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1 Dr. Gernot Sittner Zentrum Seniorenstudium Kunst, Kultur ...

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<strong>Dr</strong>. <strong>Gernot</strong> <strong>Sittner</strong><br />

<strong>Zentrum</strong> <strong>Seniorenstudium</strong><br />

<strong>Kunst</strong>, <strong>Kultur</strong>, Gesellschaft<br />

11.01.2011<br />

Sterblich oder unverderblich?<br />

Über die Zukunft der Zeitung<br />

Mit Überschriften in Frageform sollte man sehr sparsam umgehen. Das lernt<br />

man schon auf der Journalistenschule. Denn eine Frage richtet sich ja, streng<br />

genommen, an den Leser: Wird sich der Euro wieder erholen? Da kann sich<br />

der Leser denken: Warum fragt die Zeitung mich? Ich will es doch von<br />

meiner Zeitung wissen. Deshalb kauf ich sie ja und zahle dafür.<br />

Mit der Frage, ob die Zeitung sterblich oder unverderblich, unverwüstlich<br />

sei, verhält es sich nicht anders. Das müssten doch eher die Journalisten und<br />

Verleger als ihre Leser wissen oder wenigstens ahnen. Andererseits liegt es<br />

nahe, dass wir uns bei diesem Thema für befangen erklären. Wer viele Jahre<br />

für die Zeitung gearbeitet hat, dem fehlt es für die Beantwortung einer<br />

solchen für eine ganze Branche existentiellen Frage vielleicht doch an der<br />

nötigen Distanz. Je mehr man da Argumente pro und contra Überleben<br />

gegeneinander abwägt, um so stärker könnte man versucht sein, die Antwort<br />

den einschlägigen Propheten zu überlassen – nur um dann bald festzustellen,<br />

dass das auch keine Lösung ist.<br />

Denn unter Propheten gibt es solche, die das Risiko lieben und es gerne<br />

eingehen, und andere, die es zumindest nicht mehr erleben möchten, wenn<br />

sie sich geirrt haben. Zu letzterer Sorte zählt, was die Zeitung angeht, zum<br />

Beispiel der Amerikaner Philip Meyer, der in seinem Buch „The Vanishing<br />

Newspaper“ vor sechs Jahren vorhergesagt hat, im Jahr 2043 werde das<br />

letzte Exemplar einer gedruckten Tageszeitung im Briefkasten oder vor der<br />

Tür eines US-Bürgers liegen.<br />

Der große Bill Gates, der Gründer von Microsoft, war da schon mutiger. Er<br />

hat nämlich im Jahr 1990 prophezeit, dass es im Jahr 2000 keine Zeitungen<br />

mehr geben werde. Bei Philip Meyer bin ich mir nicht sicher, aber Bill<br />

Gates hat es auf jeden Fall noch erlebt, dass sich seine Prognose als Irrtum<br />

erwiesen hat. Totgesagte leben bekanntlich immer länger – das scheint auch<br />

für die Zeitung zu gelten. Die Zeitung lebt immer noch.<br />

Aber soll man jetzt die Betonung auf „immer“ oder auf „noch“ legen?<br />

„Sterblich oder unverderblich?“ – es muss einen Grund haben, wenn<br />

Propheten die Zukunft von Zeitungen zu ihrer Sache machen. Die<br />

Vermutung liegt jedenfalls nahe, dass das Überleben der Zeitung keine<br />

Selbstverständlichkeit mehr ist.<br />

Für beides – für „sterblich“ wie „unverderblich“ - gibt es heute nicht wenige<br />

Indikatoren,<br />

1


– dafür, dass das Zeitungssterben, das ja schon seit Jahrzehnten zu<br />

beobachten ist, eines nicht mehr fernen Tages schließlich zum Tod<br />

der ganzen Gattung führen wird, aber auch<br />

– dafür, dass die Zeitung letzten Endes so robust ist, dass sie sich sogar<br />

in Zeiten des Internets behaupten wird.<br />

Einige Indikatoren pro Zeitung, für deren Überleben, gibt es also durchaus,<br />

zum Beispiel den jüngsten Bericht der Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse:<br />

„Die regelmäßige Zeitungslektüre ist für knapp drei von vier<br />

Deutschen unverzichtbar. Den Erhebungen der aktuellen Media-<br />

Analyse zufolge lesen 51,7 Millionen, das heißt 73,3 Prozent der<br />

Deutschen jede Ausgabe einer täglich und/oder einer wöchentlich<br />

erscheinenden Zeitung. Der größte Teil davon entfällt auf die<br />

Tageszeitungen: Mehr als zwei <strong>Dr</strong>ittel (69,6 Prozent) sind tägliche<br />

Zeitungsleser. Die regionalen Abonnementzeitungen weisen eine<br />

Reichweite von 56,9 Prozent auf, die Reichweite der<br />

Kaufzeitungen liegt stabil bei 21 Prozent und die überregionalen<br />

Zeitungen erreichen 5,5 Prozent. Etwa jeder Fünfte liest eine<br />

Sonntagszeitung (17,4 Prozent), die Wochenzeitungen erreichen<br />

Woche für Woche 2,3 Prozent der Bevölkerung. Die Leserstruktur<br />

der Zeitungen entspricht weitgehend der allgemeinen<br />

Bevölkerungsstruktur. Damit sind die Zeitungen das Printmedium,<br />

das universell auf breiteste Bevölkerungsschichten zugeschnitten<br />

ist, und – angesichts der zunehmenden Aufsplitterung der<br />

elektronischen Medien – das wohl einzige Kommunikationsforum,<br />

das die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen gleichzeitig<br />

erreicht: Junge und ältere Menschen, Männer und Frauen, höher<br />

und niedriger Gebildete, Einkommensstärkere und<br />

Einkommensschwächere. Eine wichtige und zahlenmäßig<br />

beträchtliche Gruppe von Zeitungsnutzern wird oft übersehen oder<br />

gar verleugnet: die Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Immer<br />

wieder ist zu hören und zu lesen, dass junge Leute ,nicht mehr<br />

Zeitung lesen’. Tatsächlich erzielen die deutschen Zeitungen aber<br />

selbst in der jüngsten untersuchten Altersgruppe der 14- bis 19-<br />

Jährigen eine Reichweite von 47,1 Prozent. Bei den jungen<br />

Erwachsenen zwischen 20 und 29 Jahren beträgt die Reichweite<br />

58,3 Prozent. Richtig ist, dass Zeitungen von Menschen im<br />

mittleren oder höheren Alter noch stärker genutzt werden als von<br />

den Jüngeren. Von den 30- bis 49-Jährigen lesen im Durchschnitt<br />

knapp drei Viertel regelmäßig Zeitung, von den über 50-Jährigen<br />

über 80 Prozent. Ihren höchsten Wert erreicht die Zeitungsnutzung<br />

bei den 60- bis 69-Jährigen – einer in der Regel kaufkräftigen und<br />

aktiven Zielgruppe mit viel Freizeit und vielen Interessen.“<br />

Die Reichweite von Zeitungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz<br />

liegt übrigens nach Japan, Portugal und den skandinavischen Ländern in<br />

einem OECD-Vergleich noch immer an der Spitze. In Frankreich sind es nur<br />

44, in Großbritannien, von dem man bisher immer meinte, es sei „das“<br />

2


klassische Zeitungsleserland, nur 33 Prozent. Auch immerhin gut 45 Prozent<br />

der 14- bis 19-Jährigen und mehr als 56 Prozent der 20- bis 29-Jährigen in<br />

der Bundesrepublik interessieren sich für die gedruckte Presse.<br />

Rechnet man die Reichweiten hinzu, die die Online-Angebote der Zeitung<br />

erzielen – 40 Prozent der Leute, die im Internet unterwegs sind, lesen<br />

Zeitungsinhalte täglich am Bildschirm, das sind 17,3 Millionen -, so kann<br />

man mit Fug und Recht sagen, dass die Zeitungen gedruckt und online heute<br />

die höchste Reichweite haben, die jemals in Deutschland erzielt wurde.<br />

Der deutsche Zeitungsmarkt ist der größte Zeitungsmarkt Europas und der<br />

fünftgrößte der Welt. Zeitungen sind mit vier Milliarden Umsatz (netto) vor<br />

