Polen in Bewegung
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E<strong>in</strong>leitung<br />
Dr. Judith Goldste<strong>in</strong><br />
Gründer<strong>in</strong> und geschäftsführende<br />
Direktor<strong>in</strong> von Humanity<br />
<strong>in</strong> Action<br />
In den frühen 90er Jahren war mir nicht bewusst, dass<br />
ich e<strong>in</strong> tiefsitzendes Interesse an den Themen Widerstand,<br />
Extremismus, Fremdenfe<strong>in</strong>dlichkeit, Vorurteile und Diskrim<strong>in</strong>ierung<br />
hatte – <strong>in</strong> Geschichte und Gegenwart. E<strong>in</strong>es Tages<br />
stellte mir jemand <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gespräch e<strong>in</strong>e unerwartete<br />
Frage: Wie können wir junge Erwachsene dazu motivieren, sich<br />
mit dem Thema Widerstand zu befassen? Wor<strong>in</strong> besteht für<br />
junge Menschen heute das Vermächtnis von Widerstand <strong>in</strong> verschiedenen<br />
historischen Kontexten? Als promovierte Historiker<strong>in</strong>,<br />
deren Schwerpunkt hauptsächlich auf der amerikanischen<br />
E<strong>in</strong>wanderung und M<strong>in</strong>derheiten lag, reagierte ich mit e<strong>in</strong>er ungewöhnlichen<br />
Idee: Warum br<strong>in</strong>gen wir nicht dänische und<br />
amerikanische Studierende zusammen und lassen sie den Fall<br />
Dänemarks analysieren, denn die Dänen schützten ihre jüdische<br />
Bevölkerung während des 2. Weltkriegs und des Holocausts.<br />
Dies war der Beg<strong>in</strong>n von Humanity <strong>in</strong> Action. Seither<br />
besteht unser Bildungsauftrag dar<strong>in</strong>, die Vergangenheit mit<br />
gegenwärtigen menschenrechtlichen Fragestellungen von Pluralismus,<br />
Vielfalt, M<strong>in</strong>derheits- und Mehrheitsbeziehungen, ethnischen,<br />
religiösen und geschlechtsspezifischen Spannungen<br />
zu verknüpfen.<br />
Die Verwirklichung dieser Aufgabe bedeutet, dass unser<br />
Schwerpunkt im geme<strong>in</strong>samen und <strong>in</strong>tegrativen Lernen von<br />
jungen Aktivisten besteht, die verschiedenen Religionen angehören,<br />
unterschiedlicher ethnischer und sozialer Herkunft s<strong>in</strong>d<br />
und unterschiedliche berufliche Laufbahnen verfolgen. Es war<br />
unsere Überzeugung, dass wir durch die Gründung e<strong>in</strong>es mult<strong>in</strong>ationalen,<br />
mehrere Generationen umfassenden Netzwerks<br />
gegenwärtiger und zukünftiger Führungskräfte dazu beitragen<br />
können, die Zivilgesellschaften <strong>in</strong> den mitunter stagnierenden<br />
Demokratien der westlichen Welt zu stärken.<br />
Die Entwicklung des Netzwerks von Humanity <strong>in</strong> Action<br />
erfolgte schrittweise. Wir begannen, Bildungsprogramme mit<br />
dänischen, niederländischen und amerikanischen Studierenden<br />
durchzuführen. Im Laufe der Zeit bezogen unsere Programme<br />
auch Teilnehmer aus Deutschland und Frankreich e<strong>in</strong>. Ab<br />
e<strong>in</strong>em gewissen Zeitpunkt drängte unser deutscher Partner<br />
darauf, unsere Aktivitäten auf <strong>Polen</strong> auszuweiten. Ich war über-<br />
rascht und irritiert. Obwohl me<strong>in</strong>e Familie zu Beg<strong>in</strong>n des 20.<br />
Jahrhunderts aus <strong>Polen</strong> <strong>in</strong> die USA ausgewandert war, wusste<br />
