Puccini in Paris und Yokohama - fremde Orte, vertraute
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Volker Mertens, Berl<strong>in</strong> München, 20. 1.10<br />
1. E<strong>in</strong>leitung: Mythische <strong>Orte</strong><br />
<strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong> zwischen <strong>Paris</strong> <strong>und</strong> <strong>Yokohama</strong> –<br />
<strong>fremde</strong> <strong>Orte</strong>, <strong>vertraute</strong> Gefühle<br />
Seit etwa 110 Jahren spricht man von der Bohème als<br />
Lebensform e<strong>in</strong>er jungen Generation: Schriftsteller, Maler,<br />
Musiker, die um Anerkennung r<strong>in</strong>gen, ohne festes E<strong>in</strong>kommen,<br />
vjedoch ungeb<strong>und</strong>en leben <strong>und</strong> die bürgerlichen Normen von<br />
Erwerbsarbeit ebenso wie die von Liebe <strong>und</strong> Ehe verachten. Im<br />
Rahmen der Münchner Stadtführung besucht man die Stätten der<br />
Schwab<strong>in</strong>ger Bohème vom Anfang des 20.Jahrh<strong>und</strong>erts mit<br />
Frank Wedek<strong>in</strong>d, Karl Valent<strong>in</strong> <strong>und</strong> Franziska von Reventlov<br />
<strong>und</strong> <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> ist die DDR-Bohème <strong>in</strong> Prenzlauer Berg sowie <strong>in</strong><br />
Dresden Loschwitz <strong>in</strong> den 1980er Jahren unvergessen.<br />
Verantwortlich für diesen Sprachgebrauch ist Giacomo <strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong>s<br />
vierte Oper ‚La bohème’, uraufgeführt am 1. Februar 1896 <strong>in</strong><br />
Tur<strong>in</strong>. Sie hat das idealisierte Bild vom leichtfüßigen<br />
Künstlervölkchen geprägt <strong>und</strong> <strong>Paris</strong> als Sehnsuchtsort der<br />
spontanen Leidenschaft <strong>und</strong> der süßen freien Liebe <strong>in</strong> unser<br />
kulturelles Gedächtnis e<strong>in</strong>geschrieben.<br />
Vergleichbares ist dem Komponisten mit se<strong>in</strong>er Japan-Oper<br />
‚Madama Butterfly’ gelungen. Das Drama um die große Liebe<br />
der exotischen Frau <strong>und</strong> die kle<strong>in</strong>e Liebe des westlichen Mannes<br />
hat das Modell e<strong>in</strong>er, wie man heute sagen würde,<br />
<strong>in</strong>terkulturellen Beziehung geschaffen, auf das im Westen ebenso<br />
wie im Fernen Osten immer wieder rekurriert wird. Oberhalb des<br />
Hafens von Nagasaki steht heute am mutmaßlichen Ort von Cio<br />
Cio Sans Haus e<strong>in</strong>e Statue des Geisha mit ihrem K<strong>in</strong>d <strong>und</strong><br />
Brautpaare lassen sich davor fotografieren. Dazu erkl<strong>in</strong>gt ‚Un bel<br />
dì vedremo – E<strong>in</strong>es Tages sehen wir’.<br />
Das erfolgreiche Musical von 1989, ‚Miss Saigon’, übernimmt<br />
<strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong>s Typen der opferbereiten asiatischen Frau <strong>und</strong> ihres<br />
amerikanischen Geliebten, nicht ohne letzteren im Vergleich zur<br />
Vorlage deutlich zu veredeln. Selbst Detlev Bucks 2010<br />
angelaufener Film ‚Same Same But Different’ greift noch auf<br />
Stereotypen aus dem Umfeld der ‚Butterfly’ zurück, so im Fall<br />
der liebenden asiatischen Frau mit Vergangenheit.<br />
Ich habe die beiden Opern ausgewählt, weil sie auf dem<br />
Spielplan des Nationaltheaters stehen <strong>und</strong> zudem die<br />
1
ekanntesten s<strong>in</strong>d, so dass ich e<strong>in</strong>e gewisse Vertrautheit mit<br />
Inhalt <strong>und</strong> Musik voraussetzen kann.<br />
Me<strong>in</strong> Vortrag widmet sich folgenden Fragen:<br />
1. Mit welchen musikalischen Verfahren br<strong>in</strong>gt <strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong> die<br />
„mythischen <strong>Orte</strong>“ auf die Bühne?<br />
2. Welches Ziel verfolgt er damit?<br />
3. Wie gel<strong>in</strong>gt es dem Komponisten, se<strong>in</strong>e Figuren mit soviel<br />
universeller Gefühlswahrheit auszustatten, dass sie noch nach<br />
e<strong>in</strong>h<strong>und</strong>ert Jahren die Opernbesucher auf der ganzen Welt<br />
ergreifen?<br />
Um die gestellten Fragen zu beantworten, muss ich zuerst e<strong>in</strong>en<br />
Blick auf die Operngeschichte des ausgehenden 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
werfen, um die Situation des jungen <strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong> <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e<br />
Reaktionen zu charakterisieren. Dann werde ich den 1. <strong>und</strong> 2.<br />
Akt von ‚La bohème’ sowie die Musik der ‚Butterfly’ im<br />
H<strong>in</strong>blick auf die dramaturgischen musikalischen<br />
Gestaltungspr<strong>in</strong>zipien mit Hilfe von Hörbeispielen darstellen.<br />
Zum Schluss widme ich mich der dritten Frage nach der<br />
Gefühlswahrheit.<br />
2. Verdi <strong>und</strong> ke<strong>in</strong> Erbe<br />
Die Bühnen Italiens wurden bis etwa zur Mitte der 1870er Jahre<br />
von den Opern Giuseppe Verdis beherrscht. Se<strong>in</strong>e ‚Aida’ war im<br />
Jahre 1876 das entscheidende Opernerlebnis des<br />
achtzehnjährigen <strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong> gewesen, das die Initialzündung für<br />
se<strong>in</strong>en Entschluss gab, als Opernkomponist über die Gefühle des<br />
Publikums zu verfügen. Als er vier Jahre später an das<br />
Königliche Konservatorium <strong>in</strong> Mailand kam, wurde der damalige<br />
Leiter, Amilcare Ponchielli, als Erbe Verdis gehandelt, da er mit<br />
se<strong>in</strong>er Oper ‚La Gioconda’ e<strong>in</strong>en schönen Erfolg gehabt hatte. Er<br />
suchte nach neuen Wegen, ohne die alten zu verlassen – er wollte<br />
e<strong>in</strong>erseits dem Erneuerungsbedarf genüge tun, andererseits die<br />
Kont<strong>in</strong>uität der italienischen Gesangsoper wahren.<br />
Formale <strong>und</strong> stilistische Parameter standen im Fokus der<br />
Ause<strong>in</strong>andersetzungen. Schon Verdi hatte die alte Trennung<br />
zwischen dem sprachnahen, handlungstreibenden Rezitativ <strong>und</strong><br />
der emphatischen, oft grandiosen Arie abgeschwächt, allerd<strong>in</strong>gs<br />
nicht aufgehoben. Aus Frankreich <strong>und</strong> Deutschland kamen<br />
Anregungen, die die jungen Intellektuellen <strong>in</strong> Mailand heftig<br />
diskutierten – an diesen Gesprächen nahm <strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong> lebhaften<br />
Anteil. Frankreich bot zwei Optionen: e<strong>in</strong>erseits das Drâme<br />
lyrique, wie es von Charles Gounod, Ambroise Thomas <strong>und</strong> Jules<br />
