Marcus Höreth TU Kaiserslautern marcus.hoereth@sowi ... - DVPW
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<strong>Marcus</strong> <strong>Höreth</strong><br />
<strong>TU</strong> <strong>Kaiserslautern</strong><br />
<strong>marcus</strong>.<strong>hoereth@sowi</strong>.uni-kl.de<br />
Grüß-August, Staatsnotar oder Vetospieler?<br />
Zur Bestimmung der Rolle des Bundespräsidenten im Regierungssystem<br />
Papier für den <strong>DVPW</strong> Kongress, Universität Tübingen, 25.-29. September 2012<br />
Sektion „Regierungssystem und Regieren in der Bundesrepublik Deutschland“<br />
Panel „Der Bundespräsident als politischer Akteur“<br />
1. Einleitung<br />
Bei der Ende 2011 beginnenden und auch nach dem Rücktritt von Christian Wulff noch andauernden<br />
öffentlichen Debatte um den Bundespräsidenten lassen sich zwei Diskursebenen<br />
voneinander unterscheiden. Zum Einen betraf sie - solange Wulff noch im Amt war - zunächst<br />
die Person des Präsidenten und seine Eignung für dieses Amt und mündete in die Frage, ob<br />
dieser zurücktreten solle oder nicht. Nach dem Rücktritt von Wulff wurde diese Debatte nahtlos<br />
fortgesetzt - nur die Personen haben sich ausgetauscht. Nunmehr galt es die Eignung des<br />
damals designierten und inzwischen sein Amt angetretenen Nachfolgers Joachim Gauck auf<br />
den öffentlichen Prüfstand zu stellen, bevor dieser dann im März d.J. in der Bundesversammlung<br />
gewählt wurde. Zum Anderen drehte und dreht sich die Debatte noch immer um das Amt<br />
selbst, das in seiner jetzigen Ausgestaltung – unabhängig vom Amtsinhaber – immer häufiger<br />
in Frage gestellt wurde und weiter wird. Dahinter verbirgt sich eine große Unsicherheit darüber,<br />
welche Rolle einem Bundespräsidenten im parlamentarischen Regierungssystem der<br />
Bundesrepublik zugedacht ist. Während auf der ersten Diskursebene die Politikwissenschaft<br />
kaum etwas beizutragen vermag, kann sie (und die Staatsrechtslehre) zum zweiten Problem<br />
ihre Expertise anbieten. Im Folgenden werde ich aber zunächst zeigen, dass auch in der Politikwissenschaft<br />
keine eindeutigen Aussagen zum Amt des Bundespräsidenten vorzufinden<br />
sind. Das Spektrum der Rollenzuweisungen und Funktionszuschreibungen im wissenschaftlichen<br />
Schrifttum reicht soweit, dass der Präsident in einem Kontinuum wahlweise zwischen<br />
politischer Bedeutungslosigkeit („Grüß-August“) und echter politischer Macht („Vetospieler“)<br />
schwankt. Ich werde versuchen, diese unterschiedlichen Rollenzuweisungen auf die ihnen<br />
zugrundeliegenden Prämissen und die ihnen inhärenten „Logiken“ zurückzuführen.<br />
Schließlich werde ich argumentieren, dass diese tradierten Rollenzuweisungen zwar nicht<br />
völlig aufgegeben werden müssen, jedoch zugunsten einer empirisch besser informierten und<br />
an dem Prinzip der Gewaltenteilung orientierten Perspektive ergänzt werden sollten. Am Beispiel<br />
des mächtigsten Instruments, über das der Bundespräsident verfügt, sein Gesetzesausfertigungsverweigerungsrecht,<br />
kann gestützt auf empirischen Erkenntnissen gezeigt werden, dass<br />
sich die Bestimmung der Rolle des Bundespräsidenten im zuvor aufgezeigten Kontinuum<br />
zwischen Grüßaugust und Vetospieler aus dem Koalitionsformat der Regierung ergibt - bzw.<br />
normativ gewendet - ergeben sollte.<br />
1
2. Kontroversen um das Amt des Bundespräsidenten in der Wissenschaft<br />
Jahrzehntelang erschien es der Politikwissenschaft in Deutschland kaum als notwendig, intensiver<br />
über die Rolle des Bundespräsidenten im Regierungssystem der Bundesrepublik nachzudenken.<br />
1 Das liegt vor allem daran, dass sich die Forschung weitgehend darin einig ist, dass<br />
das Staatsoberhaupt in erster Linie repräsentative und staatsnotarielle Aufgaben wahrzunehmen<br />
hat und ihm darüber hinaus lediglich gewisse relativ unstrittige Reserve- und „Vorbeugungs“-Funktionen<br />
(Gu 1999) zukommen. Solange sich Bundespräsidenten im Wissen um die<br />
Beschränktheit der Kompetenzausstattung ihres Amtes tatsächlich auf das „Reden“ beschränkten,<br />
solange warf dieses spezielle Amt keine tiefgreifenden Irritationen und Fragestellungen<br />
in der Politikwissenschaft auf. Und doch ist seit der Wahl des zweiten Bundespräsidenten<br />
1959 immer wieder eine öffentlich kaum beachtete Diskussion insbesondere in der<br />
Staatsrechtslehre und der damals noch sehr jungen Politikwissenschaft um die Befugnisse des<br />
Bundespräsidenten entbrannt. Im Zentrum dieser Debatte stand und steht das Prüfungsrecht<br />
des Präsidenten gegenüber neu geschaffenen Gesetzen, die ihm zur Unterzeichnung und Ausfertigung<br />
vorgelegt werden.<br />
2.1. Westminister-Logik: Der Bundespräsident als „Grüß-August“<br />
Wohl bei keinem anderen Verfassungsorgan in der Bundesrepublik ist das Bemühen der Verfassungsmütter<br />
und -väter, es beim Grundgesetz „besser zu machen“ als bei der Weimarer<br />
Reichsverfassung, deutlicher zu erkennen als beim Bundespräsidenten, denn „(…) voller<br />
Misstrauen wurde das Amt des Bundespräsidenten auf ein Minimum von Macht reduziert“<br />
(Ellwein 1965: 281). Hatte das Staatsoberhaupt nach der Weimarer Reichsverfassung und<br />
dem dort konzipierten parlamentarischen System mit „Präsidialdominanz“ (Winfried Steffani)<br />
noch eine Schlüsselrolle inne, so wurde es offensichtlich im Bonner Grundgesetz bewusst nur<br />
mit Residualkompetenzen ausgestattet, die es ihm nicht gestatten sollten, erneut die Geschicke<br />
der Politik maßgeblich zu bestimmen. Diese Interpretation war bis weit in die 60er Jahre hinein<br />
das, was Juristen als „herrschende Meinung“ bezeichnen. Insbesondere die Politikwissenschaft<br />
im Nachkriegsdeutschland wies mit Vehemenz darauf hin, dass die wesentliche Grundentscheidung<br />
der Mütter und Väter des Grundgesetzes jene für ein strikt parlamentarisches<br />
Regierungssystem war, in dem die Richtlinienkompetenz beim Kanzler liege, der, gestützt auf<br />
seine parlamentarische Mehrheit, die Agenda der Politik bestimmen sollte (Hennis 1964; Bracher<br />
1965). Früh schon entwickelte die Politikwissenschaft - gegen damals durchaus noch<br />
gängige Auffassungen der Staatsrechtslehre - jene Theorie des Neuen Dualismus, nach der<br />
Regierung und parlamentarische Mehrheit eine Handlungseinheit bilden, der sich die Opposition<br />
entgegenstellte (Steffani 1979). So standen sich nicht mehr Exekutive und Legislative im<br />
Sinne eines klaren Gewaltentrennungsmodells gegenüber, sondern Regierungsmehrheit und<br />
Opposition, was eine organübergreifende Gewaltenverschränkung zwischen Exekutive und<br />
Legislative unvermeidlich machte. Setzte man die Westminster-Brille auf, so waren der Kanzler<br />
und seine Regierung „Fleisch aus dem Fleische des Parlaments“, die die Geschicke der<br />
1 Rühmliche Ausnahme hierbei Kaltefleiter (1970).<br />
2
Politik bestimmen sollten, solange diese Handlungseinheit von Regierung und parlamentarischer<br />
Mehrheit nur zusammenhielt. Von diesem Grundkonzept ausgehend wurde das gesamte<br />
Regierungssystem rationalisiert.<br />
Wo war da nun Platz für den Bundespräsidenten? Um für ihn eine systemgerechte<br />
Rolle definieren zu können, konnte ihm in diesem System des Neuen Dualismus nur eine ähnliche<br />
Rolle zugedacht werden wie dem Monarchen in einer parlamentarischen Monarchie, der<br />
sich - wie in Großbritannien - historisch nur deshalb halten konnte, weil er politisch machtlos<br />
geworden war. Funktionslogisch notwendig ist das Amt des Bundespräsidenten gemäß des<br />
Axioms des Neuen Dualismus also nicht wirklich, zumindest jedoch sollte es dieser Funktionslogik<br />
nicht in die Quere kommen - doch nützlich konnte und sollte es durchaus sein. Aus<br />
dieser Analyse ergibt sich, dass der Bundespräsident als „politisch schwaches Staatsoberhaupt“<br />
(Schmidt 2007: 176) weitgehend auf repräsentative Aufgaben beschränkt bleiben sollte,<br />
um so den Regierungschef zu entlasten. Dies gilt zunächst einmal für die Außenpolitik: So<br />
obliegt dem Bundespräsidenten zwar die völkerrechtliche Vertretung der Bundesrepublik<br />
Deutschland (Art. 59 GG), allerdings gewinnt das Staatsoberhaupt hierdurch keinen eigenständigen<br />
Spielraum. Er bleibt in auswärtigen Angelegenheiten stets an die Vorgaben der<br />
Bundesregierung gebunden und artikuliert „deren Willen, bildet ihn aber nicht selbst“ (Ipsen<br />
1993: 141).<br />
Nach innen ist der Bewegungsspielraum des Bundespräsidenten ebenfalls erheblich<br />
