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PDF Beitrag Torsten Meyer

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12 / 13 kiss‚<br />

<strong>Torsten</strong> <strong>Meyer</strong><br />

Staging und Reenactment<br />

Auch Jeanne Faust verwickelt uns in komplexe mimetische Prozesse. Der<br />

Reiz ihrer Arbeiten besteht wesentlich in einem subtilen Spiel zwischen<br />

dokumentarischem Sein und aufgeführtem Schein. Der Rezipient ihrer<br />

Filmarbeiten weiß nie ganz genau, was gerade objektiv berichtet, nach<br />

der Natur dokumentiert wird und was gerade – hochgradig inszeniert –<br />

vorgeführt und dargestellt wird. Beide Ebenen geraten dauernd durcheinander.<br />

Die Klammer, die beide Ebenen verbindet, ist die geradezu aufdringliche<br />

Erinnerung an das Medium Kinofilm, die aber doch immer<br />

nur Erinnerung bleibt und nie konkret wird. Es erinnert ans Kino, aber es<br />

ist kein Kino. Die Arbeiten ahmen Kino nach. Mimesis n-ter Ordnung.<br />

Sie stoßen die Erinnerung an, aber dem Vergnügen des Wiedererkennens<br />

kann sich der Rezipient dann doch nie hingeben. Irgendwas ist immer<br />

anders gemeint.<br />

Auch Eran Schaerf arbeitet mit den eher dynamischen Aspekten der Mimesis.<br />

Er untersucht das Verhältnis von individueller und kollektiver Erfahrung<br />

zum Beispiel ausgehend von der Form der Wiederaufführung, des<br />

Reenactments historischer Ereignisse vor dem Hintergrund aktueller<br />

politischer Phänomene. Indem die immersiven Erfahrungen des nachstellenden<br />

Schauspielers mit der distanzierten Kollektiv-Perspektive nach<br />

historisch objektiviertem »Drehbuch« vielschichtig verwoben werden, geht<br />

das Reenactment über die Ebene des bloßen Imitierens und Abbildens<br />

deutlich hinaus. Vielmehr kommt in der Abweichung des Individuellen vom<br />

Kollektiven gerade die Interpretation und damit die Interpretierbarkeit<br />

der sozialen Codes zum Vorschein, die das Symbolische und die Logik des<br />

Mimetischen strukturieren.<br />

Kunst der Einmischung<br />

Dirk Baecker versteht unter einem Hacker ganz allgemein<br />

jemanden, der in der Lage ist, einen Code<br />

zu knacken, »sei es ein technischer, ein sozialer<br />

oder ein psychischer Code.« Der Hacker ist ein »Spieler«<br />

und ein »Krieger«, der sich »wie ein Parasit« in<br />

bestehende Bild- und Sprachspiele einnistet und sie<br />

mit seinen Interventionen »zum Rauschen« bringt<br />

und dadurch möglicherweise auch neue Codes in<br />

Umlauf bringt (deshalb sind in diesem Sinn auch<br />

Jacques Lacan, Bill Gates, Stephen King und Jacques<br />

Derrida »Hacker«). 4<br />

Die Arbeit von M+M könnte man in diesem Sinn als<br />

Hacking bezeichnen, als Cultural Hacking. 5 M+M<br />

betreiben eine Kunst der Einmischung, indem sie in<br />

die Weltkonstruktion durch Zeichenprozesse selbst<br />

eingreifen. Dabei bezeichnet »Einmischung«, wie<br />

Stefan Iglhaut beschreibt, 6 durchaus auch im Sinne<br />

dessen, was ein Disk-Jockey tut, das Hinzumischen<br />

von ähnlichen oder passend getakteten Sequenzen<br />

aus ganz anderen kulturellen Quellen. M+M verarbeiten<br />

die durch technische Medien erzeugten Wirklichkeiten,<br />

nutzen den kulturellen Hintergrund von<br />

Wirklichkeitssimulation, um künstlerische Simulationen<br />

in der kulturellen Wirklichkeit zu platzieren.<br />

Der Hacker installiert einen »Virus«, eine Störung<br />

nicht am, sondern im System, die die Codestrukturen<br />

dieses Systems in mimetischer Weise vorführt. Und<br />

wie Graffiti an den Mauern der urbanen Peripherie<br />

markiert ein solches Virus jedes Mal, wenn der<br />

Code zur Geltung kommt, weil er fast oder vollständig<br />

zusammenbricht, »dass jemand da war, der ›ich‹<br />

sagt, obwohl ihm von den Sprachspielen keine<br />

Chance eingeräumt wurde.« 7<br />

Interaktive Aneignung<br />

Solches Cultural Hacking kann als mimetisches<br />

Handeln verstanden werden. Es ist eine bestimmte<br />

Aufführung, eine individuelle Interpretation eines<br />

Codes, der zwar anders gedacht war, aber dennoch<br />

auch bei vermeintlicher Fehlinterpretation oder<br />

Zweckentfremdung als symbolische Basis benutzt<br />

wird. Hacking ist nicht (nur) Destruktion, aber<br />

ganz sicher auch nicht Abbildung. Es ist eine von<br />

»wild pleasure« 8 getragene Nachahmung, die<br />

nicht Kopie ist. Es ist die interaktive Nutzung eines<br />

Codes, eine relativ freie performative Anwendung<br />

eines »Drehbuchs«, einer Vor-Schrift, eines Programms.<br />

Im Unterschied zur Mimese, die eher stabilisierende<br />

Funktion hat, geht es hier jedoch eher<br />

um Abweichung und Innovation.<br />

»In mimetischen Prozessen ›gleicht‹ sich der Mensch der Welt an«. 9 Mimesis<br />

ermöglicht es ihm, die Außenwelt in die Innenwelt hineinzuholen und<br />

die Innenwelt auszudrücken. In diesem Sinn ›gleichen‹ sich aktuelle Künstler<br />

der aktuellen Medienkultur an, wie Hacker sich den Codestrukturen angleichen<br />

müssen, die sie verändern, die sie subvertieren wollen. Cultural<br />

Hacking kann in diesem Sinne als eine zwar besondere, vielleicht radikale,<br />

vielleicht aber einfach nur interaktive Angleichung an und Aneignung von<br />

Kultur verstanden werden.<br />

Ist es möglich, Kunstpädagogik als Anstoß zum Cultural Hacking zu denken?<br />

Als Anstoß zur interaktiven Aneignung von Kultur?<br />

4 Baecker, Dirk: »Intellektuelle I«, in: Ders.: Nie wieder Vernunft. Kleinere Beiträge<br />

zur Sozialkunde, Heidelberg 2008, S. 74–81, hier S. 80.<br />

5 Düllo, Thomas; Liebl, Franz (Hg.): Cultural Hacking. Kunst des strategischen<br />

Handelns, Wien/New York 2005.<br />

6 Iglhaut, Stefan: »M+M: Sampling und Simulation. Von der Kunst der Einmischung«,<br />

in: M+M: ein – aus, Texte von Ulrich Schneider und Stefan Iglhaut, Ausst.-Kat.<br />

Suermondt Ludwig Museum, Aachen 1998.<br />

7 Baecker, a.a.O.<br />

8 Levy, Steven: Hackers: Heroes of the Computer Revolution, New York 1984, S. 23.<br />

9 Gebauer, Gunter; Wulf, Christoph: Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft, Reinbek<br />

bei Hamburg, 2. Aufl. 1998, S. 11.

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