dem Fernsehen der größte Werbeträger Deutschlands. Kostenlose Tages-<br />

oder Pendlerzeitungen haben in Deutschland nie Fuß fassen können.<br />

Die Zeitungsbranche hat im Jahr 2009 gut 8,46 Milliarden Euro<br />

erwirtschaftet. Das ist etwa soviel, wie die Buchbranche umsetzt, und ein<br />

knappes Zehntel dessen, was die Automobilindustrie jährlich mit der<br />

Herstellung von Kraftfahrzeugen im Inland erwirtschaftet.<br />

Lauter gute Nachrichten, aber es gibt leider auch mindestens ebenso viele<br />

schlechte:<br />

Die Reichweiten der gedruckten Tageszeitungen – so stolz sie sich im<br />

internationalen Vergleich auch ausnehmen mögen - gingen nicht nur, wie<br />

eben erwähnt, 2009, sondern schon seit Jahren kontinuierlich zurück – und<br />

für die verkauften Auflagen gilt das noch viel mehr. Seit etwa zehn Jahren<br />

schrumpft die Auflage der gesamten deutschen Tageszeitungen jährlich um<br />

eineinhalb bis zwei Prozent.<br />

Dieser schleichende Rückgang hat viele Gründe:<br />

Es steht zu vermuten, dass sich – nicht zuletzt aufgrund der wirtschaftlichen<br />

Situation - mehr Haushalte als früher eine Zeitung teilen.<br />

Insbesondere Jugendliche und junge Leute greifen immer weniger zu<br />

Gedrucktem. Und es gilt der Erfahrungssatz: Wer nicht spätestens als Twen,<br />

das wäre also im 29. Lebensjahr, zur Zeitung gefunden hat, der ist für dieses<br />

Medium verloren. Die Lesekarriere eines Zeitungslesers beginnt schon<br />

ziemlich früh.<br />

Aber es spielen auch demografische Faktoren eine Rolle:<br />

Die deutschsprachige Bevölkerung als Kundschaft nimmt Jahr für Jahr ab.<br />

Immer mehr Menschen leben in Großstädten – der typische Zeitungsleser<br />

lebt hingegen in einer kleinen oder mittelgroßen Stadt oder auf dem Land.<br />

Immer mehr Menschen leben in Single-Haushalten; der typische<br />

Zeitungsleserhaushalt hingegen zählt zwei oder drei Mitglieder, für die sich<br />

ein Zeitungsabo lohnt.<br />

3


Eine Zeitung finanziert sich, wie schon gesagt, von ihren Lesern und von<br />

Anzeigen.<br />

Die Anzeigenerlöse der Zeitungen gehen seit dem Jahr 2000 in der Tendenz<br />

zurück. Über Jahrzehnte galt in der alten Bundesrepublik: Etwa ein <strong>Dr</strong>ittel<br />

der Umsätze der Zeitungen stammt aus dem Vertrieb, also aus dem Verkauf<br />

der Zeitung, zwei <strong>Dr</strong>ittel werden durch Anzeigen, durch Werbung erlöst.<br />

Mittlerweile ist das Verhältnis fast ausgeglichen. Der Vertriebserlös lag im<br />

Jahr 2009 sogar erstmals bei mehr als 50 Prozent der Einnahmen der<br />

Zeitungen, und es wäre nicht überraschend, wenn sich für das vergangene<br />

Jahr eine ähnliche Bilanz ergäbe.<br />

Wer ein gebrauchtes Auto, einen neuen Job oder eine größere Wohnung an<br />

einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Preis sucht, kann dies dank<br />

immer ausgefeilterer Kriterien auch im Internet schnell und bequem tun, und<br />

wer ein Auto oder eine Immobilie verkaufen, eine Wohnung vermieten will<br />

oder einen Mitarbeiter sucht, der macht das im Internet viel billiger als in<br />

der Tageszeitung. Der Markt der Stellen-, Immobilien- und Autoanzeigen ist<br />

für die Tageszeitungen weggebrochen – und das rechtfertigt es durchaus,<br />

wenn die Zeitungen sich in einer Krise sehen.<br />

Es ist für die Tageszeitungen allerdings nicht die erste Krise. Irgendwie<br />

prägen Krisen ihre Geschichte und die ist schon mehr als 400 Jahre alt, was<br />

wiederum für eine robuste Natur der Gattung Zeitung spricht. Im Jahr 1605<br />

publizierte Johann Carolus in Strassburg die erste Zeitung der Welt, die<br />

heutigen Kriterien standhält: die Relation. Und dem Start folgte die erste<br />

Krise gleich auf dem Fuße. Johann Carolus drohte zwölf Tage nach dem<br />

erstmaligen Erscheinen seines Blattes damit, es gleich wieder einzustellen.<br />

Beim Bürgermeister von Straßburg beklagte er sich über Kopisten, die ihm<br />

das Geschäft zerstörten. Sie übernahmen seine Nachrichten, seine Inhalte,<br />

ohne etwas dafür zu bezahlen.<br />

Denn Zeitungsverlegern von heute müsste das irgendwie bekannt<br />

vorkommen. Aber anders als Johann Carolus sind sie als Opfer der<br />

gegenwärtigen Krise zugleich – zu einem erklecklichen Teil zumindest –<br />

auch deren Verursacher. Kaum je in der Wirtschaftsgeschichte hat eine<br />

Branche ihr eigenes Geschäftsmodell so sehr in die Krise geführt wie die<br />

Zeitungsverleger in den zurückliegenden Jahren.<br />

1995 war das Jahr des breitenwirksamen Internetstarts. Für die Verlage<br />

ergab sich dadurch die Möglichkeit, ihre Inhalte auch ohne Papier,<br />

<strong>Dr</strong>uckmaschinen, Lastwagen, Bahn und Flugzeuge zu den Lesern zu<br />

bringen. Sie hätten ihre Ware – Informationen, Nachrichten,<br />

Meinungsartikel, Feuilletons, Sportberichte, Wirtschaftsmeldungen und<br />

vieles andere – also kostengünstiger an ihre Kunden, die Leserinnen und<br />

Leser, weitergeben können. Aber sie entschieden sich anders: Sie boten –<br />

und bieten auch heute noch – ihre Ware im Internet, auf den verlagseigenen<br />

Websites zu einem erklecklichen Teil gleich kostenlos oder spottbillig an.<br />

Um es etwas hochtrabend auszudrücken: Geistige Leistungen werden im<br />

Web verschenkt – das war nach Meinung vieler Experten der grundlegende<br />

4


Fehler der gesamten Branche, die Erbsünde der Verleger, wie es ein<br />

Fachmann einmal nannte.<br />

Tom Rachman, ein britischer Journalist, dessen Roman „Die Unperfekten“,<br />

eine Geschichte über eine – fiktive - internationale Tageszeitung, im<br />

vergangenen Jahr auch in Deutschland erschien, hat im vergangenen<br />

Sommer im Interview mit der SZ zu diesem Thema gesagt: „Ich frage mich<br />

manchmal, was Zeitungsverleger machen würden, wenn sie die Zeit zehn<br />

oder 15 Jahre zurückdrehen könnten. Vielleicht hätten sich die Großen<br />

zusammentun und geschlossen Bezahl-Inhalte anbieten sollen. Stattdessen<br />

gerieten einige in Panik, nicht mithalten zu können, und warfen die Inhalte<br />

schnell ins Internet.“<br />

Seit 2003 sind journalistische Inhalte der Zeitungen auch über Google<br />

auffindbar und abrufbar. Die Verlage verloren vor allem junge Leser ans<br />

Internet. Nur im Segment der Rentner blieben die Reichweiten<br />

einigermaßen stabil, aber das ist nun ausgerechnet die Leserschicht, die für<br />