eingeschränkt (vgl. Strohmeier 2008). Formal ist er zwar an der Regierungsbildung beteiligt,<br />
da er einen Kandidaten für die Wahl zum Bundeskanzler benennt (Art. 63), doch ist er dabei<br />
strikt an den parlamentarischen Mehrheitswillen gebunden, da „sein“ Kandidat letztlich vom<br />
Parlament bestätigt werden muss (Kaltefleiter 1970: 212 ff.). Auch bei der Ernennung und<br />
Entlassung von Bundesministern (Art. 64 GG) hat der Bundespräsident nur sehr theoretische<br />
Einflussmöglichkeiten, in der politischen Praxis kann er sich jedoch den entsprechenden Personalvorschlägen<br />
des Kanzlers kaum widersetzen. Was dem Staatsoberhaupt angesichts des<br />
Mangels an eigenständiger potestas bleibt, ist der Versuch, dies durch persönliche auctoritas<br />
auszugleichen. Im besten Fall leistet dies der Bundespräsident, indem er insbesondere durch<br />
rhetorisches Handeln das Staatsganze darstellt und die Einheit des Volkes nach innen und<br />
außen verkörpert (Decker 2011: 331; Isensee 1994: 1329). Lediglich in parlamentarischen<br />
Krisensituationen kann dem Bundespräsidenten eine wichtige Rolle zuwachsen, wenn er sich<br />
etwa gedrängt sieht, den Bundestag aufzulösen. Zwar hat er grundsätzlich diese Befugnis immer<br />
dann, wenn bei der Kanzlerwahl auch im dritten Wahlgang kein Kandidat die absolute<br />
Mehrheit der Stimmen des Parlaments auf sich vereinen kann (Art. 63 Abs. 4 GG) oder aber<br />
die Vertrauensfrage des Kanzlers gescheitert ist (Art. 68 GG). Doch sind derartige Krisensituationen<br />
im parlamentarischen Betrieb eingetreten, wird die vom Bundespräsidenten verfügte<br />
Auflösung des Bundestags und der damit frei gemachte Weg zu Neuwahlen in der Regel von<br />
einer großen lagerübergreifenden parlamentarischen Mehrheit begrüßt werden. Insoweit der<br />
Bundespräsident auch hier sich dem Willen der parlamentarischen Mehrheit in der Staatspraxis<br />
nicht entgegen stellen wird, wären seine diesbezüglichen Kompetenzen auch anderweitig<br />
ersetzbar - etwa durch ein so im Grundgesetz nicht vorgesehenes Selbstauflösungsrecht des<br />
Bundestags.<br />
3
Da der Bundespräsident für die Funktionsfähigkeit eines parlamentarischen Regierungssystem<br />
im Grunde letztlich verzichtbar ist - wie man übrigens schon mit Blick auf die<br />
Regierungssysteme der Bundesländer sehen kann, die allesamt ohne einen solchen Präsidenten<br />
auskommen (Decker 2004: 183) - war und ist dessen Existenz auf Bundesebene solange<br />
gut zu verschmerzen, solange man sich einreden konnte, im Grunde sei der Bundespräsident<br />
bezogen auf die realen politischen Machtverhältnisse kaum mehr als eine ‚quantité<br />
negligiable‘, eine Randfigur, die sich weitgehend aufs Repräsentieren beschränkt und auch<br />
beschränken sollte. Dementsprechend zurückhaltend und defensiv wurden das Amt und seine<br />
Funktionen von Politikwissenschaft und Staatsrechtslehre immer beschrieben. Grundsätzlich<br />
gilt hier wie dort, dass das Modell der parlamentarischen Demokratie dem Bundespräsidenten<br />
als „einem Staatsoberhaupt, das nicht zugleich Regierungschef ist, im Spiel der Kräfte und<br />
Gegenkräfte keinen natürlichen, quasi systemtragenden Platz“ (Nettesheim 2005: § 1) einräumen<br />
durfte. Dem entspricht es auch, dass alle präsidialen Anordnungen und Verfügungen<br />
der Gegenzeichnung durch Regierungsmitglieder bedürfen (Art. 58 GG).<br />
International vergleichende Analysen parlamentarischer Regierungssysteme wie jene<br />
klassische Studie von Werner Kaltefleiter (1970) bestätigten jedoch schon früh, dass kaum ein<br />
parlamentarisches Regierungssystem auf jene doppelte Exekutive verzichten will 2 , in der dem<br />
sich auf stabile parlamentarische Mehrheiten stützenden Regierungschef die politisch maßgebliche<br />
Rolle zugedacht war, während das Staatsoberhaupt das Gemeinwesen vor allem repräsentieren<br />
sollte. Damit das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik möglichst<br />
reibungslos gemäß dieser Westminsterlogik funktionieren konnte, betonte die Nachkriegspolitikwissenschaft<br />
bis heute, wie wichtig es sei zu vermeiden, dass das Staatsoberhaupt<br />
in eine wie auch immer geartete Konkurrenzsituation mit dem Regierungschef gerät. Kurz: Je<br />
weniger Macht und Einfluss der Bundespräsident hat - und je stärker er sich aufs Reden und<br />
Repräsentieren beschränkt - desto besser für die (damals noch junge) parlamentarische Parteiendemokratie<br />
des Grundgesetzes. Vor diesem Hintergrund sind die jüngsten Irritationen einiger<br />
Politikwissenschaftler zu verstehen, die in der selbstbewussten und die präsidialen Kompetenzgrenzen<br />
auslotenden Amtsführung des Vor-Vorgängers von Gauck, Horst Köhler, gar<br />
einen „Hauch von Weimar“ (Leggewie 2006) erblicken wollten oder mit kritischem Blick auf<br />
die eigene Disziplin danach fragten, wie denn der Bundespräsident als „außerparlamentarische<br />
Opposition“ mit der reinen Lehre des parlamentarischen Regierungssystems in Einklang<br />
zu bringen sei (Lhotta 2008).<br />
2.2. Staatsrechtliche Logik: Bundespräsident als Staatsnotar<br />
Die Staatsrechtslehre schaute etwas differenzierter auf das Amt des Bundespräsidenten als die<br />
Politikwissenschaft. Sie setzte eine andere Brille auf. Für sie waren offensichtlich andere<br />
Grundentscheidungen des Parlamentarischen Rates mindestens ebenso wichtig wie die Entscheidung<br />
für ein parlamentarisches Regierungssystem, das sie im Übrigen lange nicht richtig<br />
2 Einzige mir bekannte Ausnahme ist Südafrika.<br />
4
verstanden zu haben scheint 3 . Den Schwerpunkt staatsrechtlicher Betrachtungen nahm ein<br />
anderes Faktum ein: Unter dem noch frischen Eindruck der nationalsozialistischen Diktaturerfahrung<br />
entschieden sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes für einen stark ausgebauten<br />
Verfassungsstaat - und setzten damit auf ein völlig anderes Modell als Großbritannien, das<br />
noch nicht einmal eine geschriebene Verfassung kennt. Das Regieren sollte sich - um es überspitzt<br />
auszudrücken - möglichst weitgehend auf bloßen Verfassungsvollzug beschränken, d.h.<br />
nach den strengen vom GG vorgesehenen Spielregeln vollziehen. Um den korrekten Verfassungsvollzug<br />
sicherzustellen, entschied man sich aus dieser Sicht nicht nur zur Etablierung<br />
eines mächtigen Verfassungsgerichts, sondern stattete auch den Bundespräsidenten mit entsprechenden<br />
Prüf- und Kontrollrechten aus. Gerade weil der Bundespräsident noch immer als<br />
„pouvoir neutre“ betrachtet wurde, der dem sonst üblichen Parteiengezänk der parlamentarischen<br />
Demokratie enthoben war, schien er geradezu prädestiniert dafür, diese staatsnotariellen<br />
Funktionen, die im Grunde unpolitisch gedacht waren, zu übernehmen. Dies kommt etwa<br />
auch in einer Abhandlung von Ulrich Scheuner deutlich zum Ausdruck, wenn er das Amt des<br />
Bundespräsidenten schon im Titel seiner Studie vorrangig als eine „Aufgabe verfassungsrechtlicher<br />
Ordnung“ verengt (Scheuner 1966).<br />
Bei diesen „staatsnotariellen“ und „prüfungsrechtlichen“ Kompetenzen des Bundespräsidenten<br />
gehen Staatsrechtler deutlich über gängige politikwissenschaftliche Amtsinterpretationen<br />
hinaus. Insbesondere die in Art. 82 GG indirekt statuierte Kompetenz des Bundespräsidenten,<br />
Bundesgesetze vor deren Ausfertigung zu prüfen 4 , wird von Juristen deutlich expansiver<br />
interpretiert als von der Politikwissenschaft. So gab es in der Staatsrechtslehre schon<br />
immer eine nicht unbeträchtliche Anzahl an Gelehrten, die dem Bundespräsidenten ein nicht<br />
nur „formelles“, sondern auch ein „materielles“ Prüfungsrecht zubilligten, bevor dieser die<br />
vom Bundestag beschlossenen Gesetze ausfertigte. Inzwischen wurde der Nachweis erbracht,<br />
dass sogar eine deutliche Mehrheit der Verfassungsjuristen dem Bundespräsidenten ein umfängliches<br />
formelles und materielles Prüfungsrecht zubilligt (Mehlhorn 2010). Die Juristen<br />
interpretieren diesen Vorgang der Gesetzesprüfung jedoch als einen streng juristischen, weil<br />
andere als verfassungsrechtliche Maßstäbe bei dieser Prüfung keine Rolle spielen dürfen. Die<br />
Politikwissenschaftler interpretieren das dem Bundespräsidenten eingeräumte Ausfertigungsverweigerungsrecht<br />
jedoch immer von seinen politischen Konsequenzen her - verweigert der<br />
Präsident die Ausfertigung eines von der Regierungsmehrheit beschlossenen Gesetzes, so<br />
stellt er sich gegen den sich auf eine parlamentarische Mehrheit stützenden Kanzler und verstößt<br />
