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Fallmaschen undheilige Muster - Neue Zürcher Zeitung

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3lciic3iird|cr ;!ciliiii,n WOCHENENDE 277-077<br />

Samstag/Sonntag, 26V27. November 1994 Nr. 277 77<br />

Die alten Ägypter und die irischen Fischer, Berufsstricker undfeine Damen haben die Nomadenkunst geübt, haben grobe Wolle oder kostbare Seide zu Maschen und <strong>Muster</strong>n geschlungen. Wird das beruhigende Tun wiederentdeckt?<br />

«Eine Kunst? Das Stricken?» Ihre Hände wippen rhythmisch<br />

weiter, sie blickt in die Runde, und die mit dem schwarzgefärbten<br />

Haar grinst ungläubig zu mir herüber, über die leeren Kaffeetassen<br />

und die mit Kuchenkrümeln bedeckten Teller hinweg. Die Hittnauer<br />

Strickerinnen sind sichtlich stolz auf die Berge von Socken,<br />

Pullovern und Kinderschlüttchen, die sie alljährlich herstellen und<br />

für einen guten Zweck verkaufen. Aber dass dies Weiberhandwerk,<br />

dieses Nebenbei und Zwischendurch eine Kunst sein soll, das<br />

bringt sie in Verlegenheit. Der Stricknachmittag, zu dem sie sich<br />

alle zwei Wochen treffen, ist doch ein Vergnügen, eine Art gesellschaftlicher<br />

Anlass, und das Stricken, auch zu Hause, eher ein Zeitvertreib.<br />

Stricken, was ist das denn schon? Nur eine von vielen Möglichkeiten,<br />

Fäden so zu verschlingen, zu knüpfen oder zu flechten, dass<br />

ein Gewebe entsteht. Im Laufe der Jahrtausende haben die Menschen<br />

überall auf der Welt immer neue Formen gefunden, mit ihren<br />

Händen solche Netze, Geflechte, Gewebe herzustellen. Unter all<br />

den handwerklichen Techniken, den einfachen sowohl als den<br />

Bemerkungen über eine minder geachtete Kunst<br />

<strong>Fallmaschen</strong> und heilige <strong>Muster</strong><br />

Von Hedi Wyss (Text) und Verena Eggmann (Bilder)<br />

hochkomplizierten, die in allen Kulturen ihre je eigene Ausprägung<br />

gefunden haben, nehmen Stricken und Häkeln eine Sonderstellung<br />

ein, weil dabei ein endloser Faden verarbeitet und mit sich selbst<br />

verschlungen wird. Gestricktes hat etwas Vorläufiges, Ephemeres.<br />

Eigentlich ist es nichts als Information, Organisation. Der Rohstoff,<br />

sozusagen, bleibt unverändert. Mit einem einzigen Zug<br />

kannst du ein gestricktes Stück wieder ungestrickt machen, kannst,<br />

indem du eine Masche löst und dann dran ziehst, das Ganze wieder<br />

in ein lineares Nichts verwandeln. Das ist das Faszinierende,<br />

aber auch das Schauderhafte daran.<br />

Eine Masche fällt von der Nadel, und wenn du das nicht bemerkst,<br />

sie nicht sofort rettest, frisst sich der Schaden weiter, jede<br />

Bewegung macht die Katastrophe grösser, und die Rekonstruktion,<br />

Faden für Faden, wird mühsamer. Übersehene <strong>Fallmaschen</strong> waren<br />

zu meiner Kinderzeit, als wir Mädchen unter der Fuchtel einer<br />

resoluten Lehrerin unsere endlosen Strumpfrohre strickten, der<br />

grosse Schreck, das Malheur, das man so schnell wie möglich wieder<br />

tilgen musste. Vielleicht war deshalb später die Fallmasche am<br />

<strong>Neue</strong> <strong>Zürcher</strong> <strong>Zeitung</strong> vom 26.11.1994<br />

