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Der Körper in seiner Umwelt - Myoreflextherapie

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<strong>Der</strong> <strong>Körper</strong>-<strong>in</strong>-se<strong>in</strong>er-<strong>Umwelt</strong> – e<strong>in</strong>e dialektische<br />

E<strong>in</strong>heit<br />

Kurt Mosetter / Re<strong>in</strong>er Mosetter<br />

erschienen <strong>in</strong>:<br />

Zeitschrift für Psychotraumatologie und Psychologische Mediz<strong>in</strong>,<br />

ZPPM (3/2006) „Zum Gedächtnis an Thure von Uexküll“<br />

Schlüsselwörter<br />

Biosemiotik, Schmerz, subjektive Anatomie, <strong>Körper</strong>modell,<br />

<strong>Myoreflextherapie</strong>, Trauma Komplementär Therapie,<br />

In diesem Beitrag zeigen wir die Aktualität und praktische Relevanz<br />

von Thure von Uexkülls Konzept der „Biosemiotik“ auf. Davon<br />

ausgehend wird e<strong>in</strong> Therapiekonzept dargestellt, das Schmerzen im<br />

S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Selbstentfremdung des <strong>Körper</strong>s versteht.<br />

<strong>Der</strong> „<strong>Körper</strong>-<strong>in</strong>-se<strong>in</strong>er-<strong>Umwelt</strong>“ ist e<strong>in</strong> ökologisch-dialektischer Begriff.<br />

Er stellt die Vermittlung dar zwischen der Objektivität des <strong>Körper</strong>s und<br />

der Subjektivität des Eigenleibes. Mit der Begrifflichkeit der Semiotik<br />

lässt sich se<strong>in</strong>e wechselseitige Vermittlung darstellen. So können<br />

pathogenetische und traumatische Entwicklungen im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er<br />

Abspaltung dieser beiden Momente der <strong>Körper</strong>lichkeit verstanden<br />

werden. Dem entspricht e<strong>in</strong>e körperliche Selbst-Entzweiung und<br />

Selbst-Entfremdung.<br />

Sehr viele Schmerzsymptome br<strong>in</strong>gen Bereiche des <strong>Körper</strong>s als nicht<strong>in</strong>tegrierte<br />

Differenz und Fremdheit zur Erfahrung. Fehlregulationsschmerzen<br />

br<strong>in</strong>gen Bereiche des Eigenkörpers als Fremdkörper zur<br />

Empf<strong>in</strong>dung.<br />

Die Beachtung alle<strong>in</strong> der objektiven Anatomie muss häufig<br />

fehlschlagen. Die lebendige Anatomie der Muskulatur <strong>in</strong> Funktion<br />

verlangt vielmehr nach e<strong>in</strong>er dialektisch-semiotischen Behandlung. Im<br />

Rahmen der dialektisch neuromuskulären Traumatherapie /<br />

<strong>Myoreflextherapie</strong> kann der traumatische Prozess von e<strong>in</strong>er passiven<br />

Wiederholung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e aktive, selbst-reflexive Wiederholung und damit<br />

Selbstheilung übergehen.<br />

Keywords<br />

biosemiotics, pa<strong>in</strong>, subjective anatomy, body image, myoreflextherapy,<br />

dialectical neuromuscular trauma therapy,<br />

1


In this article we will show that Thure von Uexkülls conception of<br />

biosemiotics is still up to date and highly relevant <strong>in</strong> practice. A<br />

therapeutical concept will be described, understand<strong>in</strong>g pa<strong>in</strong> <strong>in</strong> terms of<br />

a self-alientation of the human body.<br />

The “body-<strong>in</strong>-its-environment” (“<strong>Körper</strong>-<strong>in</strong>-se<strong>in</strong>er-<strong>Umwelt</strong>”) is an<br />

environmental-dialectical idea. It demonstrates the mediation between<br />

the objectiveness of the corpus and the subjectiveness of the own<br />

body. In terms of biosemiotics it is possible to demonstrate the<br />

reciprocal mediation of the body-<strong>in</strong>-its-environment. In such a way<br />

pathological and traumatic progressions can be described as a<br />

separation of these two aspects of physicalness. This means a k<strong>in</strong>d of<br />

self-diremption and self-alienation.<br />

Many pa<strong>in</strong>-related diseases <strong>in</strong>dicate regions of the body as<br />

un<strong>in</strong>tegrated. There is a split-up between a person’s body and his<br />

corpus. Pa<strong>in</strong> is understood as falseregulation. It <strong>in</strong>dicates an alienation.<br />

To focus only on the objective anatomy often is bound to miss the<br />

problem. The vital anatomy of the muscles <strong>in</strong> function rather demands<br />

a therapeutical concept, that <strong>in</strong>tegrates the concept of dialectics and<br />

semiotics. With<strong>in</strong> the scope of the dialectical neuromuscular trauma<br />

therapy / myoreflextherapy, the traumatic process can change from his<br />

passive reenactment to an active, self-reflexive recapitulation and<br />

thereby to a self-heal<strong>in</strong>g process.<br />

Anlässlich des Todes von Thure von Uexküll vermerken Bastian &<br />

Hansch (2005) <strong>in</strong> ihrem Artikel zur „Krise der Psychosomatik“, dass die<br />

„Grundlagenkonzepte – Biomechanik, Kybernetik, Semiotik – aus<br />

heutiger Sicht sozusagen noch mit e<strong>in</strong>em Be<strong>in</strong> auf dem Boden des<br />

mechanistischen Denkens mit se<strong>in</strong>en grob gewirkten<br />

Masch<strong>in</strong>enmodellen“ stünden. „Das Systemdenken des 21.<br />

Jahrhunderts“ sei demgegenüber „deutlich ‚organismischer’“ angelegt.<br />

(ebd.)<br />

Im folgenden soll gezeigt werden, dass von Uexkülls Konzept der<br />

Biosemiotik durchaus wertvolle Gesichtspunkte bereithält, die für e<strong>in</strong><br />

Verstehen von lebendigen Prozessen sehr wertvoll se<strong>in</strong> können. Am<br />

Beispiel der <strong>Myoreflextherapie</strong> bzw. der Traumakomplementär<br />

Therapie soll zudem verdeutlicht werden, wie von Uexkülls Konzept<br />

auch praktische Relevanz hat.<br />

<strong>Der</strong> <strong>Körper</strong> – e<strong>in</strong> Spannungsfeld<br />

Zwar stützten sich von Uexkülls Modelle „noch mit e<strong>in</strong>em Be<strong>in</strong>“ auf<br />

Modelle, die zunächst wie e<strong>in</strong>fache technische Schaltkreise anmuten.<br />

Bereits das Kreis-Modell verzichtet jedoch auf die Logik des<br />

„mechanistischen Denkens“. Es verhält sich wie <strong>in</strong> von Weizsäckers<br />

Beschreibung des Tast-Kreises, bei dem man „nicht feststellen kann,<br />

wo der Anfang und wo das Ende ist.“ (v. Weizsäcker 1997a)<br />

2


„Merken“ und „Wirken“ im Funktionskreis stellen ke<strong>in</strong>e getrennten<br />

Funktionen dar. „Merkmal“ und „Wirkmal“ lassen sich vielmehr erst<br />

aufgrund der Beziehungen def<strong>in</strong>ieren, die zwischen ihnen bestehen.“<br />

(Uexküll u. Wesiack 1998, S. 65)<br />

Von Uexkülls Beschreibungen fordern zu e<strong>in</strong>er Lesart auf, die diese als<br />

Chiffren für die Phänomenologie e<strong>in</strong>es Subjekt–Objekt–umgreifenden<br />

Gesamtvorgangs versteht. Sie s<strong>in</strong>d nur möglich, wenn Teilstücke aus<br />

diesem Gesamtvorgang methodisch heraus-gehoben werden. Dabei<br />

muss der Gesamtvorgang – der fortwährende natürliche Lebensvollzug<br />

und die wechselseitige Verwobenheit zwischen Organismus und<br />

<strong>Umwelt</strong> – gleichsam angehalten werden.<br />

Zwar stellt die Physiologie die organischen Bed<strong>in</strong>gungen dieser<br />

Verwobenheit und Koexistenz dar. Dem lebendigen Vollzug dieser<br />

Beziehung jedoch – der Beziehung als Phänomen – können<br />

physiologische Beschreibungen alle<strong>in</strong> nicht gerecht werden.<br />