Anzeigenkunden, aus welchen Gründen auch immer, am wenigsten<br />

interessant ist.<br />

Mit ihrer Internet-Strategie haben die Verleger ihr Geschäftsmodell also<br />

schwer beschädigt. Der Leser, der jetzt auch User, also Benutzer heißt,<br />

bezahlt für das Angebot nichts mehr oder nur sehr wenig. Und mit Anzeigen<br />

im Internet ist längst nicht so viel Geld verdient, dass die Verleger mit ihren<br />

Online-Auftritten in die schwarzen Zahlen kämen. Zwar erbringt der<br />

Online-Werbemarkt weltweit einen Umsatz von 30 Milliarden Euro, aber<br />

zwei <strong>Dr</strong>ittel davon räumen Google und andere Suchmaschinen oder Portale<br />

ab.<br />

Die Gesamtbilanz sieht deshalb für die Zeitungen bizarr und erschreckend<br />

aus:<br />

Bizarr und erschreckend, was die Kundschaft, die Leserinnen und Leser,<br />

betrifft: In den vergangenen zehn Jahren haben die deutschen<br />

Tageszeitungen jeden fünften Leser verloren. Die Jahresauflage stürzte von<br />

30 auf unter 24 Millionen ab. Laut Media-Analyse lesen nur knapp 50<br />

Prozent der 14- bis 19-Jährigen noch eine Tageszeitung und nur 60 Prozent<br />

der 20- bis 29-Jährigen. Deutsche Jugendliche zwischen 12 und 19 wurden<br />

befragt, auf welche Medien sie am wenigsten verzichten könnten. Auf den<br />

Computer wollten 34 Prozent nicht verzichten, nur 21 Prozent nicht aufs<br />

Internet, 18 Prozent nicht aufs Fernsehen, 11 Prozent nicht auf ihren MP3-<br />

Player, 5 Prozent nicht auf Radio oder Bücher, und nur 2 Prozent sagten, am<br />

wenigsten könnten sie auf die Zeitung verzichten. Der Durchschnittsleser<br />

war 2008 knapp über 50; nur 4 Prozent der unter 20-Jährigen lesen eine<br />

überregionale Tageszeitung.<br />

In den USA, dem einstigen Vorzeigeland des Journalismus, wurden 1984<br />

täglich 63,3 Millionen Zeitungsexemplare verkauft; im Jahr 2006 waren es<br />

nur noch 43,7 Millionen – ein Rückgang um gut ein <strong>Dr</strong>ittel in gut 20 Jahren.<br />

Es traf vor allem Amerikas große renommierte Tageszeitungen von<br />

nationaler und internationaler Bedeutung. Pressebarone und alteingesessene<br />

5


Inhaberfamilien – an der Westküste die Chandlers mit der Los Angeles<br />

Times, an der Ostküste die Bancrofts mit dem Wall Street Journal – haben<br />

mittlerweile das Handtuch geworfen.<br />

Entsprechend bizarr und erschreckend ist auch die wirtschaftliche Bilanz:<br />

Die internationalen Tageszeitungen verloren von 2000 bis 2007 mehr als<br />

zwei Milliarden Euro an Einnahmen.<br />

Durch Gratiszeitungen, aber vor allem durch das Gratis-Internet haben<br />

traditionelle Tageszeitungen viele Leser verloren. 2009 war das bisher<br />

schwärzeste Jahr in der Pressegeschichte. Denn sinkende Auflagen und ein<br />

überaltertes Publikum machen die klassischen Tageszeitungen für die<br />

Anzeigenkunden immer weniger attraktiv. Und die Konjunkturflaute<br />

verstärkte den negativen Trend. Renommierte Tageszeitungen wie die New<br />

York Times schrieben rote Zahlen – ebenso wie deutsche Blätter, obwohl<br />

hier, wie gesagt, kaum Gratiszeitungen erscheinen.<br />

Die Anzeigenumsätze der amerikanischen Zeitungen fielen in zwei Jahren<br />

um 23 Prozent. Der Wert der börsennotierten Verlage fiel im Jahr 2008 um<br />

83 Prozent – mit fast katastrophalen Folgen für die journalistische Qualität.<br />

So hat, wie eine Studie ergab, die Hälfte der im Jahr 2008 in den USA<br />

verbreiteten Nachrichten nur zwei Themen gegolten: dem amerikanischen<br />

Präsidentschaftswahlkampf und der Wirtschaftskrise.<br />

Laut Tobias Trevisan, dem Geschäftsführer der FAZ, flossen 2008 in<br />

Deutschland brutto knapp 3 Milliarden Werbegelder ins Internet, doch<br />

davon konnten die zehn führenden Verlags-Websites gerade mal 82<br />

Millionen Euro einziehen.<br />

Dass die Erwartungen der Verleger trotz Krise immer noch ziemlich hoch<br />

sind, macht die Sache nicht einfacher. Der Medienökonom Horst Röper hat<br />

festgestellt: „Viele Verleger ziehen zu viel Geld aus den Zeitungen. Sie<br />

verlangen eine zu hohe Rendite. Dies ist der erste Schritt zur<br />

Selbstzerstörung.“ Röper rechnete vor: Die Vorsteuerrendite etwa der<br />

Verlagsgruppe DuMont Schauberg lag im Jahr 2005 bei 13 Prozent, bei der<br />

Südwestpresse waren es mehr als 20 Prozent. Von solchen Renditen können<br />

andere Branchen nur träumen. Der ThyssenKrupp-Konzern kam zur<br />

gleichen Zeit bei einem Umsatz von 42 Milliarden Euro auf um die 6<br />

Prozent, Eon auf 12, die Allianz auf 10 Prozent vor Steuern.<br />

Böse Zungen meinen manchmal, die Zeitungsherausgeber sollten sich besser<br />

Herausnehmer nennen. Und ein anderer Medienexperte sagte sogar einmal,<br />

es spreche viel dafür, dass überzogene Rendite-Erwartungen und<br />

strategische Fehler der Verlagsbranche schwerer wögen als die Konkurrenz<br />

durch das Internet.<br />

Und manche der – sicher oft notwendigen – Sparmaßnahmen tragen nicht<br />

gerade zur Besserung ihres Rufes bei – zum Beispiel wenn in Münster der<br />

Verleger über Nacht die zentrale Lokalredaktion der Münsterschen Zeitung<br />

6


vor die Tür setzt und ihre Aufgabe an schlechter bezahlte Journalisten<br />

weitergibt, die er in einer neuen Tochterfirma angestellt hat.<br />

Alfred Neven DuMont, eine der profiliertesten deutschen<br />

Verlegerpersönlichkeiten, hat – das ist nicht so lange her - gesagt, echte<br />

Verleger seien seltener geworden in Deutschland. Dafür gebe es eine Reihe<br />

von Gründen. Unter anderem liege es daran, dass Menschen jüdischen<br />

Glaubens von den Nazis aus Deutschland vertrieben oder umgebracht<br />

wurden. „Das hat uns alle nicht zuletzt des unschätzbaren Beitrags beraubt,<br />

den Juden mit ihrer Verbindung von Intellektualität und ökonomischer<br />

Intelligenz geleistet haben.“<br />

Genug des Lamentos. Können die Zeitungen die Krise überwinden? Und<br />

wie können sie die Krise überwinden? Sind sie vielleicht doch nicht<br />

sterblich, sondern einfach nicht umzubringen?<br />

Man weiß doch aus Erfahrung: Gerade Menschen, die sehr oft und sehr<br />

bewegend ihren schlechten Gesundheitszustand beklagen, die vom<br />

Schicksal gebeutelt werden und für sich einen frühen Tod voraussagen,<br />

gerade die werden oft besonders alt – älter als manche Gesunde,<br />

Dynamische, die es ganz unerwartet trifft. Mit den Zeitungen verhielt es sich<br />

