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adventszeit<br />
Adventskalen<strong>de</strong>r<br />
Zauber <strong>de</strong>r Erwartung<br />
Pausbäckige Engel holen die Wunschzettel<br />
für das Christkind ab, backen<br />
Plätzchen, reparieren Puppen und<br />
Schaukelpfer<strong>de</strong>, schmücken <strong>de</strong>n Lichterbaum:<br />
Vor hun<strong>de</strong>rt Jahren erschien<br />
in München einer <strong>de</strong>r ersten Adventskalen<strong>de</strong>r.<br />
Er hieß „Im Lan<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Christkinds“<br />
und präsentierte eine Märchenwelt<br />
in 24 Miniaturbil<strong>de</strong>rn, gezeichnet<br />
vom renommierten Kin<strong>de</strong>rbuchillustrator<br />
Richard Ernst Kepler.<br />
Das Kind, das diesen „Münchner Weihnachtskalen<strong>de</strong>r“<br />
geschenkt bekam, hatte<br />
die 24 Tage vor <strong>de</strong>m Heiligen Abend<br />
entschie<strong>de</strong>n mehr zu tun als seine heutigen<br />
Urenkel. Es musste das jeweilige<br />
Motiv aus einem Blatt mit bunten Bil<strong>de</strong>rn<br />
ausschnei<strong>de</strong>n und mit <strong>de</strong>r gummierten<br />
Rückseite auf einen starken<br />
Karton kleben.<br />
Als „Erfin<strong>de</strong>r“ <strong>de</strong>s gedruckten Adventskalen<strong>de</strong>rs<br />
ließ sich <strong>de</strong>r Münchner<br />
Druckereibesitzer Gerhard Lang feiern.<br />
16<br />
Ganz neu war seine I<strong>de</strong>e allerdings<br />
nicht. Selbst gebastelte Vorläufer <strong>de</strong>r<br />
späteren Kalen<strong>de</strong>r hatte es schon im<br />
19. Jahrhun<strong>de</strong>rt gegeben, und zwar<br />
hauptsächlich in protestantischen Familien,<br />
wo sie mit einer Art Hausliturgie<br />
– Gesang, Gebet, Bibellesung – verbun<strong>de</strong>n<br />
waren.<br />
Die Formen scheinen <strong>de</strong>nkbar einfach:<br />
Krei<strong>de</strong>striche wur<strong>de</strong>n ausgewischt,<br />
Blätter abgerissen, Kerzen ein Stück<br />
weit abgebrannt. Aber <strong>de</strong>r schlichte Ritus<br />
genügte, um geheimnisvolle Spannung<br />
zu erzeugen. In Thomas Manns<br />
Familienroman „Bud<strong>de</strong>nbrooks“ und<br />
ähnlichen Büchern fin<strong>de</strong>n sich zahlreiche<br />
Berichte von solchem Adventsbrauchtum<br />
in protestantischen Bürgerhäusern.<br />
1942 erschien wie<strong>de</strong>r in München – im<br />
NSDAP-eigenen Franz-Eher-Verlag, <strong>de</strong>r<br />
Hitlers „Mein Kampf“ und <strong>de</strong>n „Völkischen<br />
Beobachter“ herausbrachte – ein<br />
Adventskalen<strong>de</strong>r unter <strong>de</strong>m Titel „Vorweihnachten“.<br />
Das Christkind verwan<strong>de</strong>lte<br />
sich in ein „Lichtkind“, <strong>de</strong>r Bischof<br />
Nikolaus in Gott Wotan, die Krippe<br />
unter <strong>de</strong>m „Julbaum“ in ein „Weihnachtsgärtlein“.<br />
All das setzte sich nicht<br />
durch, zeigt aber, dass die Tradition <strong>de</strong>s<br />
Adventskalen<strong>de</strong>rs wie ein Seismograph<br />
kulturgeschichtliche Verän<strong>de</strong>rungsprozesse<br />
abbil<strong>de</strong>t.<br />
Da marschierten einst Spielzeugsoldaten<br />
im Stechschritt durch das „Land <strong>de</strong>s<br />
Christkinds“, nach <strong>de</strong>m Zweiten Weltkrieg<br />
gab es stark von <strong>de</strong>r katholischen<br />
Liturgie geprägte Kalen<strong>de</strong>r („Der Dom“<br />
o<strong>de</strong>r „Engelamt“), und heute dominieren<br />
humorvolle Allerweltsmotive, die<br />
auf je<strong>de</strong>n religiösen Bezug verzichten.<br />
Christian Feldmann