Demgemäß beschreibt von Uexküll die Beziehung zwischen<br />

Organismus und <strong>Umwelt</strong> als e<strong>in</strong>e Form der Kommunikation und des<br />

Austauschs von Zeichen-Botschaften. Was e<strong>in</strong>en solchen semiotischen<br />

Vorgang von e<strong>in</strong>em mechanischen hauptsächlich abhebt, ist der<br />

Umstand, dass es sich hier nicht um zweigliedrige, sondern um<br />

dreigliedrige Beziehungen handelt. Dabei ist vor allem "die Tatsache<br />

von Wichtigkeit, dass die Semiotik die Bedeutung und mit ihr das<br />

Subjekt wieder <strong>in</strong> die wissenschaftliche Betrachtung der Phänomene<br />

e<strong>in</strong>führt." (Uexküll u. Wesiack 1996, S. 23) Was ist dabei mit dem<br />

„Subjekt“ geme<strong>in</strong>t?<br />

<strong>Der</strong> Interpret entspricht dem <strong>in</strong>terpretierenden Subjekt, welches [...]über<br />

verschiedene Interpretanten verfügt. Interpretanten entsprechen<br />

[...]Programmen zur Interpretation der Umgebung. (Uexküll u. Wesiack,<br />

1998, S. 121)<br />

Bedeutet e<strong>in</strong>e vollständige semiotische Fassung des Subjekts nicht<br />

wiederum e<strong>in</strong>e „kybernetische Verd<strong>in</strong>glichung“ (Fischer 2005, S. 159)<br />

und damit se<strong>in</strong>e Nivellierung? – Und wird nicht umgekehrt das Subjekt<br />

<strong>in</strong>tellektualistisch als e<strong>in</strong> Wesen bestimmt, das allem distanzierterkennend<br />

gegenübertritt und die Zeichen, welche ihm die S<strong>in</strong>nlichkeit<br />

bereitstellt, e<strong>in</strong>er Interpretation unterzieht.?<br />

Von Uexküll bewegt sich <strong>in</strong> diesem Spannungsfeld. E<strong>in</strong>en Modell-Punkt<br />

<strong>in</strong> diesem Feld herauszuheben muss zu falschen konzeptionellen<br />

Spaltungen und zu e<strong>in</strong>em Verkennen der eigentlichen Modelle führen.<br />

Das Spannungsfeld selbst jedoch kann uns als Modell dienen. Wir<br />

wollen dies an von Uexkülls Begriff des „<strong>Körper</strong>s-<strong>in</strong>-se<strong>in</strong>er-<strong>Umwelt</strong>“.<br />

Von Uexküll wendet sich gegen „die gefährliche Idee der Trennung von<br />

Organismus und <strong>Umwelt</strong>“ (Uexküll u.a. 2002, S. 16) und argumentiert<br />

für e<strong>in</strong>en resituierten Organismusbegriff, für e<strong>in</strong>en „<strong>Körper</strong>-<strong>in</strong>-se<strong>in</strong>er-<br />

<strong>Umwelt</strong>“ (ebd.). Dieser <strong>Körper</strong> ist sensorisch und motorisch mit se<strong>in</strong>er<br />

<strong>Umwelt</strong> verwoben und <strong>in</strong> diese e<strong>in</strong>gebettet. Er bef<strong>in</strong>det sich nicht<br />

gegenüber se<strong>in</strong>er <strong>Umwelt</strong>, sondern er existiert mit dieser. Deutlich wird<br />

die Koexistenz von Selbst und <strong>Umwelt</strong> beim Vorgang des Tastens. Das<br />

Tasten unterscheidet und verb<strong>in</strong>det diese zugleich.<br />

3


Dabei bestimmt die Richtung der Aufmerksamkeit, ob der vorliegende<br />

Gegenstand oder aber die eigene Hand empfunden und<br />

wahrgenommen werden. <strong>Der</strong> <strong>Körper</strong>-<strong>in</strong>-se<strong>in</strong>er-<strong>Umwelt</strong> ist reflexiv<br />

konstruiert. Die "Rückmeldung auf die motorischen Impulse unseres<br />

<strong>Körper</strong>s ist Voraussetzung dafür, dass der <strong>Körper</strong> sich als 'selbst'<br />

erlebt" (ebd., S. 80), dass er „sich <strong>in</strong> den sensorischen Antworten auf<br />

motorische Impulse 'zu eigen nimmt'". (Uexküll u.a. 1997) „Wir können<br />

[...] sagen, dass lebende Systeme ihr 'Selbst' <strong>in</strong> 'Selbstgesprächen'<br />

erzeugen“. (Uexküll u. Wesiack 1996, S. 26)<br />

Auch das <strong>Körper</strong>erleben selbst durchzieht e<strong>in</strong>e Unterscheidung, die<br />

analog der Beziehung zwischen <strong>Umwelt</strong> und Selbst, zwischen<br />

Fremdem und Eigenen verläuft. <strong>Der</strong> <strong>Körper</strong>-<strong>in</strong>-se<strong>in</strong>er-<strong>Umwelt</strong> bewegt<br />

sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Vollzug der Selbst-Abgrenzung und Selbstaneignung<br />

selbst zwischen den Polen der Gegenständlichkeit (der Objektivität)<br />

und der Nicht-Gegenständlichkeit (der Subjektivität). Er ist beim Tasten<br />

zugleich wahrnehmbares Äußeres und wahrnehmendes Inneres. Als<br />

<strong>Körper</strong>-D<strong>in</strong>g ist er mit jedem anderen <strong>Körper</strong> vergleichbar und er ist<br />

zugleich der eigene <strong>Körper</strong>.<br />

Das konzeptionelle Spannungsfeld, das wir bei von Uexküll entfaltet<br />

f<strong>in</strong>den, spiegelt diese Grundpolarität wider. Es unterscheidet „zwei<br />

verschiedene Modelle für den menschlichen <strong>Körper</strong>“ (Uexküll u.a.<br />

1997, S. 13):<br />

„Das erste ist das ‚offizielle <strong>Körper</strong>modell’ der Naturwissenschaft [...] Die<br />

Vorstellung, die wir uns von e<strong>in</strong>em ‚eigenen <strong>Körper</strong>’ machen, bildet das<br />

‚<strong>in</strong>offizielle <strong>Körper</strong>modell’.“ (ebd., S. 13f)<br />

Mit der „subjektiven Anatomie“ f<strong>in</strong>den wir die Grundpolarität der<br />

<strong>Körper</strong>lichkeit auf e<strong>in</strong>en Begriff gebracht. <strong>Der</strong> <strong>Körper</strong>-<strong>in</strong>-se<strong>in</strong>er-<strong>Umwelt</strong><br />

bildet den Schnittpunkt der objektiven und der subjektiven Sphäre. Von<br />

Uexküll unterscheidet diese Sphären, aber der trennt sie nicht. Im<br />

Gesamtkonzept geht es nicht um e<strong>in</strong> „entweder - oder“, sondern um<br />

e<strong>in</strong>en übergeordneten Bezugsrahmen e<strong>in</strong>es „Sowohl-als-auch“ (ebd.,<br />

S. 16). So kann die Dialektik der <strong>Körper</strong>lichkeit – se<strong>in</strong>e „Ambivalenz“<br />

(Merleau-Ponty 1996) – zum eigentlichen Thema werden.<br />

Entsprechend siedelt von Uexküll auch die Frage der Beziehung<br />

zwischen Organismus und <strong>Umwelt</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em übergeordneten,<br />

dialektischen Bezugsrahmen an: „<strong>Der</strong> Funktionskreis beschreibt also<br />

die Synthesis aus der <strong>in</strong>neren Aktivität des Organismus und der<br />

äußeren Aktivität der Umgebung“ (Uexküll u. Wesiack 1998, S. 66).<br />

<strong>Der</strong> Begriff der Synthese ist dabei nicht im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>fachen und<br />

restlosen Vere<strong>in</strong>igung zu verstehen, sondern als e<strong>in</strong>e ständig<br />

vollzogene dialektische Leistung.<br />

Würde sich die tastende Hand beim Tasten propriozeptiv vollständig<br />

und grenzenlos <strong>in</strong> bzw. mit ihrem Gegenstand auflösen, gäbe<br />

umgekehrt der Gegenstand ke<strong>in</strong>e eigene Kontur und Gegen-Fläche ab,<br />

so könnte weder der eigene <strong>Körper</strong> (die eigene Hand) noch der fremde<br />