damit gegen die Funktionslogik des Neuen Dualismus. Politikwissenschaftlich betrachtet<br />
ist demnach die „Vetokompetenz des Staatsoberhaupts (…) in jedem Fall ein Stachel im<br />
Fleisch des parlamentarischen Systems“ (Lhotta 2008: 133). Wenn überhaupt, dann dürfte aus<br />
Sicht der am Westminstermodell geschulten Politikwissenschaft eine Ausfertigungsverweigerung<br />
nur als absolute Ausnahme passieren, d.h. nur dann, wenn die Regierungsmehrheit evident<br />
und zweifelsfrei gegen formale Verfassungsbestimmungen verstoßen habe und das Ge-<br />
3<br />
Dass es zu dem „latenten Verfassungskonflikt“ der Deutschen mit ihrem Regierungssystem kommen konnte<br />
(Patzelt 1998), ist auch auf Fehlinterpretationen der bundesrepublikanischen Staatsrechtslehre zurückzuführen.<br />
4<br />
Das Prüfungsrecht des Bundespräsidenten ergibt sich indirekt aus der Aufgabe des Bundespräsidenten, die<br />
„nach den Vorschriften dieses Grundgesetzes zustande gekommenen Gesetze“ (Art. 82 GG) auszufertigen und<br />
zu verkünden. Ob die Vorschriften des GG beachtet wurden, muss der Bundespräsident vor Ausfertigung daher<br />
prüfen, denn bei Missachtung der Vorschriften muss er die Ausfertigung selbstverständlich verweigern.<br />
5
setz deshalb formal nicht rechtmäßig zustande gekommen sei. Ein solches evident verfassungswidriges<br />
Gesetz unterzeichnen zu müssen, wollen selbst die Politikwissenschaftler dem<br />
Bundespräsidenten denn doch nicht zumuten. Doch bis heute existiert kaum eine politikwissenschaftliche<br />
Studie, die ein materielles Prüfungsrecht des Bundespräsidenten aus der Logik<br />
der Verfassungsordnung systematisch entwickelt und ostentativ anerkennt. Aus dieser Verlegenheit<br />
heraus wird höchstens konzediert, dass man das materielle Prüfungsrecht des Bundespräsidenten<br />
als „Gewohnheitsrecht“ (Patzelt 2005: 302) akzeptieren könne. Für Verfassungsjuristen,<br />
die im Amt des Bundespräsidenten vornehmlich staatsnotarielle Funktionen erkennen,<br />
die dieser ohne politische Absichten pflichtbewusst zu erfüllen hat, ist es leichter, aus<br />
dieser Perspektive heraus ein materielles Prüfungsrecht zu erkennen und anzuerkennen.<br />
In Betrachtung des Amtes des Bundespräsidenten setzen beide wissenschaftlichen<br />
Disziplinen somit bis heute die „Bonn ist nicht Weimar“-Brille auf, die ihre Wahrnehmungen<br />
und Interpretationen z. T. bis heute maßgeblich bestimmten. Da die Bundespräsidenten - mit<br />
Ausnahme von Ex-Bundespräsident Horst Köhler - generell ihre ihnen zustehenden Prüfrechte<br />
nur sehr zurückhaltend wahrgenommen haben (Rütters 2011), entbehrte die gängige Interpretation<br />
des Amtes des Bundespräsidenten als eines ohne signifikanten politischen Einfluss<br />
nicht einer gewissen Logik und Plausibilität. Umso wichtiger war und sind beiden Disziplinen<br />
die Funktionen, die diesem Amt noch verbleiben. Ob man nun im Bundespräsidenten primär<br />
einen „Grüßaugust“ erblickt oder einen „Staatsnotar“ - in beiden Disziplinen lautet die zugrunde<br />
liegende Gleichung: je weniger ein Bundespräsident echte politische Macht ausüben<br />
kann, desto weniger wird er in das Kräftespiel des parteipolitischen Wettbewerbs hineingezogen<br />
und desto stärker kann er demzufolge seine persönliche Integrität und Autorität in die<br />
Waagschale seines Amtes legen.<br />
2.3. Gewaltenteilungslogik: Der Bundespräsident als Vetospieler<br />
2.3.1. Zur Gewaltenteilungslogik des deutschen Regierungssystems<br />
Regieren in der Bundesrepublik stellt sich insgesamt deutlich komplexer dar, als es die<br />
Westminster-Logik suggeriert 5 - und es ist auch weit mehr und Anderes als bloßer Verfassungsvollzug<br />
und daher auch mit staatsrechtlichen Logiken nicht hinreichend rationalisierbar.<br />
Deutlich wird dies vor allem dann, wenn das Regieren in der Bundesrepublik aus der Perspektive<br />
der Gewaltengliederung untersucht wird (Stoiber 2007; Möllers 2005, Lhotta 2012).<br />
Während Großbritanniens Regierungssystem in Gänze von den Spielregeln des parlamentarischen<br />
Regierungssystems bestimmt wird, haben einige Politikwissenschaftler in jüngster Zeit<br />
konstatiert, dass sich das bundesdeutsche Regierungssystem durch das im Grundgesetz etablierte<br />
präsidiale Recht der Ausfertigungsverweigerung möglicherweise allmählich „sektoral<br />
präsidialisiert“ (Lhotta 2008). Wie die unter der Präsidentschaft Kohlers zu beobachtende<br />
wiederholte Weigerung zur Gesetzesausfertigung suggeriert (vgl. <strong>Höreth</strong> 2008), lässt sich der<br />
Bundespräsident als echter „nachträglicher und fallabhängiger“ (Stoiber 2007: 33) Vetospieler<br />
interpretieren, den die im parlamentarischen Regierungssystem zum Regieren beauftragte<br />
5 Die folgenden Überlegungen stützen sich im Wesentlichen auf Lhotta (2012).<br />
6
Regierungsmehrheit nicht ohne Weiteres absorbieren kann. Hierdurch könnte sich zumindest<br />
partiell die mehrheitsbestimmte Funktionslogik des parlamentarischen Regierungssystems<br />
ändern. Aus gewaltenteilungstheoretischer Perspektive wurde daher zuletzt gefragt, ob sich<br />
durch Bundespräsidenten, die die ihnen vom Grundgesetz eingeräumten verfassungsrechtlichen<br />
Spielräume expansiver nutzen 6 , das parlamentarische Regierungssystem „anti-majoritär<br />
hybridisiert“ (Lhotta 2008: 121). Tatsächlich wird oft übersehen, dass der Bundespräsident<br />
formell am Gesetzgebungsprozess beteiligt ist und somit die Kriterien eines vollwertigen Vetospielers<br />
nach Tsebelis (2002) erfüllt. Wenn der Gesetzgebungsprozess aufgrund der Ausfertigungsverweigerung<br />
des Bundespräsidenten nicht abgeschlossen werden kann, wird die<br />
Durchsetzung des parlamentarischen Mehrheitswillens - wenn man so will „antimajoritär“ -<br />
verhindert.<br />
Meines Erachtens ist die Annahme einer vom Bundespräsidenten ausgehenden „antimajoritären<br />
Hybridisierung“ dennoch etwas übertrieben formuliert, aus zwei Gründen: Zum<br />
Einen handelt es sich beim bundesdeutschen Regierungssystem keineswegs um das einer rein<br />
majoritären Demokratie; zumindest muss man konstatieren, dass der Beitrag des Bundespräsidenten<br />
zur „anti-majoritären Hybridisierung“ vor dem Hintergrund der ohnehin schon bestehenden<br />
Vetopunkte in einem unter vielfältigen föderalen Aushandlungszwängen unterliegenden<br />
System grundsätzlich nicht allzu bedeutend sein kann. Zum Anderen führt die Performanz<br />
eines sehr mächtigen - und ebenfalls als Vetospieler zu apostrophierenden (Abromeit<br />
/ Stoiber 2006) - Bundesverfassungsgerichts dazu, dass die dem parlamentarischen Regierungssystem<br />
inhärente Mehrheitslogik schnell an ihre Grenzen stößt, wenn durch Akte der<br />
Exekutive oder Legislative entweder Grundrechte, das Prinzip des Minderheitenschutzes oder<br />
aber die im Grundgesetz angelegten Grundsätze der Staatsorganisation verletzt zu werden<br />
drohen. Im Schatten des Bundesverfassungsgerichts - der „Instanz des letzten Wortes“<br />
(Kielmansegg 2005) - kann dem Bundespräsidenten im Normalfall des parlamentarischen<br />
Regierungsbetriebs unter den Bedingungen des „Neuen Dualismus“ und kleiner Koalitionen<br />
selbst bei verfassungstheoretisch gegebenen Möglichkeiten einer expansiven Nutzung seines<br />
Gesetzesprüfungsrechts nur eine untergeordnete Bedeutung zukommen. In der Verfassungspraxis<br />
nimmt der Bundespräsident sein Gesetzesausfertigungsverweigerungsrecht vor allem<br />
deshalb nur sehr zurückhaltend wahr, weil bei verfassungsrechtlichen Bedenken der Opposition<br />
mit der abstrakten Normenkontrolle ein wirkungsvolles Instrument zur verfassungsrechtlichen<br />
Klärung eines gegebenen Problems zur Verfügung steht. 7 Falls der Bundespräsident<br />
Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes hat, diese Zweifel sich jedoch auf eher<br />
unbedeutende Gesetzesteile beschränken, kann es deshalb durchaus sinnvoll sein, das Gesetz<br />
trotzdem auszufertigen - nämlich dann, wenn die Aussicht besteht, dass das BVerfG relativ<br />
zeitnah nach der Verkündung das Gesetz überprüfen kann. Würde der Präsident unter diesen<br />
Bedingungen sein Ausfertigungsverweigerungsrecht dennoch expansiv nutzen, stünde es der<br />
Bundesregierung frei zu versuchen, über ein in Karlsruhe beantragtes Organkontrollverfahren<br />
6<br />
Auch Kaltefleiter (1970) kommt in seiner Analyse zu dem Schluss, dass die verfassungsrechtlich prinzipiell<br />
gegebenen Möglichkeiten von den Bundespräsidenten bis dato nicht ausgeschöpft wurden.<br />
