Die Artisten unter der Reichstagskuppel: Ratlos. - Arbeiterstimme
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<strong>Arbeiterstimme</strong><br />
Sommer 2005<br />
ter, kamen Vorschläge zu weiteren<br />
Protestaktionen, mit <strong>der</strong> Belegschaft<br />
selbst sei allerdings nicht mehr zu<br />
rechnen, so Walter Stelzel. Nachdem<br />
es zweimal gelungen war die Belegschaft<br />
zu motivieren, beschränkte<br />
sich <strong>der</strong>en Anliegen nun darauf die<br />
Entlassung mit einer möglichst hohen<br />
Abfindung hinter sich zu bringen.<br />
Was aktuell hier in Göttingen<br />
bei einem traditionsreichen Betrieb<br />
für Verpackungen abläuft, geschieht<br />
auch an<strong>der</strong>swo. So o<strong>der</strong><br />
ähnlich. Ich habe nochmals den<br />
Wirtschaftsteil einer überregionalen<br />
Zeitung, <strong>der</strong> „Frankfurter<br />
Rundschau“ durchgeblättert. Nur<br />
die letzten zehn Tage. Das muss<br />
man sich notieren, das lässt sich<br />
nicht einfach so merken.<br />
Also FR vom 30. April: Linde-<br />
Kältetechnik, 2600 Beschäftigte in<br />
Deutschland. 1300 von denen werden<br />
nicht mehr gebraucht, allein<br />
880 (im Namen liegt Bedeutung) in<br />
Mainz-Kostheim. FR vom 03. Mai:<br />
Firma DBV-Winterthur, Versicherungswesen.<br />
Bei 3700 Beschäftigten<br />
in Deutschland, meint man bis 2007<br />
mit 550 weniger auszukommen.<br />
Lohn- und sonstige Kostenersparnis<br />
60 Millionen Euro.<br />
Ebenso am 03. Mai: <strong>Die</strong> Norddeutsche<br />
Landesbank <strong>unter</strong>hält<br />
jetzt 9050 Beschäftigungsverhältnisse.<br />
Nachdem es 2004 bereits 500<br />
weniger wurden. Angesagt ist weitere<br />
„Verschlankung“, erst mal bis<br />
2008. Bis dahin weitere 1200 Jobs<br />
weniger. Sogenannte Ersparnis<br />
dadurch in 2005: 60 Millionen Euro.<br />
Der Gewinn stieg an seit 2004 von<br />
14 auf etwa 50 Millionen Euro.<br />
FR vom 06. Mai: IBM Europa,<br />
<strong>unter</strong>hält 100 000 Stellen. 8000<br />
davon sollen wegfallen, in Deutschland<br />
davon etwa 2500. Drei Spalten<br />
weiter: Bosch-Siemens-Haushaltsgeräte.<br />
Seit 50 Jahren Waschmaschinenfertigung<br />
in Berlin-Spandau.<br />
Einstellen <strong>der</strong> Fertigung. 600 Arbeitsplätze<br />
weg. Wohin mit den<br />
Leuten?<br />
<strong>Die</strong>s zeigt einmal mehr wie ohnmächtig<br />
die Beschäftigten sich gegenüber<br />
den Konzernen fühlen. Laut Stelzel<br />
ginge es nun darum einen vernünftigen<br />
Sozialplan auszuarbeiten und<br />
durchzusetzen, viele Kollegen freuten<br />
sich schon darauf, ihre Abfindung<br />
in beispielsweise einen „A4“ umzusetzen.<br />
Hier zeigt sich, wie wenig die<br />
noch in Lohn und Brot stehenden<br />
über Arbeitslosigkeit, Arbeitslosengeld<br />
1 und 2 und die Folgen wissen.<br />
Trotz einiger Vorschläge und<br />
viele Solidaritätsbekundungen bleibt<br />
es dabei, kein Streik, kein Kampf, son<strong>der</strong>n<br />
Hinnehmen <strong>der</strong> Schließung und<br />
Hoffen auf einen sogenannten vernünftigen<br />
Sozialplan.<br />
Gö., am 11.05.05<br />
Rede eines verdi-Kollegen während <strong>der</strong> Demonstration <strong>der</strong><br />
Belegschaft am Göttinger historischen Rathaus:<br />
Und was geschieht nun mit<br />
den Beschäftigten aus dem Göttinger<br />
Betrieb für Verpackungsmaterial?<br />