in der Vergangenheit oft ähnlich. Wie oft mussten sie schon vorzeitige<br />

Nachrufe zur Kenntnis nehmen!<br />

Zu Zeiten der Pressekonzentration in den sechziger und siebziger Jahren, als<br />

die Zahl der Zeitungstitel drastisch zu schrumpfen begann;<br />

zu Zeiten, als absehbar war, dass bald in jedem Haushalt nicht nur ein<br />

Radio, sondern auch ein Fernseher stehen würde, ein Fernseher, mit dem<br />

erst nur zwei, drei Programme zu empofangen war, aber heute eine solche<br />

Vielzahl, dass im Zeitbudget des Medienkonsumenten und im Werbeetat der<br />

Unternehmen am Ende nur noch ein sehr bescheidener Anteil an Zeit und<br />

Geld für die Printmedien verbleibt.<br />

Und zuletzt eben durch die Internet-Revolution, die wahrlich die Zeitung<br />

fürs erste alt aussehen ließ – sowohl was das Tempo des Transports von<br />

Informationen rund um den Globus als auch die Attraktivität des neuen<br />

Mediums für den Markt der Rubrikanzeigen betrifft, also Stellen,<br />

Immobilien, Autos. Im Internet zahlt der Anzeigenkunde deutlich weniger<br />

als für eine Zeitungsanzeige – und er hat noch dazu den Vorteil, dass er für<br />

weniger Geld den Interessenten mehr zeigen kann, zum Beispiel Lage und<br />

Innenansicht einer Wohnung.<br />

Düstere Aussichten also. Von so Kleinigkeiten wie der Entwicklung des<br />

Papierpreises einmal ganz abgesehen.<br />

Aber wie gesagt: Totgesagte leben länger, vielleicht oder hoffentlich auch<br />

Zeitungen.<br />

Sie könnten zum Beispiel einfach darauf vertrauen, dass das Rieplsche<br />

Gesetz auch in Zukunft gilt. Es ist benannt nach Wolfgang Riepl, der<br />

7


jahrzehntelang Chefredakteur der Nürnberger Nachrichten war und dieses<br />

Gesetz schon 1913 in seiner Dissertation entwickelte. Es lautet: Kein neues<br />

Medium ersetzt ein altes oder macht es überflüssig. Es ergebe „sich<br />

gewissermaßen als ein Grundgesetz der Entwicklung des<br />

Nachrichtenwesens, dass die einfachsten Mittel, Formen und Methoden,<br />

wenn sie nur einmal eingebürgert und brauchbar befunden worden sind,<br />

auch von den vollkommensten und höchst entwickelten niemals wieder<br />

gänzlich und dauernd verdrängt und außer Gebrauch gesetzt werden können,<br />

sondern sich neben diesen erhalten, nur dass sie genötigt werden, andere<br />

Aufgaben und Verwertungsgebiete aufzusuchen“.<br />

Welche Stärken können die Zeitungen im Wettbewerb mit anderen Medien<br />

ausspielen?<br />

Das Internet ist, was das Informationsangebot in puncto Quantität angeht,<br />

konkurrenzlos. Es ist ein in des Wortes wahrer Bedeutung schier<br />

unendliches Angebot, das kein Mensch, auch nicht der notorischste Surfer,<br />

zu überblicken vermag. Es wäre vermessen bis lächerlich, wollte ein<br />

Printmedium den Anspruch erheben, es in diesem Punkt mit dem Internet<br />

aufnehmen zu können. Aber es steht ja auch überhaupt nicht dafür, auf<br />

diesem Feld mit dem Internet konkurrieren zu wollen. Das Internet kann den<br />

Surfer zufriedenstellen, und es ist unschlagbar, wenn jemand sich, mit oder<br />

ohne Suchmaschine, ganz spezielle Informationen beschaffen möchte. Das<br />

können Informationen und Daten sein, die nie und nimmer in einer<br />

Tageszeitung zu finden sind, aber auch solche, mit denen das Internet den<br />

Tageszeitungen Konkurrenz machen kann. Das können so profane Dinge<br />

sein wie der Wetterbericht oder Reiseinformationen, es kann<br />

Dokumentationen betreffen – zum Beispiel von Gesetzen, die gerade vom<br />

Parlament verabschiedet wurden, von Reden, die bei Jubiläen oder<br />

Parteitagen gehalten wurden, aber auch aktuelle Börsendaten,<br />

Geschäftsberichte, Stellungnahmen von Organisationen,<br />

Unternehmensberichte usw. usw.<br />

Natürlich ist auch der Zeitungsjournalist heute fast jeden Tag im Internet,<br />

weil es oft das eigene Redaktionsarchiv ergänzt, weil damit viele<br />

Sachverhalte noch gründlicher und schneller zu recherchieren und auf den<br />

neuesten Stand zu bringen sind. Eine große Hilfe – zweifellos. Man kann<br />

also durchaus behaupten: Indem es sich des Mediums Internet bedient, ist<br />

das Medium Zeitung besser geworden, reicher an Informationen, fundierter<br />

auch in den Analysen. Und die Zeitung ist zwar nicht so schnell wie<br />

Internet, Fernsehen oder Radio, aber noch aktueller und frischer als früher –<br />

noch dazu, wo heute auch die Rotationsmaschinen viel schneller laufen als<br />

früher.<br />

Zeitungsjournalisten bedienen sich des neuen Mediums also sehr gezielt.<br />

Befänden wir uns im akademischen Bereich, könnten wir es vielleicht als<br />

eine Art Hilfswissenschaft bezeichnen.<br />

Sie können sich dieser Hilfswissenschaft bedienen, um die Zeitung noch<br />

besser zu machen, um sie den Veränderungen im Medienangebot und der<br />

Leser- oder Nutzergewohnheiten anzupassen. Die Tageszeitung – ich<br />

8


spreche jetzt in erster Linie von den landesweit verbreiteten, überregionalen,<br />

nicht so sehr von Regional- und Lokalzeitungen – die Tageszeitung kann als<br />

Typ des Generalanzeigers nicht überleben. Denn was der leistet, erbringt das<br />

Internet viel schneller, umfassender und nicht zuletzt auch billiger,<br />

zumindest so lange, wie die Verlage für den Eintritt zu ihren Internet-<br />

Portalen keine Gebühr verlangen.<br />

Wenn die Zeitung nur Nachrichten kompiliert und druckt, im schlimmsten<br />

Fall auch noch, ohne dass für den Leser ein Auswahlprinzip oder<br />

Auswahlkriterien erkennbar werden, hat sie ihre Existenzberechtigung<br />

verloren.<br />

Aber man kann das auch positiv sehen: Die Zeitung braucht jetzt nicht mehr<br />

ihre natürlichen Schwächen, dass heißt vor allem den Mangel an Aktualität,<br />

mit sich herumzuschleppen. Eine sehr altehrwürdige Zeitung, die Neue<br />

Zürcher Zeitung, hat diese Schwäche schon auf dem Titelblatt ihrer ersten<br />

Ausgabe am 12. Januar 1780 benannt, als sie in schöner Übertreibung<br />

feststellte, es werde ihr bei allem Bemühen versagt bleiben, „die<br />

Weltbegebenheiten früher anzuzeigen, als sie geschehen sind“.<br />

Heute kann, ja muss die Zeitung anderes, mehr und Anspruchsvolleres<br />

leisten, als immer nur dem aktuellsten Ereignis hinterherzuhecheln.<br />

Sie kann und muss die tägliche Fülle der Informationen sichten, ordnen und<br />

werten – das ist ein Vorgang, der sich abspielt, bevor in der Redaktion auch<br />

