MAX WEBER
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PD Dr. Christian Schwaabe: Vorlesung Politische Theorie 2<br />
Max Weber<br />
Max Weber<br />
(1864-1920)<br />
30. April 2010<br />
<strong>MAX</strong> <strong>WEBER</strong><br />
Rationalisierung und Entzauberung<br />
der modernen Welt<br />
Der Polytheismus der Werte und die<br />
Leistung der Wissenschaft<br />
Methodologische Grundlagen der<br />
modernen Sozialwissenschaft<br />
Weber in der Kritik<br />
Der Geist des Kapitalismus und das<br />
moderne „Gehäuse der Hörigkeit“<br />
Webers Begriff des Politischen<br />
Webers Kritik am Kaiserreich
Rationalisierung und Entzauberung<br />
der modernen Welt<br />
„Unser europäisch-amerikanisches Gesellschafts- und<br />
Wirtschaftsleben ist in einer spezifischen Art und in einem<br />
spezifischen Sinn ‘rationalisiert’. Diese Rationalisierung zu<br />
erklären und die ihr entsprechenden Begriffe zu bilden, ist<br />
daher eine der Hauptaufgaben unserer Disziplinen.”<br />
(Weber, Der Sinn der „Wertfreiheit”, GAWL, 525)<br />
Der okzidentale<br />
Rationalisierungsprozess<br />
• Intellektualisierung und Rationalisierung<br />
• Verwissenschaftlichung der Wissenschaft und der Kultur<br />
• Spezialisierung und Differenzierung<br />
• Entzauberung: Welt als „kausaler Mechanismus”<br />
• Säkularisierung<br />
• „fortschreitende technische Rationalität der Mittel”<br />
• Zweckrationalität / instrumentelle Vernunft<br />
• Rationalismus der Weltbeherrschung<br />
• ins Unendliche gehender, sinnloser „Fortschritt“
Die Entzauberung der Welt<br />
„Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung<br />
bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis<br />
der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern<br />
sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den<br />
Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es<br />
jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine<br />
geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da<br />
hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip –<br />
durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet:<br />
die Entzauberung der Welt.”<br />
(Weber, Wissenschaft als Beruf, GAWL, 594)<br />
Die Suche nach Orientierung und das<br />
Schweigen der Wissenschaft<br />
„Was ist unter diesen inneren Voraussetzungen der Sinn<br />
der Wissenschaft als Beruf, da alle diese früheren<br />
Illusionen: ‚Weg zum wahren Sein’, ‚Weg zur wahren<br />
Kunst’, ‚Weg zu wahren Natur’, ‚Weg zum wahren Gott’,<br />
‚Weg zum wahren Glück’, versunken sind? Die einfachste<br />
Antwort hat Tolstoj gegeben mit den Worten: ‚Sie ist<br />
sinnlos, weil sie auf die allein für uns wichtige Frage: ‚Was<br />
sollen wir tun? Wie sollen wir leben?’ keine Antwort gibt.’<br />
Die Tatsache, daß sie diese Antwort nicht gibt, ist<br />
schlechthin unbestreitbar.”<br />
(Weber, Wissenschaft als Beruf, GAWL, 598)
Der Polytheismus der Werte<br />
und die Leistung der Wissenschaft<br />
Der Polytheismus der Werte<br />
„Ueberall freilich geht diese Annahme, die ich Ihnen hier<br />
vortrage, aus von dem einen Grundsachverhalt: daß das<br />
Leben, solange es in sich selbst beruht und aus sich selbst<br />
verstanden wird, nur den ewigen Kampf jener Götter<br />
miteinander kennt, – unbildlich gesprochen: die Unvereinbarkeit<br />
und also die Unaustragbarkeit des Kampfes der<br />
letzten überhaupt möglichen Standpunkte zum Leben, die<br />
