7. Ausgabe 01/11 - Fachschaft Chemie - TUM
7. Ausgabe 01/11 - Fachschaft Chemie - TUM
7. Ausgabe 01/11 - Fachschaft Chemie - TUM
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Das Ding mit der scheinbaren Tradition<br />
Was fällt euch zu „typisch Indien“ ein? Ganz klar das Curry, ganz klar das Taj Mahal, ganz klar<br />
das Kastensystem – aber halt: so klar ist das beim letzten Punkt in Wirklichkeit nicht.<br />
von Angela Ibler<br />
Das Kastensystem, wie wir es seit<br />
den letzten hundert Jahren aus<br />
Indien kennen, konnte erst durch<br />
das Zusammenspiel<br />
von Britischer Kolonialmacht<br />
und Eigeninteressen<br />
gewisser<br />
Bevölkerungsgruppen<br />
entstehen.<br />
Bevor Indien zur britischen<br />
Kolonie wurde,<br />
gab es noch nicht<br />
einmal in allen Regionen<br />
die gleiche Auffassung<br />
von Kaste.<br />
Die Hierarchie war nicht gleich<br />
streng geregelt und in einigen Gebieten<br />
war auch der Wechsel von<br />
einer Kaste zur anderen nicht so<br />
unmöglich wie das vor allem im<br />
20. Jahrhundert der Fall war. Doch<br />
die westlichen Kolonialherren,<br />
die ja so gerne in allem eine gewisse<br />
Ordnung und Regeln sehen,<br />
suchten vergeblich eine einheitlich<br />
festgelegte Gesellschaftsordnung<br />
(gültig für ganz Indien) – also<br />
mussten sie diese erst „erfinden“.<br />
Ganz so böse darf man den alten<br />
Briten aber nicht sein, denn sie<br />
versuchten indische Traditionen<br />
zu berücksichtigen, indem sie<br />
alte Schriften nach Regeln durchsuchten<br />
und Priester um Rat fragten.<br />
Jetzt war es aber so, dass in<br />
den religiösen Schriften nur die<br />
Kastenauffassung der Priester zu<br />
finden war und diese somit eine<br />
sakrosankte Legitimation erhielt.<br />
Außerdem nutzten einige Priester<br />
die Gunst der Stunde, sich bei den<br />
britischen Beamten einige Vorteile<br />
zu sichern, indem sie ihre Kaste<br />
als die bevorzugte darstellten<br />
und möglichst enge Grenzen um<br />
niedrigere Gesellschaftsschichten<br />
Über den Kolbenrand<br />
zogen. Zusätzlich trug der europäische<br />
Rassenbegriff seinen Teil<br />
dazu bei, denn auch dieser war ein<br />
Mittel, um (ohne sich<br />
viele Gedanken machen<br />
zu müssen) eine<br />
Gesellschaft in klar<br />
abgegrenzte Schichten<br />
aufzuteilen – hier<br />
scheinbar mit einer<br />
„genetischen“ Rechtfertigung.<br />
So passierte<br />
es schnell, dass<br />
sich verschiedene<br />
Bevölkerungsgruppen<br />
in Indien auf einmal für zivilisierter<br />
und damit höher gestellt sahen.<br />
Andere dagegen hielten sich<br />
für die Ureinwohner des Subkontinents<br />
und deklarierten für sich<br />
mehr Rechte. Dogmatisch wurde<br />
das Kastensystem aber wohl erst<br />
mit der Volkszählung zu Beginn<br />
des 20. Jahrhunderts. Hier wurde<br />
zur besseren Auflistung der indischen<br />
Bewohner genau festgehalten,<br />
welche Kasten es gäbe und<br />
wie sie hierarchisch zueinander<br />
stünden.<br />
Nach dem zweiten Weltkrieg<br />
und nach der Erfahrung des Nationalsozialismus<br />
war das Wort<br />
Rasse aber auf keinen Fall mehr<br />
zu gebrauchen, um eine Gesellschaftsstruktur<br />
zu beschreiben.<br />
Und nachdem Indien 1947 seine<br />
Unabhängigkeit erlangte war der<br />
Weg von Personen wie Mahatma<br />
8<br />
Ghandi bereits vorbereitet für eine<br />
Reform der Gesellschaft mit mehr<br />
Gleichberechtigung und weniger<br />
Scheu mit Menschen niedrigerer<br />
Kasten zu verkehren. Bis heute hat<br />
das Kastensystem (laut Wikipedia<br />
sollte man eher von Kastenwesen<br />
sprechen) Einfluss auf Heirat<br />
und Berufswahl. Doch die Grenzen<br />
werden – langsam – weicher.<br />
Also: wie typisch ist das Kastenwesen?<br />
Vielleicht nicht typisch<br />
indisch, aber sicherlich typisch für<br />
die bewegte Geschichte des Subkontinents.<br />
<strong>Ausgabe</strong> 7/2<strong>01</strong>1<br />
Impressum<br />
Der „Chemist“ ist kein Erzeugnis<br />
im Sinne des Presserechts, sondern<br />
ein Rundbrief an alle Studenten<br />
der <strong>TUM</strong> und sonstig interessierten<br />
Personen. Mit Namen gekennzeichnete<br />
Artikel geben nicht die<br />
Meinung der Redaktion, sondern<br />
die des Verfassers wieder.<br />
Redaktion: Yuliya Dubianok<br />
Steffen Georg<br />
Angela Ibler<br />
Simon Nadal<br />
Freie Mitarbeiter:<br />
Clemens Hauptmann<br />
Fotos/ Zeichnung:<br />
Angela Ibler<br />
Kontakt: chemist@stud.ch.tum.de<br />
Auflage: 150 Exemplare