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AUFSATZ ZIVILRECHT · DER AUSSCHLUSS DER LEISTUNGSPFLICHT NACH § 275 BGB<br />
tung zu verweigern. Bei der Entscheidung, ob dieser Grad der<br />
Leistungserschwerung für den Schuldner erreicht wird, sind<br />
der Inhalt des Schuldverhältnisses und die Gebote von Treu<br />
und Glauben zu beachten. Der Grundsatz der Privatautonomie<br />
als elementares Ordnungsprinzip unseres Privatrechts<br />
gebietet es, besondere Rücksicht auf die vom Schuldner übernommene<br />
Leistungspflicht zu nehmen. Es ist stets danach zu<br />
fragen, welche Verpflichtung der Schuldner freiwillig übernommen<br />
hat, wenn entschieden werden soll, welche Leistungsanstrengungen<br />
ihm billigerweise zuzumuten sind. 61 Verpflichtet<br />
sich ein auf Tauchgänge spezialisiertes Unternehmen,<br />
Gegenstände aus einem im Meer gesunkenen Schiff zu bergen,<br />
dann kann selbstverständlich nicht von einer faktischen Unmöglichkeit<br />
gesprochen werden, wenn es um die Erfüllung<br />
dieser Leistungspflicht geht. Die sieht völlig anders aus, wenn<br />
zu entscheiden ist, ob ein Handelsunternehmen, das eine Maschine<br />
nach Übersee verkauft hat, zur Beschaffung der verkauften<br />
Maschine verpflichtet ist, wenn das Schiff, das die<br />
Maschine transportiert, im Meer versinkt. Die sich aus dem<br />
Kaufvertrag ergebende Pflicht zur Übereignung und Übergabe<br />
der Kaufsache erstreckt sich offensichtlich nicht auf Anstrengungen,<br />
die zur Bergung der Maschine aus dem versunkenen<br />
Schiff erforderlich würden. Die Erfüllung der vertraglichen<br />
Pflicht aus dem Kaufvertrag, die Maschine dem Gläubiger<br />
zu übergeben, ist in einem solchen Fall dem Schuldner<br />
unmöglich und er wird deshalb von seiner Leistungspflicht<br />
frei, und zwar nicht auf der Grundlage des § 275 II BGB,<br />
sondern wegen echter Unmöglichkeit im Sinne des § 275 I<br />
BGB.<br />
Das gewählte Beispiel der im Meer versunkenen Maschine<br />
lässt deutlich sein, dass bei Anwendung des § 275 BGB als<br />
erstes zu ermitteln ist, welche Pflicht der Schuldner übernommen<br />
hat und ob die Erfüllung dieser Pflicht ihm möglich ist.<br />
Nur wenn die Möglichkeit der Pflichterfüllung bejaht werden<br />
kann, ist Raum für die Anwendung des § 275 II BGB.<br />
Beispiel: Das auf Bergung von Gegenständen aus versunkenen<br />
Schiffen spezialisierte Unternehmen verpflichtet sich, aus einem im<br />
Meer liegenden Schiffswrack hochwertige Güter zu bergen, die sich<br />
in dem Schiff befinden. Nach Vertragsschluss wird das Schiffswrack<br />
durch ein Seebeben zu einer wesentlich tieferen Stelle befördert. Die<br />
Bergungskosten steigen deshalb auf das Doppelte des zuvor aufzuwendenden<br />
Betrages.<br />
Die Erfüllung der übernommenen Vertragspflicht, die sich auf die<br />
Bergung bestimmter Gegenstände aus einem Schiffswrack bezieht,<br />
bleibt <strong>weiter</strong>hin möglich, verteuert sich jedoch erheblich. Deshalb ist<br />
gemäß § 275 II BGB zu entscheiden, ob bereits ein grobes Missverhältnis<br />
zwischen dem vom Schuldner zu erbringenden Aufwand und<br />
dem Gläubigerinteresse erreicht ist, das dem Schuldner ein Leistungsverweigerungsrecht<br />
gibt. 62<br />
Folgt man der <strong>hier</strong> vertretenen Auffassung und entscheidet<br />
man über die vom Schuldner zu erbringenden Leistungsanstrengungen<br />
nach dem Inhalt der von ihm übernommenen<br />
Pflicht, dann muss es im Gegensatz zu der in der Gesetzesbegründung<br />
vertretenen Auffassung ausgeschlossen werden,<br />
dass die Fälle der faktischen Unmöglichkeit von § 275 II BGB<br />
erfasst werden. 63 Denn es ist – wie bereits bemerkt – nicht<br />
vorstellbar, dass sich ein Schuldner zu Leistungen verpflichtet,<br />
deren Erfüllung lediglich theoretisch möglich ist, die aber<br />
Maßnahmen erfordern, die außerhalb jeder Vernunft liegen.<br />
Diese Feststellung muss sich mit zwei nahe liegenden Einwendungen<br />
auseinandersetzen, nämlich zum einen mit der Zulässigkeit,<br />
die gegenteilige Auffassung der Verfasser der Geset-<br />