Massenet vertreten wurde u<strong>in</strong>d das e<strong>in</strong>e sprachnahe,<br />
2
geschmeidige Melodieführung bot, andererseits die realistische<br />
Oper, die mit Georges Bizets ‚Carmen’ seit 1880 Triumphe <strong>in</strong><br />
Italien feierte <strong>und</strong> zum Vorbild für die E<strong>in</strong>akter Pietro Mascagnis<br />
<strong>und</strong> Ruggiero Leoncavallos wurde. Deutschland – das war die<br />
‚s<strong>in</strong>fonische’ Oper Richard Wagners <strong>in</strong> der e<strong>in</strong>erseits dem<br />
Orchester e<strong>in</strong>e neue Rolle zukam, andererseits e<strong>in</strong> neues<br />
Gliederungspr<strong>in</strong>zip durch die Leitmotivtechnik die alte<br />
episodische Struktur ersetzte. Die italienische Erstaufführung von<br />
Wagners ‚Lohengr<strong>in</strong>’ im Jahre 1871 hatte ebenso begeisterte<br />
Anhänger wie entschlossene Gegner gezeugt.<br />
<strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong> studierte Wagners Opern. Zusammen mit se<strong>in</strong>em Fre<strong>und</strong><br />
Mascagni besorgte er sich den bereits 1882 erschienen<br />
italienischen<br />
Klavierauszug des ‚Parsifal’. Er blieb se<strong>in</strong> Leben lang e<strong>in</strong><br />
Bew<strong>und</strong>erer des Bayreuther Meisters, noch 1912 sprach er von<br />
„erhabener, göttlicher Musik“ <strong>und</strong>, als er im Jahr se<strong>in</strong>es Todes<br />
das Tristan-Vorspiel auf dem Klavier spielte, brach ab <strong>und</strong> sagte:<br />
„Schluss mit dieser Musik. Wir s<strong>in</strong>d Mandol<strong>in</strong>enklimperer.<br />
Dilettanten.“<br />
Von se<strong>in</strong>en ersten Werken an suchte er also drei Traditionen<br />
mite<strong>in</strong>ander zu verb<strong>in</strong>den: die italienische mit der Dom<strong>in</strong>anz der<br />
menschlichen Stimme, die französische mit ihrer kle<strong>in</strong>teiligen,<br />
biegsamen, unpathetischen Melodik <strong>und</strong> die deutsche mit ihrer<br />
s<strong>in</strong>fonischen Behandlung der Partitur <strong>in</strong> Leitmotivik <strong>und</strong><br />
Orchesterfarbigkeit.<br />
H<strong>in</strong>zukommt seit ‚La bohème’ die H<strong>in</strong>wendung zum ‚Milieu’ der<br />
Figuren, nicht im S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er gesellschaftlichen Analyse oder gar<br />
Anklage, sondern als Lebensform der Figuren, an die sie<br />
geb<strong>und</strong>en s<strong>in</strong>d.<br />
3. ‚La bohème’ – Wahrheit <strong>und</strong> Gefühl<br />
Betrachten wir die Oper vor dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> der literarischen<br />
Vorlage <strong>und</strong> der traditionellen Handlungstypik, so wird <strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong>s<br />
Verfahren deutlich. Er wählt e<strong>in</strong> französisches Sujet wie schon<br />
bei se<strong>in</strong>er dritten Oper ‚Manon Lescaut’. es s<strong>in</strong>d die ‚Scénes de la<br />
vie de bohème von Henry Murger, entstanden von 1845 – 1849<br />
als Feuilletonartikel <strong>und</strong> 1851 als Buch erschienen. Während sie<br />
im Frankreich der 1890er Jahre als altmodisch galten, waren die<br />
‚Scènes’ e<strong>in</strong> Kultbuch unter den jungen Künstlern <strong>in</strong> Mailand.<br />
<strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong> <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Fre<strong>und</strong>e fühlten sich oft wie die Gestalten aus<br />
Murgers Roman <strong>und</strong> agierten entsprechend.<br />
Das Libretto, das vier männliche <strong>und</strong> zwei weibliche<br />
Hauptfiguren aus den ‚Scènes’ auswählte, konzentrierte sich, der<br />
3
Opernkonvention entsprechend, auf zwei Handlungsstränge: e<strong>in</strong>e<br />
„große“ Geschichte von Liebe <strong>und</strong> Tod <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e „kle<strong>in</strong>e“ von<br />
Untreue <strong>und</strong> Eifersucht. Liebe <strong>und</strong> Tod ist das klassische Thema<br />
der romantischen Oper, ihm hatte sich <strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en früheren<br />
werken, vor allem der ‚Manon Lescaut’ gewidmet. Der<br />
traditionelle Ablauf der Handlung ist im wesentlichen<br />
beibehalten: 1. Akt – Entstehung der Liebe, 2. Akt – Leben der<br />
Liebe, 3. Akt – Krise der Liebe, 4. Akt – Tod der Protagonist<strong>in</strong><br />
oder beider (wie etwa <strong>in</strong> ‚Aida’). Als Kontrastfolie zur<br />
Geschichte von Rodolfo <strong>und</strong> Mimi dient die Handlung um<br />
Marcello <strong>und</strong> Musetta, sie ist jung <strong>und</strong> schön, begierig nach<br />
Luxus, treulos aus Pr<strong>in</strong>zip, aber gutherzig. In ihr s<strong>in</strong>d die<br />
zahllosen Geliebten der Bohèmiens bei Murger<br />
zusammengeb<strong>und</strong>en. Mimi, die Held<strong>in</strong> der „großen“ Geschichte,<br />
wird als romantisch Liebende konzipiert, somit als Kontrastfigur<br />
zu Musetta, aber auch zur wankelmütigen Manon Lescaut. Bei<br />
Murger ist Mimi ähnlich leichtfüßig wie Musetta; davon s<strong>in</strong>d bei<br />
<strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong> nur noch schwache Rem<strong>in</strong>iszenzen erhalten: e<strong>in</strong><br />
Viscont<strong>in</strong>o wird erwähnt, der Mimi den Hof gemacht habe,<br />
Marcello berichtet, er habe sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Kutsche gesehen,<br />
gekleidet wie e<strong>in</strong>e König<strong>in</strong> – Rodolfo sche<strong>in</strong>t ihre Wendung zu<br />
e<strong>in</strong>em reichen Liebhaber aus Sorge um ihre schwache<br />
Ges<strong>und</strong>heit akzeptiert zu haben. Ihre Krankheit, die<br />
Schw<strong>in</strong>dsucht, wird im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert gern auf sexuelle<br />
Ausschweifungen zurückgeführt. Sie verb<strong>in</strong>det Mimi mit Verdis<br />
Violetta (‚La Traviata’) <strong>und</strong> so ist auch der letzte Akt mit ihrem<br />
Sterben nach Verdis „bürgerlichem Drama“ modelliert.<br />
<strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong>s Operntypen entstammen dem F<strong>und</strong>us der Zeit: der<br />
draufgängerische, schnell verliebte Tenor ( ähnlich wie der<br />
Herzog <strong>in</strong> Verdis ‚Rigoletto’ <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Partner<strong>in</strong>, der lyrische<br />
Sopran, als <strong>in</strong>nig Liebende (wie Gilda); das muntere<br />
Kontrastpaar stammt aus der Opera buffa. So bot die Oper dem<br />
Publikum durchaus Vertrautes. Irritierend aber war die Absage<br />