<strong>Körper</strong> (der Gegenstand) erfahren und bestimmt werden (vgl. Fuchs<br />

2000).<br />

4


Das Phänomen des Tastens zeigt: Bei geschlossenen Augen gestaltet<br />

sich die Wahrnehmung der eigenen Hand konturlos und amorph. Sie<br />

bedarf e<strong>in</strong>es Widerstandes (e<strong>in</strong>er tastenden zweiten Hand oder e<strong>in</strong>er<br />

Unterlage), um selbst Gegenständlichkeit und damit Kontur und Be-<br />

Grenzung zu erlangen.<br />

<strong>Der</strong> Eigen-<strong>Körper</strong> (<strong>in</strong>offizielles <strong>Körper</strong>modell) bedarf der Erfahrung<br />

se<strong>in</strong>er selbst als Gegenstand (offizielles <strong>Körper</strong>modell), will er sich<br />

nicht verlieren und gleichsam ozeanisch auflösen. <strong>Der</strong> fremde,<br />

objektive <strong>Körper</strong> ist im eigenen, subjektiven <strong>Körper</strong> stets mit<br />

gegenwärtig. Dieser braucht jenen; jener schw<strong>in</strong>gt <strong>in</strong> diesem mit.<br />

Im <strong>Körper</strong>-<strong>in</strong>-se<strong>in</strong>er-<strong>Umwelt</strong> f<strong>in</strong>den sich Objektivität und Subjektivität<br />

wechselseitig vermittelt. Sie bilden ke<strong>in</strong> logisches (sich<br />

ausschließendes), sondern e<strong>in</strong> dialektisches (wechselseitig<br />

vermitteltes) Gegensatzpaar.<br />

Mit der Begrifflichkeit der Semiotik lässt sich diese wechselseitige<br />

Vermittlung <strong>in</strong> ihre verschiedenen Aspekte aufgliedern. So wird e<strong>in</strong>e<br />

Lesart möglich, bei der pathogenetische und traumatische<br />

Entwicklungen im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Abspaltung der beiden <strong>Körper</strong>modelle<br />

dargestellt werden können. – E<strong>in</strong>e Beschreibung, nach der die<br />

dialektische Dynamik des <strong>Körper</strong>-<strong>in</strong>-se<strong>in</strong>er-<strong>Umwelt</strong> zu e<strong>in</strong>em nichtdialektischen<br />

Gegensatz ger<strong>in</strong>nt. Dieser Entwicklung entspricht e<strong>in</strong>e<br />

Bewegung der Selbst-Entzweiung und Selbst-Entfremdung. E<strong>in</strong>zelne<br />

Aspekte der Selbst-Vermittlung des Organismus verselbständigen sich<br />

dabei und etablieren sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Regulation der Unvermitteltheit und<br />

Des<strong>in</strong>tegration.<br />

Ausgehend von diesem Aufbau der Pathogenese lassen sich konkrete<br />

therapeutische Möglichkeiten aufzeigen, die die Wende zu e<strong>in</strong>er<br />

(wieder-) gel<strong>in</strong>genden Salutogenese und dialektischen Integration<br />

e<strong>in</strong>leiten können.<br />

Nach der vorgeschlagenen Lesart können die Aspekte und Begriffe der<br />

Semiotik den beiden <strong>Körper</strong>modellen wie folgt zugeordnet werden (vgl.<br />

Uexküll u.a. 2002).<br />

<strong>in</strong>offizielles <strong>Körper</strong>modell<br />

(eigener <strong>Körper</strong>)<br />

offizielles <strong>Körper</strong>modell<br />

(fremder <strong>Körper</strong>)<br />

ikonische Zeichenprozesse <strong>in</strong>dexikalische Zeichenprozesse<br />

<strong>Körper</strong>-Se<strong>in</strong> <strong>Körper</strong>-Haben<br />

kommunikatives Realitätspr<strong>in</strong>zip pragmatisches Realitätspr<strong>in</strong>zip<br />

Kodeabstimmung mit anderen<br />

Autonomie<br />

Willkürmotorik<br />

(Anstrengung u. Widerstand)<br />

Autarkie<br />

(Kampf, Flucht, Rückzug)<br />

5


Weitere Pr<strong>in</strong>zipien und Aspekte lassen sich dieser Dynamik zuordnen:<br />

<strong>Der</strong> Zeichenklasse der Ikons entsprechen Wahrnehmungen, die<br />

zunächst nicht auf etwas anderes verweisen, sondern e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>terne<br />

Bedeutung haben (vgl. Peirce 1998). <strong>Körper</strong>lich entspricht die<br />

Zeichenklasse der Ikone dem, was von Uexküll im Anschluss an<br />

Plessner als <strong>Körper</strong>-Se<strong>in</strong> benennt. (Vgl. Uexküll u.a. 1997, S. 79;<br />

Uexküll u.a. 2002, S. 127, 144f; Plessner 1961, S. 190).<br />

Demgegenüber entsprechen <strong>in</strong>dexikalische Zeichen Korrespondenzen<br />

und Zusammenhängen wie dem von Anstrengung und Widerstand.<br />

„E<strong>in</strong> Index ist e<strong>in</strong> Zeichen, dessen zeichenkonstitutive Beschaffenheit<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zweiheit [...] liegt.“ (Peirce 1998, S. 65) Diese Zeichenklasse<br />

entspricht dem, was Uexküll <strong>in</strong> Anlehnung an Plessner als <strong>Körper</strong>-<br />

Haben beschreibt. Die Erstheit der ikonischen Zeichenprozesse<br />

entspricht autonomen Wahrnehmungs- und Handlungsmustern, bei<br />

denen die „passenden Gegenleitungen“ der <strong>Umwelt</strong> und die<br />

„passenden Gegenrollen“ der Mitwelt sich im S<strong>in</strong>ne des<br />

kommunikativen Realitätspr<strong>in</strong>zips e<strong>in</strong>spielen und sich quasi<br />

selbstverständlich e<strong>in</strong>stellen. Demgegenüber bedarf es bei der<br />

Zweiheit der <strong>in</strong>dexikalischen Zeichenprozesse autarker<br />

Wahrnehmungs- und Handlungsmuster im S<strong>in</strong>ne des pragmatischen<br />

Realitätspr<strong>in</strong>zips.<br />

Bei der Erläuterung des Begriffs der Autonomie hebt von Uexküll die<br />

dialektische Grundstruktur des Verhaltens deutlich hervor:<br />

"<strong>Der</strong> Begriff 'Autonomie' bezeichnet als umweltoffenes und umweltabhängiges<br />

Verhalten im Grunde e<strong>in</strong>e Paradoxie. Denn Autonomie oder<br />

'Selbstgesetzlichkeit' muss ständig das Verhalten der Umgebung <strong>in</strong> das<br />

eigene Verhalten e<strong>in</strong>beziehen. Das geschieht [...] so konsequent, dass<br />

Autonomie geradezu e<strong>in</strong> Beweis für Integration <strong>in</strong> die physische <strong>Umwelt</strong><br />

und die soziale Mitwelt ist. Dies [...] wird erst e<strong>in</strong>sichtig, wenn wir uns<br />

Rechenschaft geben, dass jede Leistung unseres <strong>Körper</strong>s e<strong>in</strong>er<br />

passenden Gegenleistung se<strong>in</strong>er physischen <strong>Umwelt</strong> und dass im sozialen<br />

Bereich jede unserer Rollen der passenden Gegenrolle der Mitwelt<br />

bedarf." (Uexküll u.a. 1997, S. 77; Hervorhebungen von K.M. & R.M.)<br />

Im Gegensatz zu diesem passenden Verhältnis von Subjekt und<br />

<strong>Umwelt</strong> treten bei e<strong>in</strong>em Verhalten der Autarkie die eigene<br />

Willkürmotorik und Kraftanstrengung e<strong>in</strong>erseits und der Widerstand der<br />

Umgebung (ihr Gegen-Stand) andererseits <strong>in</strong> den Vordergrund.<br />

