />

der Beratungen immer häufiger auf Begründungsweisen zurückgriffen, die auf den gleichbe-<br />

rechtigten Status des einzelnen Bürgers und auf das vermeintliche Interesse von Migranten re-<br />

kurrieren. Es sei nicht hinnehmbar, dass Migranten mit dem „Doppelpass“, aber auch mit der<br />

Optionsmöglichkeit, ein Recht zuerkannt werde, dass andere nicht hätten, so eine Argumentati-<br />

on. Dies unterstreicht den republikanischen Charakter der Debatte (dazu Gerdes/Faist 2006).<br />

Außerdem hielten Gegner der Reform den Befürwortern entgegen, das Optionsmodell stelle<br />

Migranten vor teilweise kaum lösbare Identitätskonflikte. 22<br />

Bemerkenswert ist außerdem, wie selten von den Befürwortern der Novelle auf Einlassungen<br />

von Migrantenverbänden verwiesen wurde, während die Positionen vermeintlicher Advokatoren<br />

von Migranten (insbesondere der Kirchen) immer wieder Erwähnung fanden. Der Stellenwert<br />

und die öffentliche Legitimationswirkung der Äußerungen von Migrantenselbstvertretungen<br />

waren insbesondere aufgrund ihrer Heterogenität begrenzt. So setzte sich der Vertreter der Bun-<br />

desarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände (ein Kurde) bei der Anhörung im Innenaus-<br />

schuss vor allem mit der seines Erachtens ablehnenswerten Politik des türkischen Staates und<br />

der diesbezüglichen „Funktion“ der Türkeistämmigen in Deutschland auseinander (Innenaus-<br />

schuss 1999b: 270f.). Trotzdem wurde bei der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts ein Min-<br />

derheiteninteresse mehrheitsfähig – und zwar in Form klassischer, parlamentarisch-<br />

parteipolitischer Repräsentation, deren Inhalt wohl nicht unwesentlich auf wahltaktische Erwä-<br />

gungen der zustimmenden Parteien zurückzuführen sein dürfte. Neben unterschiedlichen Sicht-<br />

weisen von Nation und politischer Gemeinschaft fand die Gesetzesänderung nämlich auch vor<br />

22 Vgl. z.B. Bundestags-Plenarprotokoll 14/40, 3421.


13<br />

dem Hintergrund konkreter Interessen statt. 23 Die Debatte zum Staatsbürgerschaftsrecht ist ein<br />

fast schon idealtypisches Beispiel für einen einerseits stark konfliktiven (CDU-<br />

Unterschriftenkampagne gegen den Doppelpass) gleichsam aber auch die partikularen Belange<br />

von Gruppen direkt repräsentierenden Politikprozess. Politisierung und Inklusion durch Reprä-<br />

sentation gingen hier Hand in Hand.<br />

3.2.2 Die Zuwanderungsdebatte<br />

Die parlamentarische Beratung des Zuwanderungsgesetzes vollzog sich in zwei Phasen. Nach-<br />

dem das BVerfG die im Jahr 2002 beschlossene Regelung aus formalen Gründen gekippt hatte,<br />

kam es bei der Neueinbringung wieder zum Konflikt zwischen unionsdominiertem Bundesrat<br />

und Bundestag. Dies führte zu langwierigen, mehrmals vor dem Scheitern stehenden und durch<br />

zahlreiche öffentliche Verlautbarungen der Beteiligten begleiteten Verhandlungen im Vermitt-<br />

lungsausschuss. Im Juli 2004 wurde das Gesetz schließlich im Konsens verabschiedet.<br />

Der erste Gesetzentwurf der Bundesregierung enthielt im Vergleich zur Vorlage der UKZ<br />

und zum ersten Referentenentwurf des Bundesinnenministeriums vom 03.08.2001 bereits eine<br />

entscheidende Änderung. Die nichtstaatliche und die geschlechtsspezifische Verfolgung werden<br />

im ersten Gesetzentwurf zwar nicht als Asylgrund, aber als zwingendes Abschiebungshindernis<br />

festgelegt. 24 Diese – aus Sicht von Flüchtlingen – Verbesserung konnten die Grünen nach zähen<br />

