Die Artisten unter der Reichstagskuppel: Ratlos. - Arbeiterstimme
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<strong>Arbeiterstimme</strong><br />
Sommer 2005<br />
te auf den Straßen von Warschau »Yankees<br />
go home!« rufen würden, hätte ich<br />
ihm das nicht geglaubt. Aber die Stimmung<br />
hat sich geän<strong>der</strong>t. Obwohl die<br />
Medien zur Gänze gegen die Antikriegsbewegung<br />
sind. <strong>Die</strong> stärkste Waffe aber,<br />
die das System gegen die Antikriegsbewegung<br />
zur Anwendung bringen kann,<br />
ist es, politisch unliebsame Leute aus<br />
ihren Beschäftigungsverhältnissen zu<br />
„Zeiten <strong>der</strong> Hoffnung – Zeiten des Zorns“<br />
Als ich im Sommer 2004 auf den<br />
Gedanken kam, zu Manfred Behrends<br />
bevorstehenden 75. Geburtstag eine kleine<br />
Festschrift herauszugeben, war mir<br />
noch nicht klar, welch umfangreiches<br />
Gesamtwerk ich da sichten müsste:<br />
Neun Leitzordner mit Zeitungs- und<br />
Zeitschriftenausschnitten, Dutzende<br />
Zeitschriften und Bücher. Und da die<br />
Geschichte und speziell die Zeitgeschichte<br />
für ihn nie nur Broterwerb war,<br />
son<strong>der</strong>n eine Leidenschaft ist, hat er im<br />
Laufe eines langen, politisch engagierten<br />
und sehr fleißigen Lebens über sehr<br />
viele sehr wesentliche Themen geschrieben.<br />
Ich habe aus <strong>der</strong> Fülle 78 Texte ausgesucht<br />
und das Buch „Zeiten <strong>der</strong> Hoffnung<br />
– Zeiten des Zorns“ genannt <strong>Die</strong><br />
ersten Beiträge entstanden 1948, als ein<br />
Kuchenbrötchen in <strong>der</strong> kurz zuvor in<br />
<strong>der</strong> sowjetischen Besatzungszone bzw.<br />
im Sowjetsektor Berlins gegründeten<br />
Handelsorganisation HO für stolze 5,-<br />
Mark erhältlich war. Der letzte, bereits<br />
in den Zeiten des Zorns geschriebene<br />
Text von 2004 behandelt die Montagsdemos<br />
gegen die Agenda 2010.<br />
In den ersten Beiträgen spiegeln<br />
sich die „Zeiten <strong>der</strong> Hoffnung“ wi<strong>der</strong>,<br />
als sich im Osten keine geringe Zahl junger<br />
Leute von <strong>der</strong> Idee einer antifaschistisch-demokratischen<br />
und später sozialistischen<br />
Gesellschaft angezogen fühlte<br />
und trotz <strong>der</strong> bestehenden Misere<br />
voller Zukunftszuversicht war. Sie hatten<br />
die militärische Nie<strong>der</strong>lage des NS-<br />
Regimes und mit ihr den Zusammenbruch<br />
des Dritten Reichs überlebt und<br />
waren entschlossen, niemals wie<strong>der</strong> ein<br />
System zu <strong>unter</strong>stützen, das Krieg und<br />
damit Ver<strong>der</strong>ben über das Volk bringen<br />
würde. Für diese jungen Menschen war<br />
das, was sich damals im Westen abspielte,<br />
eine Fortsetzung dessen, was zur Katastrophe<br />
geführt hatte. Das machte sie<br />
bereit, das so An<strong>der</strong>e, das im Osten vor<br />
sich ging, für das Zukunftsträchtige zu<br />
halten. Dass die Umwandlung <strong>der</strong> Einheitspartei<br />
SED in eine „Partei neuen<br />
werfen. Denn alle Jobs, vor allem die<br />
guten, werden politisch vergeben.<br />
F: Das Sozialforum in Porto Allegre<br />
hat uns wie<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Aussicht beglückt,<br />
daß eine an<strong>der</strong>e Welt möglich sei. Was halten<br />
Sie davon?<br />
Das ist viel zu vage. Wie soll die<br />
an<strong>der</strong>e Welt aussehen? Primär muß die<br />
Einsicht wachsen – und wir sind auf<br />
dem Weg dazu – daß Demokratie und<br />
Typus“ m<strong>unter</strong> voranschritt, in <strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
„demokratische Zentralismus“ das Mitbestimmungsrecht<br />
<strong>der</strong> Parteimitglie<strong>der</strong><br />
zur Farce machte, dass es Erscheinungen<br />
im Osten gab, die mit einer antifaschistisch-demokratischen,<br />
geschweige<br />
denn einer sozialistischen Gesellschaft<br />
unvereinbar waren, focht damals nur<br />
wenige an.<br />
Das Vertrauen vieler junger FDJler<br />
und SED-Genossen in die Politik, die<br />
in <strong>der</strong> sowjetischen Besatzungszone und<br />
in Ost-Berlin von <strong>der</strong> Partei verfolgt<br />
wurde, spiegelt sich auch in den ersten<br />
Beiträgen MBs wi<strong>der</strong>. Aber bereits in<br />