Notwendigkeit also: zwischen ihnen sich zu entscheiden.”<br />
(Weber, Wissenschaft als Beruf, GAWL, 608)
Der Polytheismus der Werte<br />
„Und über diesen Göttern und in ihrem Kampf waltet das<br />
Schicksal, aber ganz gewiß keine ‘Wissenschaft’. Es läßt<br />
sich nur verstehen, was das Göttliche für die eine und für<br />
die andere oder: in der einen und der anderen Ordnung ist.<br />
Damit ist aber die Sache für jede Erörterung in einem<br />
Hörsaal und durch einen Professor schlechterdings zu<br />
Ende, so wenig natürlich das darin steckende gewaltige<br />
Lebensproblem selbst damit zu Ende ist. Aber andere<br />
Mächte als die Katheder der Universitäten haben da das<br />
Wort.”<br />
(Weber, Wissenschaft als Beruf, GAWL, 604)<br />
Der Polytheismus der Werte<br />
Pluralismus der Wertsphären<br />
Wissenschaft Wahrheit<br />
Kunst Schönheit<br />
Wirtschaft Rentabilität<br />
Ethik Gerechtigkeit / Richtigkeit<br />
Religion Transzendenz / Heiligkeit<br />
wahr ≠ schön ≠ rentabel ≠ gerecht ≠ fromm
Leistung der Wissenschaft<br />
„Aber damit ist die Leistung der Wissenschaft glücklicherweise<br />
auch noch nicht zu Ende, sondern wir sind in der<br />
Lage, Ihnen zu einem Dritten zu verhelfen: zur Klarheit.<br />
Vorausgesetzt natürlich, daß wir sie selbst besitzen.<br />
Soweit dies der Fall ist, können wir Ihnen deutlich<br />
machen: man kann zu dem Wertproblem, um das es sich<br />
jeweils handelt [...], praktisch die und die verschiedene<br />
Stellung einnehmen. Wenn man die und die Stellung<br />
einnimmt, so muß man nach den Erfahrungen der<br />
Wissenschaft die und die Mittel anwenden, um sie<br />
praktisch zur Durchführung zu bringen. […]<br />
Leistung der Wissenschaft<br />
[…] Diese Mittel sind nun vielleicht schon an sich solche,<br />
die Sie ablehnen zu müssen glauben. Dann muß man<br />
zwischen dem Zweck und den unvermeidlichen Mitteln<br />
eben wählen. ‘Heiligt’ der Zweck diese Mittel oder nicht?<br />
Der Lehrer kann die Notwendigkeit dieser Wahl vor Sie<br />
hinstellen, mehr kann er, solange er Lehrer bleiben und<br />
nicht Demagoge werden will, nicht. […]
Leistung der Wissenschaft<br />
[…] Und damit erst gelangen wir zu der letzten Leistung,<br />
welche die Wissenschaft als solche im Dienste der Klarheit<br />
vollbringen kann, und zugleich zu ihren Grenzen: wir<br />
können – und sollen – Ihnen auch sagen: die und die<br />
praktische Stellungnahme läßt sich mit innerer Konsequenz<br />
und also: Ehrlichkeit ihrem Sinn nach ableiten aus der und<br />
der letzten weltanschauungsmäßigen Grundposition […],<br />
aber aus den und den anderen nicht. Ihr dient, bildlich<br />
geredet, diesem Gott und kränkt jenen anderen, wenn Ihr<br />
Euch für diese Stellungnahme entschließt. Denn ihr kommt<br />
notwendig zu diesen und diesen letzten inneren sinnhaften<br />
Konsequenzen, wenn Ihr Euch treu bleibt. […]<br />
Leistung der Wissenschaft<br />
[…] Wir können so den Einzelnen nötigen, oder wenigstens<br />
ihm dabei helfen, sich selbst Rechenschaft zu geben über<br />
den letzten Sinn seines eigenen Tuns. Es scheint mir das<br />
nicht so sehr wenig zu sein, auch für das rein persönliche<br />
Leben. Ich bin auch hier versucht, wenn einem Lehrer das<br />
gelingt, zu sagen: er stehe im Dienst ‘sittlicher’ Mächte: der<br />
Pflicht, Klarheit und Verantwortungsgefühl zu schaffen<br />
[…].”<br />
Weber, Wissenschaft als Beruf, GAWL, 607f.)