Verhandlungen gegen den Widerstand von Otto Schily 25 durchsetzen, wobei mit dem Abbruch<br />

der Verhandlungen und zwischenzeitlich sogar mit dem Bruch der Koalition gedroht wurde. 26<br />

Dabei beriefen sie sich nachträglich auch auf die Stellungnahme von Roland Schilling vom<br />

UNHCR in der Anhörung des Innenausschusses (2002: 106-109). 27 Der Punkt konnte bekannt-<br />

lich von Schilling in der UKZ nicht durchgesetzt werden. Die Frage der nichtstaatlichen und<br />

geschlechtsspezifischen Verfolgung blieb letztlich bis zum Abschluss der Verhandlungen im<br />

Vermittlungsausschuss im Jahr 2004 ein Hauptstreitthema.<br />

23<br />

Zum positiven Verhältnis von „überlappender Mitgliedschaft“ (im vorliegenden Fall das bestehende bzw. angestrebte<br />

Wahlrecht für Migranten und dessen konkrete Ausübung in Form der gruppenspezifisch stark überdurchschnittlichen<br />

Wahlentscheidung für die damaligen Regierungsparteien – besonders die SPD) und politischer<br />

Integration bzw. Interesseninklusion vgl. <strong>Linden</strong> 2007 u. 2008.<br />

24<br />

Vgl. Bundestags-<strong>Dr</strong>ucksache 14/7387 v. 08.11.2001, Gesetzentwurf von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zum<br />

Zuwanderungsgesetz, 21. Nicht vorhanden ist die Regelung im betreffenden Abschnitt des Schily-Entwurfs<br />

(2001a, 35).<br />

25<br />

Otto Schily betonte bei der abschließenden Aussprache zum Zuwanderungsgesetz im Jahr 2004, welch entscheidende<br />

Verbesserung die getroffene Regelung zur nichtstaatlichen und geschlechtsspezifischen Verfolgung<br />

für den betroffenen Personenkreis mit sich bringe. Die Ausführungen wurden um anschauliche (und anrührende)<br />

Beispiele zu möglichen Flüchtlingsbiographien ergänzt (Bundestags-Plenarprotokoll 15/118, 10720).<br />

26<br />

Vgl. Süddeutsche Zeitung v. 08.09.2001, 2; Süddeutsche Zeitung v. 29.10.2001, 1f.; Agence France Press, Meldungen<br />

v. 04.11.2001.<br />

27<br />

Vgl. die Rede von Kerstin Müller (Bündnis 90/Die Grünen), Bundestags-<strong>Dr</strong>ucksache 14/222, 22036.


14<br />

Die Gespräche im Vermittlungsausschuss und den zugehörigen informellen Runden besaßen<br />

eine völlig andere Struktur als die Deliberation in der UKZ. Ganz offensichtlich gelang es den<br />

rot-grünen Vertretern, die Zustimmung der Opposition zu Verbesserungen im Flüchtlingsschutz<br />

zu erlangen, indem gleichzeitig Zugeständnisse in der Frage Sicherheit gemacht wurden, wobei<br />

die Konfliktlinien auch zwischen Ministerium und Regierungsparlamentariern verliefen. Im<br />

Laufe der Verhandlungen zeichnete es sich als grüne Verhandlungsposition ab, dass das Punkte-<br />

system und die Aufhebung des Anwerbestopps wohl nicht durchsetzbar sein würden, dafür aber<br />

in der Flüchtlingspolitik eine strikte Linie zu vertreten sei. 28 Neben Sicherheitsfragen wurde also<br />

auch die Forderung nach einem (im Vergleich zu den Vorschlägen der UKZ „abgeschwächten“)<br />

Punktesystem von den Grünen (und offensichtlich auch von der SPD) bewusst als „Verhand-<br />

lungsmasse“ genutzt, „um Verhandlungsspielraum bei anderen Streitpunkten zu wahren“<br />

(Schneider 2007: 331).<br />

Der vom Vermittlungsausschuss (und von Gerhard Schröder in sog. „Spitzengesprächen“)<br />

vereinbarte Vorschlag 29 hat folgerichtig nichts mit einem rationalen Konsens zu tun, sondern<br />

spiegelt eine klassische Konfliktlösung des Gebens und Nehmens. Für Flüchtlinge sind die Er-<br />

gebnisse dieser typisch parlamentarischen Verfahrensweise positiver als die Ergebnisse des de-<br />

liberativen Gremiums UKZ. Demgegenüber wird die Gruppe der vermeintlich „nützlichen<br />