Nylonstrumpf nicht nur ein optischer Makel auf dem glatten Bein,<br />

sondern auch etwas, wofür man sich schämte, als wäre die eigene<br />

Ungeschicklichkeit daran schuld.<br />

Und so erschrecke ich ein wenig, als hier jetzt plötzlich ein angefangener<br />

schwarzer Strumpf auf dem Tisch tanzt, zwei Stunden<br />

Arbeit fast sind's, aber der Fehler war nicht zu tilgen, da dreht sich<br />

das Rohr, als wolle es sich wehren, und löst sich rasend schnell auf,<br />

srrrr, und schon ist da nichts mehr als ein aufgerolltes Stück Wolle:<br />

Jetzt wird nochmals von vorne angefangen. Und das ist ja auch die<br />

andere Seite dieser Technik. Früher, als Material rar war, wurde<br />

Gestricktes aufgetrennt, die Wolle gewaschen und daraus <strong>Neue</strong>s<br />

geschaffen, je nach Bedarf. Da begegnete ich dem orangefarbenen<br />

Garn mit den dunkleren Noppen, aus dem mir als Kindergarten-<br />

kind ein Kleidchen gestrickt worden war, von neuem an einer kurzen<br />

Jacke, die ich als Teenager trug. Und Vaters grüner Pullover,<br />

so innig verbunden mit Gerüchen und Tönen aus frühkindlicher<br />

Zeit, fand sich später wieder, verwandelt und neu auferstanden als<br />

Strickstück für meinen Bruder. - Gewebtes hat da eine andere


78 Samstag/Sonntag, WOCHENENDE 26./27. November 1994 Nr. 277 277-078 3kuc<br />

,3iirdjcr Rettung<br />

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Qualität, hat etwas Endgültiges, Festeres. Ein<br />

