Polen in Bewegung
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Polnische Nationalidentität…<br />
Prof. Dr. habil. Zdzisław Mach<br />
Identität<br />
schenkriegszeit sehr negativ spürbar, als polnische Nationalisten<br />
anderen Menschen das Recht absprachen, sich <strong>in</strong> der neugeborenen<br />
Republik [poln.: Rzeczpospolita] als <strong>Polen</strong> zu<br />
def<strong>in</strong>ieren, wenn sie diese beiden Kriterien nicht erfüllten. Dieser<br />
Konflikt kostete unter anderem Gabriel Narutowicz, den ersten<br />
Präsidenten des Landes, das Leben.<br />
E<strong>in</strong> zweites, wichtiges Erbe des 19. Jahrhunderts <strong>in</strong> der Geschichte<br />
<strong>Polen</strong>s im Kontext e<strong>in</strong>er kollektiven Identität war das<br />
vorherrschende Gefühl, Opfer zu se<strong>in</strong>. Die <strong>Polen</strong> konstruierten<br />
ihr Bild so, dass sie die vielen Niederlagen nutzten, um die nationale<br />
E<strong>in</strong>heit zu schmieden und ihre moralische Größe zu betonen.<br />
Das nationale Märtyrertum und der polnische Messianismus<br />
erlaubten es den <strong>Polen</strong>, sich zu wertschätzen und sich<br />
moralisch besser zu fühlen als ihre Rivalen und Fe<strong>in</strong>de, unter<br />
denen sie litten. Die Geschichte des Volkes wurde zu e<strong>in</strong>er Leidensgeschichte,<br />
die adelt. Gleichzeitig konnte diese Vision e<strong>in</strong>es<br />
Opfers – und tat es auch später – den <strong>Polen</strong> die Möglichkeit<br />
geben, Forderungen gegenüber anderen, glücklicheren<br />
Völkern zu stellen. Nach dieser Lesart litten und kämpften die<br />
<strong>Polen</strong>, und dafür gebührt ihnen Entschädigung. Dieses Motiv<br />
war auch während der Vorbereitungen zur EU-Mitgliedschaft<br />
präsent. Man verwies auf die historischen Verdienste <strong>Polen</strong>s<br />
sowie auf die Tatsache, dass das Land <strong>in</strong> der Vergangenheit<br />
von den europäischen Bündnispartnern oftmals verraten wurde,<br />
und verlangte gute Konditionen für e<strong>in</strong>e Mitgliedschaft.<br />
Diese Denkweise, bei der <strong>Polen</strong> sich als edler Ritter unter<br />
den Ländern darstellt, der um Werte kämpft und für die Menschen<br />
leidet, bedeutete aber auch, dass es den <strong>Polen</strong> schwer<br />
fiel (und fällt) zuzugeben, dass auch sie Schuld am Leid anderer<br />
tragen könnten. Das Märtyrertum und der nationale Messianismus<br />
der <strong>Polen</strong> – <strong>in</strong> ihrer extremen Ausprägung als „Christus<br />
der Nationen“ bezeichnet – akzeptieren ke<strong>in</strong>e eigene Schuld<br />
gegenüber anderen. Christus kann nämlich ke<strong>in</strong>e Schuld tragen,<br />
er ist der Hirte, das absolut sündenfreie Opfer. Anders hätten<br />
die Opferkonstruktionen und die Vision e<strong>in</strong>er Erlösung<br />
durch Leid ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n. Deshalb ist im polnischen Bewusstse<strong>in</strong><br />
ke<strong>in</strong>e Spur von eigener Verantwortung für fremdes Leid zu f<strong>in</strong>den,<br />
sprich – polnische historische Sünden. So fällt es den <strong>Polen</strong><br />
auch sehr schwer, mit jeglichen Beschuldigungen dieser Art<br />
umzugehen. Schlussendlich sei noch e<strong>in</strong> Phänomen aus der<br />
Zeit der Teilungen im 19. Jahrhundert erwähnt. <strong>Polen</strong> wird im<br />
kollektiven Bewusstse<strong>in</strong> als Land empfunden, das ständig von<br />
stärkeren Mächten angegriffen wird. Dieses Verständnis wurde<br />
zu e<strong>in</strong>em festen Bestandteil der eigenen Betrachtungsweise,<br />
wenn es um die Beziehungen zu anderen Staaten geht. In<br />
ihr ist ke<strong>in</strong> Platz für die Vorstellung, dass auch <strong>Polen</strong> der Dom<strong>in</strong>anz<br />
oder gar imperialer Politik bezichtigt werden könnte,<br />
vor allem seitens der östlichen Nachbarn. Aus diesem Grund<br />
reagieren die <strong>Polen</strong> irritiert auf derartige Beschuldigungen aus<br />
der Ukra<strong>in</strong>e oder Litauen, und deshalb s<strong>in</strong>d auch die Beziehungen<br />
beispielsweise zu Litauen schlechter und schwieriger, als<br />
man es hätte erwarten können. Es gibt <strong>in</strong> diesem Identitätskonstrukt<br />
auch ke<strong>in</strong>en Platz für Zusammenarbeit mit anderen<br />
Staaten, um e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames Ziel zu erreichen. Die potentiellen<br />
Partner werden eher als Gefahrenquelle angesehen.<br />
Die polnisch-jüdischen Beziehungen<br />
Unter den vielen Völkern und ethnischen Gruppen, mit denen<br />
die <strong>Polen</strong> <strong>in</strong> ihrem Land <strong>in</strong>teragierten, nahmen die Juden<br />
e<strong>in</strong>en besonderen Platz e<strong>in</strong>. Entsprechend der vorab dargestellten<br />
Art, kollektive Identität aufgrund kultureller Grenzen<br />
aufzubauen, waren die Juden für ethnische <strong>Polen</strong> die idealen<br />
„Fremden“. Praktisch lebten <strong>Polen</strong> im ganzen Land Haustür an<br />
Haustür mit Juden, deren sprachliche und religiöse Identität<br />
fernab der polnischen war. Die polnische katholische Kirche<br />
brachte es fertig, die Juden als Fe<strong>in</strong>de des e<strong>in</strong>zig wahren,<br />
christlichen Glaubens anzusehen und sie als natürliche Konkurrenten<br />
der <strong>Polen</strong> zu betrachten. Man muss dabei aber auch bedenken,<br />
dass die katholische Kirche im <strong>Polen</strong> des 19. Jahrhunderts<br />
praktisch die e<strong>in</strong>zige offiziell agierende, nationale<br />
Institution war und als Hort des <strong>Polen</strong>tums angesehen wurde.<br />
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