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Sein Blick ist nach vorne<br />
gerichtet, der Weg ist frei.<br />
Ohne nach links und<br />
rechts zu schauen, überquert<br />
Stoyan Kaymaktchiyski<br />
eine vielbefahrene<br />
Strasse im Brüsseler<br />
EU-Viertel. «Es ist nicht wichtig,<br />
woher du kommst», sagt der 26 Jahre<br />
alte Bulgare, wird er nach seiner Herkunft<br />
gefragt. «Es ist viel wichtiger,<br />
wohin du zielst.» Eben hat er im<br />
schwarzen Anzug mit Krawatte das<br />
Büro verlassen, aber noch ist an diesem<br />
Montag Ende Januar um 18 Uhr<br />
30 kein Feierabend in Sicht. Man hat<br />
den Eindruck, der wichtigste Teil des<br />
Tages beginnt eben erst.<br />
Die Pflichten eines Praktikanten der<br />
europäischen Institutionen, sie hören<br />
nicht mit der Arbeit auf. Auch die Freizeit<br />
ist geplant, penibelst. Oder, wie<br />
viele sagen würden, «gestaltet» durch<br />
26 Subkomittees. Stoyan engagiert<br />
sich in den Freizeitausschüssen<br />
Alumni-Network und Karriere. Kaum<br />
eine Veranstaltung, die er auslässt.<br />
Weil er weiss, wie entscheidend es ist,<br />
am richtigen Ort zum richtigen Zeitpunkt<br />
zu sein, versucht er seit fünf<br />
Monaten, überall zu sein. An diesem<br />
Abend ist er auf dem Weg zu einer<br />
Veranstaltung, die er mitorganisiert<br />
hat: Speed-Networking für young<br />
professionals.<br />
In einem Saal der Maastricht-Universität<br />
stehen Leute, die das<br />
geschafft haben, wovon die Praktikanten<br />
um sie herum noch träumen:<br />
einen richtigen Job zu ergattern. Die<br />
jungen Leute holen sich Tipps bei den<br />
Profis und in der hintersten Reihe<br />
Chips und Orangensaft. Veranstaltungen<br />
wie diese sind auch deshalb<br />
beliebt, weil man sich durch sie ein<br />
Abendessen erspart. Stoyan huscht<br />
von einer Gruppe zur anderen. Die<br />
Frauen begrüsst er mit Küsschen,<br />
einem Redner hilft er aus dem Mantel.<br />
Während er mit jemandem spricht,<br />
schielt er über dessen Schulter zur<br />
Tür, seinen Augen entgeht kein wichtiger<br />
Gesprächspartner.<br />
«Macht Komplimente»<br />
«Beeinflusse die Sekretärin», rät eine,<br />
die heute als Pressesprecherin ganz<br />
oben in der Kommission arbeitet.<br />
«Lade sie auf einen Kaffee ein, mache<br />
ihr Komplimente. Über sie kannst<br />
du es schaffen.» Stoyan schmunzelt,<br />
den Trick kannte er noch nicht. Er<br />
wird ihn sich merken müssen, um<br />
seinem Lebensplan näherzukommen:<br />
einmal viel Macht zu haben und<br />
wenig Verantwortung. Aber zuerst<br />
muss er eine Anstellung finden, und<br />
dafür bleibt wenig Zeit, genau genommen<br />
35 Tage.<br />
So lange noch ist Stoyan Kaymaktchiyski<br />
Bluebook-Praktikant der<br />
Europäischen Kommission und damit<br />
Teil des grössten Praktikantenprogramms<br />
der Welt. 25 000 Menschen<br />
bewerben sich jeweils für wenige<br />
hundert Plätze. Um die 2000 Praktikanten<br />
tummeln sich im EU-Viertel in<br />
Brüssel. Ihr Durchschnittsalter liegt<br />
Undwo<br />
stehst<br />
du?<br />
Spricht man mit den EU-<br />
Praktikanten über ihre<br />
Motivation, könnte man<br />
den Eindruck kriegen, sie<br />
seien weniger von politischen<br />
Idealen geleitet als<br />
von nüchternem Karrieredenken.<br />
Oft geht die<br />
Begeisterung nicht über<br />