nur eine Zeile geschrieben wird; es ist eine Aufgabe, die den Zeitungen<br />

schon längst abverlangt wird, von deren möglichst idealer Erfüllung aber in<br />

der Zukunft sehr wesentlich ihre Existenz abhängen wird. Der<br />

Wirtschaftsprofessor und Nobelpreisträger Herbert A. Simon meinte einmal:<br />

Der kommende Überfluss an Informationen erzeugt beim Nutzer ein<br />

Bedürfnis, seine Aufmerksamkeit effizient einzusetzen. Für einen Anbieter<br />

von Informationen, also zum Beispiel eine Zeitung, gehe es nicht nur darum,<br />

alles zu liefern, was jemand braucht, sondern es dem Nutzer bequem zu<br />

machen und die Mühe gering zu halten, die es kostet, Informationen<br />

aufzunehmen. Für jede Situation – so Simon – braucht es die richtige Dosis<br />

Information in richtiger Form.<br />

Die Zeitung muss also für den Leser Schneisen in den Wildwuchs an<br />

Informationen schlagen, ihm die Orientierung in diesem immer stärker<br />

wuchernden Dschungel ermöglichen, Durchblicke schaffen, Maßstäbe für<br />

Wertungen vermitteln, und sie muss all die Fakten auswählen und<br />

vermitteln, die dem Leser als Grundlage für die eigene Urteilsbildung<br />

dienen können. Je unübersichtlicher das Informationsangebot, desto<br />

dringender werden Zeitungen gebraucht. Nach dem Terroranschlag vom 11.<br />

September 2001 zum Beispiel druckten und verkauften viele Zeitungen eine<br />

deutlich erhöhte Auflage. Es gab einen Bedarf an einordnenden Berichten,<br />

Analysen, Kommentaren. Und es war dies nicht das erste Mal, dass man in<br />

den Zeitungshäusern diese Erfahrung machte: In Krisenzeiten, auch bei den<br />

beiden Golfkriegen, in politisch besonders spannenden, dramatischen<br />

Situationen, vor und nach Wahlen zum Beispiel, greifen mehr Menschen als<br />

sonst zur seriösen, überregionalen Tageszeitung. Die vermag dem Bedürfnis<br />

9


nach Orientierung offensichtlich am meisten zu entsprechen. Mehr noch als<br />

das Fernsehen und schon gleich gar die Boulevardpresse.<br />

Tom Wolfe, einer der Hauptvertreter des New Journalism, hat schon lange<br />

vor der gegenwärtigen Krise die Merkmale einer Qualitätspublizistik<br />

benannt:<br />

- erstens die realistische, szenische Beschreibung von Vorgängen,<br />

- zweitens die Vorzüge präzise wiedergegebener Dialoge;<br />

- drittens der Standpunkt der dritten Person, also die Fähigkeit des<br />

Autors, sich in Sicht- und Denkweisen anderer Menschen<br />

hineinzuversetzen;<br />

- und schließlich die genaue Beschreibung von Gesten, Posen, Moden,<br />

Blicken.<br />

Gewiss, Internet und Fernsehen sind schneller als der Zeitungsreporter, aber<br />

dafür geht das, was er dem Leser präsentiert, wesentlich tiefer. Einer, der<br />

das Reporterhandwerk beispielhaft und meisterhaft beherrschte, war Hans<br />

Ulrich Kempski, der langjährige Chefkorrespondent der Süddeutschen<br />

Zeitung. Den Siegeszug des Internets hat er kaum noch erlebt, aber das<br />

Fernsehen sah er nie als bedrohliche Konkurrenz an. Er räumte zwar ein:<br />

„Seit es das Fernsehen gibt, haben sich die Zeitungen verändern müssen.<br />

Das war ja auch gut so. Aber das Fernsehen dringt fast nie hinter die<br />

Kulissen. Die Kamera dreht, aber sie kann nicht denken. Fernsehbilder<br />

werden geistig nicht wahrgenommen.“<br />

Demokratie setzt öffentliche Debatte voraus, die nicht möglich ist, wenn<br />

nicht wenigstens eine größere Anzahl von Menschen die gleiche<br />

Wissensbasis für ihre Fragen, Gegenentwürfe und ihre Entscheidungen hat.<br />

Ich wüsste nicht, welches Medium diese Funktion in ähnlich wirksamer<br />

Weise übernehmen könnte wie die Zeitungen. Ein Schweizer Journalist<br />

meinte dazu jüngst: „Gesellschaftliche Diskurse brauchen mediale<br />

Leithammel“ - er meinte damit die Tageszeitungen – und er fuhr fort: „Das<br />

wollen nur jene nicht einsehen, welche der derzeit grassierende digitale<br />

Rinderwahnsinn befallen hat.“ Und der Springer-Vorstandsvorsitzende<br />

Matthias Döpfner hat dazu einmal gesagt: „Das Prinzip Zeitung ist das<br />

Prinzip Führung. Das macht sie scheinbar altmodisch. Und das Prinzip<br />

Führung macht sie zugleich zukunftssicher. Die Menschen wollen dorthin,<br />

wo sich möglichst viele treffen, um Informationen und Meinungen und<br />

Waren auszutauschen. Je fraktionierter, vielfältiger, zerklüfteter die<br />

Medienlandschaft wird durch immer mehr Spartenkanäle, Special-Interest-<br />

Zeitschriften und Internet-Sites, desto größer wird auf der anderen Seite das<br />

Bedürfnis nach einem gesprächsstiftenden Kommunikationserlebnis.“<br />

Die Zeitung kann diesem Bedürfnis entsprechen; dazu muss sie ein breites<br />

Spektrum an redaktionellen Inhalten bieten. Niemand kann heute auch nur<br />

annähernd für sich beanspruchen, dass er allein den Überblick behielte. Je<br />

10


mehr sich die Berufswelten der Menschen voneinander entfernen, je mehr<br />

Experten es gibt für immer mehr Fachgebiete, desto dringender wird der<br />

Bedarf an Journalisten, die zwischen den Experten in den jeweils anderen<br />

Fachgebieten Brücken gemeinsamen Verständnisses zu bauen versuchen.<br />

Mein verstorbener Kollege Herbert Riehl-Heyse hat die Zeitung einmal das<br />

Gegengift gegen das Fachidiotentum genannt. Und der Essener<br />

Medienwissenschaftler Norbert Bolz hat bei einem Zeitungsjubiläum<br />

erklärt: „Wir haben kein Informationsproblem, sondern ein<br />

Orientierungsproblem. Was wir brauchen, ist eine tägliche Arche Noah in<br />

der Sintflut des Sinns – und genau das ist die klassische Zeitung. Anders<br />

gesagt: Der Zeitungsredakteur ist der Vorreiter der zukünftigen<br />

Wissensarbeiter.“ Bolz nennt ihn einen Wissensdesigner.<br />

Im Redaktionsalltag bedeutet das zum Beispiel:<br />

Die klassischen Felder Politik, Feuilleton, Wirtschaft und Sport und die Art,<br />

wie diese Ressorts lange Zeit ihre Themen aufbereiteten, reichen nicht mehr<br />

aus. Das Feuilleton zum Beispiel kann sich nicht darauf beschränken, als<br />

Rezensionsfeuilleton aufzutreten. Es muss – zum großen Teil wird das auch<br />

längst praktiziert – als Diskussionsfeuilleton öffentliche Debatten anstoßen<br />