Gegenstand und Reichweite praktischer<br />
Philosophie bei Aristoteles<br />
das Gute<br />
Tugend<br />
summum bonum<br />
ZWECKE<br />
MITTEL<br />
Klugheit<br />
eudaimonia<br />
Natur<br />
Gerechtigkeit<br />
Gegenstand und Reichweite moderner<br />
Wissenschaft bei Max Weber<br />
ZWECKE<br />
instrumentelle Vernunft<br />
MITTEL<br />
Rationalismus der Weltbeherrschung
Zweck<br />
Leistung der Wissenschaft:<br />
„technische Kritik“<br />
Letzte und höchste<br />
Werte und Ideale<br />
Entscheidung<br />
Letzte und höchste<br />
Werte und Ideale<br />
Zweck<br />
Mittel Mittel<br />
Letzte und höchste<br />
Werte und Ideale<br />
Nebenfolgen<br />
Letzte und höchste<br />
Werte und Ideale<br />
Nebenfolgen<br />
Letzte und höchste<br />
Werte und Ideale<br />
Zweck Zweck Zweck<br />
Zweck<br />
Mittel<br />
Mittel<br />
Mittel<br />
Leistung der Wissenschaft<br />
Mittel<br />
Nebenfolgen<br />
Nebenfolgen<br />
Nebenfolgen
Leistung der Wissenschaft<br />
Die „Grenzen der Ethik“:<br />
„Zu den von keiner Ethik eindeutig entscheidbaren Fragen<br />
gehören die Konsequenzen des Postulates der ‚Gerechtigkeit‘.<br />
Ob man z.B. […] dem, der viel leistet, auch viel<br />
schuldet, oder umgekehrt von dem, der viel leisten kann,<br />
auch viel fordert, ob man also z.B. im Namen der Gerechtigkeit<br />
(denn andere Gesichtspunkte – etwa der des<br />
nötigen ‚Ansporns‘ – haben dann auszuscheiden) dem<br />
großen Talent auch große Chancen gönnen solle, oder ob<br />
man umgekehrt die Ungerechtigkeit der ungleichen<br />
Verteilung der geistigen Gaben auszugleichen habe […] –<br />
dies dürfte aus ‚ethischen‘ Prämissen unaustragbar sein.“<br />
(Weber, Der Sinn der „Wertfreiheit”, GAWL, 505)
Methodologische Grundlagen<br />
der modernen<br />
Sozialwissenschaft<br />
Methodologische Grundlagen<br />
Postulat der Werturteilsfreiheit<br />
• „absolute logische Disparatheit” von Sein und Sollen<br />
• strikte Trennung von Tatsachenfeststellung und<br />
Bewertung<br />
• Soziologie als empirische „Wirklichkeitswissenschaft“<br />
• „daß es niemals Aufgabe einer Erfahrungswissenschaft<br />
sein kann, bindende Normen und Ideale zu ermitteln,<br />
um daraus für die Praxis Rezepte abzuleiten”<br />
(Weber, Objektivitätsaufsatz, GAWL, 149)
Methodologische Grundlagen<br />
Soziologie: Soziales Handeln verstehen<br />
„Soziologie […] soll heißen: eine Wissenschaft, welche<br />
soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in<br />
seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären<br />
will. ‚Handeln‘ soll dabei ein menschliches Verhalten […]<br />
heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden<br />
mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ‚Soziales‘<br />
Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches<br />
seinem von dem oder den handelnden gemeinten Sinn<br />
nach auf das Verhalten andere bezogen wird und daran in<br />
seinem Ablauf orientiert ist.“<br />
(Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1)<br />
Methodologische Grundlagen<br />
Methodischer Zugang zum Gegenstand<br />
Gegenstand: soziale Wirklichkeit = unendlich, mannigfaltig<br />
• keine Abbildung oder umfassende Analyse möglich<br />
• Auswahl eines endlichen Ausschnittes<br />
• Mensch verleiht der Welt Sinn und Bedeutung<br />
• Wertbeziehung und Kulturbedeutung<br />
• keine Gesetzeswissenschaft im strengen Sinne möglich<br />
(Methodenstreit: nomothetisch vs. idiographisch)
Methodologische Grundlagen<br />
Angebot und Nachfrage<br />
Variablen: Preis und<br />
Menge, ceteris paribus<br />
Gesetz? Abbild? Modell<br />
der Wirklichkeit?<br />
Der Idealtypus<br />
Methodologische Grundlagen<br />
• in sich widerspruchfreies Gedankengebilde („Utopie“)<br />
• konstruiert durch gedankliche (einseitige) Steigerung<br />
bestimmter Elemente der Wirklichkeit<br />
• dient dem Vergleich und der gedanklichen Ordnung der<br />
Wirklichkeit<br />
• Bildung abstrakter Idealtypen nicht als Ziel, sondern als<br />
(Darstellungs-) Mittel sozialwissenschaftlicher<br />