7<br />
Für die äußerst zurückhaltende Nutzung des Gesetzesausfertigungsverweigerungsrechts spricht vor allem, dass<br />
von 1949 bis 2009 die verschiedenen Amtsträger nur in acht Fällen ihr Veto eingelegt haben - im Vergleich zum<br />
gesamten gesetzgeberischen output von 6928 Normen eine äußerst geringe Anzahl (Rühmann 2012: 71). Immerhin<br />
4 Mal wurde die Ausfertigung in Phasen der Großen Koalition verweigert.<br />
7
oder gar eine Präsidentenanklage ihren gesetzgeberischen Willen gegenüber dem blockierenden<br />
Bundespräsidenten juristisch durchzusetzen. Im institutionellen Eigeninteresse des Bundespräsidenten<br />
liegt es jedoch, dass es zu einer solchen Situation möglichst nicht kommt.<br />
2.3.2. Normenkontrolle in Zeiten Großer Koalitionen<br />
Im Zusammenhang mit dem Ausfertigungsverweigerungsrecht des Bundespräsidenten ist daher<br />
lediglich die Konstellation einer Großen Koalition von größerem theoretischem Interesse.<br />
Folgendes kann man vermuten: Regieren in Berlin Große Koalitionen, fällt dem bundespräsidentiellen<br />
Gesetzesausfertigungsverweigerungsrecht eine stärkere Rolle als zu „normalen<br />
Zeiten“ zu (Decker 2011: 335.). Diese ergibt sich daraus, dass es unter den Bedingungen einer<br />
Großen Koalition für die verbleibende Opposition schwierig bis unmöglich ist, ein abstraktes<br />
Normenkontrollverfahren in Karlsruhe zu beantragen. Da insoweit das Bundesverfassungsgericht<br />
als Vetospieler kalt gestellt ist, könnte es (normativ) richtig sein, wenn der Bundespräsident<br />
sein Prüfungsrecht extensiver einsetzt als unter den „normalen“ Bedingungen einer kleinen<br />
Koalition, denn nur er allein kann bestimmten verfassungswidrigen Gesetzen noch wirkungsvoll<br />
entgegentreten (vgl. Linke 2009: 435). Diese (normative) These wäre richtig, wenn<br />
sich folgende Hypothesen empirisch bestätigen ließen 8 :<br />
1. Unter den Bedingungen einer Großen Koalition kommt es tatsächlich selten oder gar nicht<br />
zu abstrakten Normenkontrollverfahren, da das hierfür notwendige Quorum im Bundestag<br />
nicht erreicht wird. Früher war dies ein Drittel der Abgeordneten - heute reicht ein Viertel<br />
der Abgeordneten (Art. 93 Abs. 2 Satz 1 GG; § 76 BVerfGG). Darüber hinaus findet sich<br />
unter diesem Koalitionsformat keine SPD oder CDU/CSU geführte Landesregierung, die<br />
eine entsprechende Klage einreichen will 9 .<br />
2. Unter den Bedingungen einer Großen Koalition geht der Gesetzgeber tendenziell fahrlässig<br />
mit der Verfassung um. Im Wissen um die eigene verfassungsändernde Mehrheit sowie<br />
um die mangelnden Klagemöglichkeiten der Opposition werden verfassungsrechtliche<br />
Grenzen signifikant häufiger überschritten als dies eine kleine Koalition wagen würde.<br />
Das Modell der Großen Koalition vermag daher sogar partiell den machtvollen Vetospieler<br />
Bundesverfassungsgericht zu absorbieren.<br />
Ad 1: Große Koalitionen stellen (bisher) einen Sonderfall dar, denn das in der Bundesrepublik<br />
gängige Koalitionsformat war meistens die so genannte „minimum winning coalition“<br />
(Riker 1962). Lediglich von 1966 bis 1969 (Regierung Kiesinger) sowie von 2005 bis 2009<br />
(Regierung Merkel) ist es bisher zu Großen Koalitionen gekommen (vgl. Dittberner 2007).<br />
Dabei zeigte sich, dass in diesen beiden zurückliegenden Phasen Großer Koalitionen die Op-<br />
8<br />
Die folgenden Angaben und Berechnungen basieren auf Datensätzen, die dem gem. § 33 GOBVerfG geführten<br />
Nachschlagwerk des Bundesverfassungsgerichts zu seiner Rechtsprechung entnommen werden können, das<br />
sämtliche Bundesgesetze und Einzelnormen auflistet, die Gegenstand eines verfassungsgerichtlichen Verfahrens<br />
waren (BVerfG 2012; vgl. auch Rühmann 2012). Eine Übersicht der für nichtig erklärten Gesetze findet sich<br />
auch hier: http://www.bundestag.de/dokumente/datenhandbuch/10/10_06/index.html.<br />
9<br />
Auch föderale Streitigkeiten (Bund-Länder-Streitigkeiten) dürften demnach in Zeiten Großer Koalitionen eher<br />
selten sein, sind allerdings auch nicht völlig ausgeschlossen.<br />
8
position nicht das notwendige Quorum hätte erreichen können 10 , um eine abstrakte Normenkontrolle<br />
zu initiieren (Stüwe 2006: 219). Sobald CDU/CSU und SPD zu Regierungspartnern<br />
werden, verkleinert sich der ohnehin enge Kreis der hierzu Antragsberechtigten. Die Bundesregierung<br />
sowie die sie stützende Bundestagsmehrheit haben naturgemäß kein Interesse daran,<br />
dass ihre Gesetze einer abstrakten Normenkontrolle unterworfen werden. Landesregierungen,<br />
die entweder von der CDU/CSU oder der SPD gestellt werden, sehen in der Regel ebenfalls<br />
davon ab, um nicht in Widerstreit mit ihrer Parteispitze im Bund zu geraten. Bleibt nach Art.<br />
93 Abs. 2 GG das Viertel der Abgeordneten, die sich aus verschiedenen Oppositionsparteien<br />
bilden muss, die üblicherweise kaum gemeinsame Interessen miteinander teilen und sich daher<br />
kaum zu einer gemeinsamen Initiierung einer abstrakten Normenkontrolle aufraffen können.<br />
Damit wird für die Dauer großkoalitionärer Zusammenarbeit der einfachste und effektivste<br />
Weg zur Initiierung einer Normenkontrolle wirkungsvoll verbaut. Auch nach der 2009<br />
beschlossenen Senkung des Quorums auf ein Viertel der Abgeordneten ist nicht davon auszugehen,<br />
dass sich genügend Abgeordnete der Oppositionsparteien zusammenfinden, um gegen<br />
eine Große Koalition eine abstrakte Normenkontrolle zu erwirken. Dagegen spricht weiterhin,<br />
dass im parlamentarischen Regierungssystem sämtliche Anreize für eine fraktionsübergreifende<br />
Zusammenarbeit oder gar eine Art Koalition in der Opposition fehlen. Hinzu kommt,<br />
dass diese „Koalition in der Opposition“ unter den Bedingungen einer großkoalitionären Regierungsmehrheit<br />
sogar lagerübergreifend gebildet werden müsste zwischen den Links- sowie<br />
Links/Mitte-Parteien Linke und GRÜNE auf der einen sowie der bürgerlichen Mitte/Rechts-<br />
Partei FDP auf der anderen Seite. In der Vergangenheit ist es jedenfalls nie gelungen, sich in<br />
der Opposition fraktionsübergreifend auf ein verfassungsrechtliches Vorgehen gegen ein Gesetzesvorhaben<br />
der Regierungsmehrheit zu einigen (vgl. Seemann 2010: 45). Sehr unwahrscheinlich<br />
ist es zudem, dass sich eine Landesregierung findet, die ein großkoalitionäres Gesetzesvorhaben<br />
einer abstrakten Normenkontrolle unterziehen will. Selbst eine von den<br />
GRÜNEN geführte Landesregierung wie zur Zeit in Baden-Württemberg würde sich schwer<br />
tun mit einem Normenkontrollantrag gegen eine Große Koalition im Bund, weil dies wiederum<br />
den Koalitionsfrieden mit der SPD im Land empfindlich gefährden müsste.<br />
Ad 2: Die Fahrlässigkeit des Umgangs mit der Verfassung durch eine Große Koalition lässt<br />
sich durch die relativ hohe Annullierungsquote bei jenen Gesetzen verifizieren, die in vielen<br />
Fällen erst später, also nach der ersten Großen Koalition, über entsprechende Verfassungsbeschwerden,<br />
konkrete Normenkontrollen oder föderale Streitigkeiten einer verfassungsgerichtlichen<br />
Prüfung überhaupt zugänglich waren - denn zu einer abstrakten Normenkontrolle ist es<br />
im Zeitraum 1966-1969 aus nachvollziehbaren Gründen, die FDP hatte gerade einmal 49 Parlamentssitze<br />
von 496 Sitzen, nie gekommen. 11 Immerhin 21 (48,8 %) der damals zustande<br />
gekommenen und inzwischen überprüften insgesamt 43 Gesetze (vom Grundgesamt 419, was<br />
einer Kontrolldichte 12 von 10,3 % 13 sowie einer Verwerfungsquote 14 von 5 % entspricht) der<br />
10<br />
CDU/CSU und SPD unter Kiesinger besaßen eine parlamentarische Mehrheit von 447 von insgesamt 496<br />
Sitzen; unter Merkel (2005-2009) immerhin 448 von 614. Unter der Regierung Merkel besaßen die Oppositionsparteien<br />
damit einen Stimmenanteil von 26,6 %.<br />
11<br />
Die folgenden Angaben und Berechnungen basieren auf einer Auswertung der statistischen Angaben in den<br />
Datenhandbüchern zur Geschichte des Deutschen Bundestags, in denen alle vom BVerfG annullierten Bundesgesetze<br />
in zeitlicher Abfolge dokumentiert sind sowie den - auch die jeweiligen Vorjahre berücksichtigenden -<br />
im Internet zu findenden Jahresstatistiken des BVerfG (vgl. Bundestag 1999: 2318-2635; BVerfG 2010).<br />
12<br />
Die Kontrolldichte gibt das Verhältnis der überprüften Normen zur Gesamtzahl der verkündeten Gesetze an.<br />
9
damaligen ersten Großen Koalition - also fast jedes zweite überprüfte Gesetz - wurden vom<br />
