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Jahrbuch PDF - ETH Zurich - ETH Zürich

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Wir Künstler überschreiten in der Regel die Regeln, zumindest<br />

wird das von uns erwartet. Und dies würde man<br />

sich eigentlich von den Studierenden der Architektur<br />

und Kunst auch wünschen. Wir bieten sämtliche Möglichkeiten<br />

der Freiheit und sind gespannt, was da kommt.<br />

Das bricht sich allerdings daran, dass die gesellschaftliche<br />

Struktur, eine Studienordnung, ein Stundenplan oder<br />

ein solches <strong>Jahrbuch</strong> dies nicht vorsieht, man aber gleichzeitig<br />

von der Kunst erwartet, die Regeln zu überschreiten,<br />

während zugleich die Regeln, unter denen die Regeln<br />

überschritten werden sollen, geregelt werden. Was für ein<br />

Dilemma!<br />

Künstler werden als Spezialisten der Regelüberschreitung<br />

gehandelt. Das hat aber wiederum zur Folge:<br />

Regeln zu überschreiten ist damit zu einfach geworden<br />

und die Kunst oder das künstlerische Denken, das konzeptuelle<br />

Entwickeln einer Überlegung oder Fragestellung<br />

wird mit schnellen Einfällen ersetzt und führt<br />

zu Missverständnissen. Deshalb ist eine Erweiterung<br />

nötig: Künstler, aber auch die Architekten sollten heute<br />

nicht mehr nur diejenigen sein, die die Regeln überschreiten,<br />

sondern diejenigen, die auch noch das Regelüberschreiten<br />

überschreiten. Hört sich etwas vertrackt<br />

an. Aber was ich meine, ist Folgendes:<br />

Wenn alle von uns erwarten, dass wir etwas ganz Unvorhersehbares<br />

tun sollen, dann könnte das auf die<br />

Spitze getrieben auch bedeuten, etwas zu tun, was alle<br />

anderen vielleicht für ganz normal und unoriginell<br />

halten: zum Beispiel ein Haus zu bauen bzw. zu entwerfen,<br />

in dem man wirklich gerne wohnen bzw. arbeiten<br />

möchte, abseits von allem Ehrgeiz und allen Eitelkeiten.<br />

Wir Künstler können unsere (Narren-)Freiheit<br />

auch dazu benutzen, so unvoreingenommen wie möglich<br />

an eine Sache heranzugehen. Harry Walter würde es<br />

«radikales Dilettantentum» nennen, da wir immer wieder<br />

ganz von vorn anfangen. Insofern wäre der Künstler<br />

in einer Architekturkritik nicht der «Besserwisser», sondern<br />

der «Schlechterwisser»: Er spielt die ganz wichtige Rolle<br />

desjenigen, der sich das ganze aus einer verschobenen<br />

Kontextperspektive anschaut und sich zum Beispiel fragt:<br />

An was erinnert mich das? Geht man wirklich gern<br />

durch diese Türen? usw.<br />

Genau das tun gute Architekten natürlich auch, aber<br />

jeder Beruf hat halt seine Stilroutinen, auch die Kunst,<br />

und diese gilt es immer wieder aufzufinden. Daher sollten<br />

Künstler unbedingt mit Architekten zusammenarbeiten<br />

und umgekehrt auch Architekten wiederum mit Künstlern.<br />

Und hierbei geht es nicht um ein Kreativitätstraining, es<br />

geht nicht um ein Grundhandwerk, das, wenn man weiss<br />

wie, angewendet werden kann, nicht um «Grundlagen<br />

der Gestaltung» und schon gar nicht um ästhetische Pirouetten,<br />

sondern um das Denken, damit sich unterschiedliche<br />

Aufgabenstellungen und Lösungswege in ein produktives<br />

Wechselverhältnis bringen lassen.<br />

Leicht modifizierter Ausschnitt der Antrittsvorlesung<br />

am 23. Februar 2009<br />

25<br />

As a rule, we artists break the rules –at least, that is what<br />

is expected of us. And that is, too, what one hopes<br />

students of art and architecture will do. We offer an enormous<br />

scope for taking liberties and are curious about<br />

what will come out of it. The fact is that social structures,<br />

timetables, academic regulations or even a yearbook<br />

such as this one do not have this in mind, yet art is simultaneously<br />

expected to break the rules: even though, at<br />

the same time, rulings create the rules that describe how<br />

rules may be broken. What a dilemma!<br />

Artists are treated as specialists in breaking rules. In<br />

consequence, however, rule breaking has become too<br />

easy,and art or artistic thought, the conceptual evolution<br />

of a certain deliberation or a line of inquiry is now often<br />

replaced by fleeting ideas, which leads to misunderstandings.<br />

Therefore, an extension is necessary: Artists –<br />

and architects too –today ought to be not only the<br />

ones who break the rules but also those who transgress<br />

the rules of rule breaking. Sounds a little tricky. But<br />

what I mean is this: If everyone thinks that we ought to<br />

do something completely unpredictable, this could –<br />

taken to its logical conclusion –mean doing something<br />

that everyone else considers utterly normal and unoriginal:<br />

designing a house in which one really would like to<br />

live, for example, without giving a hoot for ambition<br />

and vanity.<br />

We artists can also use our privilege to approach a<br />

matter as open-mindedly as possible. Harry Walter would<br />

label this ‘radical dilettantism’,as we thus repeatedly<br />

start from scratch. Insofar the artist in, say, a critique of<br />

architecture would be not the ‘know-it-all’ but the ‘knowit-least’,<br />

and thereby play the vital role of one who looks<br />

at the whole thing from a skewed, ‘outsider’ perspective<br />

and asks such things as, ‘What does that remind me<br />

of?’ Good architects do precisely that too, of course,<br />

yet every profession –art, too –operates within its own<br />

stylized routines and must therefore redefine them<br />

perpetually. It is imperative, therefore, that artists work<br />

with architects and vice versa, architects with artists. And<br />

the issue here is not creativity training; it is not about<br />

basic technical skills that can be applied, once one knows<br />

how, not about the ‘the basics of design’ and certainly<br />

not about aesthetic pirouettes, but about the act of thinking,<br />

in order that various challenges and potential<br />

solutions may be developed in a state of productive<br />

reciprocity.<br />

Slightly modified excerpt from the inaugural speech in <strong>Zurich</strong><br />

on February 23th, 2009<br />

1.–9. Semester Departement Architektur<br />

Karin Sander

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