Ehemals sogar an die tausend Beschäftigte,<br />
inzwischen auf 500 ausgeschlankt.<br />
Was bedeutet das nicht<br />
nur für den Einzelnen, ihre Familien,<br />
ihre Lebensführung? Vom unmittelbaren<br />
Nachfrageausfall in <strong>der</strong><br />
Region will ich gar nicht reden. <strong>Die</strong>se<br />
500 Beschäftigten erhalten aus ihrer<br />
monatlichen Wertschöpfung eine<br />
Lohnsumme zurück von mehr als<br />
einer Million Euro. Was bedeutet das<br />
allein für die Zuflüsse in die Sozialkassen,<br />
auf die wir alle angewiesen<br />
sind? Nur bei diesem Betrieb sind<br />
das an die 400 000 Euro monatlich<br />
für Rentenversicherung, AOK Nie<strong>der</strong>sachsen,Erwerbslosen<strong>unter</strong>stützung,<br />
die da überwiesen werden.<br />
Und mindestens 100 000 Euro Lohnsteuer,<br />
<strong>der</strong> Bundeskanzler und seine<br />
Minister brauchen ja auch Gehälter.<br />
Wo soll das hinführen, hier<br />
und woan<strong>der</strong>s? Immer mehr Beschäftigte,<br />
die ja arbeitsfähig sind<br />
und arbeiten wollen, werden hier<br />
schachmatt gesetzt. Damit aber<br />
auch eine noch funktionierende Gesellschaft.<br />
Doch wer genauer hinschaut<br />
– wie das nie<strong>der</strong>geht sieht<br />
man in den Seitenstraßen, an den<br />
blinden Glasfassaden leerstehen<strong>der</strong><br />
Geschäfte.<br />
Was hat das mit Demokratie<br />
zu tun, wenn von irgendwelchen<br />
Finanzfonds eingesetzte Vorstandsfürsten,<br />
unsere mo<strong>der</strong>nen absoluten<br />
Herrscher, ganze Belegschaften<br />
zu Tausenden, ja Hun<strong>der</strong>ttausenden<br />
sozial degradieren, nur um die<br />
Firmenbilanz zu pushen? Hauptsa-<br />
che, möglichst hohe Rendite für die<br />
Anteilseigner! <strong>Die</strong> dann noch mehr<br />
Firmen brauchen, um sie finanziell<br />
auszusaugen! Wenn wir hier im Arbeits-<br />
und Wirtschaftsleben keinen<br />
tatsächlichen Einfluss <strong>der</strong> Belegschaften<br />
auf die Geschäftspolitik<br />
bekommen, eine wirksame demokratische<br />
Kontrolle <strong>der</strong> Betriebe<br />
durch die Belegschaften, was blüht<br />
uns dann? Sollen diejenigen, die<br />
schließlich die Arbeit machen, dem<br />
tatenlos zusehen? Stellt euch nur<br />
vor, wie das hier in fünf Jahren aussieht,<br />
wenn das so weitergeht. Deindustrialisierung<br />
heißt Verelendung<br />
immer weiterer Teile <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
mit allen Folgen. Angst,<br />
Aggression. Je<strong>der</strong> irgendwie gegen<br />
jeden. Das neoliberale Paradies.<br />
Dabei gibt es genug zu tun. Aber<br />
dann muss das, was eine Gesellschaft<br />
zum guten Leben braucht,<br />
einmal in Rechnung gestellt werden<br />
zum gesamten Arbeitsaufwand,<br />
den das erfor<strong>der</strong>t. Das zu berechnen<br />
und die notwendige Arbeit<br />
bei hoher Produktivität entsprechend<br />
auf alle Beschäftigten nach<br />
Können und Wollen aufzuteilen,<br />
das soll nicht funktionieren? Man<br />
kann das auch Planwirtschaft nennen.<br />
Ein schlimmes Wort, ein Schreckenswort<br />
für Geldhaie und Absahner.<br />
Aber für die, die vom Einbringen<br />
ihrer Arbeitsleistung in die arbeitsteilige<br />
Gesellschaft leben und<br />
eine Zukunft haben wollen – nüchtern<br />
betrachtet – ein sehr mo<strong>der</strong>ner<br />
Gedanke.