an e<strong>in</strong>e dramatisch logische Handlung zugunsten e<strong>in</strong>zelner<br />
Stationen, e<strong>in</strong>zelner Bilder (quadri), wie <strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong> die Aufzüge<br />
nennt. Er verzichtet ferner weitgehend auf geschlossene<br />
Vokalnummern <strong>und</strong> bietet stattdessen e<strong>in</strong>e ausgeprägte<br />
Milieuzeichnung zu Beg<strong>in</strong>n der Außenbilder <strong>und</strong> im ganzen<br />
zweiten <strong>und</strong> dritten.<br />
Das schauen wir uns <strong>in</strong> zwei Fällen genauer an, um die<br />
Bedeutung dieser Dimension herauszuarbeiten.<br />
1. Schon der Beg<strong>in</strong>n des ersten Aktes ist ungewöhnlich. Es gibt<br />
ke<strong>in</strong> Vorspiel. Dass sich der Vorhang zu e<strong>in</strong>er bewegten Szene<br />
öffnet, kennt der Zuschauer etwa aus ‚La Traviata’, aber er<br />
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erwartet, dass die beiden Hauptfiguren, Sopran <strong>und</strong> Tenor, bald<br />
heraustreten <strong>und</strong> sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er anspruchsvollen Nummer<br />
vorstellen – ähnlich wie <strong>in</strong> ‚La Traviata’. Nicht so <strong>in</strong> ‚La<br />
bohème’:<br />
Bariton <strong>und</strong> Tenor, „akademischer“ Maler <strong>und</strong> „großer Poet“,<br />
versuchen trotz Kälte zu arbeiten, der „weise Philosoph“ kommt<br />
h<strong>in</strong>zu, jeder bekommt se<strong>in</strong> musikalisches Etikett , wie auch der<br />
Musiker Schaunard, der bald als der Buffo des Vierergespanns<br />
ersche<strong>in</strong>t. Die Figuren werden mit Hilfe der Leitmotivtechnik<br />
musikalisch <strong>in</strong>dividualisiert – ganz anders als <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em frühen<br />
Versuch, das ‚<strong>Paris</strong>er Leben’ als ungebremste<br />
Vergnügungsmasch<strong>in</strong>e auf die Bühne zu br<strong>in</strong>gen: <strong>in</strong> ‚La vie<br />
<strong>Paris</strong>ienne’ von Jacques Offenbach (Beispiel 1): der<br />
musikalische Drive vere<strong>in</strong>t alle Personen unterschiedslos. Bei<br />
<strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong> lässt melodische Entfaltung auf sich warten, die Stimmen<br />
bleiben nah der Wortdeklamation <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Parlando, das aus<br />
dem französischen Drâme lyrique entwickelt ist <strong>und</strong> das der<br />
Komponist im ‚Mädchen aus dem goldenen Westen’ zum<br />
verb<strong>in</strong>dlichen Stil machen wird. Erst beim 184. Stimme<strong>in</strong>satz<br />
hört man von außen die Stimme der Protagonist<strong>in</strong>. Zwischen ihr<br />
<strong>und</strong> Rodolfo wechselt die Rede noch fast fünfzig Mal, ehe er sich<br />
ausführlich vorstellt, nachdem er, wie zufällig, ihre Hand<br />
ergriffen hat: ‚Che gelida man<strong>in</strong>a – Wie eiskalt ist dies<br />
Händchen’. Dann geht es schneller: sie erzählt von ihrem Leben<br />
<strong>und</strong> beider Stimmen vere<strong>in</strong>en sich im Liebesduett am Schluss des<br />
ersten Aktes. <strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong> aber hat die meiste Zeit darauf verwendet,<br />
die Figuren <strong>in</strong> ihrem Milieu vorzustellen. Das ist mehr als e<strong>in</strong><br />
spannungssteigerndes Moment, es ist e<strong>in</strong>e tief greifende<br />
dramaturgische Innovation. Die Hauptrolle spielen die<br />
prototypischen Künstlerfre<strong>und</strong>e <strong>in</strong> ihrer glücklichen<br />
Ungeb<strong>und</strong>enheit. Dass die Affäre zwischen Rodolfo <strong>und</strong> Mimi<br />
das leichte Leben übersteigen, beide – <strong>und</strong> dann auch die anderen<br />
– <strong>in</strong>nerlich ergreifen wird, zeigt sich erst im 3. Akt. Dieser <strong>und</strong><br />
der unmittelbar vorhergehende gefielen dem Premierenpublikum<br />
nicht, weil sich dort die Librettisten zusammen mit dem<br />
Komponisten der traditionellen Fokussierung auf das Liebespaar<br />
noch konsequenter verweigern als sie es im 1. Akt getan hatten.<br />
2. Der 2. Akt bietet nach der Mansarde der Bohèmiens den<br />
öffentlichen Platz vor dem Café Momus, das passenderweise<br />
vom Rive droite <strong>in</strong> das Quartier lat<strong>in</strong>, das Studentenviertel l<strong>in</strong>ks<br />
der Se<strong>in</strong>e, verlegt wird.<br />
Der Beg<strong>in</strong>n ist vom Anfang des 4. Akts von Bizets ‚Carmen’<br />
<strong>in</strong>spiriert: dort preisen verschiedene Verkäufer alle möglichen<br />
D<strong>in</strong>ge an (Beispiel 2). <strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong> steigert das raff<strong>in</strong>iert, <strong>in</strong>dem er<br />
5
nicht nur den Chor, sondern diverse Solostimmen e<strong>in</strong>setzt, als<br />
holte e<strong>in</strong> Verfolger-Sche<strong>in</strong>wefer e<strong>in</strong>mal diese, dann jene Gruppe<br />
<strong>in</strong>s Licht (Beispiel 3). Während man Bizets Effekt mit e<strong>in</strong>em<br />
farbkräftigen breit gemalten Bild vergleichen kann, bedient sich<br />
<strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong> e<strong>in</strong>er quasi po<strong>in</strong>tillistischen Technik: das Ohr setzt viele<br />
E<strong>in</strong>zelheiten zu e<strong>in</strong>em Gesamte<strong>in</strong>druck zusammen. Die trivialen<br />
Beschäftigungen – E<strong>in</strong>käufe e<strong>in</strong>er Pfeife, e<strong>in</strong>es verstimmten<br />
Horns, e<strong>in</strong>er Runengrammatik, e<strong>in</strong>er rosa Haube – s<strong>in</strong>d nicht der<br />
H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>es Dramas wie bei Bizet, sie charakterisieren<br />
vielmehr die Bohèmiens als liebenswerte alltägliche Menschen<br />
mit e<strong>in</strong>fachen Vorlieben. Die Gegenstände s<strong>in</strong>d poetischer Teil<br />
der Handlung, bei ke<strong>in</strong>em Objekt ist das deutlicher als bei Mimis<br />
Haube, an der sich die Liebessehnsucht des verlassenen Rodolfo<br />
konkretisiert. Die kle<strong>in</strong>en Alltagsd<strong>in</strong>ge s<strong>in</strong>d Teil dieses<br />
Lebensabschnitts dieser Gruppe, der „schönen Zeit der<br />
Täuschungen <strong>und</strong> Utopien“, wie es heißt. ‚Jugend kehrt nicht<br />
wieder’ ist das letzte Kapitel bei Murger überschrieben, mit dem<br />
Tod Mimis ist auch die Jugend unserer Helden vorbei.<br />
Auf der Handlungsebene führt der 2. Akt Musetta als zweite<br />
weibliche Hauptfigur e<strong>in</strong>. An ihrer großen Solonummer, dem<br />