ich wenig über dieses Land. Wenn man über <strong>Polen</strong> sprach, dann<br />
mit gedämpfter Stimme – über all das Leid und den Verlust,<br />
über nichts anderes. Me<strong>in</strong>en eigenen begrenzten Vorstellungen<br />
zum Trotz fragte ich mich, auf welche Art und Weise Humanity<br />
<strong>in</strong> Action die Ausweitung <strong>in</strong> Richtung Osten meistern<br />
könnte. Wie könnte sich <strong>Polen</strong> da e<strong>in</strong>fügen? Wie würde sich<br />
<strong>Polen</strong>s Beteiligung auf das Bildungskonzept von Humanity <strong>in</strong><br />
Action auswirken? Und wie würde das Verständnis der Themen<br />
se<strong>in</strong>, mit denen wir uns befassen? Was können wir alle vone<strong>in</strong>ander<br />
lernen, wenn es um das Handeln zum Schutze der Menschenrechte<br />
geht?<br />
Die E<strong>in</strong>beziehung <strong>Polen</strong>s bedeutete, sich von e<strong>in</strong>er exklusiv<br />
westeuropäisch-transatlantischen Herangehensweise – Beziehungen,<br />
die mir vertraut waren – zu verabschieden. Darüber<br />
h<strong>in</strong>aus wurde das Warschau der Nachkriegszeit und des<br />
Postkommunismus, das Mühe hatte zu florieren, nie als so entwickelt<br />
oder angenehm betrachtet wie Berl<strong>in</strong>, Amsterdam, Kopenhagen<br />
oder Paris. Warschau machte den E<strong>in</strong>druck, als ob<br />
es sich von den verheerenden Auswirkungen des 2. Weltkriegs<br />
und des kommunistischen Regimes nur langsam erholte. Noch<br />
wichtiger war die Tatsache, dass das <strong>Polen</strong> der Nachkriegszeit<br />
nicht mehr die pluralistische Gesellschaft von e<strong>in</strong>st war. Mit e<strong>in</strong>er<br />
Pädagogik, die auf die Untersuchung von Fragen ethnischer,<br />
religiöser und kultureller Vielfalt und daraus resultierenden<br />
Spannungen ausgerichtet ist, mussten wir uns neue Fragen<br />
stellen: Was kann Humanity <strong>in</strong> Action von polnischen Bildungsprogrammen<br />
und polnischen Studierenden lernen? Und schließlich,<br />
wie könnten sich Studierende aus dem Ausland gegenwärtigen<br />
polnischen Fragen öffnen, wenn die Vergangenheit die<br />
Gegenwart so deutlich bee<strong>in</strong>flusst – wenn <strong>Polen</strong>, zum Beispiel,<br />
von vielen Studierenden (und auch von mir) nicht nur als Ort<br />
des Holocausts, sondern auch als e<strong>in</strong>e Gesellschaft betrachtet<br />
wurde, <strong>in</strong> der e<strong>in</strong>ige se<strong>in</strong>er Mitglieder zur Vernichtung der polnischen<br />
Juden beigetragen hatten?<br />
Über mehrere Jahre experimentierte Humanity <strong>in</strong> Action<br />
und erarbeitete kreative und effektive Herangehensweisen an<br />
die Fragen von M<strong>in</strong>derheits- und Mehrheitsbeziehungen und<br />
spannungen, Identität und zivilgesellschaftliches Engagement.<br />
Die Vergangenheit, <strong>in</strong>sbesondere im H<strong>in</strong>blick auf die jüdische<br />
Geschichte und Kultur, aber auch auf andere ethnische, nationale<br />
und religiöse M<strong>in</strong>derheiten, wurde als allgegenwärtig<br />
wahrgenommen – nicht nur im S<strong>in</strong>ne von Verlust und Zerstörung.<br />
Während viele Mitglieder von Humanity <strong>in</strong> Action, so wie<br />
ich auch, ursprünglich mit schlichten Schuldzuweisungen nach<br />
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