Erkenntnis
Methodologische Grundlagen<br />
Die vier reinen Typen sozialen Handelns<br />
• zweckrational: rationales Abwägen von Zweck, Mitteln,<br />
Nebenfolgen<br />
• wertrational: Glaube an den (ethischen, religiösen o.a.)<br />
Eigenwert einer Handlung unabhängig vom Erfolg<br />
• affektuell: durch aktuelle Affekte und Gefühlslagen<br />
bestimmtes Handeln<br />
• traditional: eingelebte Gewohnheit<br />
Methodologische Grundlagen<br />
Der rationalistische Bias der Soziologie<br />
„Die Konstruktion eines streng zweckrationalen Handelns<br />
also dient in diesen Fällen der Soziologie, seiner evidenten<br />
Verständlichkeit und seiner – an der Rationalität haftenden<br />
– Eindeutigkeit wegen, als Typus (‚Idealtypus‘), um das<br />
reale, durch Irrationalitäten aller Art (Affekte, Irrtümer)<br />
beeinflußte Handeln als ‚Abweichung‘ von dem bei rein<br />
rationalem Verhalten zu gewärtigenden Verlaufe zu<br />
verstehen. […]
Methodologische Grundlagen<br />
Der rationalistische Bias der Soziologie<br />
[…] Insofern und nur aus diesem methodischen Zweckmäßigkeitsgrunde<br />
ist die Methode der verstehenden Soziologie<br />
‚rationalistisch‘. Dies Verfahren darf aber natürlich<br />
nicht als ein rationalistisches Vorurteil der Soziologie,<br />
sondern nur als methodisches Mittel verstanden und also<br />
nicht etwa zu dem Glauben an die tatsächliche Vorherrschaft<br />
des Rationalen über das Leben umgedeutet<br />
werden.“<br />
(Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 3)
Weber in der Kritik:<br />
Intellektuelle Redlichkeit<br />
oder<br />
„Zerstörung der Vernunft”?<br />
Weber in der Kritik…<br />
„Mit der Erfolgsgeschichte der Wissenschaften geht demnach<br />
schattenhaft einher die Geschichte einer großen<br />
Resignation, die sich als Inflation von Leerstellen – d.h. in<br />
der Terminologie des […] Positivismus: von Irrationalität –<br />
manifestiert. Die verdrängte Pointe des wissenschaftlichen<br />
Fortschritts besteht in einer Expansion der Wertsphäre und<br />
damit des Politischen als Resultat des methodologischen<br />
Purismus. [...] Die Diagnose ‘Entzauberung’ enthält mithin<br />
eine ihr eigentümliche Dialektik: Die kalkulatorische Rationalität<br />
sieht sich aus methodischen Gründen zur<br />
Regionalisierung ihres Kompetenzumfangs genötigt und ist<br />
dadurch ursächlich verantwortlich – zufolge der ihr<br />
immanenten Logik – für eine neuerliche Verzauberung aller<br />
anderen Provinzen des Denkens [...].“<br />
(Schödlbauer, U. / Vahland, J., Das Ende der Kritik, Berlin 1997, S. 78)
Weber in der Kritik…<br />
„Als Weltanschauung wird die überlieferte Philosophie,<br />
zumal auch in ihrer praktischen Disziplin, in dem Augenblick<br />
verstanden, wo ihr, aus der Perspektive eines positivistisch<br />
reduzierten Wissenschaftsbegriffs, der Anspruch,<br />
rationale Theorie zu sein, nicht mehr abgenommen wird.<br />
[...] Diese Degeneration der Philosophie zur Weltanschauung,<br />
zur Lebensideologie bedeutet: Ein ständig größer<br />
werdender Teil der moralisch-politischen Realität wird als<br />
Bereich theorieunfähiger Irrationalität der Zuständigkeit<br />
rational-wissenschaftlicher Fragestellung entzogen.”<br />
(Lübbe, Hermann, Zur Geschichte des Ideologie-Begriffs, in: ders.,<br />
Theorie und Entscheidung. Studien zum Primat der praktischen<br />
Vernunft, Freiburg 1971, S. 159-181, hier S. 176f.)<br />
Weber in der Kritik…<br />
„Der springende Punkt ist der folgende: Max Weber hat nie<br />
behauptet, daß man moralische bzw. Wertfragen nicht<br />
rational behandeln könne. Eine seiner Hauptthesen, man<br />
könne nicht über eine rational nicht mehr begründbare<br />
Setzung letzter (irrationaler) Wertaxiome hinausgelangen,<br />
besagt lediglich, es sei unmöglich, normative bzw.<br />
Wertaussagen erschöpfend, d.h. vollständig und hinreichend,<br />
zu begründen. [...] Eigentlich ist das fast trivial.”<br />
(Gölz, Walter, Begründungsprobleme der praktischen Philosophie,<br />
Stuttgart-Bad Canstatt 1978, S. 13f.)