langsamen Walzer ‚Quando m’en vo’, <strong>in</strong> dem sie ihre<br />
Unwiderstehlichkeit <strong>in</strong>szeniert, lässt sich gut zeigen, wie <strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong><br />
die traditionelle Nummernoper aufbricht. Die erste Strophe s<strong>in</strong>gt<br />
sie selbst, dann schalten sich die Bohèmiens e<strong>in</strong> <strong>und</strong> Marcello,<br />
ihr immer wieder Geliebter, übernimmt passenderweise die<br />
Melodie Musettas zu dem Text:“ Me<strong>in</strong>e Jugend, du bist noch<br />
nicht vorbei.“(Beispiel 4). Aus der Arie ist e<strong>in</strong> Ensemblesatz<br />
geworden, e<strong>in</strong> Concertato, wie es traditionell im 2. Akt<br />
vorkommt, jedoch bleibt die Handlung nicht, wie üblich, stehen,<br />
sondern entwickelt sich weiter: Musetta schickt ihren reichen<br />
Liebhaber unter e<strong>in</strong>em Vorwand weg, um sich Marcello<br />
zuwenden zu können. Der Aufbau bleibt letztlich konventionell:<br />
Walzer – Trio I – Walzer – Trio II – Walzer. Der 2. Akt wird klar<br />
strukturiert, er ist e<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>fonisch-szenische Dichtung. Das hat<br />
<strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong> vor allem vom späten Wagner gelernt, dessen<br />
‚Meisters<strong>in</strong>ger’ er als ‚I maestri cantori’ für die Mailänder<br />
Premiere im Jahre 1889 gekürzt <strong>und</strong> bearbeitet hatte, da man<br />
e<strong>in</strong>em italienischen Auditorium ke<strong>in</strong>e fünfstündige Oper<br />
zumuten wollte.<br />
<strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong> zeigt <strong>in</strong> ‚La bohème’ die Fasz<strong>in</strong>ation <strong>und</strong> die<br />
Vergänglichkeit von Fröhlichkeit, Jugend <strong>und</strong> Leidenschaft; die<br />
E<strong>in</strong>sicht, dass wir zu kle<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d für die große Liebe steht am<br />
Schluss. Dieses Urbild der Bohème ist unauflöslich verb<strong>und</strong>en<br />
mit <strong>Paris</strong>. Die Oper könnte nicht <strong>in</strong> Mailand spielen, auch nicht<br />
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<strong>in</strong> Prenzlauer Berg. Sie schreibt sich e<strong>in</strong> <strong>in</strong> den <strong>Paris</strong>-Mythos als<br />
Stadt der Kunst <strong>und</strong> der Liebe <strong>und</strong> schreibt ihn zugleich fort.<br />
<strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong> hat <strong>Paris</strong> wahrer dargestellt als die Franzosen – das hat<br />
selbst se<strong>in</strong> Fe<strong>in</strong>d Debussy zugeben müssen. Dabei sah der<br />
Italiener die französische Metropole erst zwei Jahre nach der<br />
Uraufführung bei der <strong>Paris</strong>er Premiere. Diese begründete se<strong>in</strong>en<br />
ersten großen Erfolg <strong>in</strong> Frankreich: <strong>in</strong> fünf Jahren wurde ‚La<br />
bohème’ e<strong>in</strong>h<strong>und</strong>ert Mal gespielt, nur noch übertroffen von<br />
Bizets ‚Carmen’. Als Elvira <strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong> beim geme<strong>in</strong>samen<br />
Aufenthalt anlässlich der französischen Premiere von ‚Madame<br />
Butterfly’ im Jahre 1906 <strong>in</strong> den Modeläden Rabatte erhielt,<br />
honorierten die Geschäftsleute, dass die Oper ihres Mannes <strong>Paris</strong><br />
zum Leuchten gebracht hatte.<br />
4.E<strong>in</strong>e japanische Tragödie: ‚Madama Butterfly’<br />
In se<strong>in</strong>er übernächsten Oper ist das Japanische, mehr noch als das<br />
<strong>Paris</strong>erische <strong>in</strong> ‚La bohème’, nicht Dekor, sondern Teil des<br />
Wesens.<br />
Exotische Schauplätze waren schon lange beliebt, so <strong>in</strong> Giacomo<br />
Meyerbeers ‚Afrikaner<strong>in</strong>’, Georges Bizets ‚Perlenfischern’ <strong>und</strong><br />
Giuseppe Verdis ‚Aida’. Für e<strong>in</strong> <strong>fremde</strong>s Land im Osten (oder<br />
Süden) hatte sich e<strong>in</strong>e exotisierende Musiksprache<br />
herausgebildet. Sie beruht auf dem Kontrast zum westlichen Dur-<br />
Moll-System. Es waren vor allem pentatonische Melodien (also<br />
ohne Leittöne) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Instrumentation, die z. B. zur<br />
Charakterisierung Ostasiens Flöten, Glockenspiel <strong>und</strong> Gongs<br />
e<strong>in</strong>setzte. Orig<strong>in</strong>ale Melodien wurden so gut wie nie<br />
herangezogen. <strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong> tat es <strong>und</strong> betrat damit Neuland. Er<br />
bemühte sich um japanische Musik. Dafür zog er<br />
musikethnologische Literatur heran, besuchte die Aufführung der<br />
berühmten japanischen Kawakami- Schauspieltruppe mit der<br />
ehemaligen Geisha Sada Yakko, der japanischen Duse, als<br />
Protagonist<strong>in</strong>. Da sie e<strong>in</strong>e f<strong>und</strong>ierte Ausbildung <strong>in</strong> Musik <strong>und</strong><br />
Tanz absolviert hatte, trat sie (anders als im traditionellen<br />
japanischen Theater, wo nur Männer agieren), als Sänger<strong>in</strong>,<br />
Tänzer<strong>in</strong> <strong>und</strong> Pantomim<strong>in</strong> auf. (Beispiel 5) Es handelte sich bei<br />
diesen Produktionen um e<strong>in</strong> westlichen Augen <strong>und</strong> Ohren<br />
angepasstes Japan: die deutlich irritierende Fremdheit knüpfte an<br />
bestimmte Erwartungen des Publikums an, so wurde Sada Yakko<br />
e<strong>in</strong>e wilde „asiatische“ Expressivität attestiert. Mehr als e<strong>in</strong>en<br />
allgeme<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>druck konnte <strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong> davon kaum mitnehmen,<br />
aber er unterschied sich deutlich von der Musik, die die<br />
Japanmode bisher hervorgebracht hatte, wie etwa das ‚japanische<br />
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S<strong>in</strong>gspiel’ ‚Die Geisha’ von Sidney Jones aus dem Jahre 1896,<br />
der für se<strong>in</strong>en japanischen Marsch immerh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e orig<strong>in</strong>ale<br />
Melodie verwendete. (Beispiel 6). So etwas aber war <strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong> zu<br />
wenig authentisch. Er besorgte sich e<strong>in</strong>e gedruckte Sammlung<br />
japanischer populärer Musik. Zusätzlich wandte er sich an die<br />
Frau des japanischen Botschafters <strong>in</strong> Rom. Sie sang ihm<br />
Melodien ihres Heimatlandes vor <strong>und</strong> übersetzte die Texte,<br />
Schallplatten mit japanischer Musik, um die er sich bemühte,<br />