Verfassungsgericht annulliert 15 , während durchschnittlich, also über alle Regierungsperioden<br />
hinweg, nur lediglich jedes dritte überprüfte Gesetz vollständig oder teilweise annulliert wird<br />
(Rühmann 2012: 52, 58). Auch bei der zweiten Großen Koalition zeigte sich das Gericht bisher<br />
überdurchschnittlich annullierungsfreudig. Zwar wurden bisher nur 4,4 % aller zwischen<br />
2005 und 2009 zustande gekommenen Gesetze überprüft (27 von 612), so dass auch die Verwerfungsquote<br />
von 2,3 % als insgesamt sehr niedrig erscheint (14). Da aber immerhin auch<br />
hier über die Hälfte (51,9 %) aller bisher überprüften - und überhaupt bisher überprüfbaren -<br />
Gesetze (das Grundgesamt beträgt hier ja lediglich 27) annulliert worden sind, bestätigt dies<br />
offensichtlich die Ergebnisse bezüglich der ersten Großen Koalition von 1966-1969. Der Verdacht<br />
einer erhöhten Annullierungsfreudigkeit bzw. Annullierungswahrscheinlichkeit gegenüber<br />
Gesetzen einer Großen Koalition erhärtet sich auch durch die Tatsache, dass die Große<br />
Koalition unter Merkel erst seit zweieinhalb Jahren beendet ist und somit in der Zukunft noch<br />
weitere Gesetze dieser Regierungszeit auf den Karlsruher Prüfstand geraten werden. Gerade<br />
die politisch bedeutsamsten Gesetze, mithin die „legislativen Schlüsselentscheidungen“, die<br />
unter den normalen Bedingungen einer „minimum winning coalition“, also unter den Bedingungen<br />
einer klagefähigen Opposition, aufgrund ihres hohen Konfliktgehalts sicher sehr viel<br />
stärker auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten von der Regierungsmehrheit, der<br />
Opposition und schließlich auch im Rahmen kleiner Koalitionen wahrscheinlicher abstrakter<br />
Normenkontrollklagen vom Bundesverfassungsgericht überprüft worden wären 16 , blieben bis<br />
zum heutigen Tage ungeprüft. Darunter fallen verfassungsrechtlich z. T. sensible Materien<br />
berührende Gesetze wie das zur Föderalismusreform II (Reuter 2010: 96), das hochumstrittene,<br />
vom damaligen Bundespräsidenten Köhler jedoch bedenkenlos ausgefertigte BKA-Gesetz<br />
(Busch 2010: 408), die Rente mit 67 (Schmidt 2010), das Elterngeld sowie der flächendeckende<br />
Ausbau der U3-Betreuung (Henninger / Wahl 2010) und schließlich die Einführung<br />
branchenbezogener Mindestlöhne (Weinkopf 2009). Diese Gesetze betreffen somit Politikfelder,<br />
deren gesetzliche Regelungen - wenn es zu entsprechenden Klagen kam - in der Vergangenheit<br />
überdurchschnittlich häufig als verfassungswidrig eingestuft wurden (Gawron/Rogowski<br />
2007: 272).<br />
Schon diese kleine Auswahl verfassungsgerichtlich bis heute ungeprüfter Gesetze sowie<br />
die mit bisher lediglich 27 von 612 Gesetzen signifikant noch recht geringe Fall- bzw.<br />
Kontrolldichte (4,4 %) dokumentieren eindrucksvoll den verminderten Einfluss des Bundes-<br />
13<br />
Gesetze der kleinen Koalitionen unterliegen insgesamt einer Kontrolldichte von 12,5 % - jedes achte Gesetz<br />
einer kleinen Koalition wird damit einer verfassungsgerichtlichen Prüfung unterzogen (Rühmann 2012: 52).<br />
14<br />
Die Verwerfungsquote gibt das Verhältnis der verworfenen Normen zur Gesamtzahl der verkündeten Gesetze<br />
an.<br />
15<br />
Die Annullierungsquote (oder Annullierungswahrscheinlichkeit) gibt demnach das Verhältnis der verworfenen<br />
Normen zur Gesamtzahl aller überprüften Gesetze an.<br />
16<br />
Zur Untermauerung dieser These mögen folgende Hinweise dienen: Klaus von Beyme (1999: 378 ff.) klassifizierte<br />
bis dato insgesamt 150 Gesetze als „legislative Schlüsselentscheidungen“, von denen bis zum damaligen<br />
Zeitpunkt immerhin 60 geprüft und von diesen wiederum 31 annulliert wurden. Nach einer aktuelleren Berechnung<br />
und im Anschluss an von Beyme bei Rühmann (2012: 53) wurden 140 dieser 150 von Beyme identifizierten<br />
Schlüsselentscheidungen von kleinen Koalitionen getroffen, von denen inzwischen immerhin 61 verfassungsgerichtlich<br />
geprüft wurden, was einer beeindruckenden Kontrolldichte gegenüber kleinkoalitionären Gesetzen<br />
von 43,6 % (!) entspricht. Hiervon wiederum wurden immerhin 37 Normen annulliert - was einer Verwerfungsquote<br />
bei allen legislativen Schlüsselentscheidungen von 26,4 % (37 von 140 Gesetzen) und einer Annullierungsquote<br />
bei den geprüften legislativen Schlüsselentscheidungen von 60,7 % (37 von 61) entspricht.<br />
10
verfassungsgerichts in Zeiten Großer Koalitionen. Insoweit ist es der Regierung Merkel 2005-<br />
2009 während ihres Bestehens durchaus erfolgreich gelungen, das Bundesverfassungsgericht<br />
als Vetospieler zu absorbieren. Ob das Gericht in der Vergangenheit notgedrungen Versäumtes<br />
noch nachholen möchte, kann freilich nur die Zukunft zeigen. In diesem Fall müsste aufgrund<br />
der mit den verfassungsgerichtlich geprüften Gesetzen der ersten Großen Koalition<br />
gemachten Erfahrungen angenommen werden, dass die Verwerfungsquote noch deutlich nach<br />
oben korrigiert werden wird.<br />
Aus den bisher zur Verfügung stehenden empirischen Daten kann jedenfalls valide abgeleitet<br />
werden, dass das Bundesverfassungsgericht gegenüber Gesetzen einer Großen Koalition<br />
eine erhöhte Annullierungsfreudigkeit an den Tag legt. Was könnten hierfür die Gründe<br />
sein? Nur zwei plausible Erklärungen bieten sich hierfür an: Erstens kann angenommen werden,<br />
dass großkoalitionäre Gesetze verfassungsrechtlich tatsächlich problematischer sind als<br />
kleinkoalitionäre Gesetze. Breite Regierungsbündnisse brauchen aufgrund der kaum vorhandenen<br />
Opposition keinen legislativen Widerspruch zu befürchten, was zu einer gewissen<br />
Nachlässigkeit gerade bei verfassungsrechtlich sensiblen Fragen bei der Gesetzgebungsarbeit<br />
führt. Dieser Fehlanreiz wird noch dadurch verstärkt, dass eine Annullierung ihrer Gesetze<br />
aufgrund der während ihrer Regierungszeit nicht zu befürchtenden abstrakten Normenkontrolle<br />
seltener zu erwarten ist und später, wenn eine neue Regierung im Amt ist, der alten großkoalitionären<br />
Regierung nicht mehr negativ angerechnet wird. Auch diese Annahmen lassen sich<br />
anhand empirischer Fakten erhärten: Folgt man etwa Klaus von Beyme (1997: 386 ff.), so<br />
sind während der ersten Großen Koalition 10 Schlüsselentscheidungen ergangen, von denen 7<br />
(also eine Kontrolldichte von 70 %!) - allerdings erst viele Jahre nach Beendigung der Großen<br />
Koalition - verfassungsgerichtlich über konkrete Normenkontrollverfahren (5 von 7) sowie<br />
Verfassungsbeschwerden (2 von 7) überprüft wurden. 17 5 dieser 10 Gesetze wurden annulliert<br />
oder teilweise annulliert (50 % Verwerfungsquote). Da dies einem Anteil von 5 gegenüber 7<br />
geprüften Gesetzen entspricht, beträgt die Annullierungsquote 71,4 %. Im Vergleich dazu<br />
liegt die Annullierungsquote gegenüber kleinkoalitionären legislativen Schlüsselentscheidungen<br />
- wie oben (FN. 15) gezeigt - bei immer noch recht hohen, dennoch aber signifikant niedrigeren<br />
60,7 %.<br />
Zweitens könnte sich aber auch das Bundesverfassungsgericht bewusst sein, dass es in<br />
Zeiten der Großen Koalition nur über verringerte Kontrollmöglichkeiten gegenüber einer bezogen<br />
auf ihren verfassungsrechtlichen Spielraum handlungsautonomeren Großen Koalition<br />
verfügt - was wiederum für die Richter als Anreiz wirken könnte, wenigstens im Nachhinein<br />
vorgelegte Gesetze besonders penibel zu prüfen. Möglicherweise kann auch dies die (im Vergleich<br />
zu geprüften kleinkoalitionären Gesetzen) erhöhte Annullierungswahrscheinlichkeit<br />
gegenüber geprüften großkoalitionären Gesetzen erklären, zumal die Richter wissen dürften,<br />
dass die in Zeiten der Großen Koalition ausfallenden abstrakten Normenkontrollverfahren<br />
nicht durch vermehrte Organstreitverfahren ausgeglichen werden können (Lorenz 2010). Dies<br />
17<br />
Nach den Berechnungen von Rühmann (2012: 60) vergingen von der Verkündung einer großkoalitionären<br />
Schlüsselnorm bis zu ihrer Beanstandung durch das BVerfG im Durchschnitt 4285 Tage, also ca. 11,5 Jahre.<br />
Damit brauchen die Richter im Durchschnitt 4,5 Jahre länger, um eine großkoalitionäre Norm zu annullieren als<br />
bei einer kleinkoalitionären Norm (7 Jahre). Das entspricht also etwa der Dauer einer Legislaturperiode und stellt<br />
ein weiteres Indiz dafür dar, dass das Bundesverfassungsgericht in großkoalitionären Regierungszeiten als Vetospieler<br />
kaltgestellt wird.<br />
11