E<strong>in</strong> Zuviel an Integration und Passung bzw. e<strong>in</strong> Zuwenig an Widerstand<br />

käme e<strong>in</strong>er ozeanischen Auflösung und e<strong>in</strong>em Sich-Verlieren des<br />

Eigen-<strong>Körper</strong>s gleich (s.o.). Kommt es umgekehrt zu e<strong>in</strong>em<br />

pathogenetischen bzw. traumatischen Zuwenig an Passung bzw. zu<br />

e<strong>in</strong>em Zuviel an Widerstand, so führt dies ebenfalls zu e<strong>in</strong>er<br />

Schädigung und e<strong>in</strong>em Selbstverlust des Eigenkörpers. In diesem Fall<br />

– so unsere These – zerbricht und missl<strong>in</strong>gt die Dialektik der<br />

<strong>Körper</strong>lichkeit: Die Erfahrung se<strong>in</strong>er selbst als Gegenstand, deren der<br />

Eigenkörper bedarf, verselbständigt sich und spaltet sich ab. Das<br />

Eigene, der eigene <strong>Körper</strong> ersche<strong>in</strong>t als Äußeres und Fremdes. Die<br />

Selbstregulation des <strong>Körper</strong>s gestaltet sich dann nicht-dialektisch.<br />

6


Mit Hegels Begriff der dialektischen E<strong>in</strong>heit kann verdeutlicht werden,<br />

was mit dem Konzept e<strong>in</strong>er nicht-dialektischen Regulation geme<strong>in</strong>t se<strong>in</strong><br />

kann. Danach ist "das Lebendige" als e<strong>in</strong> "Ganzes zu beschreiben, <strong>in</strong><br />

welchem die Teile nichts für sich, sondern nur durch das Ganze und im<br />

Ganzen s<strong>in</strong>d, organische Teile, wor<strong>in</strong>nen Materie und Form<br />

unzertrennbare E<strong>in</strong>heit ist" (Hegel 1986, Nürnb. Schr., 4/30)<br />

<strong>Der</strong> Begriff der dialektischen E<strong>in</strong>heit zeichnet sich dadurch aus, dass er<br />

bezüglich se<strong>in</strong>er Elemente auf e<strong>in</strong>er höheren Ebene (e<strong>in</strong>er Meta-<br />

Ebene) angesiedelt ist und e<strong>in</strong>e Integrations- und Organisations-<br />

Leistung darstellt.<br />

Auch die Dialektik der <strong>Körper</strong>lichkeit, das Oszillieren zwischen<br />

Subjektivität und Gegenständlichkeit kann mit Hegels Konzept der<br />

dialektischen E<strong>in</strong>heit gleichgesetzt werden. „Entgegensetzen und<br />

E<strong>in</strong>sse<strong>in</strong> ist zugleich <strong>in</strong>“ (Hegel 1986, Jenaer Schriften, 2/96) dieser<br />

umgreifenden <strong>Körper</strong>-E<strong>in</strong>heit. Diese E<strong>in</strong>heit ist die „Identität der<br />

Identität und der Nichtidentität“ (ebd.).<br />

Das Phänomen des Tastens bildet e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit von E<strong>in</strong>heit und<br />

Differenz, <strong>in</strong> der Eigenes und Fremdes, Subjektivität und Objektivität<br />

<strong>in</strong>tegriert s<strong>in</strong>d. Die beiden <strong>Körper</strong>modelle und deren verschiedene<br />

Aspekte können wir diesen beiden Momenten beiordnen.<br />

Von Uexküll beschreibt „Krankheit als Entfremdung vom lebendigen<br />

<strong>Körper</strong>“ (von Uexküll u.a. 1997, S. 47). Fassen wir pathogenetische<br />

und traumatische Entwicklungen als e<strong>in</strong> Zerbrechen der dialektischen<br />

E<strong>in</strong>heit, so wird e<strong>in</strong>e Dynamik deutlich, die besonders das Moment der<br />

Differenz als e<strong>in</strong>e nicht-<strong>in</strong>tegrierte Differenz und Fremdheit zur<br />

Erfahrung br<strong>in</strong>gt.<br />

Beim Greifen und Tasten tritt die Gegenständlichkeit der eigenen Hand<br />

deutlich hervor, wenn diese nicht geschickt genug ist, ihren<br />

Gegenstand zu fassen; wenn sie unterkühlt ist und ihre Glieder sehr<br />

unbeweglich s<strong>in</strong>d. Drastisch werden diese Gegenständlichkeit und mit<br />

ihr die <strong>in</strong>dexikalischen Zeichenprozesse, das <strong>Körper</strong>-Haben usw.,<br />

wenn die Bewegungen und Aktivitäten der Hand schmerzhaft s<strong>in</strong>d.<br />

Das drastische, schmerzhafte Hervortreten des Indexikalischen und die<br />

Des<strong>in</strong>tegration dieses Moments der <strong>Körper</strong>lichkeit f<strong>in</strong>den wir bereits bei<br />

Hegel beschrieben. Im H<strong>in</strong>blick auf organische Funktionen stellt Hegel<br />

die Gesetzmäßigkeit fest, dass hier<br />

„die Gesetze des Mechanismus nicht mehr das Entscheidende s<strong>in</strong>d,<br />

sondern nur gleichsam <strong>in</strong> dienender Stellung auftreten. Hieran schließt<br />

dann sogleich die weitere Bemerkung, dass da, wo <strong>in</strong> der Natur die<br />

höheren, namentlich die organischen Funktionen <strong>in</strong> ihrer normalen<br />

Wirksamkeit auf die e<strong>in</strong>e oder die andere Weise e<strong>in</strong>e Störung oder<br />

Hemmung erleiden, alsbald der sonst subord<strong>in</strong>ierte Mechanismus sich als<br />

dom<strong>in</strong>ierend hervortut. So empf<strong>in</strong>det z.B. jemand, der an Magenschwäche<br />

leidet, nachdem er gewisse Speisen <strong>in</strong> ger<strong>in</strong>ger Quantität genossen, Druck<br />

im Magen, während andere, deren Verdauungsorgane gesund s<strong>in</strong>d,<br />

obschon sie dasselbe genossen, von dieser Empf<strong>in</strong>dung frei bleiben.<br />

Ebenso ist es mit dem allgeme<strong>in</strong>en Gefühl der Schwere <strong>in</strong> den Gliedern<br />

bei krankhafter Stimmung des <strong>Körper</strong>s.“ (Hegel 1986, Enzykl. I, 8/354)<br />

7


Schmerz als Selbstentfremdung<br />

Ausgehend von diesen Grundüberlegungen soll im Folgenden e<strong>in</strong><br />

Modell dargestellt werden, das bestimmte Arten von Schmerzen des<br />

Bewegungsapparats vor dem H<strong>in</strong>tergrund e<strong>in</strong>er Selbstentfremdung des<br />

<strong>Körper</strong>s zu verstehen versucht. Diese Schmerzen br<strong>in</strong>gen Bereiche<br />

und Momente des <strong>Körper</strong>s als nicht-<strong>in</strong>tegrierte Differenz und Fremdheit<br />

zur Erfahrung.<br />

H<strong>in</strong>sichtlich der Pathogenese können Schmerzen <strong>in</strong> drei Gruppen<br />

aufgeteilt werden. Erstens der Nozizeptorschmerz, zweitens der<br />

neuropathische Schmerz und drittens der Fehlregulationsschmerz.<br />

Die folgenden Ausführungen betreffen die dritte Schmerzgruppe, die<br />

Fehlregulationsschmerzen bzw. Netzwerkschmerzen. Bei diesen steht<br />

e<strong>in</strong>e neuromotorische Fehlregulation im H<strong>in</strong>tergrund. Über körperliche<br />

und psychische Belastungen kommt es zu Muskelverspannungen und<br />

muskulären Dysbalancen <strong>in</strong> Form von Fehl- und Schonhaltungen.<br />

Insbesondere Symptome wie Rückenschmerzen, Kopfschmerzen und<br />

Bewegungsschmerzen stehen <strong>in</strong> diesem Zusammenhang.<br />

Im folgenden geht es um die Frage, wie der Netzwerkschmerz als e<strong>in</strong>e<br />

aktive Leistung des Gesamtorganismus verstanden werden kann; e<strong>in</strong>e<br />