erhielt er allerd<strong>in</strong>gs erst nach Abschluss der Partitur. Se<strong>in</strong>e<br />
Kenntnisse von Instrumentarium <strong>und</strong> Vortragsform der<br />
traditionellen Musik blieben also begrenzt – diese Eigenheiten<br />
blieben daher auch ohne E<strong>in</strong>fluss auf se<strong>in</strong>e Musik. Im Orchester<br />
f<strong>in</strong>den sich so gut wie ke<strong>in</strong>e japanischen Instrumente, vom<br />
Glockenspiel <strong>und</strong> asiatischen Tam Tams e<strong>in</strong>mal abgesehen.<br />
<strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong> erzeugt mit westlichem Instrumentarium differenzierte<br />
Klänge, die e<strong>in</strong>e japanische Anmutung haben. Anders geht er im<br />
Fall der Melodien vor. Er wählte aus dem Material zehn nach<br />
ihrem spezifischen Bedeutungsgehalt aus <strong>und</strong> setzte sie diesem<br />
entsprechend e<strong>in</strong>. Das bedeutet: er gestaltet den Konflikt<br />
zwischen der letztlich an traditionelle japanische Werte<br />
geb<strong>und</strong>enen Butterfly <strong>und</strong> ihren vergeblichen<br />
Assimilierungsversuchen im Kontrast zu dem kolonialen Habitus<br />
der Amerikaner mit musikalischen Mitteln.<br />
Ich verfolge se<strong>in</strong> Vorgehen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er entsprechend akzentuierten<br />
Nacherzählung. Die imperialistische Attitude Amerikas habe ich<br />
im Titel des Vortrags mit dem Ortsnamen <strong>Yokohama</strong> bezeichnet<br />
(obwohl die ‚Butterfly’ <strong>in</strong> Nagasaki spielt), weil dieser Ort<br />
symbolisch für die sogenannte ‚Öffnung’ Japans im Jahre 1853<br />
steht: damals erzwang e<strong>in</strong> amerikanischer Flottenverband vor der<br />
später gegründeten Stadt <strong>in</strong> der Bucht von Tokyo die<br />
Niederlassung <strong>und</strong> die Handelsvorrechte für die Amerikaner.<br />
Diese <strong>und</strong> andere Privilegien stehen im H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> des 1. Aktes.<br />
Der Heiratsvermittler Goro präsentiert dem Mar<strong>in</strong>eleutnant F. B.<br />
P<strong>in</strong>kerton das dieser zusammen mit e<strong>in</strong>er jungen Frau, der<br />
ehemaligen Geisha Cio Cio San, erworben hat. Der Konsul<br />
Sharpless kommt h<strong>in</strong>zu <strong>und</strong> P<strong>in</strong>kerton präsentiert ihm se<strong>in</strong>e<br />
Lebensmaxime: „Überall auf der Welt zieht der Yankee herum,<br />
genießt <strong>und</strong> treibt Handel, verachtet das Risiko. Er wirft Anker<br />
für e<strong>in</strong> Abenteuer:“ „E<strong>in</strong> simples Evangelium“, kommentiert der<br />
Kolonialbeamte <strong>und</strong> stimmt doch mit e<strong>in</strong> <strong>in</strong> den patriotischen<br />
Tr<strong>in</strong>kspruch: „America for ever!“ Die imperialistische Attitude<br />
des Offiziers wird hörbar im Zitat der Hymne der amerikanischen<br />
Mar<strong>in</strong>e, der heutigen Nationalhymne „O, say, can you see“<br />
(Beispiel 7). Die Tragödie kündigt sich an, als P<strong>in</strong>kerton gerade<br />
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jetzt am Tag se<strong>in</strong>er japanischen Hochzeit e<strong>in</strong>en Toast auf se<strong>in</strong>e<br />
zukünftige amerikanische Ehefrau ausbr<strong>in</strong>gt: die Verb<strong>in</strong>dung mit<br />
Butterfly ist für ihn nur e<strong>in</strong> Abenteuer. In Kontrast dazu steht das<br />
erste japanische Thema ‚Der tanzende Löwe von Echigo’, e<strong>in</strong><br />
freudiges Lied, das <strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong>, von Sada Yakko gespielt, gehört<br />
hatte <strong>und</strong> das er im genannten Buch wiederfand. Es<br />
charakterisiert die sich nahende Hochzeitsgesellschaft <strong>und</strong><br />
evoziert die Tradition aus der Cio Cio San kommt, es dient nicht<br />
lediglich der Evokation fernöstlicher Atmosphäre. Butterfly<br />
nämlich s<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>e ganz italienisch geprägte Melodie auf die<br />
Worte: „Me<strong>in</strong>e Fre<strong>und</strong><strong>in</strong>nen, ich b<strong>in</strong> dem Ruf der Liebe gefolgt.“<br />
Sie erhofft e<strong>in</strong>e westliche romantische Liebesehe von<br />
Gefühls<strong>in</strong>tensität <strong>und</strong> Dauer – e<strong>in</strong>e tödliche Täuschung, wie sich<br />
zeigen wird <strong>und</strong> wie das zweite japanische Thema, das auf den<br />
„Ruf der Liebe“ antwortet („Erblühender Frühl<strong>in</strong>g“), nahe legt<br />
(Beispiel 8 <strong>und</strong> 9). Als Sharpless sie nach ihrer Familie fragt,<br />
stellt sie sich mit ihrer Geschichte vor: sie distanziert sich von<br />
ihrem Vorleben als Geisha, sie habe es getan, um zu überleben:<br />
„So ist die Welt.“ Über ihren Vater sagt sie, er sei tot, dazu<br />
erkl<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong> (mutmaßlich) japanisches Thema, das mit dem<br />
Selbstmord zur Erhaltung der Ehre, dem seppuku, verb<strong>und</strong>en ist.<br />
Es wird im Lauf der Oper e<strong>in</strong>e entscheidende Rolle spielen, denn<br />
es verweist auf die alte japanische Tradition, die e<strong>in</strong> Ritual<br />
bereitstellt, mit dem auch die junge Frau <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ausweglosen<br />
Situation ihre Ehre <strong>und</strong> damit ihre Identität retten kann. Die<br />
Beamten – der kaiserliche Kommissar <strong>und</strong> der Standesbeamte –<br />
werden mit zwei japanischen Themen charakterisiert, die des<br />
offiziellen Charakter der Eheschließung signalisieren. Die Musik<br />
enthüllt, dass Butterfly sich täuscht, wenn sie ihre Ehe für e<strong>in</strong>e<br />
unauflösliche Verb<strong>in</strong>dung nach amerikanischem recht hält –<br />
P<strong>in</strong>kerton geht mit ihr e<strong>in</strong>e japanische Ehe e<strong>in</strong>, die nur auf Zeit<br />
gilt. Cio Cio San zeigt ihrem Mann ihre „kle<strong>in</strong>en D<strong>in</strong>ge“ –<br />
Taschentücher, ihre Pfeife, e<strong>in</strong>en Gürtel, e<strong>in</strong>e Brosche, e<strong>in</strong>en<br />
Spiegel, e<strong>in</strong>en Fächer: Objekte des japanischen Kunstgewerbes,<br />
wie sie <strong>in</strong>zwischen E<strong>in</strong>gang <strong>in</strong> die westliche Kultur gef<strong>und</strong>en<br />
hatten. Die japanische Melodie dazu soll nicht lediglich die<br />
Gegenstände als fashionable Accessoires charakterisieren, sonder<br />
zugleich andeuten, dass die Geisha an das geb<strong>und</strong>en bleibt, was<br />