deshalb nicht, weil die im Rahmen einer Organklage vom Gericht unternommene formale<br />
Prüfung keine dezidierte Normenkontrolle zulässt, da hierbei lediglich geprüft werden soll, ob<br />
die Bundesregierung durch ihr Handeln oder Unterlassen andere Staatsorgane in deren Rechten<br />
verletzt hat. Allerdings sind auf diesem Wege einige spektakuläre Urteile gefällt worden,<br />
die der großkoalitionären Bundesregierung engere verfassungsrechtliche Fesseln anlegten. 18<br />
Trotz einiger Unwägbarkeiten bei der Datenauswertung lässt sich zusammenfassend<br />
feststellen, dass aufgrund der mangelnden Initiierungsmöglichkeiten einer abstrakten Normenkontrolle<br />
zu Zeiten Großer Koalitionen der Handlungsspielraum des Bundesverfassungsgerichts<br />
signifikant geringer ist als zu Zeiten kleiner Koalitionen. Großkoalitionäre Normen<br />
unterliegen mithin einer signifikant geringeren Kontrolldichte als kleinkoalitionäre Normen.<br />
Dieser Kontrollmangel wird erst im Nachhinein in späteren Legislaturperioden z. T. ausgeglichen,<br />
wenn die damals Regierungsverantwortung tragenden Politiker längst nicht mehr im<br />
Amt sind. Dabei wiederum zeigt sich, dass großkoalitionäre Normen signifikant häufiger annulliert<br />
werden als kleinkoalitionäre. Insofern gibt es nicht nur einen klaren Zusammenhang<br />
zwischen dem Koalitionsformat und dem Ausmaß verfassungsgerichtlicher Möglichkeiten zur<br />
Normenkontrolle, sondern wahrscheinlich auch zwischen dem Koalitionsformat und dem<br />
Grad verfassungsrechtlicher Sorgfalt des Gesetzgebers. Bei Großen Koalition weisen die Indizien<br />
darauf hin, dass die verfassungsrechtliche Sorgfalt nicht besonders hoch ist. Unter diesem<br />
Koalitionsformat sieht sich die Regierungsmehrheit, aufgrund nicht zu befürchtender<br />
abstrakter Normenkontrollen, nicht dazu gezwungen, ihre eigenen Gesetze besser zu überprüfen,<br />
bevor sie im Bundestag beschlossen werden. Unter den Bedingungen der Großen Koalition<br />
wird daher das Problem virulent, dass das Gericht nicht von sich aus die Initiative ergreifen<br />
kann und stets darauf angewiesen ist, von einem anderen Akteur - vornehmlich der Opposition<br />
- aktiviert zu werden (Lhotta 2003: 143). Eine solche Initiative ist jedoch - wie gezeigt -<br />
kaum wahrscheinlich, weshalb auch entsprechend formulierte Oppositionsdrohungen („wir<br />
gehen nach Karlsruhe!“) für die Regierung einer Großen Koalition kaum glaubhaft sind - sie<br />
muss daher zumindest kurz- und mittelfristig nicht mit einem Veto des BVerfG rechnen.<br />
2.3.3. Der Bundespräsidenten als (Mit-)Hüter der Verfassung in der Großen Koalition<br />
Aufgrund dieser Befunde stellt sich die Frage, wie die mangelnde verfassungsgerichtliche<br />
Kontrolldichte zu Zeiten Großer Koalitionen wieder erhöht werden kann. Normativ begründet<br />
sich eine solche Forderung aus mehreren hier gemachten Beobachtungen und daraus abgeleiteten<br />
Annahmen: Aufgrund der festgestellten überdurchschnittlich hohen Annullierungsquote<br />
großkoalitionärer Gesetze - im Schnitt wird jedes zweite geprüfte großkoalitionäre Gesetz,<br />
zumeist im Nachhinein, vom Gericht annulliert -, muss erstens angenommen werden, dass es<br />
Großen Koalitionen bei der Gesetzgebung an der nötigen verfassungsrechtlichen Sensibilität<br />
mangelt. Könnte man die Kontrolldichte des Gerichts zu Zeiten der Großen Koalition also<br />
wieder erhöhen, steigt zweitens im selben Maße auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Regierenden<br />
im eigenen Interesse bei ihrer Gesetzgebung (wieder) größere verfassungsrechtliche<br />
18 Vgl. die Urteile Lissabon-Vertrag (BVerfGE 123, 267); BND-Untersuchungsausschuss (BverfGE 124, 78)<br />
und Kleine Anfragen (BVErfGE 124, 161).<br />
12
Sorgfalt walten lassen, weil sie häufigere Vetos des Gerichts antizipieren müssen. Ihre verfassungsrechtliche<br />
Sorgfalt müsste dann zumindest den Stand erreichen, wie er zu Zeiten<br />
kleinkoalitionärer Regierungen beobachtet werden kann, in denen nachweisbar im Schnitt<br />
lediglich jedes dritte geprüfte Gesetz annulliert wird. Hält man daher normativ am Leitbild<br />
des demokratischen Verfassungsstaats fest, sollte es dem Bundesverfassungsgericht zum<br />
Schutze der Verfassung grundsätzlich besser ermöglicht werden, möglichst zeitnah, und nicht<br />
erst einige Jahre später, verfassungswidriges Handeln einer großkoalitionären Bundesregierung<br />
wirkungsvoller unterbinden zu können als zuletzt.<br />
Als Hebel zur Verwirklichung dieses Postulats in der Verfassungspraxis bietet sich das<br />
Ausfertigungsverweigerungsrecht des Bundespräsidenten an. Zwar regiert gegenwärtig eine<br />
kleine Koalition, doch hat die jüngste Ausfertigungsverweigerung - bzw. der den Regierungsinteressen<br />
widersprechende Aufschub der Ausfertigung der Zustimmungsgesetze zum ESM-<br />
Vertrag und zum Fiskalpakt - durch den Bundespräsidenten eindrücklich gezeigt, wie wichtig<br />
es ist, das BVerfG in verfassungsrechtlich sensiblen Fragen nicht aufs Abstellgleis zu stellen.<br />
Die auf ausdrücklichem Wunsch durch das BverfG erfolgte Weigerung des Bundespräsidenten,<br />
die bereits - ebenfalls gewissermaßen großkoalitionär - mit Zweidrittelmehrheit in Bundestag<br />
und Bundesrat beschlossenen Ratifizierungsgesetze nicht auszufertigen, hat weder seiner<br />
noch der Reputation der Bundesregierung geschadet - vielmehr hat die hierdurch ermögliche<br />
verfassungsgerichtliche Prüfung 19 die Legitimität der deutschen Europapolitik bestätigt<br />
und gestärkt. Was in diesem freilich sehr speziellen Fall galt, gilt auch und gerade während<br />
förmlicher Großer Koalitionen. Als fallabhängiger Vetospieler im Gesetzgebungsprozess wäre<br />
der Bundespräsident in der Lage, für die Dauer einer Großen Koalition die oben festgestellte<br />
reduzierte verfassungsrechtliche Kontrolldichte dadurch zu erhöhen, dass er sein Prüfungsrecht<br />
extensiver wahrnimmt als zu Zeiten einer kleinen Koalition und bei Zweifeln an der<br />
Verfassungsmäßigkeit eines ihm vorgelegten Gesetzes die Ausfertigung verweigert. Damit<br />
würde er sich keineswegs an die Stelle des Verfassungsgerichts als „oberster Hüter der Verfassung“<br />
setzen, sondern vielmehr zunächst dazu beitragen, dass es unwahrscheinlicher wird,<br />
dass verfassungswidrige Gesetze ungeprüft Gesetzeskraft erlangen und gegebenenfalls erst<br />
viel später vom Gericht kassiert werden können. Der regierenden Großen Koalition bliebe in<br />
dieser Konstellation immer noch die Möglichkeit, im Wege eines Organstreits den Klageweg<br />
gegen die Ausfertigungsverweigerung zu beschreiten - und auf diese Weise ihrerseits das<br />
BVerfG ins Spiel zu bringen.<br />
Zur Untermauerung dieser These sollte jedoch im Lichte der bisher gewonnen empirischen<br />
Erkenntnisse erneut überprüft werden, ob dem Bundespräsidenten überhaupt ein derart<br />
weitreichendes Prüfungs- und Verwerfungsrecht zusteht bzw. zustehen sollte (vgl. Maurer<br />
2007: 553 ff; <strong>Höreth</strong> 2008). Art. 82 GG statuiert eine Kompetenz des Bundespräsidenten, die<br />
- wie oben bereits gezeigt - in der staatsrechtlichen Diskussion erhöhte Aufmerksamkeit erfahren<br />
hat. Es ist eine Befugnis legislativer Art, weil die Gesetzgebung erst durch die Ausfertigung<br />
des Gesetzes abgeschlossen werden kann - ohne diesen Akt liegt lediglich ein parlamentarischer<br />
Mehrheitsbeschluss vor. Unstrittig ist in der Staatsrechtslehre, dass der Bundespräsident<br />
bei der Ausfertigung von Bundesgesetzen ein formelles Prüfungsrecht besitzt. Unklar<br />
ist hingegen, ob er ein materielles Prüfungsrecht beanspruchen kann. Soweit ihm dies<br />
19 Urteil des BVerfG vom 12.09.2012.<br />
13
eingeräumt wird, insistieren manche Staatsrechtler - und die meisten bisherigen Bundespräsidenten<br />
- aber darauf, dass sich dieses Prüfungsrecht auf eine Evidenzkontrolle beschränken<br />
sollte (Rau 2004) Dies bedeutet, dass der Bundespräsident nur in jenen Fällen die Ausfertigung<br />
verweigern solle, in denen ein evidenter Verfassungsverstoß ("zweifelsfrei und offenkundig")<br />
vorliegt, nicht jedoch bei bloßen verfassungsrechtlichen Zweifeln. Unter rein verfassungsrechtlichen<br />
Gesichtspunkten ist die - zunächst ganz sympathisch klingende - Reduktion<br />
des Prüfungsrechts auf eine Evidenzkontrolle aber nicht recht überzeugend. Die Feststellung,<br />
dass ein Gesetz verfassungswidrig ist, kann immer nur das Resultat einer eingehenden, umfassenden<br />
und gewissenhaften Prüfung sein und ist niemals einfach "evident", zumal die Praxis<br />