oder zumindest sich an ihnen beteiligen.<br />

Am frühesten haben es die Kollegen vom Sportressort begriffen, dass sie<br />

sich nicht mehr mit der herkömmlichen Ergebnis-Berichterstattung<br />

begnügen dürfen, dass es nicht mehr ausreicht, dem Leser noch einmal<br />

nachzuerzählen, was er am Fernsehen schon miterlebt hat.<br />

Und es ist fast überflüssig zu erwähnen, dass der Wirtschaftsteil dem<br />

Umstand Rechnung tragen muss, dass viele Leser heute Aktienbesitzer oder<br />

an Investmentfonds beteiligt sind, Kapitalisten, und sei es im<br />

Westentaschenformat, die von ihrer Zeitung nicht nur Informationen,<br />

sondern Service, Handlungsanleitungen, Entscheidungshilfe erwarten.<br />

Mit anderen Worten: Die Zeitung muss den Leser an die Hand nehmen,<br />

ohne dass er das Gefühl bekommt, gegängelt, manipuliert, in eine bestimmte<br />

Richtung geführt, schlimmstenfalls verführt zu werden.<br />

Man merkt diese Entwicklung den Zeitungen schon vom Erscheinungsbild<br />

her an: Die klassische Nachricht ist zwar nicht aus dem Blatt verschwunden,<br />

aber sie nimmt nicht mehr eine so dominierende Stellung ein. Wenn ich ein<br />

bisschen Werbung fürs Blatt, bei dem ich lange Zeit arbeitete, machen darf:<br />

Natürlich ist der nachrichtliche Aufmacher auf der Titelseite geblieben –<br />

wobei es allerdings zum Ehrgeiz der Kollegen der Nachrichtenredaktion<br />

oder am Newsdesk gehört, das Ereignis „weiterzudrehen“, über den<br />

Informationsstand hinaus, den die Leser aus den Fernseh- oder<br />

Radionachrichten vom Vorabend des Erscheinens kennen. Natürlich stehen<br />

auf der ersten Seite noch ein halbes Dutzend einspaltige Meldungen, dazu<br />

noch ein Vier- oder zwei Zweispalter. Aber es gibt Ausgabe, da findet sich<br />

die nächste reine Nachricht erst auf Seite 6. Dazwischen immer wieder mal<br />

eine ganzseitige Anzeige – das möchte schon sein -, vor allem aber:<br />

Analysen, Hintergrundberichte, Meinungsbeiträge, Reportagen – lauter<br />

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Stücke, die entweder auf aktuelle Ereignisse Bezug nehmen und dazu<br />

Hintergrundinformationen und Analysen liefern oder auf sich abzeichnende<br />

Entwicklungen, kommende Ereignisse vorbereiten. Und das bezieht sich<br />

nicht nur auf die erste Lage, die im wesentlichen der Politik vorbehalten ist.<br />

Wenn es vom Anlass, vom Ereignis her dafür steht, wird der Leser im<br />

Aufmacher auf der Titelseite darauf hingewiesen, wo er zu einem aktuellen<br />

Thema weitere Beiträge findet: im Feuilleton, im Wirtschaftsteil, im Sport,<br />

auf der Wissens-Seite.<br />

Kein Zweifel, einfach nur Agenturmeldungen ins Blatt zu heben und sie mit<br />

ein paar Bildern zu garnieren, das ist ein einfacherer Job als der, den<br />

Journalisten heute und künftig leisten müssen, wenn ihr Medium überleben<br />

soll. Zunächst einmal setzt das voraus, dass der Journalist, dass seine<br />

Zeitung vom Leser als Autorität akzeptiert, anerkannt und geschätzt wird.<br />

Dazu bedarf es gehöriger Sachkenntnis, Sicherheit im Urteil, Kontinuität in<br />

der Leistung und einiger Souveränität. Sowie der Leser da in einem Punkt<br />

ein Defizit feststellt, ist das Vertrauen angeschlagen und, wenn’s schlimm<br />

kommt, zerstört und dann nur mühsam wiederherzustellen.<br />

In der vorletzten Krise oder besser: Bewährungsprobe, im Konkurrenzkampf<br />

mit den elektronischen Medien, also dem Fernsehen vor allem, hat sich das<br />

Medium Tageszeitung ja besser behauptet als nicht nur die Pessimisten<br />

befürchteten. Jetzt aber muss es sich gegen neue Bedrohungen, gegen<br />

möglicherweise existenzgefährdende Entwicklungen wappnen. Das<br />

Anzeigengeschäft der Zeitungen könnte noch stärker in Mitleidenschaft<br />

gezogen werden, ja vielleicht ganz zusammenbrechen, wenn sich der Leser<br />

umorientiert, wenn er nicht mehr zur Zeitung greift, sondern sich vor seinen<br />

PC setzt, um sich, zum Beispiel, an Hand bestimmter Suchkriterien schnell<br />

über das aktuelle, genau seinen Interessen entsprechende<br />

Immobilienangebot zu informieren – oder über Schnäppchen-Angebote des<br />

lokalen Einzelhandels oder über den Theater- und Konzertspielplan von<br />

morgen. Diese Internet-Angebote sind für den Anzeigenkunden auf jeden<br />

Fall billiger als eine Annonce in der Tageszeitung.<br />

Die Tageszeitung – ein Service-Unternehmen. Dieses Selbstverständnis<br />

schließt anspruchsvollen Journalismus keineswegs aus, setzt ihn vielmehr<br />

voraus, nur eben auf eine Weise, die nicht hochmütig oder gleichgültig die<br />

Interessen der Leser vernachlässigt. Die Zeitung muss mit ihren Lesern im<br />

Gespräch bleiben, ihm das Gefühl vermitteln, ernstgenommen und mit ihren<br />

Ansprüchen und Bedürfnissen respektiert zu werden.<br />

Die große, die Zukunft der Zeitung sichernde Idee ist, soweit ich es sehe,<br />

noch nirgendwo geboren worden. Vor allem sollte sich die Branche von<br />

ihrer Erbsünde befreien: nämlich ihre Angebote zu verschenken. Solange<br />

ein paralleles und deckungsgleiches Angebot von bezahlten und kostenlosen<br />

Inhalten besteht, wird ein Großteil der Kunden immer die Gratislösung<br />

wählen. Wenn aber Information ein verschenkter Wegwerfartikel bleibt, ist<br />

eine Gesundung der Zeitungsindustrie nicht zu schaffen. Auch für die<br />

Branche gilt: Was nichts kostet, ist nichts wert, wird nicht geschätzt.<br />

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Einer der ersten, die das nicht nur begriffen haben, sondern auch<br />

entsprechend handeln, scheint der australische Verleger und Medienmagnat<br />

Rupert Murdoch zu sein. „Eine Industrie, die ihre Inhalte wegwirft,<br />

kannibalisiert sich selbst“, sagt er und will Inhalte von Zeitungen wie Times,<br />

Sun und Wall Street Journal nicht mehr gratis anbieten. Die Website des<br />

Wall Street Journal hat rund eine Million zahlende Kunden. Das hängt wohl<br />

vor allem damit zusammen, dass dieses Finanzblatt eine wirtschaftlich und<br />

beruflich motivierte Leserschaft hat, die mit ihrem Wissensvorsprung, den<br />

sie aus der Website des Journal zieht, bares Geld verdient.<br />

Murdoch: „Es kostet Unsummen, gute Zeitungen und gute Inhalte<br />

zusammenzustellen. Die Leser zahlen gerne dafür, wenn sie eine Zeitung<br />

kaufen, und sie sollten auch dafür zahlen, wenn sie Inhalte anderswo lesen.<br />

Keine Riesensummen. Sie werden überrascht sein, wie viel man für wie<br />

wenig Geld tun kann.“<br />

Ein anderer Ansatz ist Ihnen mittlerweile vielleicht vertraut geworden:<br />

Stichwort: SZ-Bibliothek, SZ-Filmreihe, Junge Bibliothek, der Klavier-<br />

Kaiser, die Krimi-Reihe. Es ist nicht so, dass es sich hier um etwas völlig<br />