sie symbolisieren: die japanische Kultur, von der sie sagt, sie sei<br />
charakterisiert durch e<strong>in</strong>e „Zartheit, die schwer zu fassen, aber<br />
tief ist, wie die Wolken <strong>und</strong> die Wogen.“ Die Librettisten, die ihr<br />
diese Worte <strong>in</strong> den M<strong>und</strong> legten, hatten vermutlich japanische<br />
Holzschnitte vor Augen. Dass Butterfly im negativen S<strong>in</strong>n als<br />
naiv, „<strong>in</strong>fantil§ charakterisiert werden soll, halte ich für<br />
9
zweifelhaft. Ihre Natürlichkeit <strong>und</strong> Rückhaltlosigkeit wird als<br />
wahrhaftig gesehen im Kontrast zum unaufrichtigen P<strong>in</strong>kerton.<br />
In der Liebe ist es gut, „wie e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d“ zu se<strong>in</strong>. Obwohl sie ihre<br />
„kle<strong>in</strong>en D<strong>in</strong>ge“ fortwirft, weil sie glaubt, sie missfielen ihrem<br />
neuen Ehemann, werden sie ihre Haltung zum Leben bestimmen,<br />
vor allem e<strong>in</strong> Gegenstand, der ihr heilig ist: das Schwert, mit dem<br />
ihr Vater seppuku begangen hat. Hier hören wir wieder das<br />
dazugehörige japanische Thema. Es ist e<strong>in</strong> Signum von <strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong>s<br />
Technik, dieses wichtige Motiv zuerst eher beiläufig e<strong>in</strong>zuführen<br />
<strong>und</strong> immer wieder an bedeutungsvollen Punkten aufzugreifen, so<br />
dass es sich mit se<strong>in</strong>em Bedeutungsgehalt im Ohr des Zuschauers<br />
festsetzt <strong>und</strong> die für Butterfly tödliche Konsequenz, die es<br />
impliziert, als ganz logisch ersche<strong>in</strong>t. Das hat <strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong> wiederum<br />
von Wagner, aus dem ‚Parsifal’, gelernt; zu vergleichen ist die<br />
subtile Handhabung des sog. ‚Torenspruchs’: „Durch Mitleid<br />
wissend…“, der <strong>in</strong> Fragmenten e<strong>in</strong>geführt wird, ehe er im<br />
Ganzen erkl<strong>in</strong>gt.<br />
Das nächste japanische Thema trägt ke<strong>in</strong>e vergleichbare<br />
Bedeutungshypothek, es passt jedoch zu der generellen<br />
Signifikanz der <strong>fremde</strong>n Melodien. Als der Ehekontrakt mit<br />
P<strong>in</strong>kerton unterzeichnet ist, gratulieren ihr die Fre<strong>und</strong><strong>in</strong>nen mit<br />
ihrem japanischen Namen: „Madama Butterfly“. Sie korrigiert<br />
sie, sie will nach amerikanischer Sitte „Madama F. B. P<strong>in</strong>kerton“<br />
se<strong>in</strong>. Dazu erkl<strong>in</strong>gt „Die Nihonbrücke von Edo“ <strong>und</strong> die<br />
japanische Musik widerlegt ihren naiven Glauben,<br />
„amerikanisch“ verheiratet zu se<strong>in</strong>.<br />
Da sie ihrem Sh<strong>in</strong>to-Glauben abgeschworen hat <strong>und</strong> zum<br />
Christentum übergetreten ist, wird sie zu japonisierende Klängen<br />
des großen Tam-Tams von ihrem Onkel verflucht <strong>und</strong> von ihren<br />
Verwandten verstoßen. Sie ist isoliert <strong>und</strong> hat niemanden mehr<br />
als ihren leichtherzigen Ehemann. Se<strong>in</strong> Trost beschränkt sich auf<br />
billige Worte. Wie <strong>in</strong> ‚La bohème’ steht am Schluss des 1. Aktes<br />
e<strong>in</strong> großes Liebesduett, e<strong>in</strong> besonders gelungenes Beispiel von<br />
<strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong>s Kunst, das Erwachen der Liebesleidenschaft zu zeigen.<br />
Es ist ganz von westlicher Melodik getragen. Butterfly <strong>in</strong>szeniert<br />
sich als Mondgött<strong>in</strong>, nutzt ihren exotischen Reiz, um P<strong>in</strong>kertons<br />
Begehren zu steigern, aber sie tut es, wie die Musik sagt, nicht<br />
als Geisha, sondern als romantische Liebende. Sie erlebt ihre<br />
Liebe als e<strong>in</strong>zigartig <strong>und</strong> nahezu religiös, als ihren neuen<br />
Heilsweg, wie das dreimal ankl<strong>in</strong>gende Thema der Verfluchung<br />
suggeriert. P<strong>in</strong>kerton ist ungeduldig, drängend, <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Worte<br />
verraten, dass es ihm vornehmlich um den sexuellen Zauber geht,<br />
während sie ihren Lebenstraum träumt. Die Musik, Butterflys<br />
Motiv „Ruf der Liebe“ vom Beg<strong>in</strong>n sche<strong>in</strong>t beide <strong>in</strong> Ekstase zu<br />
10
vere<strong>in</strong>en, die Differenz zwischen aufrichtiger <strong>und</strong> unaufrichtiger<br />
Liebe sche<strong>in</strong>t aufgehoben, aber das Orchester weißes besser: das<br />
Thema „Erblühender Frühl<strong>in</strong>g“ beendet <strong>in</strong> langsamem Tempo<br />
den Akt, vier leise Schläge der großen Trommel, denn es ist doch<br />
– nur – e<strong>in</strong>e japanische Ehe (Beispiel 10).<br />
Die japanischen Themen im 2. Akt werden ganz wie im 1.<br />
e<strong>in</strong>gesetzt, um die vergebliche Hoffnung Cio Cio Sans auf e<strong>in</strong>e<br />
westliche Liebes- <strong>und</strong> Lebensform <strong>und</strong> ihre B<strong>in</strong>dung an die<br />
eigene Kultur hörbar zu machen. Dabei ist es nicht die letztere,<br />
die e<strong>in</strong>e glückliche Lösung ausschließt, denn die Japaner<strong>in</strong> hat<br />
sich von den traditionellen Liebes- <strong>und</strong> Ehevorstellungen gelöst.<br />
Sie ist die vorbildlich unbeirrt Liebende, der Amerikaner<br />
h<strong>in</strong>gegen Vertreter e<strong>in</strong>er modern-kolonialen Liebesunordnung.<br />
<strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong> <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Librettisten greifen hier nicht auf das gängige<br />
Klischee der käuflichen <strong>und</strong> damit konsequenzlosen Sexualität<br />
exotischer Frauen zurück, das gegen Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
gängig war. Man verband asiatische Frauen mit Phantasien von<br />
raff<strong>in</strong>ierten Liebestechniken <strong>und</strong> –dienstleistungen, jedoch nicht<br />
mit romantischer Liebe. So las man es <strong>in</strong> den Romanen des<br />
französischen Seeoffiziers <strong>und</strong> Liebesabenteurers Pierre Loti<br />
(alias Julien Viaud) <strong>und</strong> im teuersten Nobelbordell <strong>in</strong> <strong>Paris</strong>, ‚Le<br />
Chabanais’, gab es e<strong>in</strong>en japanischen Raum, <strong>in</strong> der die<br />
vornehmen Besucher ihre Geisha-Vorstellungen ausleben<br />
konnten, im Jahre 1893 eröffnete das Café Concert ‚ Divan<br />
Japonais’, <strong>in</strong> dem Toulouse-Lautrec Stammgast war. Für die<br />
abweichende Konzeption der Held<strong>in</strong> griffen die Schöpfer der<br />