Migranten“, also vor allem die der Hochqualifizierten, vergleichsweise schlechter repräsentiert,<br />

da vom Punktesystem Abstand genommen wurde. Das schließlich verabschiedete Zuwande-<br />

rungsgesetz enthält nunmehr bedeutsame Regelungen zum Flüchtlingsschutz (dazu Duchrow<br />

2004), die in der Unabhängigen Kommission „Zuwanderung“ nicht durchsetzungsfähig waren:<br />

• In § 60 I Aufenthaltsgesetz wird die geschlechtsspezifische und nichtstaatliche Verfolgung<br />

als zwingendes Abschiebungshindernis gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention definiert.<br />

Die Anerkennungszahlen fluktuieren seit Einführung der Neuregelung, wobei der jüngst zu<br />

verzeichnende starke Anstieg die auch in quantitativer Hinsicht vorhandene Bedeutung der<br />

Regelung unterstreicht (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2008: 44f.).<br />

• Den Bundesländern ist es nach § 23a Aufenthaltsgesetz freigestellt „Härtefallkommissionen“<br />

einzurichten und auf deren „Härtefallersuchen“ hin eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.<br />

Mit Bayern hat nunmehr das letzte Bundesland diese Kommissionen eingerichtet. 30 Die Re-<br />

gelung, deren Befristung bis zum 31.12.2009 in Kürze nach einer Gesetzesinitiative der FDP<br />

28<br />

Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 17.02.2004, 2; Süddeutsche Zeitung v. 28.02.2004, 7.<br />

29<br />

Vgl. Bundestags-<strong>Dr</strong>ucksache 15/3479.<br />

30<br />

Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik, 26. Jg., Heft 8/2006, 298; Entscheidungen Asyl, hg. v.<br />

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 15. Jg., Heft 1/2008, 5.


15<br />

aufgehoben werden wird, 31 hat keineswegs nur symbolischen Charakter. Bis Ende 2006<br />

wurde rund 3.500 Personen auf diesem Weg eine Aufenthaltserlaubnis erteilt (Bundesregie-<br />

rung 2007: 84). Nach den Beschlüssen der UKZ drohte hier die Abschiebung.<br />

4. Fazit<br />

Das Ergebnis des hier vorgenommenen empirischen Vergleichs fällt somit recht eindeutig aus<br />

und bestätigt die theoretischen Grundannahmen weitgehend: Für die UKZ als typischer Form<br />

deliberativ-rationaler Repräsentation ist eine starke Dispariät bei der Repräsentation von<br />

Migranteninteresen zu konstatieren. Als vermittlungs- und durchsetzungsfähig erwiesen sich<br />

dabei jene Gruppeninteressen, die sich an ein ökonomisch definiertes Allgemeinwohl rückkop-<br />

peln ließen. Flüchtlingsinteressen, auf die das in der Regel nicht zutrifft, wurden in der UKZ<br />

trotz gegenteiliger Rhetorik und öffentlicher Wahrnehmung weniger gut repräsentiert. Es steht<br />

zu vermuten, dass die spezifische Form der Repräsentation dieses Ergebnis entscheidend deter-<br />

miniert hat. Dafür spricht insbesondere auch die Besetzung der UKZ, die überwiegend aus<br />

„migrantenfreundlich“ und liberal eingestellten Personen bestand, also kaum jene vergleichs-<br />

weise restriktiveren Vorschläge zum Flüchtlingsschutz erwarten ließ.<br />

Die Trennlinien zwischen der Repräsentation gesamtgesellschaftlich als „zuträglich“ bzw.<br />

„belastend“ definierter Migrantengruppen verliefen im Rahmen parlamentarisch-<br />

parteipolitischer Repräsentation wesentlich weniger scharf als in einem Gremium, das sich einer<br />

rationalen Konsensfindung verpflichtet sah, ohne auf die Unterstützung von Wählergruppen,<br />

Fraktionen, Abgeordneten, Parteimitgliedern und plural-strukturierter Öffentlichkeit angewiesen<br />

zu sein. Partikulare, auf die legitimen Ansprüche einzelner Bürger bzw. Personen abstellende<br />