Tuch, einmal fertig gewoben, zugeschnitten, verarbeitet,<br />

lässt sich zwar wieder zerschneiden, doch<br />

nicht mehr in sein e Elemente zerlegen. Und auch<br />

die Herstellung erfolgt auf einem viel professionelleren,<br />

gleichsam institutionalisierten Niveau.<br />

Selbst die einfachste Webeinrichtung fesselt an<br />

einen bestimmten Ort , und die komplizierteren<br />

Webstühle brauchen Platz und eine feste Installation.<br />

Was sind dagegen die paar Nadeln, die man<br />

in die Tasche steckt und die, wer geübt ist, fast<br />

ohn e hinzusehen und auch im Gehen bedienen<br />

kann?<br />

Nach Europa soll das Handstricken aus Arabien<br />

und Oberägypten gekommen sein. Komplizierte<br />

farbige Strickereien lassen sich im arabischen<br />

Raum schon im 7. Jahrhundert n. Chr.<br />

nachweisen. Ob die Socken mit separatem Futteral<br />

für den grossen Zeh, die man in koptischen<br />

Gräbern des 3. und 4. Jahrhunderts fand, in<br />

Handstricktechnik hergestellt wurden, kann allerdings<br />

nur noch vermutet werden, denn sie waren<br />

zu sehr verfilzt. Jedenfalls liesse sich jene Stricktechnik<br />

wohl kaum mit der vergleichen, die heute<br />

am Tisch der Hittnauer Frauen praktiziert wird.<br />

Zuerst hat man das Garn wohl einfach über<br />

die Finger gehoben, dann wurden feste Stöckchen<br />

montiert. In Nord- und Südamerika war in präkolumbischer<br />

Zeit neben vielen komplizierten<br />

anderen Schlingtechniken eine Überhebtechnik<br />

weit verbreitet, wie die Kinder sie hierzulande<br />

noch auf der «Strickliesel» praktizieren. Und die<br />

Indianer im Nordosten von Südamerika strickten<br />

schon mit Nadeln, lange bevor ihnen die Spanier<br />

das europäische Stricken beibrachten.<br />

Ein geradezu sakrales Garn sieht Heinz Edgar<br />

Kiewe sich von Strickerei zu Strickerei durch die<br />

Geschichte des Abendlandes winden. In seinem<br />

Buch «The Sacred History of Knitting» (Oxford,<br />

1967) lässt er schon die Israeliten beim Auszug<br />

aus Ägypten nadelklappernd daherwandern und<br />

vermutet in Josefs buntem Rock eine Strickarbeit.<br />

Dass die Hirtenvölker jener Landstriche aus der<br />

Wolle ihrer Tiere Gewebe fertigten und hiezu eine<br />

eher mobile Technik anwendeten, leuchtet durchaus<br />

ein. Nach Kiewe soll das im Alten Testament<br />

oft erwähnte «härene Hemd» oder Busskleid<br />

ebenfalls gestrickt gewesen sein, und die abstrakten<br />

(Strick?-)<strong>Muster</strong>, die sich an Kleidern antiker<br />

und koptischer Statuen finden, stehen seiner Meinung<br />

nach für monotheistische Religionskonzep-<br />

te. Die Strickkultur verbindet er sodann mit<br />

jenem ursprünglich koptischen, später normannisch-romanischen<br />

Zweig des Christentums, der<br />

sich durch seinen asketischen und eher volksnahen<br />

Charakter auszeichnete, im Gegensatz zur<br />

feudal und städtisch geprägten griechisch-römischen<br />

Variante , der er die Webtechnik zuordnet,<br />

die von Mäzenen geförderte Kunst, und den<br />

Prunk, wie er die Kirche später prägte. Die abstrakte<br />

<strong>Muster</strong>ung an Illuminationen, Reliefs und<br />

Strick soll mit dem Christentum zuerst nach<br />

Irland und von da mit den Missionaren wieder<br />

aufs europäische Festland gelangt sein, nicht zuletzt<br />

nach Tirol, das noch heute berühmt ist für<br />

seine reiche n und komplizierten Strickmuster.<br />

Uralt sind demnach auch die <strong>Muster</strong> auf den<br />

berühmten Pullovern, die seit je auf den irischen<br />

Aran- Islands gestrickt wurden. Bis in unser Jahrhundert<br />

hinein haben die Männer sie verfertigt<br />

und dazu starke Gänsekiele als Stricknadeln benutzt,<br />

während die Frauen die Wolle spannen.<br />

Die <strong>Muster</strong> sind immer von der Mitte aus symmetrisch,<br />

an Vorder- und Rückenteil verschieden,<br />

und tragen Namen wie «Tree of Life» oder<br />

«Trellis» (Dreieinigkeit). In den Zopfmustern<br />

sieht Kiewe die Symbolik für die Verbindung mit<br />

Gott, und die «Lifeline»-<strong>Muster</strong> und die « bidder<br />

of God» sollten bei Schiffbruch dem Seemann gar<br />

direkt in den Himmel helfen.<br />

Sakrale Bedeutung hatten auch die weissen<br />

Strümpfe und Zeremonialhandschuhe, die von<br />

kirchlichen Würdenträgern getragen wurden.<br />

Papst Innozenz IV. wurde 1254 mit gestrickten<br />

Handschuhen begraben, und das Büsserhemd, in<br />

dem Charles I. von England 1649 hingerichtet<br />

wurde, war aus königsblauer Seide in den alten,<br />

bedeutsamen <strong>Muster</strong>n gestrickt. Die ebenfalls<br />

meist aus Seide gestrickten Strümpfe, die später -<br />

unentbehrliche Accessoires der Männermode<br />

wurden, hatten schon eher weltlichen Charakter.<br />

Und natürlich waren Strümpfe ebenso wie Handschuhe<br />

auch begehrte Geschenke für Damen.<br />

So wurde das Stricken ein regelrechtes, von<br />

Männern ausgeübtes Handwerk, und die Stricker<br />

waren in Zünften oder Innungen organisiert.<br />

Sechs bis sieben Jahre Lehrzeit musste einer<br />

absolvieren, bis er nicht nur feinste Strümpfe,<br />

Handschuhe, Mützen und Hosen verfertigen<br />

konnte, sondern als Meisterstück auch gestrickte<br />

Bildteppiche von höchstem Raffinement. Das Ansehen<br />

eines Strickers richtete sich nach dem Material,<br />

das er verarbeitete. Wer die feinen Gewebe<br />

aus Seide herstellte, blickte auf die Wollstricker<br />

herab. - 1589 erfand ein englischer Pfarrer<br />

namens William Lee den Strumpfwirkerstuhl, der<br />

<strong>Neue</strong> <strong>Zürcher</strong> <strong>Zeitung</strong> vom 26.11.1994<br />

