Durch Wüste und Harem - Karl-May-Gesellschaft
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„Warum?“<br />
„Ich kann den Puls nicht fühlen.“<br />
„Entferne die Tücher!“ gebot er ihr.<br />
Sie zog den Arm hinter die Hüllen zurück <strong>und</strong> ließ dann ein zartes Händchen erscheinen, an dessen<br />
Goldfinger ich einen sehr schmalen Reifen erblickte, welcher eine Perle trug. Abrahim beobachtete meine<br />
Bewegungen mit gespannter Aufmerksamkeit. Während ich meine drei Finger an ihr Handgelenk legte,<br />
neigte ich mein Ohr tiefer, wie um den Puls nicht bloß zu fühlen, sondern auch zu hören, <strong>und</strong> - täuschte ich<br />
mich nicht - da wehte es leise, leise, fast unhörbar durch den Schleier:<br />
„Kurtar Senitzaji - rette Senitza!“<br />
„Bist du fertig?“ fragte jetzt Abrahim, indem er rasch näher trat.<br />
„Ja.“<br />
„Was fehlt ihr?“<br />
„Sie hat ein großes, ein tiefes Leiden, das größte, welches es giebt, aber - - - ich werde sie retten.“<br />
Diese letzten vier Worte richtete ich mit langsamer Betonung mehr an sie als an ihn.<br />
„Wie heißt das Uebel?“<br />
[111] „Es hat einen fremden Namen, den nur die Aerzte verstehen.“<br />
„Wie lange dauert es, bis sie ges<strong>und</strong> wird?“<br />
„Das kann bald, aber auch sehr spät geschehen, je nachdem Ihr mir gehorsam seid.“<br />
„Worin soll ich dir gehorchen?“<br />
„Du mußt ihr meine Medizin regelmäßig verabreichen.“<br />
„Das werde ich thun.“<br />
„Sie muß einsam bleiben <strong>und</strong> vor allem Aerger behütet werden.“<br />
„Das soll geschehen.“<br />
„Ich muß täglich mit ihr sprechen dürfen.“<br />
„Du? Weshalb?“<br />
„Um meine Mittel nach dem Befinden der Kranken einrichten zu können.“<br />
„Ich werde dir selbst sagen, wie sie sich befindet.“<br />
„Das kannst du nicht, weil du das Befinden eines Kranken nicht zu beurteilen vermagst.“<br />
„Was hast du denn mit ihr zu sprechen?“<br />
„Nur das, was du mir erlaubst.“<br />
„Und wo soll es geschehen?“<br />
„Hier in diesem Raume, grad wie heute.“<br />
„Sage es genau, wie lange du kommen mußt!“<br />
„Wenn Ihr mir gehorcht, so ist sie von heute an in fünf Tagen von ihrer Krankheit - - frei.“<br />
„So gieb ihr die Medizin!“<br />
„Ich habe sie nicht hier; sie befindet sich unten im Hofe bei meinem Diener.“<br />
„So komm!“<br />
Ich wandte mich gegen sie, um mit dieser Bewegung einen stummen Abschied von ihr zu nehmen. Sie<br />
hob [112] unter der Hülle die Hände wie bittend empor <strong>und</strong> wagte die drei Silben:<br />
„Eww' Allah, mit Gott!“<br />
Sofort aber fuhr er herum:<br />
„Schweig! Du hast nur zu sprechen, wenn du gefragt wirst!“<br />
„Abrahim-Mamur,“ antwortete ich sehr ernst, „habe ich nicht gesagt, daß sie vor jedem Aerger, vor jedem<br />
Kummer bewahrt werden muß? So spricht man nicht zu einer Kranken, in deren Nähe der Tod schon steht!“<br />
„So mag sie zunächst selbst dafür sorgen, daß sie sich nicht zu kränken braucht. Sie weiß, daß sie nicht<br />
sprechen soll. Komm!“<br />
Wir kehrten in das Selamlük zurück, wo ich nach Halef schickte, der alsbald mit der Apotheke erschien. Ich<br />
gab Ignatia nebst den nötigen Vorschriften <strong>und</strong> machte mich dann zum Gehen bereit.<br />
„Wann wirst du morgen kommen?“<br />
„Um dieselbe St<strong>und</strong>e.“<br />
„Ich werde dir wieder einen Kahn senden. Wie viel verlangst du für heute?“<br />
„Nichts. Wenn die Kranke ges<strong>und</strong> ist, magst du mir geben, was dir beliebt.“<br />
Er griff dennoch in die Tasche, zog eine reich gestickte Börse hervor, nahm einige Stücke <strong>und</strong> reichte sie<br />
Halef hin.<br />
„Hier, nimm du!“<br />
Der wackere Halef-Agha griff mit einer Miene zu, als ob es sich um eine große Gnadenbezeugung gegen<br />
den Aegypter handle, <strong>und</strong> meinte, das Bakschisch ungesehen in seine Tasche senkend:<br />
„Abrahim-Mamur, deine Hand ist offen <strong>und</strong> die meine auch. Ich schließe sie gegen dich nicht zu, weil der<br />
Prophet sagt, daß eine offene Hand die erste Stufe [113] zum Aufenthalte der Seligen sei. Allah sei bei dir<br />
<strong>und</strong> auch bei mir!“<br />
Wir gingen, von dem Aegypter bis in den Garten begleitet, wo uns ein Diener die in der Mauer befindliche<br />
Thür öffnete. Als wir uns allein befanden, griff Halef in die Tasche, um zu sehen, was er erhalten hatte.<br />
GR01 / <strong>Durch</strong> <strong>Wüste</strong> <strong>und</strong> <strong>Harem</strong> – Seite 38