Sätze hinaus wie «Europe<br />
is my passion». Das liegt<br />
aber meist daran, dass sie<br />
nichts Falsches sagen<br />
wollen. Nichts, was ihre<br />
Zukunft behindern<br />
könnte. Politische Einstellungen<br />
werden selten<br />
öffentlich gemacht. Die<br />
Flüchtlingskrise aber<br />
wurde kontrovers diskutiert.<br />
Brunella Canu sagt<br />
dazu: «In der EU hat es an<br />
Solidarität gemangelt<br />
und an der Einsicht, dass<br />
unser Handeln Auswirkungen<br />
auf andere Länder<br />
hat.» Anders als manche<br />
ihrer Kollegen interpretiert<br />
sie die Krise nicht<br />
in erster Linie als Versagen<br />
der EU, sondern als<br />
Möglichkeit für Europa,<br />
sich Gedanken zu machen<br />
über sein Gewicht in der<br />
Welt und die Verantwortung,<br />
die dieses mit sich<br />
bringt.<br />
bei 28 Jahren. Sie sprechen mehrere<br />
Sprachen fliessend, haben im Ausland<br />
studiert und Abschlüsse von den besten<br />
Universitäten. «Wir sind die junge<br />
Elite Europas», sagt Stoyan. Ein Praktikumsplatz<br />
bei den europäischen<br />
Institutionen ist der Traum fast jedes<br />
Studenten der Politik- oder Rechtswissenschaft.<br />
Fünf Monate lang sind die Aufstrebenden<br />
«Teil von etwas Grossem». Sie<br />
erleben Entscheidungsprozesse von<br />
innen, kriegen eine Vorstellung davon,<br />
wie es ist, Politiker zu sein. Sie tauchen<br />
ein in die Blase, die Euro-Bubble,<br />
wie das EU-Viertel auch genannt wird.<br />
Für die meisten ist es nicht Belgien,<br />
nicht einmal Brüssel. Es ist auch kein<br />
richtiges Stadtviertel, aber man merkt,<br />
ob man es verlassen hat. Die Kleidung<br />
ist dann etwas uneleganter, die Leute<br />
sind etwas entspannter, die Cafés servieren<br />
nicht mehr schnelle, gesunde<br />
Mittagssnacks, die man im Stehen isst.<br />
Nirgendwo sonst in Brüssel sind die<br />
Gebäude so monströs. Geschäftiges<br />
Treiben untertags, nach 19 Uhr aber<br />
wirkt die Euro-Bubble wie ausgestorben,<br />
nur vereinzelt brennen noch<br />
Lichter. Und überall weht die EU-<br />
Fahne: gelbe Sterne auf blauem Hintergrund.<br />
Stoyan posiert gern unter dieser<br />
Flagge, sie ziert viele seiner Bilder auf<br />
Facebook. An einem Freitagabend<br />
postet er dort ein Selfie mit zwei<br />
Arbeitskollegen, darunter schreibt er:<br />
«Almost 8 pm, but still working hard<br />
for the citizens of Europe!» Stoyan,<br />
dunkelblonde Haare, glattrasiertes<br />
Gesicht, hat in Maastricht und Amsterdam<br />
European and International<br />
Law studiert. In Brüssel arbeitet er im<br />
Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung.<br />
«Eine sehr wichtige<br />
Stelle.» Gerade bereitet Stoyan eine<br />
grössere Präsentation für seinen Vorgesetzten<br />
vor. Er habe das Glück, auch<br />
komplizierte Sachen erledigen zu dürfen,<br />
sagt er. Darüber reden kann er<br />
aber nicht.<br />
«Wir alle wissen, was ein Praktikum<br />
bedeutet: Du machst nicht viel, aber<br />
gibst vor, viel zu tun», sagt Charlelie<br />
Jourdan, 32. 2012 hat der Franzose<br />
gemeinsam mit seinem Landsmann<br />
Yacine Kouhen, 33, eine Youtube-<br />
Serie über das Leben der EU-Praktikanten<br />
gedreht. In zwölf Folgen<br />
nähern sich die beiden humorvoll und<br />
ironisch einer Szene, die sich selbst<br />
sehr ernst nimmt. «Ein Praktikant ist<br />