Weber in der Kritik…<br />
„Der Kritiker kennt nicht die ungeteilte Wahrheit einer<br />
einzigen systematischen Ethik, werde sie nun als<br />
transzendentales Postulat oder als materiale Wertethik<br />
ausgegeben. [...] Unklarheit und Widersprüchlichkeit lassen<br />
sich zwar mit der Kritik durch Logik aufhellen und entdecken,<br />
Klarheit und Konsistenz schaffen aber auch noch<br />
keine Wahrheit. [...] In der Mahnung, die ‘intellektuelle Redlichkeit’<br />
nicht zu verlieren, wird nicht die Verfügungsgewalt<br />
über ein sicheres Wissen der Wahrheit angeboten, sondern<br />
die Wahrhaftigkeit der kritischen Haltung verlangt.“<br />
(Hufnagel, Gerhard, Kritik als Beruf. Der kritische Gehalt im Werk Max<br />
Webers, Frankfurt a.M / Berlin / Wien 1971, S. 340f.)<br />
Weber in der Kritik…<br />
„Damit mündet die Max Webersche Weltanschauung in<br />
den ‚religiösen Atheismus’ der imperialistischen Periode.<br />
Die entzaubernde Gottlosigkeit und Gottverlassenheit des<br />
Lebens erscheint als die historische Physiognomie der<br />
Gegenwart, die man zwar als geschichtlichen Tatbestand<br />
akzeptieren muß, die aber eine tiefe Trauer, eine tiefe<br />
Sehnsucht nach den alten, noch nicht ‘entzauberten’ Zeiten<br />
erwecken muß. Bei Max Weber ist diese Stellungnahme<br />
weniger offen romantisch als bei den meisten ‘religiösen<br />
Atheisten’ unter seinen Zeitgenossen. Desto plastischer<br />
kommt bei ihm die sozialhistorische Perspektivlosigkeit als<br />
wirkliche Grundlage des ‘religiösen Atheismus’ zum<br />
Ausdruck.”<br />
(Lukács, Georg, Die Zerstörung der Vernunft, Werke Bd. 9, Neuwied /<br />
Berlin-Spandau 1962, S. 535f.)
Der Geist des Kapitalismus<br />
und das moderne „Gehäuse der<br />
Hörigkeit“<br />
Das „Gehäuse der Hörigkeit“<br />
Protestantische Ethik /<br />
Calvinismus<br />
Prädestinationslehre: Auserwähltheit<br />
weniger Menschen durch Gott<br />
Beruflicher Erfolg als Zeichen der<br />
Auserwähltheit<br />
Innerweltliche Askese (im Umgang<br />
mit erworbenen Reichtümern)<br />
Johannes Calvin<br />
(1509-1564)
Das „Gehäuse der Hörigkeit“<br />
Protestantische Ethik<br />
Prädestinationslehre<br />
Beruflicher Erfolg als<br />
Zeichen der Auserwähltheit<br />
Rastloses Schaffen, Beruf<br />
als „Berufung“<br />
Innerweltliche Askese<br />
Moderner Kapitalismus<br />
Bürgerlicher Unternehmer:<br />
Arbeitsethos, nicht Erwerbsgier<br />
rationale Betriebsorganisation,<br />
nicht Abenteurerkapitalismus<br />
Reinvestition von Gewinnen,<br />
nicht Konsumtion und<br />
Verschwendungssucht<br />
„Bedingtheit der Entstehung einer ‚Wirtschaftsgesinnung‘:<br />
des ‚Ethos‘, einer Wirtschaftsform, durch bestimmte<br />
religiöse Glaubensinhalte“<br />
Das „Gehäuse der Hörigkeit“<br />
Die Protestantische Ethik und Geist des<br />
Kapitalismus<br />
„Denn wie von rationaler Technik und rationalem Recht, so<br />
ist der ökonomische Rationalismus in seiner Entstehung<br />
auch von der Fähigkeit und Disposition der Menschen zu<br />
bestimmten Arten praktisch-rationaler Lebensführung überhaupt<br />
abhängig. Wo diese durch Hemmungen seelischer Art<br />
obstruiert war, da stieß auch die Entwicklung einer wirtschaftlich<br />
rationalen Lebensführung auf schwere innere<br />
Widerstände. Zu den wichtigsten formenden Elementen der<br />
Lebensführung nun gehörten in der Vergangenheit überall<br />
die magischen und religiösen Mächte und die am Glauben<br />
an sie verankerten ethischen Pflichtvorstellungen.“<br />
(Weber: Vorbemerkung, GARS I, 12)
Das „Gehäuse der Hörigkeit“<br />
Die Emanzipation des Kapitalismus von seinen<br />
religiösen Wurzeln<br />
„Der Puritaner wollte Berufsmensch sein, - wir müssen es<br />
sein. Denn indem die Askese aus den Mönchszellen heraus<br />
in das Berufsleben übertragen wurde und die innerweltliche<br />
