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Leib zum Instrument des Denkens, und wir Erwachsene sind daran beteiligt! Denn kein Kind kann Sprache aus sich heraus lernen; es bedarf dazu immer des Vorbildes, und von der Qualität des Vorbildes hängt es ab, was das Kind sich an Gehirnstrukturen erwerben kann. Daher hat es keinen Sinn, mit Kleinkindern nur in lallender Babysprache zu reden. Babys nehmen die grammatischen und syntaktischen Strukturen der Umgebungssprache in sich auf, längst ehe sie selber sprechen. Wir sollten uns also um ganze Sätze bemühen, denn nur strukturierte Sprache vermag im Gehirn Strukturen zu veranlagen. Tasten nach dem Kern Das bedeutet freilich nicht, dass man zu kleinen Kindern irgendwie gestelzt reden sollte. Überhaupt ist der Inhalt der Worte gar nicht das Entscheidende. Viel wichtiger ist, dass der Erwachsene, wenn er sich dem Kind zuwendet, voll präsent ist und mit allen Kräften in den Worten lebt, die er spricht. Das Kind gibt sich als ganzer Mensch den Eindrücken der Welt hin, und es wird in seiner Lebenssicherheit bestärkt, wenn es am Erwachsenen das Gleiche erlebt. Auch ist es wichtig, dass Wort und Tat übereinstimmen. Wird öfter eine Konsequenz 6 Was liegt hinter unseren Worten? Dafür haben Kinder ein Gespür angekündigt, die dann nicht erfolgt, gewöhnt sich das Kind rasch daran, die Worte des Erwachsenen nicht ernst zu nehmen, und der sollte sich dann nicht wundern über ein vermeintlich ungehorsames oder ständig nörgelndes Kind. Kinder haben ein untrügliches Gespür für die moralische, willenshafte Qualität, die hinter den Worten liegt; sie tasten nach dem Kern des Erwachsenen wie nach einer ›Golddeckung‹, die den Worten Realität verleiht. Und haben sie nicht Recht? Sie leben noch in einer Sphäre, in der Worte Tatsachen schaffen, physische Tatsachen bis in die Formung des Gehirns und der Organe hinein. »Im Anfang war das Wort …« – wir sollten uns als Erwachsene daran erinnern. Bild- und Klangwelt entdecken Ungefähr drei Jahre wirkt die Sprache in geradezu magischer Weise leibgestaltend. Sobald aber das Kind »Ich« zu sich zu sagen beginnt, endet diese Phase und eine neue Situation tritt ein. Das Kind erobert sich jetzt bewusst das Reich der Sprache und schwelgt geradezu darin. Jede Gelegenheit wird genutzt, um den Erwachsenen zum Reden zu bringen, am liebsten durch endlose Fragen nach dem Was, Wie, Wo, Warum. Leider missverstehen viele Erwachsene diese Anzeichen eigenständigen Denkens, indem sie meinen, die Kinder jetzt wie kleine Erwachsene behandeln zu sollen, denen man belehrende Vorträge hält. Das Kind wird zugeschüttet mit Erklärungen und wissenschaftlichen Fakten, nach denen es gar nicht gefragt hat. Kinder wollen aber nicht ›zugetextet‹ werden, sondern die Welt in ihrer Fülle und Farbigkeit selbst entdecken, und das können sie am besten, wenn der Erwachsene möglichst konkret und anschaulich spricht. Eine Ölraffinerie z.B. sollte den Erwachsenen nicht zu der Äußerung hinreißen: »Das ist eine petrochemische Anlage, in der das Erdöl aus Arabien raffiniert und gekrackt wird« (wie ich es tatsächlich einmal hörte). Es genügt die Antwort: »Da wird Benzin gemacht, und an der Tankstelle füllen <strong>Weleda</strong> KinderWelt Heft 4, Herbst 2004
Auch beim Vorlesen gibt ein Kind sich den Eindrücken der Welt völlig hin wir das Benzin in unser Auto.« Denn das ermöglicht dem Kind, das neue Phänomen in einen schon bekannten Bildzusammenhang einzuordnen, und von diesen Bildern her versteht es die Welt. Alles Begreifen ist in diesem Alter noch sinnlich-konkret. So fragte mich mein vierjähriger Sohn einmal bei der Erwähnung einer ›S-Bahn‹, was die Leute in dieser Bahn denn essen. Jeder kennt solche Beispiele. Weil Kinder die Bilder suchen, die die Sprache in ihrer erwachenden Vorstellungskraft erzeugt, lieben sie die Bilderwelt der Märchen. Sie ist voller Weisheit, gerinnt aber nie in gedankliche Abstraktion, und eben deshalb ist sie Nahrung für ihre Seele, Nahrung, die man nicht nur einmal wünscht, sondern täglich aufs Neue. Nahrung ist für Kinder aber auch das rhythmisch-musikalische Element der Sprache, das in allen Sprachspielen, in Reigen und Knierutscherversen, in Kinderliedern und Abzählversen erklingt; der begriffliche Inhalt zählt hier gar nicht. Überall da, wo Sprache, Gesang und Bewegung zu einer Einheit verschmelzen, fühlen sich Kinder in ihrem Element. Auch der Humor kommt zu seinem Recht, wenn die Kinder selber neue Wörter erfinden, die ihnen ein lautmalerisches Vergnügen bereiten und bei allen Ersthörern Heiterkeit erzeugen. Frei von allen begrifflichen Definitionen bewegt sich hier ihr schöpferisches Genie im reinen Spiel. Und heute wissen die Logopäden, dass dieses vermeintlich zwecklose Spiel mit den rhythmisch-musikalischen Elementen der Sprache die beste Therapie ist, die man für sprachentwicklungsgestörte Kinder finden kann. Die heilende Kraft der Sprache wird neu entdeckt. Dr. Rainer Patzlaff ist Geschäftsführer von IPSUM, Institut für Pädagogik, Sinnes- und Medienökologie in Stuttgart. <strong>Weleda</strong> KinderWelt Heft 4, Herbst 2004 7
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