Leistung, die jedoch <strong>in</strong> körperlicher Des<strong>in</strong>tegration und<br />

Selbstentfremdung münden kann. Ausgehend von diesem Gedanken<br />

wurde die <strong>Myoreflextherapie</strong> im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es dialektischen<br />

Therapiekonzepts entwickelt.<br />

Die These lautet: Schmerz ist die Wahrnehmung e<strong>in</strong>es Verstoßes<br />

gegen e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>takte, reibungslose Bewegungsgeometrie des <strong>Körper</strong>s-<strong>in</strong>se<strong>in</strong>er-<strong>Umwelt</strong>.<br />

D.h. gegen e<strong>in</strong> ausgeglichenes muskuläres Vektor-Netz<br />

und über die physiologischen Arbeitsbereiche der Muskeln und<br />

Gelenke h<strong>in</strong>aus.<br />

Schmerz hat e<strong>in</strong>e wichtige <strong>in</strong>dexikalische Signalfunktion, um<br />

Selbstschädigungen des Organismus zu vermeiden. Er fungiert als<br />

e<strong>in</strong>e höhere, komplexe Leistung des Gesamtnervensystems. (Vgl.<br />

Mosetter u. Mosetter 2001). Schmerz "weist auf Verletzungen und<br />

Funktionsstörungen des <strong>Körper</strong>s h<strong>in</strong> ist damit e<strong>in</strong><br />

organismusgerichtetes, <strong>in</strong>nengewandtes Warnsignal". (Strian 1996) Er<br />

ist "e<strong>in</strong>e spezielle Wahrnehmung bei Bedrohung der Integrität des<br />

Organismus. Schmerz zielt dabei, ähnlich wie Angst, auf<br />

Schonverhalten, Hilfesuchen und Heilung ab." (ebd.)<br />

Als <strong>in</strong>nengewandter Gesamtbericht der Funktion der körperlichen<br />

Bewegungsgeometrie wird Schmerz zu e<strong>in</strong>em Moment des Handelns,<br />

der Haltung und Bewegung. Die Schmerz-Ursache stammt dabei<br />

jedoch nicht von außen - sei es durch e<strong>in</strong>e Verletzung und die daran<br />

anschließende Nozizeption; sei es durch e<strong>in</strong>e Schädigung und den<br />

darauf folgenden neuropathischen Schmerz. Schmerz korrespondiert<br />

hier mit den eigenen Tätigkeiten; er schleicht sich gleichsam <strong>in</strong> die<br />

Bewegungen e<strong>in</strong> und entsteht aus diesen. Er ist e<strong>in</strong>e Ersche<strong>in</strong>ung der<br />

subjektiven Anatomie (s.o.).<br />

Dieser Eigenschaft entspricht e<strong>in</strong> spezifisches Verhältnis der<br />

sensorischen (afferenten) und der motorischen (efferenten)<br />

8


Schmerzkomponente. Sensorik und Motorik s<strong>in</strong>d hier nicht nur extern<br />

aufe<strong>in</strong>ander bezogen (ich berühre die heiße Herdplatte - es schmerzt -<br />

dann ziehe ich den Arm zurück). Auch mit e<strong>in</strong>er wechselseitigen<br />

Bee<strong>in</strong>flussung (im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es circulus vitiosus: Kopfschmerz -<br />

Verspannung - Kopfschmerz ...) kann diese Schmerzdynamik nicht<br />

verstanden werden. Sensorik und Motorik s<strong>in</strong>d vielmehr <strong>in</strong>tern<br />

aufe<strong>in</strong>ander bezogen und wechselseitig mite<strong>in</strong>ander verwoben. Sie<br />

bilden Elemente e<strong>in</strong>er übergreifenden organischen Gesamtaktivität.<br />

Schmerz durchbricht damit die technische Auffassung e<strong>in</strong>es<br />

Schaltkreises und die Vorstellung e<strong>in</strong>es objektiven <strong>Körper</strong>signals.<br />

Entsprechend umgreifend müssen therapeutische Strategien gestaltet<br />

werden, wollen sie ihre Problemstellung adäquat erfassen.<br />

Schmerz und Autoregulation<br />

Im Folgenden soll der Gesamtvorgang Schmerz als Leistung des<br />

Organismus im S<strong>in</strong>ne se<strong>in</strong>er Autoregulation beschrieben werden. In<br />

Anlehnung an Hegel und Kesselr<strong>in</strong>g (1984) können wir die folgenden<br />

Entwicklungsschritte formulieren: A – schmerzfreier Ausgangspunkt;<br />

B.1 – Schmerz im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es Gesamtberichts, der jedoch e<strong>in</strong>er<br />

fehlerhaften Regulation entspricht; B.2 – therapeutische Regulation<br />

und Aufhebung dieser Regulation; schließlich C – neue Integrität.<br />

A<br />

dialektische<br />

E<strong>in</strong>heit<br />

B.1<br />

Schmerz<br />

B.2<br />

Therapie<br />

C<br />

Integration<br />

Negation der Negation,<br />

regulative Instanz,<br />

verdeckte<br />

Selbstbezüglichkeit<br />

der Negation<br />

offene<br />

Selbstbezüglichkeit,<br />

schafft e<strong>in</strong>e<br />

dialektische E<strong>in</strong>heit<br />

dialektisch<br />

vermittelte<br />

Differenz<br />

Negation,<br />

drastische<br />

Entzweiung,<br />

Negation von<br />

Selbstbeziehung,<br />

Außen-Welt<br />

Erläuterung zur Abbildung: Die Stufe A stellt den Organismus als dialektische E<strong>in</strong>heit<br />

dar. Die ikonischen Zeichenprozesse, das <strong>Körper</strong>-Se<strong>in</strong> und die Subjektivität des<br />

<strong>Körper</strong>s-<strong>in</strong>-se<strong>in</strong>er-<strong>Umwelt</strong> e<strong>in</strong>erseits sowie die <strong>in</strong>dexikalischen Zeichenprozesse, das<br />

<strong>Körper</strong>-Haben und die Objektivität des <strong>Körper</strong>s-<strong>in</strong>-se<strong>in</strong>er-<strong>Umwelt</strong> andererseits s<strong>in</strong>d<br />

dar<strong>in</strong> <strong>in</strong>tegriert und wechselseitig vermittelt. In Stufe B.1 kommt es zu Schmerz im<br />

S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es körperlichen Gesamtberichts, der jedoch e<strong>in</strong>er fehlerhaften Regulation<br />

entspricht. Die beiden zuvor vermittelten Momente des <strong>Körper</strong>s-<strong>in</strong>-se<strong>in</strong>er-<strong>Umwelt</strong><br />

9


geraten dar<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e pathogenetische Trennung und entfremdende Aufspaltung<br />

(rechter Teil, Blitz) im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er nicht-dialektischen Negation. Generiert und<br />

erhalten wird dies durch die körpereigene Fehl-Regulation (l<strong>in</strong>ker Teil) im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er<br />

nicht-dialektischen Negation der Negation (Fehl-Regulation der Regulation).<br />

Dialektische Therapiestrategien (Stufe B.2) zielen darauf ab, diese Aufspaltung und<br />

Fehlregulation dialektisch aufzuheben, d.h. konstruktiv weiterzuführen. Im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er<br />

dialektischen Negation der Negation muss dafür die Fehlregulation reflektiert und<br />

reguliert werden (l<strong>in</strong>ker Teil). <strong>Körper</strong>lich kann dies mittels gezielter palpatorischer<br />

Stimulation und Übersteuerung der Muskelsensorik geschehen. In der<br />

<strong>Myoreflextherapie</strong> / neuromuskulären Traumatherapie erhält der Klient <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

kommunikativen, dialogischen Therapieprozess durch den Anderen e<strong>in</strong>e Spürhilfe<br />

und Selbstwahrnehmungshilfe (Reflexion). Mit dieser Begegnung und<br />

Selbstbegegnung wird ihm die Möglichkeit eröffnet, das verme<strong>in</strong>tlich Fremde als das<br />

eigene Fremde zu vernehmen und <strong>in</strong> e<strong>in</strong> offenes Selbstgespräch zu überführen. Das<br />