Sittlichkeit zu beherrschen begann, half sie mit daran, jenen<br />
mächtigen Kosmos der modernen, an die technischen und<br />
ökonomischen Voraussetzungen mechanisch-maschineller<br />
Produktion gebundenen, Wirtschaftsordnung erbauen, der<br />
heute den Lebensstil aller einzelnen, die in dies Triebwerk<br />
hineingeboren werden […], mit überwältigendem Zwange bestimmt<br />
und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner<br />
fossilen Brennstoffs verglüht ist. […]<br />
Das „Gehäuse der Hörigkeit“<br />
[…] Nur wie ‚ein dünner Mantel, den man jederzeit abwerfen<br />
könnte‘, sollte nach Baxters Ansicht die Sorge um die<br />
äußeren Güter um die Schultern seiner Heiligen liegen. Aber<br />
aus dem Mantel ließ das Verhängnis ein stahlhartes<br />
Gehäuse werden. Indem die Askese die Welt umzubauen<br />
und in der Welt sich auszuwirken unternahm, gewannen die<br />
äußeren Güter dieser Welt zunehmende und schließlich<br />
unentrinnbare Macht über den Menschen, wie niemals zuvor<br />
in der Geschichte. Heute ist ihr Geist - ob endgültig, wer<br />
weiß es? - aus diesem Gehäuse entwichen. Der siegreiche<br />
Kapitalismus jedenfalls bedarf, seit er auf mechanischer<br />
Grundlage ruht, dieser Stütze nicht mehr. […]<br />
Weber, Die Protestantische Ethik, GARS I, 203)
Das „Gehäuse der Hörigkeit“<br />
[…] Niemand weiß noch, wer künftig in jenem Gehäuse<br />
wohnen wird und ob am Ende dieser ungeheuren Entwicklung<br />
ganz neue Propheten oder eine mächtige<br />
Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werden,<br />
oder aber – wenn keins von beiden – mechanisierte<br />
Versteinerung, mit einer Art von krampfhaftem Sich-wichtignehmen<br />
verbrämt. Dann allerdings könnte für die ‘letzten<br />
Menschen’ dieser Kulturentwicklung das Wort zur Wahrheit<br />
werden: ‘Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne<br />
Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte<br />
Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.’”<br />
(Weber, Die Protestantische Ethik, GARS I, 204)<br />
Das „Gehäuse der Hörigkeit“<br />
Sorge um den Menschen im „Gehäuse der<br />
Hörigkeit“<br />
”[W]er möchte dann nicht lächeln über die Angst unserer<br />
Literaten davor, daß die politische und soziale Entwicklung<br />
uns künftig zuviel ‚Individualismus’ oder ‚Demokratie’ oder<br />
dergleichen bescheren könnte [...].“<br />
„Wie ist es angesichts dieser Übermacht der Tendenz zur<br />
Bürokratisierung überhaupt noch möglich, irgendwelche<br />
Reste einer in irgendeinem Sinn ‘individualistischen’ Bewegungsfreiheit<br />
zu retten?“<br />
(Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, GPS,<br />
333)
Das „Gehäuse der Hörigkeit“<br />
Webers eigentliche Fragestellung<br />
„Ausnahmslos jede, wie immer geartete Ordnung der gesellschaftlichen<br />
Beziehungen ist, wenn man sie bewerten will,<br />
letztlich auch daraufhin zu prüfen, welchem menschlichen<br />
Typus sie, im Wege äußerer oder innerer (Motiv-) Auslese,<br />
die optimalen Chancen gibt, zum herrschenden zu werden.”<br />
(Weber, Der Sinn der ”Wertfreiheit” der soziologischen und<br />
ökonomischen Wissenschaften, GAWL, 517)<br />
Vergleiche:<br />
Hennis, Wilhelm, Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des<br />
Werks, Tübingen 1987<br />
„Für den Traum von Frieden und Menschenglück<br />
steht über der Pforte der unbekannten Zukunft der<br />
Menschengeschichte: lasciate ogni speranza.”<br />
(Weber, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, GPS, 12)
Lasciate ogni speranza,<br />
voi ch'entrate!<br />
Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!<br />
(Dante, Die Göttliche Komödie, Inferno III 9)<br />
Paul Gustave Doré (1832-1883), Dante in der Hölle, 1861<br />
„Max Webers Frage nach den Paradoxien<br />
der Rationalisierung ist nach<br />