Oper auf das Denkmodell Jean-Jaques Rousseaus zurück: das des<br />
„edlen Wilden“, der <strong>in</strong> sittlich-moralischer H<strong>in</strong>sischt als dem<br />
dekadenten westen überlegen konzipiert wurde. So ist Butterfly<br />
e<strong>in</strong>e Idealfigur, die durch ihre Vergangenheit als Geisha e<strong>in</strong>e<br />
besondere psychologische Tiefe erhält. Diese Dimension gehört<br />
zu dem gängigen Typus der Edelkurtisane, die <strong>in</strong> ihrem<br />
mondänen Leben emotional unerfüllt bleibt <strong>und</strong> sich umso<br />
rückhaltloser der „wahren Liebe“ h<strong>in</strong>gibt, ganz wie Violetta <strong>in</strong><br />
Verdis ‚La Traviata’ oder Magda <strong>in</strong> <strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong>s ‚La rond<strong>in</strong>e’. Wir<br />
hatten gesehen, dass auch Mimi <strong>in</strong> ‚La bohème’ als Frau mit<br />
Vergangenheit konzeptualisiert ist.<br />
Im 2. Akt wird Cio Cio Sans Vorleben beschworen als<br />
Lebensform, der sie um jeden Preis entgehen will. Nach drei<br />
Jahren wartet sie immer noch auf P<strong>in</strong>kertons Rückkehr, die<br />
Versuche des Heiratsvermittlers, sie mit e<strong>in</strong>em Fürsten als e<strong>in</strong>e<br />
von dessen vielen Frauen zu verkuppeln, weist sie zurück. Dazu<br />
erkl<strong>in</strong>gt die Melodie „Edler Fürst“ nicht als simple<br />
Charakterisierung, sondern als Verweis auf die traditionelle<br />
11
Lösung für e<strong>in</strong>e verlassene Frau, deren Ehe nicht mehr existent<br />
ist. Doch Butterfly hat schon vorher ihren unbed<strong>in</strong>gten Glauben<br />
an P<strong>in</strong>kertons Rückkehr <strong>in</strong> ihrer großen Szene beschworen: „Un<br />
bel dì vedremo – E<strong>in</strong>es Tages sehen wir“. Sie verkündet ihre<br />
Vision mit e<strong>in</strong>em Pathos, das die Irrealität ihrer Hoffnung<br />
e<strong>in</strong>schließt: die absteigende Melodiel<strong>in</strong>ie steht im Gegensatz zu<br />
den bekräftigenden Worten – e<strong>in</strong>mal mehr lässt <strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong> die<br />
Musik etwas sagen, was die Figur nicht weiß oder nicht wissen<br />
will. Auch dieses Verfahren hat er von Richard Wagner gelernt.<br />
So trifft der ekstatische Schrei, den Butterfly auf dem Höhepunkt<br />
ihrer Traumszene ausstößt, den Zuhörer umso tiefer, weil er ahnt,<br />
dass es ke<strong>in</strong> Glück mehr für sie geben wird.<br />
Butterfly hat aus der Verb<strong>in</strong>dung mit P<strong>in</strong>kerton e<strong>in</strong>en Sohn,<br />
Dolore (Schmerz) hat sie ihn genannt: „Kann er auch ihn<br />
vergessen?“, fragt sie den Konsul. Charakterisiert wird das K<strong>in</strong>d<br />
durch e<strong>in</strong> japanisches Geisha-Tanzlied (Kappore honen). Denn<br />
falls P<strong>in</strong>kerton nicht zurückkehrt, müsste sie wieder <strong>in</strong> ihr<br />
früheres Leben zurückkehren –ne<strong>in</strong>, me<strong>in</strong>t sie, lieber sterben als<br />
das. Dazu ertönt die letzte japanische Melodie, das „Lied der<br />
Täuschung“. Es wird auch das letzte Wort <strong>in</strong> der Oper haben: als<br />
Butterfly rituellen Selbstmord nach dem Vorbild ihres Vaters<br />
begangen hat, nachdem ihr klar wurde, dass sie überflüssig ist,<br />
von P<strong>in</strong>kerton nicht geliebt wird <strong>und</strong> ihr K<strong>in</strong>d hergeben soll. Die<br />
romantische Liebe war e<strong>in</strong>e Täuschung; e<strong>in</strong>zig der selbst<br />
gewählte Tod rettet sie als Person, nur mit diesem japanischen<br />
Ritual kann sie ihre Selbstachtung bewahren – das sagt die<br />
„Melodie der Täuschung“ ( Beispiel 11) . Vorher, bei P<strong>in</strong>kertons<br />
„Butterfly!“ Rufen, spielt das Orchester e<strong>in</strong> westliches Leitmotiv,<br />
das zuerst im Liebesduett zu hören gewesen war, dann <strong>in</strong> der<br />
großen Hoffnungsarie <strong>und</strong> bei Butterflys Zustimmung, das K<strong>in</strong>d<br />
an P<strong>in</strong>kerton persönlich zu übergeben. Ihr amerikanischer Traum<br />
ist endgültig gescheitert. (Beispiel 12). In Cio Cio San ist die<br />
Hoffnung der Liebe <strong>und</strong> die tödliche Täuschung Gestalt<br />
geworden. Wenn sie sich tötet, so ist das e<strong>in</strong>e heroische<br />
Handlung, ke<strong>in</strong> Scheitern: sie steht für die Wahrheit ihrer Liebe<br />
mit ihrem Leben e<strong>in</strong>.<br />
Die vorgestellten musikalisch-<strong>in</strong>haltlichen Bezüge<br />
berücksichtigen nur die wichtigsten Stellen, denn <strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong> setzt<br />
die japanischen Melodien nach dem Leitmotiv-Pr<strong>in</strong>zip sehr<br />
differenziert e<strong>in</strong>. Ich musste mich hier auf exemplarische Fälle<br />
beschränken.<br />
Es bleibt die Frage nach der Wahrnehmbarkeit dieser<br />
musikalischen Dramaturgie. Der Hörer erkennt weder die<br />
japanischen Melodien noch deren ursprünglichen<br />
12
Bedeutungsgehalt. Allerd<strong>in</strong>gs kann er <strong>in</strong> Melodiebildung <strong>und</strong><br />
Klanglichkeit die „asiatische“ von der „westlichen“ Musik<br />
unterscheiden <strong>und</strong> so den Konflikt der Kulturen <strong>in</strong> Butterflys<br />
Innerem nachvollziehen. <strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong> hat e<strong>in</strong> Viertel se<strong>in</strong>er Partitur<br />
auf die orig<strong>in</strong>alen Melodien gestützt, e<strong>in</strong> Fünftel auf im<br />
Japanischen Stil erf<strong>und</strong>ene. Diese Tonfolgen <strong>und</strong> die damit<br />
verb<strong>und</strong>enen Harmonien s<strong>in</strong>d von der Machart her Zeichen der<br />
zeitgenössischen Avantgarde. Arnold Schönberg schreibt <strong>in</strong><br />
se<strong>in</strong>er Harmonielehre: „<br />
Manche me<strong>in</strong>en, die Ganztonskala entstehe unter dem E<strong>in</strong>fluss<br />
der Exotik. Das soll die Musik exotischer Völker se<strong>in</strong>, bei denen<br />
sich derartige <strong>und</strong> auch noch andere Tonfolgen f<strong>in</strong>den. Ich für<br />
me<strong>in</strong>e Person jedoch habe exotische Musik nie gekannt. Me<strong>in</strong>e<br />
Verb<strong>in</strong>dung mit diesen Völkern könnte höchstens e<strong>in</strong>e<br />
telepathische gewesen se<strong>in</strong>, denn von den anderen<br />
kulturvermittelnden Verkehrsmöglichkeiten habe ich ke<strong>in</strong>en<br />
Gebrauch gemacht. Und ich glaube auch nicht, dass die Russen<br />
oder die Franzosen ihre vielleicht auf dem Seeweg nähere<br />