Selbstgespräch und die Selbstregulierung können so reflektiert werden und sich<br />

verändern. Dadurch kann die körperliche Abspaltung und Selbstentfremdung<br />

verändert und re<strong>in</strong>tegriert werden (rechter Teil). Nachhaltige Schmerzreduktion und<br />

Schmerzfreiheit wird so möglich. <strong>Der</strong> <strong>Körper</strong>-<strong>in</strong>-se<strong>in</strong>er-<strong>Umwelt</strong> kann sich wieder als<br />

dialektische E<strong>in</strong>heit organisieren (Stufe C) und empf<strong>in</strong>den.<br />

Schmerz-Störungen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>sofern e<strong>in</strong>e Entzweiung, als sie e<strong>in</strong><br />

selbstregulatives System "dazu zw<strong>in</strong>gen, sich auf e<strong>in</strong>en Punkt<br />

außerhalb zu richten und damit <strong>in</strong> sich geschlossene Aktivitäten oder<br />

Regelkreise aufzubrechen." (Kesselr<strong>in</strong>g 1984) Wenn es dem<br />

Organismus gel<strong>in</strong>gt, se<strong>in</strong>e ihm zu Verfügung stehenden Schemata und<br />

Regulationsstrategien entsprechend der Störung aus- bzw. umzubilden<br />

(zu akkomodieren) und / oder die Störung <strong>in</strong> diese<br />

Bewältigungsstrategien zu <strong>in</strong>tegrieren (zu assimilieren), ist die Störung<br />

ke<strong>in</strong>e Störung mehr. Bei von Uexküll f<strong>in</strong>den wir den Schritt der<br />

Entzweiung wie folgt beschrieben:<br />

"Das Lebewesen (Subjekt) prägt se<strong>in</strong>er Umgebung (Objekt) durch 'Merken'<br />

e<strong>in</strong> 'Merkmal' auf, das se<strong>in</strong> Verhalten, d.h. 'Wirken', <strong>in</strong> Gang setzt, welches<br />

der Umgebung e<strong>in</strong> 'Wirkmal' aufprägt. Wenn das Wirkmal das Merkmal<br />

(objektiv oder subjektiv) ausgelöscht hat, kommt der Funktionskreis zur<br />

Ruhe oder läuft mit e<strong>in</strong>em neuen Merkmal weiter. Merken entspricht als<br />

'Bedeutungserteilung' der Strukturierung der Umgebung als 'Problem', das<br />

durch Wirken als 'Bedeutungsverwertung' gelöst wird." (Uexküll u.<br />

Wesiack 1998, S. 67; Hervorhebungen von K.M. & R.M.)<br />

Schritte wie „e<strong>in</strong>-Merkmal-aufprägen“ und „als-Problem-strukturieren“<br />

stellen Funktionen dar, die auf Beziehung gründen. In e<strong>in</strong>em Subjekt -<br />

Objekt - umgreifenden Rahmen bezieht sich das Subjekt auf e<strong>in</strong><br />

Problem; zugleich bezieht es dieses Problem als Problem aus sich.<br />

Das bedeutet,<br />

"dass auch von Tätigkeiten e<strong>in</strong>es Organismus, die nach außen gerichtet<br />

s<strong>in</strong>d, angenommen werden muss, sie seien selbst durch<br />

Steuerungsprozesse geregelt. " (Kesselr<strong>in</strong>g 1984)<br />

Aufgrund der selbstbezüglichen Beschaffenheit der Entzweiung kann<br />

diese zum e<strong>in</strong>en objektiv (durch Veränderung der <strong>Umwelt</strong> und<br />

Assimilation) ausgelöscht und gelöst werden. Zum anderen kann<br />

Entzweiung subjektiv durch Veränderung der eigenen<br />

Regulationsstrategien (durch Akkomodation) gelöscht werden. Diesen<br />

selbstregulativen Veränderungsschritt (das Negieren und Auslöschen<br />

10


der Negation) können wir als e<strong>in</strong>e dialektische Leistung im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er<br />

Negation der Negation auffassen (vgl. B.2).<br />

In bestimmten Schmerzgeschehnissen und traumatischen Prozessen<br />

gel<strong>in</strong>gt diese Art der Veränderung und Selbstregulation nicht.<br />

Fehlregulations- und Netzwerkschmerzen stellen e<strong>in</strong>en konstruktiven<br />

Gesamtbericht des Organismus dar, der jedoch diese Schmerzen als<br />

e<strong>in</strong> Äußeres, drastisch Fremdes bestimmt und so Bereiche des<br />

Eigenkörpers als Fremdkörper zur Empf<strong>in</strong>dung br<strong>in</strong>gt.<br />

In Anlehnung an das Konzept des Funktions- bzw. Situationskreises<br />

kann e<strong>in</strong> solcher Verlauf als e<strong>in</strong>e Blockierung der reflexiven Instanz des<br />

Merken des Merkens und damit als e<strong>in</strong> Nicht-Merken des Merkens<br />

verstanden werden. Im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Gegen-Handlung entspricht dieser<br />

Verlauf der Regulation der Regulation e<strong>in</strong>em "unbewussten<br />

Abwehrprozess". Schmerzabwehr und "Traumabwehr erfolgt<br />

unbewusst und dennoch <strong>in</strong>tentional." (Fischer u. Riedesser 2003,<br />

S. 112f)<br />

Diese pathogenetische Entzweiung und Verfremdung ist es, welche die<br />

Steuerung zu e<strong>in</strong>er nicht-dialektischen, verdeckenden Fehl-Regulation<br />

werden lässt. Mit von Uexkülls Begriff der „Verwicklung“ (Uexküll u.a.<br />

1997) kann die Entwicklung solcher Fehlregulationen veranschaulicht<br />

werden. Se<strong>in</strong>e Umkehrung, das Aufwickeln entspricht dann dem<br />

regulativen Schritt der Rekonstruktion (<strong>in</strong> Stufe B.2).<br />

Unser Alltag ist von <strong>Körper</strong>haltungen und Bewegungsabläufen<br />

bestimmt, <strong>in</strong> denen wir vorwiegend gebeugt s<strong>in</strong>d. <strong>Der</strong> Alltag am<br />

Computer, im Auto usw. führt auf Dauer zu muskulären Verkürzungen<br />

der entsprechenden ventralen, beugenden <strong>Körper</strong>bereiche. E<strong>in</strong>e<br />

ausgewogene Muskulatur mündet so mit der Zeit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

körperlichen, biomechanischen Ungleichgewicht. In entsprechenden<br />

Schmerzsymptomen und Bewegungse<strong>in</strong>schränkungen f<strong>in</strong>det dies<br />

se<strong>in</strong>en Ausdruck.<br />

<strong>Körper</strong>- und Bewegungsschmerz zielt als Warnsignal auf Schutz- und<br />

Schonverhalten ab. Als Problemlösung kann e<strong>in</strong>e Strategie der<br />

Schonhaltung jedoch mehr und mehr zum eigentlichen Problem<br />

werden: Das körperliche Problem muskulärer Hypertonus und<br />

Kontraktur (etwa e<strong>in</strong>e Beugekontraktur) und die Lösungsstrategie (e<strong>in</strong>e<br />

Beugestellung des Gelenks und e<strong>in</strong> nur e<strong>in</strong>geschränktes, weil sonst<br />

schmerzhaftes Strecken) verstärken sich dann gegenseitig. H<strong>in</strong>sichtlich<br />

der sensorischen Rückmeldungen des <strong>Körper</strong>s werden schmerzhaft<br />

empfundene Bereiche geschont und damit sensorisch ausgespart. Das<br />

Schmerzsignal wird umgangen.<br />

Werden etwa Segmente der LWS nur noch sehr e<strong>in</strong>geschränkt bewegt,<br />

müssen andere <strong>Körper</strong>regionen, <strong>in</strong>sbesondere die HWS<br />

kompensatorisch mehrbeansprucht und so überbeansprucht werden.<br />

(Vgl. Mosetter u. Mosetter 2001). Die körperlichen, neuromuskulären<br />

Abweichungen (die Istwerte der Regelstrecke) werden <strong>in</strong> dieser<br />

Entwicklung nicht mehr korrigiert, sondern statt dessen <strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />

entsprechend abweichendes Bewegungs-Arrangement e<strong>in</strong>gefügt.<br />