meiner Auffassung immer noch der<br />
beste Schlüssel für eine philosophisch<br />
und wissenschaftlich informierte Zeitdiagnose.<br />
[...] Wir sollten uns ohne<br />
Wehleidigkeit Klarheit verschaffen über<br />
das ironische Muster eines sich selbst<br />
dementierenden gesellschaftlichen und<br />
kulturellen Fortschritts und damit über<br />
den Preis einer Modernisierung, an der<br />
wir gleichwohl festhalten.”<br />
(Habermas, Jürgen, Die Normalität einer<br />
Berliner Republik. Kleine politische Schriften<br />
VIII, Frankfurt a.M. 1995, S. 66)<br />
William Bouguereau (1825-<br />
1905), Dante et Virgile aux<br />
Enfers, 1850
Webers<br />
Begriff des Politischen:<br />
Macht – Kampf – Dezision<br />
Webers Begriff des Politischen…<br />
Demokratie und wertfreie Sozialwissenschaft<br />
„Da wird man, wenn etwa von ‘Demokratie’ die Rede ist,<br />
deren verschiedene Formen vornehmen, sie analysieren in<br />
der Art, wie sie funktionieren, feststellen, welche einzelnen<br />
Folgen für die Lebensverhältnisse die eine oder andere<br />
hat, dann die anderen nicht demokratischen Formen der<br />
politischen Ordnung ihnen gegenüberstellen und versuchen,<br />
so weit zu gelangen, daß der Hörer in der Lage ist,<br />
den Punkt zu finden, von dem aus er von seinen letzten<br />
Idealen aus Stellung dazu nehmen kann.”<br />
(Weber, Wissenschaft als Beruf, GAWL, 601)
Webers Begriff des Politischen…<br />
„Man kann vielmehr den modernen Staat soziologisch nur<br />
definieren aus seinem spezifischen Mittel, das ihm, wie<br />
jedem politischen Verband, eignet: der physischen Gewaltsamkeit.<br />
[…] Staat ist diejenige menschliche Gemeinschaft,<br />
welche innerhalb eines bestimmten Gebietes […] das<br />
Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit<br />
Erfolg) beansprucht.“<br />
(Weber, Politik als Beruf, GPS, 506)<br />
Webers Begriff des Politischen…<br />
„‚Politik’ würde für uns also heißen: Streben nach Machtanteil<br />
oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es<br />
zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen<br />
den Menschengruppen, die er umschließt. […] Wer Politik<br />
treibt, erstrebt Macht […].“<br />
(Weber, Politik als Beruf, GPS, 506)
Webers Begriff des Politischen…<br />
„Das Kennzeichen des sozialpolitischen Charakters eines<br />
Problems ist es ja geradezu, daß es nicht auf Grund bloß<br />
technischer Erwägungen aus feststehenden Zwecken<br />
heraus zu erledigen ist, daß um die regulativen Wertmaßstäbe<br />
selbst gestritten werden kann und muß, weil das<br />
Problem in die Region der allgemeinen Kulturfragen<br />
hineinragt. Und es wird gestritten nicht nur, wie wir heute<br />
so gern glauben, zwischen ‘Klasseninteressen’, sondern<br />
auch zwischen Weltanschauungen [...].”<br />
(Weber, Die „Objektivität” sozialwissen-schaftlicher und<br />
sozialpolitischer Erkenntnis, GAWL, 153)<br />
Webers Begriff des Politischen…<br />
Politik als Beruf – und Berufung<br />
„Man kann sagen, daß drei Qualitäten vornehmlich entscheidend<br />
sind für den Politiker: Leidenschaft – Verantwortungsgefühl<br />
– Augenmaß.“<br />
„Wie die Sache auszusehen hat, in deren Dienst der<br />
Politiker Macht erstrebt und Macht verwendet, ist Glaubenssache.“<br />
„Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von<br />
harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich.“<br />
(Weber, Politik als Beruf, GPS, 506, 547, 560)
Webers Begriff des Politischen…<br />
Das politische Scheitern der Gesinnungsethik<br />
„[Der Gesinnungsethiker] will lediglich eine bestimmte, ihm<br />
schlechthin wertvoll und heilig scheinende Gesinnung<br />
sowohl in sich selbst erhalten als, wenn möglich, in<br />
Anderen wecken. Seine äußeren, gerade die von vornherein<br />
zu noch so absoluter Erfolglosigkeit verurteilten<br />