seinem Beitrag zur FDJ-Verfassung findet<br />
er es „nicht ganz in <strong>der</strong> Ordnung …,<br />
dass die Wahl <strong>der</strong> leitenden Organe ‚in<br />
offener Abstimmung’ erfolgen soll“ (28).<br />
An<strong>der</strong>erseits war da doch so vieles, mit<br />
dem er vollständig einverstanden war,<br />
sodass er sich auch damit abfand<br />
So charakteristisch Manfreds Werdegang<br />
für einen Teil <strong>der</strong> DDR-Intelligenz<br />
war – Delegierung zur Arbeiterund<br />
Bauernfakultät durch die FDJ – Studium<br />
– ungebrochene Erwerbstätigkeit<br />
im erlernten Beruf – , so charakteristisch<br />
war auch die Entwicklung <strong>der</strong> Konflikte,<br />
die bei ihm zwischen politischer Kritik<br />
und Loyalität entstanden. In dem<br />
Maße, in dem er und mit ihm viele an<strong>der</strong>e<br />
junge Menschen, viele von ihnen<br />
Studenten, das Aufklaffen <strong>der</strong> Schere<br />
zwischen Ideal und Wirklichkeit wahrnahmen,<br />
wurde ihre Loyalität dem Arbeiter-<br />
und Bauernstaat und <strong>der</strong> führenden<br />
Partei gegenüber auf eine harte Probe<br />
gestellt. Sie hatten ihnen Bildungsund<br />
Entwicklungschancen gewährt, die<br />
sie sonst nicht gehabt hätten, ihnen mit<br />
dem Zugang zu den marxistischen Klassikern<br />
ein theoretisches Gebäude erschlossen,<br />
das Antworten auf all ihre<br />
Fragen zu bieten schien. <strong>Die</strong> geistig Regsamen<br />
und politisch Interessierten<br />
merkten nur allzu bald, wie stark sich<br />
<strong>der</strong> Marxismus-Leninismus von dem<br />
<strong>unter</strong>schied, was die Grün<strong>der</strong>väter ge-<br />
Kapitalismus unvereinbar sind. Wenn<br />
die Welt verän<strong>der</strong>t, sie demokratisiert<br />
und sozialisiert werden soll, müssen die<br />
transnationalen Konzerne zerschlagen<br />
werden.<br />
Interview: Werner Pirker<br />
* Pjotr Ikonowicz, ein ehemaliger<br />
Solidarnosc-Aktivist, ist Sprecher <strong>der</strong><br />
polnischen Organisation „Neue Linke“<br />
schrieben hatten. So erhellt MBs Beitrag<br />
in <strong>der</strong> Studentenzeitschrift „Forum“ (36<br />
f.), dass sich das dogmatische Verständnis<br />
des Typischen in <strong>der</strong> Kunst, das<br />
lediglich das „Revolutionäre“ gelten lassen<br />
wollte, einfach nicht mit den Auffassungen<br />
von Friedrich Engels und<br />
an<strong>der</strong>en späteren marxistischen Literaturwissenschaftlern<br />
vereinbaren ließ.<br />
Nach dem XX. Parteitag <strong>der</strong> KPd-<br />
SU schrieb unser Jubilar in einem verständlicherweise<br />
ungezeichnetem Beitrag<br />
für die „Arbeiterpolitik“ Stuttgart<br />
vom 23. November 1956: „Unruhe<br />
herrscht an den Universitäten <strong>der</strong> DDR,<br />
Unruhe herrscht vor allen in den gesellschaftswissenschaftlichen<br />
Instituten und<br />
Fakultäten <strong>unter</strong> <strong>der</strong> studierenden Arbeiterjugend,<br />
die nicht den Marxismus,<br />
wohl aber den Stalinismus satt hat.“<br />
Nicht wenige <strong>der</strong> jungen linken<br />
DDR-Intellektuellen gingen damals in<br />
dem Westen. Wer das nicht als eine Alternative<br />
ansah, musste sich anpassen<br />
und tat es auch. Man redete sich ein,<br />
dass selbst <strong>der</strong> schlechteste Sozialismus<br />
besser sei, als <strong>der</strong> beste Kapitalismus –<br />
das aber sollte sich als ein Irrtum erweisen,<br />
denn <strong>der</strong> schlechte Sozialismus<br />
wurde zum Steigbügelhalter des<br />
schlechtest möglichen Kapitalismus.<br />
So begann auch MB seine Laufbahn<br />
als Diplomhistoriker 1957, als seine<br />
ersten antistalinistischen Reformhoffnungen<br />
im Keim erstickt worden<br />
waren. Aus seiner Zeit beim Berliner<br />
Rundfunk, als er auch noch das Journalistendiplom<br />
erwarb, habe ich seinen,<br />
die Entwicklung in Kuba mit Zuversicht<br />
begrüßenden Beitrag aus dem Jahre<br />
1961 mit dem Titel: „1961 ist nicht<br />
1898“ ausgewählt.<br />
In seiner nächsten Arbeitsstelle als<br />
Lektor im Geschichtslektorat des Verlags<br />
Rütten & Loening hatte MB wenig<br />
Zeit zu eigenem Publizieren, 1962 erschien<br />
aber doch, gewissermaßen als ein<br />
Abschiedsgeschenk an den Verlag, sein<br />
geistreicher Beitrag zum Frieden von