Durch Wüste und Harem - Karl-May-Gesellschaft
Durch Wüste und Harem - Karl-May-Gesellschaft
Durch Wüste und Harem - Karl-May-Gesellschaft
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
„Ich habe keinen Talisman, <strong>und</strong> Medizin kann ich dir jetzt nicht geben.“<br />
„Warum nicht?“<br />
„Der Arzt kann nur dann einen Kranken heilen, wenn er ihn sehen kann. Komm, laß uns zu ihr gehen oder<br />
laß sie zu uns kommen!“<br />
Er fuhr zurück, wie von einem Stoße getroffen.<br />
„Masch Allah, bist du toll? Der Geist der <strong>Wüste</strong> hat dein Hirn verbrannt, daß du nicht weißt, was du<br />
forderst. Das Weib muß ja sterben, auf welchem das Auge eines fremden Mannes ruht!“<br />
„Sie wird noch sicherer sterben, wenn ich nicht zu ihr darf. Ich muß den Schlag ihres Pulses messen <strong>und</strong><br />
Antwort von ihr hören über Vieles, was ihre Krankheit [105] betrifft. Nur Gott ist allwissend <strong>und</strong> braucht<br />
niemand zu fragen.“<br />
„Du heilst wirklich nicht durch Talisman?“<br />
„Nein.“<br />
„Auch nicht durch Worte?“<br />
„Nein.“<br />
„Oder durch das Gebet?“<br />
„Ich bete auch für die Leidenden; aber Gott hat uns die Mittel, sie ges<strong>und</strong> zu machen, bereits in die Hand<br />
gelegt.“<br />
„Welche Mittel sind es?“<br />
„Es sind Blumen, Metalle <strong>und</strong> Erden, deren Säfte <strong>und</strong> Kräfte wir ausziehen.“<br />
„Es sind keine Gifte?“<br />
„Ich vergifte keinen Kranken.“<br />
„Kannst du das beschwören?“<br />
„Vor jedem Richter.“<br />
„Und du mußt mit ihr sprechen?“<br />
„Ja.“<br />
„Was?“<br />
„Ich muß sie fragen nach ihrer Krankheit <strong>und</strong> allem, was damit zusammenhängt.“<br />
„Nach andern Dingen nicht?“<br />
„Nein.«<br />
„Du wirst mir jede Frage vorher sagen, damit ich sie dir erlaube?«<br />
„Ich bin es zufrieden.«<br />
„Und du mußt auch ihre Hand betasten?«<br />
„Ja.«<br />
„Ich erlaube es dir auf eine ganze Minute. Mußt du ihr Angesicht sehen?«<br />
„Nein; sie kann ganz verschleiert bleiben. Aber sie muß einige Male in dem Zimmer auf <strong>und</strong> ab gehen.«<br />
[106] „Warum?«<br />
„Weil an dem Gange <strong>und</strong> der Haltung vieles zu erkennen ist, was die Krankheit betrifft.«<br />
„Ich erlaube es dir <strong>und</strong> werde die Kranke jetzt herbeiholen.«<br />
„Das darf nicht sein.«<br />
„Warum nicht?«<br />
„Ich muß sie da sehen, wo sie wohnt; ich muß alle ihre Zimmer betrachten.«<br />
„Aus welchem Gr<strong>und</strong>e?«<br />
„Weil es viele Krankheiten gibt, die nur in unpassenden Wohnungen entstehen, <strong>und</strong> das kann nur das<br />
Auge des Arztes bemerken.«<br />
„So willst du wirklich mein <strong>Harem</strong>*) [*) Das arabische Wort <strong>Harem</strong> bedeutet eigentlich „das Heilige, Unverletzliche“ <strong>und</strong><br />
bezeichnet bei den Muhammedanern die Frauenwohnung, welche von den übrigen Räumen des Hauses abgesondert ist.]<br />
betreten?«<br />
„Ja.«<br />
„Ein Ungläubiger?«<br />
„Ein Christ.«<br />
„Ich erlaube es nicht!«<br />
„So mag sie sterben. Sallam aaleïkum, Friede sei mit dir <strong>und</strong> ihr!«<br />
Ich wandte mich zum Gehen. Obgleich ich bereits aus der Aufzählung der Symptome gemerkt hatte, daß<br />
Güzela an einer hochgradigen Gemütskrankheit leide, that ich doch, als ob ich an eine bloß körperliche<br />
Erkrankung glaube; denn grad weil ich vermutete, daß ihr Leiden die Folge eines Zwanges sei, der sie in die<br />
Gewalt dieses Mannes gebracht hatte, wollte ich mich so viel wie möglich über alles aufklären. Er ließ mich<br />
wieder bis zur Thür gehen, dann aber rief er:<br />
„Halt, Hekim, bleibe da. Du sollst die Gemächer betreten!“<br />
[107] Ich wandte mich um <strong>und</strong> schritt, ohne ihm meine Genugthuung merken zu lassen, wieder auf ihn zu.<br />
Ich hatte gesiegt <strong>und</strong> war außerordentlich zufrieden mit den Zuständnissen, die er mir gemacht hatte, denn<br />
sie gewährten mir mehr, als wohl jemals einem Europäer zugestanden worden ist. Die Liebe des Aegypters<br />
<strong>und</strong> infolge dessen also auch seine Sorge mußte eine sehr ungewöhnliche sein, daß er sich zu solchen<br />
Zugeständnissen verstand. Freilich konnte ich die ingrimmigste Erbitterung gegen mich aus jeder seiner<br />
GR01 / <strong>Durch</strong> <strong>Wüste</strong> <strong>und</strong> <strong>Harem</strong> – Seite 36