Handlungen haben letztlich den Zweck, ihm selbst vor<br />
seinem eigenen Forum die Gewißheit zu geben, daß diese<br />
Gesinnung echt ist [...]. Im übrigen ist – wenn er konsequent<br />
ist – sein Reich, wie das Reich jeder Gesinnungsethik,<br />
nicht von dieser Welt.”<br />
(Weber, Der Sinn der „Wertfreiheit”, GAWL, S. 514)<br />
Webers Begriff des Politischen…<br />
Politisches Handeln und die Grenzen der Ethik<br />
„Keine Ethik der Welt kommt um die Tatsache herum, daß<br />
die Erreichung ‚guter‘ Zwecke in zahlreichen Fällen daran<br />
gebunden ist, daß man sittlich bedenkliche oder mindestens<br />
gefährliche Mittel und die Möglichkeit oder auch<br />
die Wahrscheinlichkeit übler Nebenerfolge mit in den Kauf<br />
nimmt, und keine Ethik der Welt kann ergeben: wann und<br />
in welchem Umfang der ethisch gute Zweck die ethisch<br />
gefährlichen Mittel und Nebenerfolge ‚heiligt‘.“<br />
(Weber, Politik als Beruf, GPS, 560)
„Denn wenn es in Konsequenz der<br />
akosmistischen Liebesethik heißt: ‚dem<br />
Übel nicht widerstehen mit Gewalt’, – so<br />
gilt für den Politiker umgekehrt der Satz:<br />
du sollst dem Übel gewaltsam widerstehen,<br />
sonst bist du für seine Überhandnahme<br />
verantwortlich.“<br />
(Weber, Politik als Beruf, 550f.)<br />
„Die Herrschaft behauptet man nicht<br />
mit dem Rosenkranz in der Hand.“<br />
(Machiavelli, Geschichte von Florenz)<br />
Webers Begriff des Politischen…<br />
Macht & Streben nach Macht<br />
Konflikt & Kampf<br />
Kontingenz & Dezision<br />
Verantwortung & Gesinnung<br />
Vernunft & Leidenschaft
Webers Kritik am Kaiserreich<br />
und seiner politischen Kultur<br />
Weber und das Kaiserreich…<br />
„Er [Bismarck] hinterließ eine Nation ohne alle und jede<br />
politische Erziehung […]. Und vor allem eine Nation ohne<br />
allen und jeden politischen Willen, gewohnt, daß der große<br />
Staatsmann an ihrer Spitze für sie die Politik schon besorgen<br />
werde”.<br />
(Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland,<br />
GPS, 319)
Weber und das Kaiserreich…<br />
„Man hat nur die Wahl: in einem bürokratischen ‘Obrigkeitsstaat’<br />
mit Scheinparlamentarismus die Masse der<br />
Staatsbürger rechtlos und unfrei zu lassen und wie eine<br />
Viehherde zu ‘verwalten’, – oder sie als Mitherren des<br />
Staates in diesen einzugliedern.”<br />
(Weber, Wahlrecht und Demokratie in Deutschland, GPS, 291)<br />
Weber und das Kaiserreich…<br />
„Staatstechnische Fragen sind leider nicht unwichtig, aber<br />
natürlich sind sie für die Politik nicht das Wichtigste. Weit<br />
entscheidender für die Zukunft Deutschlands ist vielmehr<br />
die Frage: ob das Bürgertum in seinen Massen einen<br />
neuen verantwortungsbereiteren und selbstbewußteren<br />
politischen Geist erziehen wird. Bisher herrschte seit Jahrzehnten<br />
der Geist der ‚Sekurität’: der Geborgenheit im<br />
obrigkeitlichen Schutz, der ängstlichen Sorge vor jeder<br />
Kühnheit der Neuerung, kurz: der feige Wille zur<br />
Ohnmacht. […]
Weber und das Kaiserreich…<br />
„Gerade die technische Güte der Verwaltung: der Umstand,<br />
daß es dabei im großen und ganzen materiell gut ging,<br />
hatte breite Schichten der Bevölkerung überhaupt (nicht<br />
nur Bürger) sich in dies Gehäuse einleben lassen und<br />
jenen Staatsbürgerstolz, ohne welchen auch die freiesten<br />
Institutionen nur Schatten sind, erstickt. Die Republik<br />
macht dieser ‚Sekurität’ ein Ende.”<br />
(Weber, Deutschlands künftige Staatsform, GPS, 453f.)<br />
Zitierte Ausgaben:<br />
Weber, Max, Gesammelte Aufsätze zur<br />
Wissenschaftslehre [=GAWS], Tübingen 1988<br />
Weber, Max, Gesammelte politische Schriften<br />
[=GPS], Tübingen 1988<br />
Weber, Max, Gesammelte Aufsätze zur<br />
Religionssoziologie [=GARS], Band I, Tübingen<br />
1988