das letzte Glied in der Bubble, er hat<br />
am wenigsten zu tun und ist gleichzeitig<br />
am motiviertesten», sagt<br />
«Wer würde diese<br />
Chance nicht packen<br />
wollen? Ein<br />
Praktikum bei der<br />
EU im Lebenslauf<br />
ist unglaublich.»<br />
Yacine. Stelle sich jemand als Product<br />
Assistant vor, was Praktikant bedeute,<br />
beachte ihn niemand mehr. «Ganz<br />
einfach, weil er unwichtig ist.»<br />
Yacine und Charlelie wissen<br />
Bescheid, sie waren selbst einmal<br />
Praktikanten. Heute haben sie die<br />
Entspanntheit, die vielen jungen Professionellen<br />
noch fehlt. Die Arbeit an<br />
der Serie sah Yacine, freiberuflicher<br />
Coach für Kommunikation, als soziologische<br />
Milieustudie. «Die meisten<br />
der Praktikanten haben dasselbe studiert:<br />
European Studies, Jura, Politikwissenschaft.<br />
Sie können alles<br />
machen und nichts.» Trotzdem hätten<br />
EU-Praktikanten keine uniformen<br />
Biografien. «Je besser man hinsieht,<br />
desto häufiger entdeckt man die<br />
unterschiedlichsten Charaktere.» So<br />
wie die EU ist auch die Gesellschaftsstruktur<br />
in der Euro-Bubble ein komplexes<br />
Gebilde.<br />
Duracell-Hase<br />
Die Trainees von heute, sie sind die<br />
möglichen Politiker von morgen.<br />
Nicht alle sind sozial so hyperaktiv<br />
wie Stoyan, den eine griechische Kollegin<br />
als «Duracell-Hasen» bezeichnet,<br />
ein Energiebündel, das mit fünf<br />
Stunden Schlaf auskommt. Manche<br />
tun sich schwerer mit dem Kontakteknüpfen.<br />
Als die Schottin Steph<br />
Abrahams, 26, spezialisiert in Human<br />
Rights Law, nach Brüssel kam, war<br />
sie angetan von den politischen Diskussionen<br />
und dem Intelligenzniveau.<br />
Smalltalk aber machte sie<br />
nervös, weil er ihr falsch vorkam. «Ich<br />
unterhalte mich lieber richtig mit<br />
einer Person.»<br />
Für die Praktikantenstelle im EU-<br />
Parlament hatte Steph nicht sofort<br />
eine Zusage gekriegt. Sie war auf der<br />
Warteliste. Es gab keine Sekunde, in<br />
der sie dachte, tatsächlich einen der<br />
begehrten Plätze zu kriegen. «Wer<br />
würde diese einmalige Chance nicht<br />
packen wollen?» Als Ende September<br />
die Nachricht kam, sie könne in einer<br />
Woche anfangen, arbeitete sie für eine<br />
deutsche Firma in Indien, für ein<br />
gutes Gehalt. Sie kündigte den Job,<br />
flog nach Hause, packte die Koffer um<br />
und flog weiter nach Brüssel, wo sie<br />
für rund 1000 Euro im Monat arbeitete.<br />
Das Geld war für sie zweitrangig.<br />
«Ein Praktikum bei der EU im Lebenslauf<br />
ist unglaublich.»<br />
Im EU-Viertel, diesem energetischen<br />
Ort, sei jeder international,<br />
mehrsprachig aufgewachsen, halb<br />
Grieche und halb Franzose, und vor<br />
allem Europäer. «Ich bin eine Ausnahme,<br />
weil meine Eltern aus Glasgow<br />
sind», sagt Steph. Die anfänglichen<br />
Zweifel, ob sie denn auch hineinpasse<br />
in dieses Milieu, wurden mit<br />
den Monaten ersetzt durch die<br />
Gewissheit. Erst einmal möchte sie<br />
bleiben. «Auch wenn ich immer noch<br />
das Gefühl habe, hier seien einige tausendmal<br />
intelligenter und haben die<br />
spannendere Auslandserfahrung vorzuweisen.»<br />
Zumindest fühlt sich das<br />
Networken nicht mehr so schlimm an,<br />
«es ist einfacher, als ich dachte».<br />
8 NZZ am Sonntag | 21. Februar 2016