in ganz Europa Verbreitung fand . Dennoch<br />

wurde in bäuerlichen und bürgerlichen Kreisen<br />

mehr denn je von Hand gestrickt, vor allem für<br />

den Eigenbedarf, aber das Stricken in Heimarbeit<br />

war auch willkommener Zusatzverdienst. In<br />

Schweden gingen jeweils die Strickweiber im<br />

Frühling von Haus zu Haus, um zu verkaufen,<br />

was sie an den langen Winterabenden verfertigt<br />

hatten. Bis ins 18. Jahrhundert war es auch den<br />

Soldaten beim Wachestehen erlaubt, Strümpfe zu<br />

stricken. In England gab es Strickschulen für die<br />

Armen, damit sie mit der Arbeit zwischendurch<br />

sich selbst versorgen und etwas dazuverdienen<br />

konnten. Für die Insel Jersey war bis ins 1 7. Jahr-<br />

hundert Handgestricktes das wichtigste Exportgut,<br />

sogar Elisabeth I. trug gestrickte Jersey-<br />

Unterhosen. Und bis in unser Jahrhundert hinein<br />

strickten die Fischer dieser Insel ihren dunkelblauen<br />

Seemannspullover, der meist ein Leben<br />

lang hielt, eigenhändig.<br />

Gestrickt wurde, wo man ging und stand, vor<br />

allem beim Viehhüten. Die Männer strickten<br />

abends vor dem Haus, die Frauen fanden sich<br />

drinnen in der Stube zusammen. Und dies e<br />

Strickrunden haben bis in unsere Zeit überlebt.<br />

Während der beiden Weltkriege strickten hierzulande<br />

die Frauen gemeinsam für die Soldaten,<br />

und in den dreissiger Jahren verfertigten linksengagierte<br />

Frauen warme Kleidungsstücke für die<br />

Spanienkämpfer, die dann über geheime Kontakte<br />

an die republikanische Front geschafft wurden.<br />

- Vor allem auf dem Land sind die Stricknachmittage<br />

und Strickabende, wie ich sie vor<br />

dreissig Jahren als junge Lehrerin im Winter auf<br />

einem Bauerndorf mitmachte, immer noch üblich:<br />

Die Frauen in Hittnau zählen etliche Dörfer auf,<br />

die an der Tradition festhalten oder sie wieder<br />

neu eingeführt haben. Die Hittnauer Frauen<br />

selbst treffen sich seit zwanzig - eine sagt, seit ungefähr<br />

dreissig - Jahren. Etliche sind gestorben<br />

inzwischen, andere sind neu hinzugekommen.<br />

Zuerst waren sie ein Missionsverein, der für die<br />

Verbreitung des Christentums im dunklen Afrika<br />

strickte, jetzt kommt das Geld, das jährlich am<br />

Kyburger Basar eingenommen wird, verschiedensten<br />

Hilfsaktionen zugute. Da wird eine Waschmaschine<br />

für eine Bergbauernfamilie gekauft, der<br />

Umbau an einem Stall wird mitfinanziert, oder<br />

eine hübsche Summe geht an ein Eingliederungsprojekt<br />

für Strassenkinder in Bogota.<br />

Berta B., seit ihrer Geburt wohnhaft in Hittnau,<br />

dreiundneunzig Jahre alt, früher Bäuerin,<br />

jetzt Rentnerin, hat zeit ihre s Lebens gestrickt. Als<br />

Kind die Socken für Vater und Brüder und die<br />

langen schwarzen Stümpfe, die man damals trug,<br />

für sich und die Schwestern. Jetzt strickt sie weiter<br />

für sechzehn Enkel und zweiunddreissig Urenkel<br />

in aller Welt. Sie kann sozusagen «blind» strikken.<br />

Vor dem Fernseher zu Hause strickt sie die<br />

Socken fertig, die sie am Stricknachmittag in Angriff<br />

