PDF Beitrag Torsten Meyer
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<strong>Torsten</strong> <strong>Meyer</strong><br />
Staging und Reenactment<br />
Auch Jeanne Faust verwickelt uns in komplexe mimetische Prozesse. Der<br />
Reiz ihrer Arbeiten besteht wesentlich in einem subtilen Spiel zwischen<br />
dokumentarischem Sein und aufgeführtem Schein. Der Rezipient ihrer<br />
Filmarbeiten weiß nie ganz genau, was gerade objektiv berichtet, nach<br />
der Natur dokumentiert wird und was gerade – hochgradig inszeniert –<br />
vorgeführt und dargestellt wird. Beide Ebenen geraten dauernd durcheinander.<br />
Die Klammer, die beide Ebenen verbindet, ist die geradezu aufdringliche<br />
Erinnerung an das Medium Kinofilm, die aber doch immer<br />
nur Erinnerung bleibt und nie konkret wird. Es erinnert ans Kino, aber es<br />
ist kein Kino. Die Arbeiten ahmen Kino nach. Mimesis n-ter Ordnung.<br />
Sie stoßen die Erinnerung an, aber dem Vergnügen des Wiedererkennens<br />
kann sich der Rezipient dann doch nie hingeben. Irgendwas ist immer<br />
anders gemeint.<br />
Auch Eran Schaerf arbeitet mit den eher dynamischen Aspekten der Mimesis.<br />
Er untersucht das Verhältnis von individueller und kollektiver Erfahrung<br />
zum Beispiel ausgehend von der Form der Wiederaufführung, des<br />
Reenactments historischer Ereignisse vor dem Hintergrund aktueller<br />
politischer Phänomene. Indem die immersiven Erfahrungen des nachstellenden<br />
Schauspielers mit der distanzierten Kollektiv-Perspektive nach<br />
historisch objektiviertem »Drehbuch« vielschichtig verwoben werden, geht<br />
das Reenactment über die Ebene des bloßen Imitierens und Abbildens<br />
deutlich hinaus. Vielmehr kommt in der Abweichung des Individuellen vom<br />
Kollektiven gerade die Interpretation und damit die Interpretierbarkeit<br />
der sozialen Codes zum Vorschein, die das Symbolische und die Logik des<br />
Mimetischen strukturieren.<br />
Kunst der Einmischung<br />
Dirk Baecker versteht unter einem Hacker ganz allgemein<br />
jemanden, der in der Lage ist, einen Code<br />
zu knacken, »sei es ein technischer, ein sozialer<br />
oder ein psychischer Code.« Der Hacker ist ein »Spieler«<br />
und ein »Krieger«, der sich »wie ein Parasit« in<br />
bestehende Bild- und Sprachspiele einnistet und sie<br />
mit seinen Interventionen »zum Rauschen« bringt<br />
und dadurch möglicherweise auch neue Codes in<br />
Umlauf bringt (deshalb sind in diesem Sinn auch<br />
Jacques Lacan, Bill Gates, Stephen King und Jacques<br />
Derrida »Hacker«). 4<br />
Die Arbeit von M+M könnte man in diesem Sinn als<br />
Hacking bezeichnen, als Cultural Hacking. 5 M+M<br />
betreiben eine Kunst der Einmischung, indem sie in<br />
die Weltkonstruktion durch Zeichenprozesse selbst<br />
eingreifen. Dabei bezeichnet »Einmischung«, wie<br />
Stefan Iglhaut beschreibt, 6 durchaus auch im Sinne<br />
dessen, was ein Disk-Jockey tut, das Hinzumischen<br />
von ähnlichen oder passend getakteten Sequenzen<br />
aus ganz anderen kulturellen Quellen. M+M verarbeiten<br />
die durch technische Medien erzeugten Wirklichkeiten,<br />
nutzen den kulturellen Hintergrund von<br />
Wirklichkeitssimulation, um künstlerische Simulationen<br />
in der kulturellen Wirklichkeit zu platzieren.<br />
Der Hacker installiert einen »Virus«, eine Störung<br />
nicht am, sondern im System, die die Codestrukturen<br />
dieses Systems in mimetischer Weise vorführt. Und<br />
wie Graffiti an den Mauern der urbanen Peripherie<br />
markiert ein solches Virus jedes Mal, wenn der<br />
Code zur Geltung kommt, weil er fast oder vollständig<br />
zusammenbricht, »dass jemand da war, der ›ich‹<br />
sagt, obwohl ihm von den Sprachspielen keine<br />
Chance eingeräumt wurde.« 7<br />
Interaktive Aneignung<br />
Solches Cultural Hacking kann als mimetisches<br />
Handeln verstanden werden. Es ist eine bestimmte<br />
Aufführung, eine individuelle Interpretation eines<br />
Codes, der zwar anders gedacht war, aber dennoch<br />
auch bei vermeintlicher Fehlinterpretation oder<br />
Zweckentfremdung als symbolische Basis benutzt<br />
wird. Hacking ist nicht (nur) Destruktion, aber<br />
ganz sicher auch nicht Abbildung. Es ist eine von<br />
»wild pleasure« 8 getragene Nachahmung, die<br />
nicht Kopie ist. Es ist die interaktive Nutzung eines<br />
Codes, eine relativ freie performative Anwendung<br />
eines »Drehbuchs«, einer Vor-Schrift, eines Programms.<br />
Im Unterschied zur Mimese, die eher stabilisierende<br />
Funktion hat, geht es hier jedoch eher<br />
um Abweichung und Innovation.<br />
»In mimetischen Prozessen ›gleicht‹ sich der Mensch der Welt an«. 9 Mimesis<br />
ermöglicht es ihm, die Außenwelt in die Innenwelt hineinzuholen und<br />
die Innenwelt auszudrücken. In diesem Sinn ›gleichen‹ sich aktuelle Künstler<br />
der aktuellen Medienkultur an, wie Hacker sich den Codestrukturen angleichen<br />
müssen, die sie verändern, die sie subvertieren wollen. Cultural<br />
Hacking kann in diesem Sinne als eine zwar besondere, vielleicht radikale,<br />
vielleicht aber einfach nur interaktive Angleichung an und Aneignung von<br />
Kultur verstanden werden.<br />
Ist es möglich, Kunstpädagogik als Anstoß zum Cultural Hacking zu denken?<br />
Als Anstoß zur interaktiven Aneignung von Kultur?<br />
4 Baecker, Dirk: »Intellektuelle I«, in: Ders.: Nie wieder Vernunft. Kleinere Beiträge<br />
zur Sozialkunde, Heidelberg 2008, S. 74–81, hier S. 80.<br />
5 Düllo, Thomas; Liebl, Franz (Hg.): Cultural Hacking. Kunst des strategischen<br />
Handelns, Wien/New York 2005.<br />
6 Iglhaut, Stefan: »M+M: Sampling und Simulation. Von der Kunst der Einmischung«,<br />
in: M+M: ein – aus, Texte von Ulrich Schneider und Stefan Iglhaut, Ausst.-Kat.<br />
Suermondt Ludwig Museum, Aachen 1998.<br />
7 Baecker, a.a.O.<br />
8 Levy, Steven: Hackers: Heroes of the Computer Revolution, New York 1984, S. 23.<br />
9 Gebauer, Gunter; Wulf, Christoph: Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft, Reinbek<br />
bei Hamburg, 2. Aufl. 1998, S. 11.