Damit werden sie nichtdialektisch negiert und aus der <strong>Körper</strong>sensorik<br />

abgespalten. Biokybernetisch entspricht dies e<strong>in</strong>er Regelabweichung,<br />

11


welche <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er positiven Rückkopplung mündet. Das Umgehen der<br />

körperlichen Istwert-Abweichungen und e<strong>in</strong>e entsprechende<br />

Umstellung des Sollwertgebers <strong>in</strong> Richtung Schonverhalten gehen<br />

dabei Hand <strong>in</strong> Hand.<br />

Im vorliegenden Schmerzmodell entspricht dieser Verlauf e<strong>in</strong>er<br />

"Negation" im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er "Entzweiung des E<strong>in</strong>fachen" und e<strong>in</strong>er<br />

Unterbrechung von A. "Störung bewirkt e<strong>in</strong>e Differenzierung des<br />

Systems" (Kesselr<strong>in</strong>g 1984). Die e<strong>in</strong>setzende Selbstregulation gestaltet<br />

sich jedoch als e<strong>in</strong>e verdeckende Regulation, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er nichtdialektischen<br />

Differenzierung, e<strong>in</strong>er Nicht-Regulation der Regulation<br />

und somit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er entsprechenden nichtvermittelten, pathogenetischen<br />

Selbst-Differenz des <strong>Körper</strong>s stecken bleibt.<br />

Im Laufe dieses Prozesses spaltet sich aus der selbstregulativen<br />

dialektischen E<strong>in</strong>heit des <strong>Körper</strong>s das <strong>in</strong>dexikalische <strong>Körper</strong>-Haben<br />

vom ikonischen <strong>Körper</strong>-Se<strong>in</strong> ab. Vernehmlich wird Schmerz dann nicht<br />

als Signal für etwas Eigenes, sondern als <strong>in</strong>dexikalische Störung. Er<br />

ersche<strong>in</strong>t wie e<strong>in</strong> Fremdkörper, der <strong>in</strong> die Bewegung gleichsam von<br />

außen h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>fährt („<strong>in</strong>s Kreuz schießt“). Im Zuge der Selbst-Entzweiung<br />

und Selbst-Entfremdung repräsentiert die Schmerzstörung das<br />

gänzlich Fremde.<br />

Auch <strong>in</strong> der mediz<strong>in</strong>ischen Schmerz-Theorie und -Praxis zeigt sich<br />

häufig e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>seitige Ikonisierung und Verengung auf die objektiven,<br />

mechanischen <strong>Körper</strong>strukturen. Bewegungsschmerzen werden<br />

zumeist mit degenerativen Gelenkerkrankungen (Arthropathie, Arthose,<br />

Arthritis usw.) erklärt und mit entsprechenden manipulativen und / oder<br />

operativen Methoden angegangen. Übersehen wird dabei die<br />

funktionelle Bewegungsgeometrie – mit dieser der Eigen-<strong>Körper</strong> <strong>in</strong><br />

Bewegung und se<strong>in</strong>e subjektive Anatomie – und mit diesen die<br />

<strong>in</strong>dividuelle Biographie und die Gesetzmäßigkeiten der<br />

Selbstregulation.<br />

Dialektische therapeutische Strategien zielen darauf ab, B.1<br />

aufzuheben, d.h. weiterzuführen und zu e<strong>in</strong>em konstruktiven Abschluss<br />

zu br<strong>in</strong>gen. Letztlich geht es dabei um Regulation der Selbstregulation.<br />

Das Fremde / die Störung soll auch als das Eigene erfahren werden.<br />

Bei der <strong>Myoreflextherapie</strong> wird e<strong>in</strong>e Lösungsstrategie e<strong>in</strong>geschlagen,<br />

bei der nicht das Symptom Schmerz, sondern die Schonhaltung negiert<br />

wird.<br />

Durch gezielte manuelle Stimulation wird e<strong>in</strong>e bioregulatorische<br />

Übersteuerung der Tiefensensibilität erzielt. An spezifischen Sensoren<br />

und Punkten des muskulären Bewegungs-Netzwerks wird durch den<br />

Therapeuten e<strong>in</strong> sanfter (an sich neutraler) Palpationsdruck gegeben,<br />

der vom Klienten jedoch als Zeichen schmerzhaft erfahren wird.<br />

Dabei werden körperliche Rückmeldungen (sensorische Istwert-<br />

Meldungen) provoziert und somit Bewegungen simuliert, auf die zuvor<br />

verzichtet wurde und die außerhalb des Maßes des Arrangements<br />

liegen. E<strong>in</strong>e negative Rückkopplung und entsprechende Korrekturen<br />

kommen wieder <strong>in</strong> Gang.<br />

12


Durch gezielte manuelle Druckpunktstimulation wird an den Sensoren der<br />

Oberflächen- und Tiefensensibilität e<strong>in</strong>e bioregulatorische Übersteuerung der<br />

Tiefensensibilität erzielt. Ansatzpunkt der <strong>Myoreflextherapie</strong> ist dabei <strong>in</strong>sbesondere<br />

die Muskulatur; hier vor allem der Muskel-Sehnen-Knochen-Übergang.<br />

Entscheidende Strukturen s<strong>in</strong>d die Sensoren der Stütz- und Zielmotorik, die<br />

Muskelsp<strong>in</strong>deln und die Golgi-Sehnenorgane. An diesen Sensoren wird durch den<br />

Therapeuten e<strong>in</strong> sanfter (an sich neutraler, hier zeichenhafter) Palpationsdruck<br />

gegeben. So werden körperliche Rückmeldungen (sensorische Istwert-Meldungen)<br />

provoziert und damit negative Rückkopplungen mit entsprechenden körperlichen,<br />

neuromuskulären Korrekturen wieder <strong>in</strong> Gang gebracht.<br />

<strong>Der</strong> palpierende F<strong>in</strong>ger des Therapeuten gibt e<strong>in</strong>e Spür- und<br />

Wahrnehmungshilfe und zeigt (reflektiert) dem Organismus e<strong>in</strong>en<br />

körperlichen Eigen-Zustand. Dadurch wird e<strong>in</strong> bisher abgespaltenes<br />

und gleichsam weg-geschontes Problem wieder als solches spürbar<br />

und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em therapeutischen Rahmen schmerzhaft aktuell. Dem<br />

Klienten wird klar, dass der Therapie-Schmerz ihm nicht von außen<br />

zugefügt wird, sondern se<strong>in</strong> eigener Schmerz ist. E<strong>in</strong> Schmerz, der <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>em <strong>Körper</strong> gleichsam wieder aufgespürt, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Entwicklung<br />

rekonstruiert und so aufgewickelt wird.<br />

Beim Therapeuten als dem Anderen kann der Patient sich selbst und<br />

se<strong>in</strong>en Schmerz-Signalen auch als se<strong>in</strong>en eigenen begegnen. Im<br />

Rahmen e<strong>in</strong>er therapeutischen Arbeitsbeziehung tritt das Fremde nun<br />

nicht mehr als das drastisch Fremde, sondern auch als das Eigene auf.<br />

Die praktischen Konsequenzen, die aus dem Begriff des Selbst-<br />

Gesprächs folgen, lassen sich auf den folgenden Nenner br<strong>in</strong>gen: "<strong>Der</strong><br />

Beobachter physikalischer Phänomene ist Interpret se<strong>in</strong>er<br />

Beobachtungen. <strong>Der</strong> Beobachter lebender Systeme muss 'Meta-<br />

Interpret' se<strong>in</strong>, d.h. er muss die Interpretation der beobachteten<br />

Lebewesen <strong>in</strong>terpretieren." (Uexküll u. Wesiack 1996, S. 26)<br />

Entsprechend lässt sich sagen, dass der Therapeut mit Zeichen-<br />

Ursachen agiert. Die <strong>Myoreflextherapie</strong> behandelt nicht direkt<br />

13


(technisch, wie etwa bei e<strong>in</strong>em operativen E<strong>in</strong>griff), sondern <strong>in</strong>direkt,<br />

<strong>in</strong>dem sie die <strong>in</strong>ternen Regulationssysteme anspricht. Die<br />

<strong>Myoreflextherapie</strong> ist nicht e<strong>in</strong>e Technik, welche den anatomischen<br />

Organismus bio-mechanisch manipuliert.<br />

Die häufig zu beobachtende Interpretation alle<strong>in</strong> der objektiven<br />