nimmt. Fast wie von selbst entstehen sie,<br />

währschaft, mit langen Stulpen und gut verstärkten<br />

Fersen und Spitzen. Berta B. hat die<br />

Strumpfregel nicht nur im Kopf, sondern im Blut,<br />

die Strumpfregel, wie sie sich in meinem alten<br />

Handarbeitsbuch findet. Da ist der Strumpf als<br />

Schema mit Einzelteilen abgebildet, und mich erinnerte<br />

das immer an die aufgeteilte Kuh, die in<br />

der Metzgerei an der Wand hing. Statt Filet und<br />

Keule gab's Ferse, Käppchen und Wade, die jedes<br />

Kind kennen musste, jedes weibliche Kind natürlich.<br />

Denn damals war Handstricken längst schon<br />

ausschliesslich Mädchensache.<br />

Stricken ist heute ja in dem Sinn eine typische<br />

Frauenarbeit, als sie nicht bezahlt wird - auch gar<br />

nicht bezahlt werden kann. Für ein paar Socken<br />

zum Beispiel braucht's rund zwölf bis vierzehn<br />

Stunden Handarbeit, je nachdem wie geübt die<br />

Strickerin ist. Dafür kann man am Basar achtzehn<br />

bis zweiundzwanzig Franken verlangen. Fürs<br />

Material gehen neun bis zehn Franken weg. «Das<br />

macht», schliesst die gutgekleidete Dame, die<br />

eben ein kompliziert gemustertes Kinderhöschen<br />

in Arbeit hat, «einen Franken Stundenlohn.» Die<br />

Frauen lachen. Über so etwas kann man nur<br />

lachen, denn das wäre ja gelacht, wenn man<br />

Frauenarbeit so bewerten wollte, schliesslich ist<br />

sie ohnehin unbezahlbar, im doppelten Sinn.<br />

Die schwarzhaarige Dame errechnet für sich<br />

einen Stundenlohn von etwa zwanzig Rappen.<br />

Denn sie strickt hochkompliziert gemusterte<br />

Kinderpullover und bestickt sie dann noch tagelang<br />

mit Pferden, Pinguinen, Häschen und Teddybären.<br />

In die Hittnauer Runde kommt sie, um<br />

neues Material zu hole n und Berge von fertigen<br />

Stücken abzuliefern. Zu Hause strickt sie sozusagen<br />

Tag und Nacht. Ihr Mann ist pensioniert, er<br />

macht den Haushalt und kocht das Essen, während<br />

sie strickt. Der Daumen an der rechten<br />

Hand ist geschwollen, vorher war's der linke<br />

Zeigefinger. «Ich sollte mal Pause machen»,<br />

meint sie, «aber wissen Sie, ich habe böse Knie,<br />

was soll ich sonst den ganzen Tag machen? Und<br />

ich kann's einfach nicht lassen.» - Stricken als<br />

Sucht. «Strickaholic, Workaholic? Ich kenne das<br />

auch, von Zeit zu Zeit wenigstens, nach Jahren


Sicut ;,<br />

«Kirschblüte» und «Erbsentopf». Auch «Erdbeermuster» und<br />

«Wendeltreppe», die «Tulpentoun>; und «Victorinens Zauberhand»<br />

schmückten die Arbeit. Und wer «Zwetschgenkern» und<br />

«Zauberglöcklein», «Kaperntoun>; und «Jungfernkranz», «Schuh<br />

des Cendrillon» und «Kaiserkronen» nachstricken konnte, schaffte<br />

bestimmt auch «Pyramiden», «Albrecht Dürer», «Schlacht bei<br />

Navarin» und «Flucht nach Kenilworth». Nanette Höflich muss<br />

nicht nur das Stricken, sondern auch das <strong>Muster</strong>notieren wie eine<br />

Manie betrieben haben. In der Vorrede zum dritten Band ihre s<br />

<strong>Muster</strong>buchs erwähnt sie, dass sie «fast blind» dabei geworden sei<br />