Beziehung zu den Japanern gerade zur zollfreien E<strong>in</strong>führung<br />
dieses Produkts ausgenützt haben. Ich glaube dagegen, die<br />
Ganztonskala ist <strong>in</strong> allen Musikerköpfen unserer Zeit ganz von<br />
selbst entstanden, als natürliche Folge der letzten Ereignisse der<br />
Musik.“ <strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong> hat allerd<strong>in</strong>gs aus Japan direkt importiert um<br />
e<strong>in</strong>er Wahrheit des <strong>Orte</strong>s willen <strong>und</strong> weil er als s<strong>in</strong>nlicher<br />
Mensch auf die äußere Anregung angewiesen war. Er hat selbst<br />
von sich gesagt: „Ich mache Theater <strong>und</strong> b<strong>in</strong> e<strong>in</strong> visueller Typ.<br />
ich sehe die Personen, die Farben <strong>und</strong> die Gesten.“ Durch das<br />
Studium der japanischen Musik hat er auf se<strong>in</strong>e, das heißt: auf<br />
konkrete Weise Anschluss gef<strong>und</strong>en an die Avantgarde.<br />
Während <strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong> fast die Hälfte der Oper (44%) mit japanischer <strong>und</strong><br />
japonisierender Musik ausgestattet hat, ist die „westliche“ Schreibweise ist<br />
bei aller stilistischen Internationalität <strong>in</strong> der Anlehnung an französischen<br />
Lyrismus <strong>und</strong> deutschen s<strong>in</strong>fonischen Stil von italienischer Vokalität<br />
geprägt, so dass die Kritik der französischen Erstaufführung das<br />
Lokalkolorit als unerhebliche Zutat ansehen konnte, sich vielmehr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
„Vorort von Neapel“ wähnte.<br />
<strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong>s Stil wurde vor allem außerhalb se<strong>in</strong>es Heimatlandes als<br />
„typisch italienisch“ wahrgenommen – im S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er durch die<br />
menschliche Stimme unmittelbar kommunizierten Emotionalität.<br />
Der Gesang macht Lieben <strong>und</strong> Leiden der Protagonisten<br />
miterlebbar. Die Musik wirkt als Ausdruck des dramatischen<br />
Inhalts, nicht als Selbstzweck, auch die vokalen Glanznummern<br />
s<strong>in</strong>d nicht auf die Schaustellung von Spitzentönen h<strong>in</strong> konzipiert<br />
13
– bei aller Liebe für die großen Möglichkeiten der menschlichen<br />
Stimme, wie sie für die italienische Musik charakteristisch ist.<br />
Für den westlichen Kulturraum verstärkt die Konnotation<br />
italienisch = leidenschaftlich diese Gefühlswirkung.<br />
Der oben skizzierte schematische Aufbau des Librettos von<br />
Entstehung – Glück <strong>und</strong> Krise der Liebe mit dem abschließenden<br />
Tod der Held<strong>in</strong> ist <strong>in</strong> ‚Madama Butterfly’ abgewandelt: es gibt<br />
nur e<strong>in</strong>en 1. <strong>und</strong> letzten Akt, Glück <strong>und</strong> Krise werden nicht als<br />
Handlung gezeigt, sondern spielen sich nur im Inneren der<br />
Held<strong>in</strong> ab. Diese Intimisierung der Liebe ist <strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong>s Kunst.<br />
Durch die musikalische <strong>und</strong> szenische Präsentation des Sich-<br />
Verliebens begehren die männlichen Zuschauer mit dem Helden<br />
das „Mädchen mit den Zauberaugen“ Cio Cio San ganz wie das<br />
„süße Mädchen“ Mimi <strong>und</strong> die Zuschauer<strong>in</strong>nen identifizieren<br />
sich mit ihnen <strong>und</strong> fühlen sich begehrt. Sobald diese Zirkulation<br />
des Begehrens etabliert ist, wird die Krise der Liebe<br />
unmittelbarer erlebt <strong>und</strong> die Zerstörung als emotionale<br />
Katastrophe erfahren. Dieses Modell gilt für viele Opern von<br />
Wagners ‚Loheng<strong>in</strong>’ bis Verdis ‚Otello’. <strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong>s Besonderhait<br />
aber ist die Auslagerung der Geschichte an e<strong>in</strong>en Andersort, sei<br />
es <strong>Paris</strong> oder Japan, der Wilde Westen oder Pek<strong>in</strong>g. Mimi ist<br />
nicht e<strong>in</strong>fach der Typus des „netten Mädchens von nebenan“,<br />
sondern e<strong>in</strong>e sozialhistorisch präzis e<strong>in</strong>gebettete Person, wobei es<br />
unerheblich bleibt, dass es sich bei dem Ambiente um e<strong>in</strong>e<br />
Projektion handelt. Vergleichbares gilt für <strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong>s Japan: hier<br />
ist die Situation unverzichtbarer Bestandteil der Tragödie, der<br />
Zusammenprall der Kulturen ist Herzstück der Oper, vor allem<br />
musikalisch. Die „Entheimatung“ der Geschichte errichtet e<strong>in</strong>e<br />
Schwelle vor der Identifikation, denn der Zuschauer muss sich<br />
zuerst auf e<strong>in</strong> unbekanntes Ambiente e<strong>in</strong>lassen, bevor er erlebt,<br />
dass dort die Menschen genau so lieben <strong>und</strong> leiden wie <strong>in</strong> der<br />
eigenen Kultur. Es erhöht die Teilnahme des Publikums, wenn<br />
bekannte Gefühle selbst an <strong>fremde</strong>n <strong>Orte</strong>n zu Hause s<strong>in</strong>d. Das ist<br />
Überraschung <strong>und</strong> Befreiung zugleich. Eduard Mörike hat über<br />
die Himmels- <strong>und</strong> Höllenmacht Liebe gesagt:<br />
So ist die Lieb’! <strong>und</strong> war auch so<br />
Solang es Liebe gibt,<br />
Und anders war Herr Salomo,<br />
Der Weise, nicht verliebt.<br />
<strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong> hat über se<strong>in</strong>e Ch<strong>in</strong>a-Oper ‚Turandot’ geschrieben: „ Ich<br />
habe e<strong>in</strong>e menschliche Angelegenheit gewollt <strong>und</strong> wenn das Herz<br />
spricht, sei es <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a oder <strong>in</strong> Holland, ist der S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger<br />
<strong>und</strong> das Ziel ist das aller“. Das Urgefühl, dass Liebe zugleich<br />
etwas immer Neues <strong>und</strong> ganz Individuelles <strong>und</strong> etwas ganz Altes<br />
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<strong>und</strong> Allgeme<strong>in</strong>es ist, wird von <strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong> belebt <strong>und</strong> bestätigt.<br />
Arnold Schönberg hat gesagt: „Für die Kunst genügt, dass sie<br />
wahr ist.“ <strong>Pucc<strong>in</strong>i</strong>s Kunst ist musikalisch <strong>und</strong> menschlich wahr,<br />
deswegen s<strong>in</strong>d se<strong>in</strong>e Opern auch nach e<strong>in</strong>h<strong>und</strong>ert Jahren nicht<br />
veraltet.<br />
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