Anatomie muss hier häufig fehlschlagen. Die lebendige Anatomie der<br />

Muskulatur <strong>in</strong> Funktion (die subjektive Anatomie) verlangt vielmehr<br />

nach e<strong>in</strong>er dialektisch-semiotischen Behandlung. <strong>Myoreflextherapie</strong> ist<br />

Meta-Therapie; sie kann „lediglich das Verhalten des bereits aktiven<br />

Systems modifizieren" (Uexküll u. Wesiack, 1996, S. 33).<br />

"Die Störquelle wird durch Ausbildung neuer kognitiver bzw. praktischer<br />

Schemata <strong>in</strong> das Organisationssystem <strong>in</strong>tegriert". (ebd.) Eigenes und<br />

Fremdes, die beiden <strong>Körper</strong>modelle und deren verschiedene<br />

Funktionen kommen zu e<strong>in</strong>er neuen dialektischen E<strong>in</strong>heit und<br />

Vermittlung.<br />

Traumatische u. psychopathologische Abspaltungen<br />

Neben der Unterscheidung der beiden <strong>Körper</strong>modelle und ihrer<br />

verschiedenen Aspekte (ikonisch – <strong>in</strong>dexikalisch; <strong>Körper</strong>-Se<strong>in</strong> –<br />

<strong>Körper</strong>-Haben) spielt im Leben des Menschen die symbolische<br />

Zeichenklasse e<strong>in</strong>e grundlegende Rolle. Dieser gegenüber s<strong>in</strong>d die<br />

ikonischen und <strong>in</strong>dexikalischen Zeichen als präsymbolisch zu<br />

beschreiben (vgl. Uexküll u.a. 2002, S. 138). Dem Menschen ist so e<strong>in</strong><br />

weiterer Gegensatz eigen, die Unterscheidung zwischen präsymbolisch<br />

und symbolisch gesteuerten Entwicklungen. Dieser Unterscheidung<br />

entspricht von Uexkülls Aus- und Weiterformulierung des<br />

Funktionskreises zum Situationskreis.<br />

Auch dieser Gegensatz kann zu e<strong>in</strong>em nicht-dialektischen Gegensatz<br />

ger<strong>in</strong>nen und entsprechende pathogenetische Entwicklungen<br />

bed<strong>in</strong>gen.<br />

Durch den reflexiven Gebrauch der semiotischen Kompetenzen des<br />

<strong>Körper</strong>-Se<strong>in</strong>s und des <strong>Körper</strong>-Habens vermag der Mensch e<strong>in</strong>e<br />

symbolische Objektbeziehung zu sich selbst herzustellen; er erlangt e<strong>in</strong><br />

<strong>Körper</strong>-als-Objekt-haben. Es wird das „erreicht, was sich als<br />

fundamentale Struktur <strong>in</strong> jeder spezifisch menschlichen Situation und <strong>in</strong><br />

jedem menschlichen Monopol wiederf<strong>in</strong>den lässt: <strong>in</strong>direkte Direktheit,<br />

vermittelte Unmittelbarkeit.“ (Plessner 1961, S. 171) Mit der Sprache<br />

erlangt der Mensch das „Vermögen der Versachlichung“ und den „S<strong>in</strong>n<br />

für Instrumentalität“ (ebd., S. 174); er kann „se<strong>in</strong>en <strong>Körper</strong> und se<strong>in</strong><br />

Umfeld vergegenständlichen“ (ebd., S. 171).<br />

In psychopathologischen und psychotraumatischen Entwicklungen<br />

kann der regulatorische spezifische Abstand zu sich vom Betroffenen<br />

nicht aufrecht erhalten werden. Analog zur Abspaltung der beiden<br />

<strong>Körper</strong>modelle ist hier e<strong>in</strong>e pathogenetische Trennung der<br />

präsymbolischen und symbolischen Zeichenprozesse festzustellen.<br />

Zeichentheoretisch entspricht dies zwei verschiedenen,<br />

komplementären Bewegungsrichtungen:<br />

14


Erstens: E<strong>in</strong>e Bewegung von der symbolischen Integrationsebene h<strong>in</strong><br />

zu psychopathologischen und psychotraumatischen Symbolisierungen<br />

und konflikthaften Abspaltungen führt zu e<strong>in</strong>em Umgang mit der<br />

eigenen Natur und dem eigenen <strong>Körper</strong>, der mit Begriffen wie<br />

Somatisierung und Organ- bzw. Symptomwahl beschrieben wird.<br />

Zweitens: Bei e<strong>in</strong>em nicht-dialektischen Abstand zu sich kommt es zu<br />

e<strong>in</strong>er Des<strong>in</strong>tegration der <strong>in</strong>dexikalischen und ikonischen Funktionen.<br />

E<strong>in</strong>e Bewegung von der symbolischen Ebene zurück zu ikonischen und<br />

<strong>in</strong>dexikalischen Zeichenprozessen bedeutet, dass nun vor-symbolische<br />

Gesetzmäßigkeiten dom<strong>in</strong>ieren, sich verselbständigen und<br />

entsprechende Symptome entfalten und bestimmen. Ikonisch s<strong>in</strong>d dies<br />

nicht-sprachliche, situations- und affektgebundene, körperliche<br />

Wahrnehmungs- und Handlungsmuster. Indexikalisch treten<br />

biologische (vor allem biomechanische, neuromuskuläre) Gründe und<br />

Gesetzmäßigkeiten <strong>in</strong> den Vordergrund.<br />

Diese beiden Entwicklungsl<strong>in</strong>ien s<strong>in</strong>d zwei Vektorenfelder derselben<br />

Dynamik. Sie entsprechend e<strong>in</strong>er Störung und e<strong>in</strong>em Zerbrechen des<br />

Situationskreises (vgl. Fischer u. Riedesser 2003, S. 85). Sie<br />

bestimmen das „m<strong>in</strong>imale kontrollierte Handlungs- oder Ausdrucksfeld“<br />

(ebd.) und damit das Beschwerdebild des Betroffenen. Psychodynamik<br />

und <strong>Körper</strong>dynamik s<strong>in</strong>d so eng mite<strong>in</strong>ander verwoben.<br />

Situationen und Grundkonstellationen werden dann traumatisch, wenn<br />

die efferente Sphäre und damit e<strong>in</strong>hergehend die afferente Sphäre<br />

nicht mehr greifen; wenn der Situationskreis zerbricht (vgl. Fischer u.<br />

Riedesser 2003). Im S<strong>in</strong>ne des Selbstschutzes und e<strong>in</strong>er aktiven<br />

„Gegenhandlung“ (Fischer 1996) muss der Organismus auch <strong>in</strong> der<br />

Zeit nach der traumatischen Situation die motorische (efferente) und<br />

die und sensorische (afferente) Sphäre entkoppeln und ausblenden.<br />

In dieser Entwicklung ist es im Zuge der Trauma-Kompensation und<br />

Dissoziation e<strong>in</strong>e wesentliche Intention der Selbstregulation, dass der<br />

Eigen-<strong>Körper</strong> (und mit ihm Schmerz) als e<strong>in</strong> Fremdes, Anderes bzw.<br />

gar nicht vernehmlich wird. Im Rahmen der dialektisch<br />

neuromuskulären Traumatherapie (über e<strong>in</strong> myoreflextherapeutisch<br />

erwirktes schrittweises Merken des Merkens und selbstreflexives<br />

Wahrnehmen) kann dieser traumatische Prozess von e<strong>in</strong>er passiven<br />

Wiederholung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e aktive Wiederholung übergehen. (Vgl. Fischer<br />

1996; Fischer 2000; Fischer u. Riedesser 2003).<br />

Dadurch können neue Erlebens- und Verhaltensmuster, neue<br />

körperliche neuromuskuläre Muster (im S<strong>in</strong>ne der Konstruktion) sowie<br />

e<strong>in</strong> Überarbeiten (im S<strong>in</strong>ne der Rekonstruktion) der alten,<br />

traumatischen Strategien entwickelt werden. (Vgl. Mosetter u. Mosetter<br />

2005; Kilk 2005).<br />

15


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Analyse des optischen Drehversuchs. In: von Weizsäcker, Viktor. (1997).<br />

Gesammelte Schriften, Band 4. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. (S. 23-61).<br />

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