zeigt, dass der Gesetzgeber höchst selten ein "zweifelsfrei" verfassungswidriges Gesetz<br />
erlässt, sich mithin in der Regel auch immer Argumente für die Verfassungskonformität eines<br />
strittigen Gesetzes anführen lassen. Der Bundespräsident würde seine verfassungsrechtlichen<br />
Kompetenzen somit keinesfalls überschreiten, "wenn er die Ausfertigung eines Gesetzes<br />
schon dann ablehnen würde, wenn er aufgrund sorgfältiger und gewissenhafter Prüfung (...)<br />
zur Schlussfolgerung gelangte, dass das Gesetz verfassungswidrig sei, ohne dass es auf<br />
Offenkundigkeit ankommt." (Nettesheim 2005a: Rn 46). Geboten ist daher sogar eher eine<br />
Prüfungspraxis, "die davon ausgeht, dass der Präsident (...) bereits dann die Ausfertigung zu<br />
verweigern hat, wenn sich für die Annahme der Verfassungswidrigkeit die deutlich besseren<br />
Gründe anführen lassen" (Nettesheim 2005b: Rn. 39).<br />
Diesen sich in der staatsrechtlichen Diskussion inzwischen als „herrschende Meinung“<br />
durchsetzenden Überlegungen zum Prüfungsrecht des Bundespräsidenten steht die Politikwissenschaft<br />
bisher eigentümlich reserviert gegenüber. Generell wird zwar gerne hervorgehoben,<br />
dass jede Regierungsmehrheit sich einem tief gestaffelten System von institutionellen Checks<br />
and Balances gegenüber sieht, das als Schranke parlamentarischer Mehrheitsherrschaft dient<br />
und auch dienen soll. Doch für gewöhnlich wird der Bundespräsident nicht als Bestandteil<br />
jenes tief gestaffelten Systems identifiziert. Einmischungen des Bundespräsidenten in den<br />
legislativen Prozess auf Basis des Ausfertigungsverweigerungsrechts werden daher unisono<br />
als "systemwidrig" (von Beyme 2004: 306) abgelehnt, weil "Spannungen" zwischen einem<br />
Bundespräsidenten und der Regierungsmehrheit "mit der Logik einer parlamentarischen Demokratie<br />
(...) kaum vereinbar" (Rudzio 2006: 299) seien. Tatsächlich lässt sich die Reinheit<br />
des parlamentarischen Regierungssystems nur behaupten, wenn dem Bundespräsidenten eine<br />
lediglich untergeordnete Rolle eingeräumt wird und er über sein Gesetzesausfertigungsrecht<br />
nicht zu einem "Parteigänger einer Partei" in politischen Konflikten der Staatsorgane wird.<br />
Damit muss aber zum Prüfungsrecht des Bundespräsidenten keineswegs das letzte<br />
Wort aus politikwissenschaftlicher Sicht gesprochen sein. Bei der Beurteilung des Problems<br />
müsste es zuallererst darauf ankommen, welcher demokratietheoretische Maßstab zugrunde<br />
gelegt wird. Empirisch spricht wenig dafür, das politische System (und mit ihm den Bundespräsidenten)<br />
quasi nur unter dem Blickwinkel eines Westminster-Systems zu begutachten, da<br />
schon die gewaltenteilige Mischverfassung des Grundgesetzes mit ihren durchaus eigentümlichen<br />
checks and balances Konsenszwänge institutionalisiert, die mit diesem reinen Modell<br />
kaum in Einklang zu bringen sind. Aus diesem Grund müssen andere Maßstäbe gesucht werden,<br />
wobei vor allem folgendes zu beachten ist: Legitimationstheoretisch müssen Macht und<br />
Gegenmacht im gewaltenteiligen System der Bundesrepublik keineswegs immer durch<br />
14
majoritäre demokratische Rückkopplung legitimiert sein. Wichtiger ist aus Sicht der Gewaltenteilungslehre<br />
vielmehr, dass sich Macht und Gegenmacht wechselseitig in Schach halten<br />
und kontrollieren können. Nicht jede öffentliche Herrschaftsausübung muss dabei durch Legitimationsketten<br />
direkt auf das Volk zurückgeführt werden (Böckenförde 1992). Oft ist dies<br />
gerade nicht der Fall, wie schon die Entscheidung der Verfassungsmütter und -väter für ein<br />
machtvolles, vor allem auch die Minderheiten schützendes Verfassungsgericht und den die<br />
Eigenstaatlichkeit der Länder garantierenden und sich der Logik nationaler politischer Mehrheiten<br />
gelegentlich entziehenden Bundesrat im bundesdeutschen Beteiligungsföderalismus<br />
indiziert.<br />
In diese gewaltenteilige und letztlich doch outputorientierte Logik als ergänzendes und<br />
korrigierendes Moment neben der inputorientierten Logik des parlamentarischen Regierungssystems<br />
reiht sich dann aber auch der Bundespräsident ein, der - so gesehen - auf eine stärkere<br />
demokratische Legitimation beispielsweise durch seine Direktwahl aber auch getrost verzichten<br />
kann, weil er sich schlicht durch andere Leistungen - gewissermaßen "kompensatorisch" -<br />
zu rechtfertigen vermag (Hennis 1976). Daher dürfte das Prüfungsrecht des Bundespräsidenten<br />
zwar ein systemfremdes Element des parlamentarischen Regierungssystems sein, gerade<br />
weil hier seine Funktion über das "stilgebende" und "repräsentative" hinausgeht (von Beyme<br />
2006: 306). Dort ist dieses Recht aber falsch verortet, weil das parlamentarische Regierungssystem<br />
- und das wird von Politikwissenschaftlern nur zu gerne übersehen - nur ein konstitutiver<br />
Bestandteil des demokratischen Verfassungsstaats ist, der schon durch die nicht immer<br />
spannungsfreie Zusammenführung von Demokratie- und Verfassungsprinzip ein komplett<br />
anderes Gesamtsystem konstituiert als es bei einem reinen parlamentarischen Regierungssystem<br />
à la Westminster beobachtet werden kann. Doch im Widerspruch zum demokratischen<br />
und gewaltenteiligen Verfassungsstaat steht das Ausfertigungsverweigerungsrecht gerade<br />
nicht, sondern steht mit ihm in bestem Einklang.<br />
Zwar mag man es intuitiv als eine gewisse Gefahr wahrnehmen, dass der Bundespräsident<br />
durch die Wahrnehmung seiner Prüfungskompetenz in eine stärkere Konkurrenzsituation<br />
zum Amt des Bundeskanzlers und dessen parlamentarisch verantwortliche Regierung<br />
kommen und hierüber sogar zum institutionellen Vetospieler werden könnte, der ähnlich wie<br />
der Bundesrat die Gesetzgebung der Regierungsmehrheit blockiert. Doch darf hierbei nicht<br />
übersehen werden - und exakt dies ist eben auch konstitutiv für den demokratischen Verfassungsstaat<br />
-, dass der Bundespräsident gerade nicht unbedingt das "letzte Wort" hat, wenn er<br />
ein Gesetz nicht ausfertigt. Karlsruhe kann, nachdem es im Wege des Organstreitverfahrens<br />
von der durch die Ausfertigungsverweigerung brüskierten Bundesregierung angerufen worden<br />
ist, seinerseits das Veto des Präsidenten wieder vetoisieren, wenn sich herausstellt, dass der<br />
Bundespräsident seinen Ermessensspielraum überschritten hat und z.B. ein Gesetz aus rein<br />
politischen Gründen ablehnt. Hier kommt übrigens ein institutionelles Gleichgewichtsdenken<br />
zum Ausdruck, wie es trotz aller systematischen Ungereimtheiten durchaus typisch für das<br />
Grundgesetz ist: Unter den vom Grundgesetz gewollten Bedingungen werden alle Beteiligten<br />
- Gesetzgeber und Präsident - umsichtig und vorsichtig agieren, da ersterer die politische Niederlage<br />
einer Ausfertigungsverweigerung befürchtet, während letzterer die verfassungsrechtliche<br />
Niederlage im Wege des Organstreitverfahrens in Karlsruhe antizipieren muss, wenn er<br />
sein Prüfungsrecht unangemessen wahrnimmt. Gegenüber dem wichtigsten Hüter der Verfas-<br />
15
sung, dem Bundesverfassungsgericht als weiterem obersten Verfassungsorgan, steht der Bundespräsident<br />
nur in der "Vorhand", während der "Vorrang" im Zweifel immer Karlsruhe zukommt<br />
(Maurer 2007:556). Es liegt daher im institutionellen Eigeninteresse des Bundespräsidenten,<br />
behutsam mit diesem Instrument umzugehen. Gerade in Zeiten kleinkoalitionärer Regierungen,<br />
in denen die Opposition jederzeit die Möglichkeit hat, abstrakte Normenkontrollen<br />
zu initiieren, scheint dies ein Grundsatz sein, den Bundespräsidenten bisher beherzigt haben.<br />
Aufgrund der festgestellten mangelnden verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte während<br />
der Großen Koalitionen müsste dieser Grundsatz jedoch in Frage gestellt werden, zumal<br />
nichts dagegen spricht, dem Bundespräsidenten einzuräumen, als einspringender (Mit-)Hüter<br />
der Verfassung zu fungieren, dort wo es nötig ist. Wenn man einerseits annimmt, dass der<br />
Bundespräsident zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit per Gesetz berufen und sogar verpflichtet<br />
ist (Kaltefleiter 1970: 211), dabei andererseits dessen Funktionszuschreibung als<br />
"Hüter der Verfassung" kategorisch ablehnt (Kaltefleiter 1970: 210 f.), verstrickt man sich in<br />
logische Widersprüche. Wenn der Bundespräsident nicht - gemeinsam mit dem Bundesverfassungsgericht<br />