zesbegründung zu ignorieren, zum anderen mit der Ausklammerung<br />
gesetzlicher Schuldverhältnisse, für die ebenfalls § 275<br />
BGB gilt, 64 bei denen es aber keine vom Schuldner freiwillig<br />
übernommene Pflicht geben kann, die das Maß der schuldnerischen<br />
Leistungsanstrengungen bestimmt.<br />
Die Regelungsabsicht des Gesetzgebers, die sich aus den<br />
Gesetzesmaterialien erschließt, stellt sicherlich ein wichtiges<br />
Kriterium für die Auslegung einer Rechtsnorm dar. Allerdings<br />
kann dies nur für die Grundabsicht gelten und nicht für die in<br />
einer Gesetzesbegründung geäußerten Vorstellungen über die<br />
genaue Bedeutung und Reichweite einer einzelnen Bestimmung.<br />
Denn derartige Normvorstellungen stammen von den<br />
Verfassern des Gesetzestextes, im konkreten Fall von den<br />
zuständigen Ministerialbeamten und den Mitgliedern der sie<br />
beratenden Kommission. Diese Personen sind aber weder<br />
einzeln noch in ihrer Gesamtheit der Gesetzgeber. 65 Den Gesetzesredaktoren<br />
kommt keinesfalls das Recht einer authentischen<br />
Interpretation des Gesetzes zu. 66 Allenfalls bei Auslegungszweifeln<br />
kann ein Rückgriff auf die Gesetzesmaterialien<br />
infrage kommen, wobei allerdings unzutreffende Wertungen<br />
in einer Gesetzesbegründung gegenüber anderen<br />
Auslegungsergebnissen als bedeutungslos anzusehen sind. 67<br />
Die Auffassung, § 275 II BGB sei auf Fälle der faktischen<br />
Unmöglichkeit anzuwenden, erweist sich aus den genannten<br />
Gründen 68 als eine derartige unzutreffende Wertung.<br />
Mit dem zweiten Einwand, einer mangelnden Berücksichtigung<br />
gesetzlicher Schuldverhältnisse bei der Interpretation<br />
des § 275 II BGB, hat sich besonders Lobinger 69 auseinandergesetzt<br />
und darauf hingewiesen, dass für die wichtigsten gesetzlichen<br />
Schuldverhältnisse eigene Befreiungsregelungen<br />
gelten, sodass sich der Anwendungsbereich von § 275 BGB<br />
grundsätzlich auf rechtsgeschäftlich begründete Leistungspflichten<br />
beschränkt. Aber selbst wenn im Einzelfall entschieden<br />
werden muss, welche Leistungsanstrengungen zur Erfüllung<br />
einer gesetzlich begründeten Pflicht vom Schuldner zu<br />
verlangen sind, ist dabei ebenfalls auf Umfang und Inhalt der<br />
Pflicht abzustellen, für deren Ermittlung selbstverständlich<br />
dann nicht eine vertragliche Abrede, sondern die sich aus dem<br />
Gesetz ergebenden Hinweise maßgebend sind.<br />
Für den Anwendungsbereich des § 275 II BGB bleiben also<br />
die Fälle, bei denen die erforderlichen Leistungsanstrengungen<br />
des Schuldners unterhalb der Größenordnung einer faktischen<br />
Unmöglichkeit liegen und bei denen durchaus vorstellbar<br />
ist, dass sich der Schuldner nicht auf ein ihm zustehendes<br />
Leistungsverweigerungsrecht beruft, sondern zu Anstrengungen<br />
bereit ist, zu denen er nach dem Schuldverhältnis<br />
nicht verpflichtet ist. Wenn man für diese Fallgruppe die<br />
Bezeichnung „überobligationsmäßige Leistungserschwerungen“<br />
wählt, dann wird mit diesem Begriff zum einen zum<br />
Ausdruck gebracht, dass es sich dabei nicht um einen Fall der<br />
Unmöglichkeit handelt und zum anderen dadurch auch Bezug<br />
auf die Pflicht des Schuldners genommen, die für die geschuldeten<br />
Leistungsanstrengungen maßgebend ist. Auf diese Weise<br />
erhält die Vorschrift des § 275 II BGB eine für die prakti-<br />
61 So auch Lobinger (Fn. 22) S. 166 ff.; Finn (Fn. 45) S. 251 ff.; Fehre (Fn. 2) S. 46 f.;<br />
Fikentscher/Heinemann (Fn. 16) Rn. 397.<br />
62 So auch zu einem ähnlichen Fall Stürner Jura 2010, 721 (725).<br />
63 So auch Stürner (Fn. 43) S. 188.<br />
64 BGH NJW 2008, 3122 (3123 Tz. 17).<br />
65 Larenz Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 329.<br />
66 Huber (Fn. 50) S. 564; Stürner (Fn. 43) S. 188.<br />
67 BGH NJW 1998, 1868 (1869); 1998, 2673 (2674).<br />
68 Zu <strong>weiter</strong>en Ungereimtheiten in der Gesetzesbegründung zu § 275 II BGB vgl. Finn<br />
(Fn. 45) S. 188 (341 f.).<br />
69 Lobinger (Fn. 22) S. 168 f.<br />
11/2011 807<br />
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