und doch nicht aufgegeben habe.<br />

Diese hochgezüchtete Fertigkeit, das Kunststricken, ausgeübt an<br />

wohl unzähligen Nachmittagen einsamer Damen, ist fast vergessen.<br />

Das Handstricken hat sein Prestige verloren. Raffinierte<br />

Maschinen fabrizieren Feinstes und Gröbstes und schaffen es auch,<br />

Handarbeit täuschend nachzuahmen<br />

. Und was wirklich noch handgestrickt<br />

in den Verkauf kommt, wird entweder in Gratisarbeit von<br />

Frauen wie den Hittnauer Strickerinnen für Basare oder zu lächerlichen<br />

Löhnen in der Dritten Welt hergestellt.<br />

Dass man heute fast glaubt, Männer seien körperlich zum Strikken<br />

kaum imstande und der weisse, blutleer abgeschnürte Zeigefinger<br />

eines Knaben, der es dennoch versucht, sei eine natürliche<br />

Folge unnatürlichen Tuns, ist sicher auch dadurch bedingt, dass<br />

Handstricken eine so brotlose Kunst ist. Es ist wie mit den andern<br />

einschlägigen Künsten, dem Kochen, Sticken oder Schneidern: Im<br />

Haus von Hand verrichtet, unbezahlt und unbezahlbar, sind sie<br />

vorwiegend Frauenarbeit. Werden sie gut entlöhnt oder industriell<br />

betrieben, sind sie Männersache. Der Starkoch, der Manager einer<br />

Strumpffabrik, der Modeschöpfer - das sind richtige Männer, während<br />

die neuen Väter, die demonstrativ ihr Baby am Bauch tragen,<br />

doch nicht so weit gehen, auch noch am Sandkasten die Stricknadeln<br />

klappern zu lassen, trotz Koedukation im Handarbeitsunterricht.<br />

«Ich geh jetzt wieder ins Irrenhaus zum Stricken», verkündet<br />

der junge Mann mit einer unheimlichen Fröhlichkeit dem ganzen<br />

Bus, der ihn «heim» ins Psychiatriespital führt. Stricken ist wie all<br />

die andern langsamen, ineffizienten und in dem Sinne veralteten<br />

Künste wenigstens als Arbeitstherapie geschätzt und erprobt. Und<br />

so, als Therapie, als Beschäftigung nicht nur für klinisch Kranke,<br />

sondern auch für jene, die von den Mechanismen der freie n Marktwirtschaft<br />

an den Rand katapultiert werden, könnte es durchaus<br />

auch eine neue Bedeutung erhalten. Jetzt, da nicht die Arbeit die<br />

Menschen sucht, sondern man Arbeit für die Arbeitslosen wieder<br />

schaffen muss, um ihrem Tag einen Sinn, einen Inhalt zu geben.<br />

Stricken soll ja, wie alle Handarbeit, auch den Intellekt aktivieren.<br />

Aufnahmevermögen und Kombinationsfähigkeit sollen besser sein,<br />

wenn beim Zuhören die Hände beschäftigt sind. Das ist die durch<br />

Erfahrung bestätigte These einer Therapeutin, die mit geistig be-<br />

' hinderten und wahraehmungsgestörten Kindern arbeitet. Da sollten<br />

sich Professoren an Universitäten eigentlich nicht darüber aufregen,<br />

wenn ihre Studentinnen in der Vorlesung stricken. Wer<br />

weiss, ob nicht im Laufe der angestrebten Emanzipation der Männer<br />

auch Studenten in Zukunft auf den Bänken mit Nadeln klappern,<br />

um ihre Effizienz zu verbessern.<br />

Und schliesslich genügt wohl in Zukunft ein Universitätsdiplom<br />

nicht mehr, um für den Existenzkampf gewappnet zu sein. Denn<br />

die einleuchtendsten Modelle zur sinnvollen Um- und Neuverteilung<br />

der knapper werdenden bezahlten Arbeit lassen bewusst<br />

Raum für «Eigenarbeit», unbezahlt und unbezahlbar, kreativ und<br />

nützlich, wie die nirgends zu verbuchende Arbeit im Haus, die veralteten<br />

langsamen Künste, wie das Stricken eine ist<br />

Nicht bloss Strümpfe, auch die Zeremonialhandschuhe der Päpste und die Unterhosen von Königin Elisabeth I. waren aus feinstem Garn handgestrickt<br />

. . . doch seit es die Strickmaschine gibt, ist das frühere Mdnnerhandwerk zum Frauenhobby, zur schlecht bezahlten Heimarbeit geworden.<br />

<strong>Neue</strong> <strong>Zürcher</strong> <strong>Zeitung</strong> vom 26.11.1994

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