Neues, Revolutionäres handeln würde; es ist ein Geschäftsmodell, für das es<br />

in Italien oder Brasilien Vorläufer gibt. Das ganz große Geld ist damit zwar<br />

nicht verdient, aber die Erlöse aus diesem Geschäft sind auch nicht zu<br />

verachten. Diese Neuen Produkte stärken die Marke, den Zeitungstitel –<br />

aber das funktioniert natürlich nur, wenn sie in ihrer Qualität der Qualität<br />

des Titels entsprechen.<br />

Auf jeden Fall: Die Zeitungsbranche hat sich noch nicht aufgegeben,<br />

sondern ist entschlossen, ihre Position in der Konkurrenz der Medien zu<br />

verteidigen. Der Medienkonsument weiß ja zu einem guten Teil, was ihn<br />

täglich erwartet, im Fernsehen, im Radio, in der Zeitung. Was den Charme,<br />

das Besondere an der Zeitung ausmacht, sollte die tägliche Überraschung<br />

sein. Wenn der Leser, der täglich seine Zeitung aus dem Briefkasten nimmt<br />

oder am Kiosk holt, beim Durchblättern nicht mindestens ein Aha-Erlebnis<br />

hat, nicht immer wieder etwas Unerwartetes entdeckt, wäre das kein gutes<br />

Zeichen für die Zukunft der Zeitung.<br />

Die aktuelle Krise hat also auch insofern ihr Gutes, als sie Phantasie und<br />

Kreativität aller Betroffenen mobilisiert. Aus eigener Kraft zu überleben, ist<br />

allemal mehr wert und besser, als fremde Hilfe in Anspruch zu nehmen und<br />

sich helfen zu lassen. Es ist ja auch schon der Ruf laut geworden, der Staat<br />

müsse die Branche alimentieren, denn schließlich sei die Presse die vierte<br />

Gewalt im Staat, auf deren Kontrollfunktion man nicht verzichten könne.<br />

Kein Geringerer als Jürgen Habermas hat schon vor einiger Zeit in der SZ<br />

Alarm geschlagen. Eine Demokratie, so begründete er seine Forderung nach<br />

öffentlicher Hilfe für die Zeitungen, eine Demokratie könne ohne<br />

Öffentlichkeit nicht existieren, ohne eine Öffentlichkeit, in der Journalisten<br />

eine gut informierte, kritische Kontrollinstanz sind und in der sie Zeit haben,<br />

nachzudenken, zu recherchieren, investigativ zu arbeiten.<br />

Die Frage ist, ob sich die Presse vom Staat helfen lassen kann und helfen<br />

lassen darf. Gegen eine Reduzierung etwas des Mehrwertsteuersatzes wäre<br />

13


wohl kaum etwas einzuwenden. Aber darf sich die Presse direkt vom Staat<br />

alimentieren oder subventionieren lassen? Die Presse soll die Mächtigen<br />

kontrollieren – so will es unsere Verfassung, die sie deshalb unter<br />

besonderen Schutz stellt. Doch wenn sie jetzt, um zu überleben, Geld vom<br />

Staat nähme, würde sie sich selbst ihrer Freiheit, ihrer Autonomie berauben.<br />

Denn es spräche gegen alle menschliche Erfahrung, dass der Staat nicht eine<br />

Gegenleistung in Form von Wohlverhalten mehr oder weniger direkt<br />

einfordern würde. (Es überrascht in diesem Zusammenhang, dass<br />

ausgerechnet in den USA die Forderungen nach staatlichen Subventionen<br />

lauter werden: „Journalismus und Subventionen für die Presse sind der<br />

Preis, den wir für unsere politische <strong>Kultur</strong> zahlen müssen“, hat ein<br />

amerikanischer Medienexperte vor kurzem behauptet, denn eine freie,<br />

unabhängige Presse sei so wichtig wie die nationale militärische<br />

Verteidigung, für die ja bekanntlich riesige Summen ausgegeben werden.)<br />

Was staatliche Subventionen angeht, so bietet zum Beispiel Frankreich ein<br />

eher abschreckendes Beispiel: Mehr als eine Milliarde Euro investiert der<br />

Staat dort jährlich in die Presse. Das Resultat: eine schmalbrüstige<br />

Tagespresse, deren nationale Aushängeschilder von Finanzmagnaten,<br />

Rüstungsindustrie und vom Staat leben.<br />

Zum Hoffnungsträger könnte vielleicht eher ein durch Mäzene oder<br />

Spenden finanzierter Journalismus werden. Pro Publica heißt das derzeit<br />

populärste Beispiel aus New York, das seit Juni 2008 investigativen<br />

Journalismus gratis liefert, also gratis Zeitungen anbietet. Finanziert wird<br />

dieses hochprofessionelle, aber kleine Unternehmen von Herbert und<br />

Morison Sandler aus San Francisco. Das Ehepaar machte sein Vermögen im<br />

Hypothekengeschäft und stieg rechtzeitig vor dem Crash aus. Über zehn<br />

Jahre will es Pro Publica mit 100 Millionen Dollar fördern.<br />

Ein weiteres Beispiel für Stiftungsjournalismus ist das Bay Area News<br />

Project, das der Journalist Jonathan Weber mit Unterstützung eines in San<br />

Francisco lebenden Investmentbankers betreibt.<br />

Ein anderes Modell, geboren in der gegenwärtigen Krise, möglich geworden<br />

durch den großen Konkurrenten, das Internet, ist die personalisierte Zeitung:<br />

Seit Mitte November 2009 gibt es „Niiu“, laut Medienmitteilung die „erste<br />

Tageszeitung in Deutschland, die sich Leser nach eigenen Wünschen<br />

zusammenstellen können“. Auf einer Website kann man sich bis Nachmittag<br />

um zwei Uhr aus rund einem Dutzend internationaler und nationaler<br />

Tageszeitungen sowie aus Internetangeboten eine Zeitung nach eigenem<br />

Gusto zusammenstellen. Am Morgen des nächsten Tages erhält man die<br />

selbst kreierte Best-of-Kompilation dann in gedruckter Form geliefert. Aber<br />

es ist schwer vorstellbar, dass viele Leute Geld ausgeben dafür, dass sie am<br />

Morgen die selbst kreierte Zeitung von gestern lesen dürfen. Und: „Niiu“<br />

böte keine Überraschungen, weil man ja alle Artikel selbst ausgewählt hat,<br />

und sie würde es einem nicht erlauben, herauszufinden, was die anderen<br />

Leute lesen und was im Büro oder in der Bar das Tagesgespräch bestimmt.<br />

Ein anderer Vorschlag kommt von dem Leipziger Journalistikprofessor<br />

Michael Haller: In zwei Jahrzehnten, so seine Prognose, wird es zum Alltag<br />

14


gehören, dass sich der Leser den Distributionsweg selbst wählen kann. Er<br />

will einen Teil der Zeitung, zum Beispiel das Feuilleton, an seinem PC<br />

ausdrucken, den aktuellen Teil jedoch am Bildschirm lesen. Das<br />

Zeitungshaus wird die verschiedenen Teile dann auf unterschiedliche Art<br />

verteilen. Von der „personalisierten Zeitung“, also „Niiu“ zum Beispiel, hält<br />