und allen anderen Verfassungsorganen - die Aufgabe des Hütens der Verfassung<br />
hat, warum soll er dann die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen prüfen? In der Tat ist dies ja<br />
seine Pflicht, denn: "Die Ausfertigung eines offenkundig verfassungswidrigen Gesetzes wäre<br />
eine Pflichtverletzung, die nach Art. 61 GG sanktioniert werden könnte" (Nettesheim 2005a:<br />
Rn. 46). Da dieser Prüfungsakt aber auch die Konsequenz haben kann, dass ein Gesetz nicht<br />
zustande kommt, muss er funktional irgendwie legitimiert sein. Wie schon gezeigt, verlangt<br />
die Funktionslogik des parlamentarischen Regierungssystems jenes Prüfungsrecht gerade<br />
nicht. Aus welcher Funktion heraus aber ließe sich dann logisch begründen, dass der Bundespräsident<br />
Gesetze, hinter denen eine parlamentarische Mehrheit steht, gegebenenfalls verhindert,<br />
wenn zugleich das Argument des Verfassungshütens abgelehnt wird? Hinter der reservierten<br />
Haltung gegen die Funktionszuschreibung als "Hüter der Verfassung" stehen kaum<br />
logische Argumente, sondern eher intuitive Bedenken, die sich aus den historischen Erfahrungen<br />
mit dem von Carl Schmitt äußerst expansiv interpretierten Theorem des Hüters der Verfassung<br />
(Schmitt 1996) und dessen unselige exklusive Anwendung auf die Figur des Weimarer<br />
Reichspräsidenten verbinden, der dann aber in der Weimarer Verfassungspraxis von keiner<br />
anderen institutionellen Gegenmacht mehr wirksam eingehegt werden konnte.<br />
Diese Bedenken gegen die Funktionszuschreibung des "Mit-Hüters der Verfassung"<br />
können heute nicht mehr überzeugen, da nach Bonn auch Berlin nicht Weimar ist. Der Bundespräsident,<br />
dem die Hüterfunktion - kumulativ mit dem Bundesverfassungsgericht und damit<br />
weder exklusiv noch letztinstanzlich - eingeräumt werden kann, wird in der Berliner Republik<br />
kaum die Gelegenheitsstrukturen vorfinden, die ihm eine Machtdominanz im ausgeklügelten<br />
und ausbalancierten deutschen Regierungssystem ermöglichen würden. Ein Art. 48<br />
Weimarer Reichsverfassung (WRV) existiert im GG nicht - aus dem Bundespräsidenten kann<br />
kaum ein regierendes Staatsoberhaupt werden, das am Parlament vorbei regiert. 20 Grundsätzlich<br />
spricht gleichwohl nichts dagegen, dass das Staatsoberhaupt auch in der parlamentarischen<br />
Demokratie eine wichtige Rolle einnehmen kann, indem es das Kräftespiel von Parlament<br />
und Regierung mit überwacht und gegebenenfalls eingreift, wenn die Verfassung sonst<br />
20 Vgl. hierzu noch immer unübertroffen Bracher (1958).<br />
16
Schaden nehmen könnte - natürlich immer nur im Rahmen der ihm von Verfassungs wegen<br />
gegebenen Möglichkeiten, niemals aber extrakonstitutionell.<br />
Was die reale Macht des Bundespräsidenten anbelangt, gibt es nichts zu befürchten. Er<br />
bliebe weiterhin höchstens Sand im Getriebe - und das aber nur in ausgesuchten Fällen, in<br />
denen er das qua Amt verantworten kann und auch muss, gegebenenfalls sogar gegenüber<br />
dem Bundesverfassungsgericht. Die so definierte Rolle des Bundespräsidenten als "einspringender<br />
Verfassungshüter" ist normativ kaum zu beanstanden. Vom Boden des Grundgesetzes<br />
müssten wir uns keineswegs entfernen, denn dort ist die Hüterfunktion des Bundespräsidenten<br />
als oberstes Verfassungsorgan durchaus angelegt, man muss sie nur empirisch erkennen und<br />
normativ anerkennen wollen. Der Bundespräsident ist insofern doch eine "pouvoir neutre"<br />
(Döhring 1964) gegenüber den Parteien, als er nicht direkt gewählt wird und sich damit weitgehend<br />
dem parteipolitischen Wettbewerb entzieht. Exakt deshalb eignet er sich durchaus für<br />
das Mithüten der Verfassung - wie oben gezeigt insbesondere unter den Bedingungen der<br />
Großen Koalition, schon weil ihm beim eventuellen Einlegen eines Vetos in dieser Konstellation<br />
kaum der Vorwurf gemacht werden kann, er handele aus einseitigem parteipolitischen<br />
Kalkül. Insofern wird der Bundespräsident seiner unter prozessual-dynamischen Gesichtspunkten<br />
im GG zu erkennenden "Vorbeugefunktion" (Gu 1999: 770) vor allem unter den Bedingungen<br />
der Großen Koalition gerecht. Der Bundespräsident wird - so gesehen - zum (einspringenden)<br />
Hüter der Verfassung, gerade dort, wo der Weg zu einer abstrakten Normenkontrolle<br />
unter den Bedingungen der Großen Koalition verbaut ist. Für diese Sichtweise spricht<br />
auch, dass dort, wo immerhin noch die Möglichkeit zur Verfassungsbeschwerde besteht, der<br />
Bundespräsident von seinem Ausfertigungsverweigerungsrecht bisher gerade keinen Gebrauch<br />
gemacht hat, sondern nach der Formulierung seiner schwerwiegenden verfassungsrechtlichen<br />
Bedenken zu einer solchen Verfassungsbeschwerde durch betroffene Bürger aufgefordert<br />
hat 21 . Bei großkoalitionären Gesetzen mit organisationsrechtlichem Gehalt, gegen<br />
die weder mittels Verfassungsbeschwerden noch Normenkontrollen vorgegangen werden<br />
kann, wäre die verfassungsgerichtliche Prüfung jedoch faktisch ausgeschlossen, wenn der<br />
Bundespräsident durch Verweigerung der Gesetzesausfertigung nicht einspringt (Schoch<br />
2008: 226.)<br />
3. Schlussbemerkung<br />
Das Prüfungsrecht des Bundespräsidenten, welches sein Recht auf Ausfertigungsverweigerung<br />
einschließt, lässt sich kaum einspurig mit der Funktionslogik des parlamentarischen Regierungssystems<br />
erklären. Auch die Ansicht, der Bundespräsident wäre dann, wenn er von<br />
seinem Ausfertigungsverweigerungsrecht Gebrauch macht, ein systemfremdes und<br />
antimajoritäres Element im gut geölten Getriebe des auf dem Dualismus von Regierungsmehrheit<br />
und Opposition basierenden parlamentarisch-demokratischen Regierungssystems<br />
lässt sich nicht mehr halten. Allerdings spricht - wie gezeigt - viel dafür, dass der Bundespräsident<br />
in Zeiten kleiner Koalitionen sein Prüfungsrecht nicht allzu expansiv nutzt und sich<br />
21<br />
Dies war der Fall beim "Luftsicherheitsgesetz": Köhler konnte das Gesetz ausfertigen, weil er wusste, dass der<br />
"eigentliche" Hüter der Verfassung aufgrund der zu erwartenden Verfassungsbeschwerden schon bald zum Einsatz<br />
kommen würde. Gerade hier bestand kein Anlass für ihn "einzuspringen".<br />
17
ansonsten auf seine Funktionen als „Grüßaugust“ und Staatsnotar beschränkt. Die Wirklichkeit<br />
der bundesrepublikanischen Regierungspraxis stellt sich jedoch unter der Bedingung der<br />
Großen Koalition komplett anders dar, wie gezeigt werden konnte. Aufgrund des in Phasen<br />
der Großen Koalition partiell kaltgestellten Vetospielers BVerfG erfährt die<br />
Konzeptionalisierung des Bundespräsidenten als einspringender „Vetospieler“ (und Verfassungshüter)<br />
eine neue, von der Politikwissenschaft bisher nicht hinreichend beachtete Bedeutung.<br />
Auch normativ spricht gegen die Hüterfunktion des Bundespräsidenten nichts, vor allem<br />
dann nicht, wenn man sich der seit Aristoteles bekannten Vorzüge von Mischverfassungen<br />
erinnert. "Ambition must be made to counteract ambition", das wussten auch die Verfasser<br />
der Federalist Papers nur zu genau. Die Bundesrepublik ist eben nicht nur als parlamentarisches<br />
Regierungssystem zu klassifizieren, sondern als demokratischer Verfassungsstaat, in<br />
dem das parlamentarische "Durchregieren" - glücklicherweise - nur einen Ausschnitt der Verfassungspraxis<br />
ausmacht und manchmal eben auch von Verfassungs wegen durch institutionelle<br />
Gegenmächte ausgebremst werden muss. Der von institutionellen Gegenmächten zuweilen<br />
eingestreute Sand ins Getriebe des parlamentarischen Regierungssystems ist sogar notwendig.<br />
Und unter diese institutionellen Gegenmächte und Vetospieler mischt sich inzwischen<br />
eben auch der Bundespräsident - keineswegs zum Schaden des demokratischen Verfassungsstaates.<br />
Wenn zukünftig die Große Koalition zum gängigen Koalitionsformat werden<br />
sollte, wofür inzwischen vieles spricht, wird der Bundespräsident stärker als je zuvor in die<br />
Rolle eines nicht immer einfach zu absorbierenden Vetospielers in der Gesetzgebung hineinwachsen.<br />
Dies wird nötig sein, um die regierende Großen Koalition zu größerer verfassungsrechtlicher<br />
Sorgfalt zu ermutigen; oder dort, wo es nötig ist, den regelmäßigeren Einsatz des<br />
BVerfG zu ermöglichen - eines anderen, mächtigeren und vor allem wichtigeren Vetospielers<br />
als es der Bundespräsident jemals sein kann.<br />
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