Argumentationen erhielten eine weitaus größere Wertigkeit. Die eigenen Positionen der Reprä-<br />

sentanten mussten im Grundsatz aufrechterhalten und vor Wählerschaft und Parteimitgliedschaft<br />

legitimiert werden. Insbesondere die Vertreter der Grünen konnten es sich nicht erlauben, ihre<br />

Stellung zur Frage der geschlechtspezifischen und nichtstaatlichen Verfolgung als Verhand-<br />

lungsmasse zu benutzen, wohingegen die Ansprüche jener Migrantengruppen, von denen ein<br />

gesamtökonomischer Mehrwert erwartet wurde, zugunsten von Verbesserungen im moralisch<br />

als geboten angesehenen Flüchtlingsschutz weichen mussten. Umgekehrt trug die anhaltende<br />

öffentliche Debatte, die sich trotz teilweise informeller Verhandlungsstrukturen aus der steten<br />

Medienpräsenz zentraler Akteure ergab, dazu bei, dass asylpolitische Vorbehalte auf Oppositi-<br />

ons- und Regierungsseite langsam fallen gelassen wurden. Die vor dem Hintergrund einer gro-<br />

ßen Anteilnahme der Öffentlichkeit ablaufende Debatte über das Staatsbürgerschaftsrecht ist ein<br />

31 Vgl. Bundestag-Plenarprotokoll 16/179, 19006-19019 sowie Bundesregierung 2008.


16<br />

weiteres Beispiel dafür, wie eine konfliktiv angelegte Diskussion partikulare Anliegen in den<br />

Vordergrund treten lassen kann.<br />

Somit lassen sich abschließend drei grundsätzliche Vorteile der parlamentarisch-<br />

parteipolitischen gegenüber der deliberativ-rationalen Repräsentation von schwachen, nicht an<br />

das vermeintliche Allgemeinwohl rückkoppelbaren Interessen identifizieren:<br />

• Voice: Die parlamentarisch-parteipolitische Repräsentation bietet bessere Möglichkeiten für<br />

die Artikulation von Partikularinteressen.<br />

• Mobilisierung und Gewinnung von Unterstützung: Sie bietet infolge dessen auch bessere<br />

Möglichkeiten, die negative Betroffenheit und die Anliegen von spezifischen Gruppen zum<br />

Thema öffentlicher Erörterungen zu machen.<br />

• Interessendurchsetzung durch Geben und Nehmen: <strong>Dr</strong>ittens ermöglicht sie Verhandlun-<br />

gen und Tauschgeschäfte zugunsten partikularer, nicht-ökonomisierbarer Ansprüche.<br />

Frank-Walter Steinmeier (2001: 265) hat die Einrichtung deliberativer Gremien folgender-<br />

maßen begründet: „Konsenssuche wird hier zu einem dynamischen Prozess, in dessen Verlauf<br />

man traditionelle Blockaden überwindet, und dafür sorgt, dass sich in komplexen Entschei-<br />

dungsprozessen die Waagschale im richtigen Moment zugunsten der Erneuerung senkt.“ Ein,<br />

wie andere auch, legitimes politisches Programm erhielt folglich bewusst institutionelle Unter-<br />

stützung in Form von Gremien, deren Entscheidungen vermutlich nicht nur im vorliegenden Fall<br />

von einer spezifisch wissensbasierten Disparität der Repräsentation zeugen. Die dort vornehm-<br />

lich ökonomisch definierten Maßstäbe einer angeblich gemeinwohlfördernden Politik stärken<br />

die Interessen jener Gruppen, deren Anliegen sich in eine (in rationalen Kontexten) allgemein<br />

zustimmungsfähige Nützlichkeitsgrammatik übersetzen lassen. Der parlamentarische Prozess,<br />

dem solche Ungleichbehandlungen in ähnlicher Form nachgesagt werden, wirkt diesen Charak-<br />

teristika im vorliegenden Fall entgegen. Wer scheinbar „verstaubte“ Institutionen im politischen<br />

Prozess durch Repräsentationsformen ersetzen will, die ein a priori determiniertes Senken politi-<br />

scher Waagschalen implizieren, erweist den Grundsätzen der Gleichheit, Offenheit, Pluralität<br />

und prinzipiellen Inklusivität des Politischen wohl nicht viel mehr als einen Bärendienst.<br />

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