Haller dagegen nicht viel. Er argumentiert: „Ich abonniere eine Zeitung<br />

gerade deshalb, weil ich der Selektionsleistung der Redaktion vertraue. Bei<br />

der personalisierten Zeitung wählt dagegen der Nutzer aus verschiedenen<br />

Print- und elektronischen Angeboten die Nachrichten und Artikel gemäß<br />

eigenen Wünschen und Vorlieben aus. Das Element Überraschung bleibt da<br />

auf der Strecke.“<br />

Aber beides macht eben den Charme oder das Erfolgsgeheimnis einer guten<br />

Tageszeitung aus: dass sie zum einen außer dem Pflichtprogramm auch die<br />

Kür, also Überraschungen bietet und dass sie den Leser instand setzt, sich an<br />

der allgemeinen Diskussion zu beteiligen. Arthur Miller, der amerikanische<br />

Autor, unter anderem von „Tod eines Handlungsreisenden“ und „Blick von<br />

der Brücke“, brachte es einmal auf den Punkt, als er sagte: „Eine gute<br />

Zeitung ist eine Nation im Gespräch mit sich selbst.“<br />

Krisen haben auch ihr Gutes. Es wird sicher noch einige Zeit dauern, bis die<br />

Zeitungen sich, wie man so schön sagt, neu definiert haben, bis sie ihre<br />

Geschäftsmodelle neu austariert und herausgefunden haben, wie sie sich am<br />

besten gegenüber dem Internet positionieren. Und wie sie sich organisieren:<br />

wie zum Beispiel Print- und Online-Redaktionen arbeiten – gemeinsam oder<br />

getrennt; da gibt es gegenwärtig noch durchaus verschiedene Modelle.<br />

Was ist die Voraussetzung dafür, dass das Rieplsche Gesetz weiter gilt und<br />

die Zeitung überlebt?<br />

Die Zeitungen müssen ihre Rolle in der Konkurrenz der Medien und vor<br />

allem gegenüber dem Internet neu definieren. Die journalistische<br />

Orientierungsfunktion wird bleiben, sie wird eher noch wichtiger werden.<br />

Die Frage ist nur: Wer wird Träger dieser Funktion sein? Wer wird die<br />

Inhalte zum Publikum transportieren? Aus Zeitungshäusern werden mehr<br />

und mehr Medienzentren, die ihre Inhalte auf verschiedene Weise<br />

recherchieren, aufbereiten und ans Publikum weitergeben. Nicht mehr das<br />

Zeitungspapier macht den Verleger aus, sondern die Inhalte, die er auf<br />

verschiedene Weise – und eben nicht mehr nur über die Rotationsmaschine<br />

– an seine Kundschaft weitergibt.<br />

Janet Robinson, die Chefin der New York Times Company, hat im<br />

vergangenen Jahr einmal selbstkritisch gesagt, die Medienunternehmen<br />

seien viele Jahre zu bequem und zu langsam gewesen. „Wir versuchen alles,<br />

um unsere Agilität und Prozessgeschwindigkeit zu erhöhen. Wir haben zum<br />

Beispiel 2006 als erster Zeitungskonzern eine Research & Development-<br />

Abteilung gegründet, die permanent neue Konzepte erdenkt, testet und uns<br />

hilft, unsere Produkte an eine hochdynamische Umwelt anzupassen.“ Eines<br />

der schönen Dinge am Internet sei, dass es sich ständig verändert und neue<br />

Nachrichtenleistungen hervorbringt. Für ein Medienhaus bedeute das, dass<br />

man sich ständig weiterentwickeln muss.<br />

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Dann kann es hoffentlich so selbstbewusst auftreten, dass es nicht mehr wie<br />

bisher sein wertvollstes Gut im Internet verschenkt.<br />

Und die Verleger müssen von allzu hohen Rendite-Erwartungen Abschied<br />

nehmen.<br />

Entscheidend wird nicht so sehr sein, ob sie mit bedrucktem Papier oder mit<br />

Internet-Auftritten Geld verdienen, sondern dass sie sich bewusst sind, dass<br />

sie davon leben, das Publikum mit Informationen und Diskussionsstoff zu<br />

versorgen. Die neuen elektronischen Lesegeräte eröffnen den Verlagen die<br />

Chance, neue Angebote und sogar einen neuen Markt mitzugestalten – und<br />

damit auch den Durchbruch für Bezahlmodelle im Internet zu erzielen. Bei<br />

der Entwicklung von Inhalten für Tablet-Lesegeräte können die Verlage ihr<br />

kreatives Potential ausschöpfen. Sie müssen es auch, denn um Leser zum<br />

Kauf von E-Magazinen zu animieren, wird es nicht ausreichen, den ohnehin<br />

vorhandenen Print-Content mit ein paar Mausclicks in eine digitale Datei zu<br />

pressen. Die Verlage haben die Chance, eine völlig neue Mediengattung zu<br />

schaffen. E-Magazine sind ein Format für modernen, digitalen Journalismus.<br />

Eine Aufgabe für ambitionierte, kreative Blattmacher. Aber: Wenn die<br />

Verlage zu lange zögern, wird es jemand anderer übernehmen. Rupert<br />

Murdoch will offensichtlich auch auf diesem Gebiet eine Pionierrolle<br />

übernehmen. Für Anfang dieses Jahres hat er The Daily angekündigt, eine<br />

eigens für das i-Pad produzierte tägliche Publikation, die weder im Internet<br />

noch auf Zeitungspapier zu lesen sein wird und deren Abo wöchentlich nur<br />

99 Cent kosten soll – also ein eher symbolischer Preis, was wohl damit zu<br />

erklären ist, dass die Konkurrenz, die meisten amerikanischen Zeitungen,<br />

ihre Inhalte weiterhin online und gedruckt kostenlos anbieten.<br />

Warren Buffett, der amerikanische Großinvestor und Unternehmer, wollte<br />

einmal die Verleger richtig alt aussehen lassen, als er folgende rhetorische<br />

Frage stellte: Nehmen wir einmal an, Gutenberg hätte die <strong>Dr</strong>uckerpresse<br />

nicht erfunden und das Nachrichtengeschäft hätte sich gleich im Internet<br />

entwickelt. Wenn heute jemand auf die Idee käme und sagte: Ich habe da<br />

eine großartige Idee. Lasst uns alle Nachrichten auf Papier drucken. Wir<br />

werden Rotationsmaschinen über Nacht laufen lassen und die fertigen<br />

Zeitungen mit einer Lastwagenflotte im Land verteilen, damit die Leute am<br />

Morgen lesen, was am Tag zuvor passiert ist. Würden Sie in diese Idee<br />

investieren?<br />

Man kann die Sache aber auch ganz anders sehen als Warren Buffett,<br />

nämlich so wie ein amerikanischer Karikaturist: Stehen zwei junge Leute<br />

vor einem Zeitungskiosk. Schwenkt der eine triumphierend eine<br />

Tageszeitung und sagt: „Hey, schau mal! Echt cool! Da hat jemand alle<br />

News schon heruntergeladen und ausgedruckt. Ich wundere mich, warum<br />

niemand früher auf die Idee gekommen ist.“<br />

Man kann es auch weniger flapsig, sondern seriöser formulieren, wie zum<br />

Beispiel der Schweizer Germanist Peter von Matt im NZZ-Folio, dem<br />

Monatsmagazin der Neuen Zürcher Zeitung: „Ich werde als Leser nur<br />

gefordert, wenn mir etwas begegnet, was meine momentane Kompetenz<br />

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übersteigt. Das ist die Aufgabe der Zeitung… Man sagt ja immer, die<br />

Zeitung sei altmodisch, alles Elektronische sei modern. Aber rein technisch<br />

hat die Zeitung in vielem eine fortschrittliche Position, etwa im<br />

Zeitmanagement für den Rezipienten… Ich habe die Möglichkeit eines<br />

durchaus gestalterischen Umgangs mit der Information. Technisch gesehen<br />

ist die Erfindung des Papiers nicht überholt. Es ist immer noch eine der<br />

geheimnisvollsten und genialsten Erfindungen der Menschheit.“<br />

Oder, wie es ein anderer Schweizer Kollege formulierte: „Je schneller die<br />

Spirale der Innovation dreht und je schneller das Neue veraltet, desto<br />

aktueller wirkt das Tradierte.“<br />

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