Elevate Festival Magazine – Issue 2
- No tags were found...
Create successful ePaper yourself
Turn your PDF publications into a flip-book with our unique Google optimized e-Paper software.
In der Auseinandersetzung mit versehrten Gesellschaften,<br />
als welche die Länder des ehemaligen Jugoslawien, in dem<br />
ich aufwuchs und sozialisiert wurde, durchaus bezeichnet<br />
werden können, drängt sich die Frage nach der Wahrheit<br />
einem beinahe selbstständig auf. Der Krieg und die auf ihn<br />
folgenden demokratischen Umbrüche forderten viele Opfer<br />
— ganze vorne mit dabei war die Demokratie selbst.<br />
In einem gesellschaftlichen Vakuum — das zu hinterlassen<br />
ehemals sozialistisch geführten Ländern inhärent zu sein schient —,<br />
in dem vorher nur die eiserne Männerhand, Armut, Krieg, Inflation<br />
und Schwarzmarkt regierten, konnte so etwas wie ein funktionierender<br />
Rechtsstaat nicht Fuß fassen: Auf den Sozialismus folgte der<br />
Zerfall, auf den Zerfall eine mehr umgestülpte, marode demokratische<br />
Struktur, die, angekommen im Kapitalismus des 21. Jahrhunderts,<br />
Korruption und Vetternwirtschaft begünstigt — also die herrschende<br />
Elite. All dies untersetzt vom alles unter sich zermalmenden Nationalismus,<br />
der es in den Händen derer, die es verstehen, mit und durch<br />
ihn die Massen und die Medien in Schach zu halten, schafft, auch die<br />
identitätsstiftenden, gesellschaftskulturellen Narrative, sprich die bis<br />
dato verhandelten Wahrheiten zu kapern, zu instrumentalisieren, zu<br />
banalisieren — zu vergiften.<br />
In Serbien, aber auch in Bosnien, Mazedonien, Montenegro, ja sogar<br />
in den EU-Ländern Kroatien, Ungarn, Rumänien und Bulgarien<br />
herrscht heute eine für die Balkanländer eigens zugeschnittene Art<br />
von Nepotismus, der nicht nur auf hohlen Versprechen von Politikerinnen<br />
und Politikern aufbaut, sondern auch auf Wahrheiten, deren<br />
Sachverhalte und Tatsachen nie einer rechtsstaatlichen Prüfung unterzogen,<br />
die nie im Einvernehmen mit der Gesellschaft, geschweige<br />
denn mit ihren RepräsentantInnen ausgehandelt wurden.<br />
When dealing with damaged societies, which<br />
the countries of former Yugoslavia that I<br />
grew up and was socialized in can certainly<br />
be referred to, the question of truth is almost<br />
independently imposed on oneself. The war<br />
and democratic upheavals that followed claimed<br />
many victims <strong>–</strong> with democracy itself at the top<br />
of the list.<br />
In a social vacuum <strong>–</strong> which seems to be inherent in countries formerly<br />
led by socialism <strong>–</strong> only strongmen, poverty, war, inflation, and the<br />
black market ruled, a somewhat functional constitutional state could<br />
not gain a foothold: Socialism was followed by disintegration, and disintegration<br />
was followed by a more upturned, dilapidated democratic<br />
structure that, when put into perspective with 21st century capitalism,<br />
favoured corruption and nepotism <strong>–</strong> in other words, the ruling elite.<br />
All this is underpinned by the crushing nationalism that, in the hands<br />
of those who know how to keep the masses and the media in check,<br />
manages to capture, instrumentalise, trivialise, and poison the identity-giving,<br />
socio-cultural narratives. The previously established truth,<br />
so to speak. In Serbia, but also in Bosnia, Macedonia, Montenegro,<br />
even in the EU countries Croatia, Hungary, Romania, and Bulgaria,<br />
there is a kind of present-day nepotism that is tailor-made for Balkan<br />
countries. It is based not only on hollow promises by politicians, but<br />
also on truths whose factual premises have never been subject to a<br />
rule of law examination, and have never been negotiated in agreement<br />
with society, let alone with its representatives.<br />
VERGIFTETE GESCHICHTEN<br />
Der Sozialismus, zumal der jugoslawische, hantierte mit eigenen<br />
Versprechungen und eigenen Wahrheiten, gezimmert für eine noch<br />
im Entstehen begriffene Nachkriegsgesellschaft. Pluralismus im<br />
demokratischen Sinne waren dem Tito-System nicht fremd, da es galt,<br />
nicht nur einen Staat, sondern einen Vielvölkerstaat (im Gedanken<br />
ähnlich der Europäischen Union) neu aufzubauen und neu zu denken.<br />
Dass solch ein System, welches von sich aus patriarchal und repressiv<br />
organisiert ist, mit dem Tod des Alleinherrschers ein unsanftes Ende<br />
nehmen würde, verwundert aus heutiger Sicht nicht — den auf den<br />
‚Übervater’ folgenden Machthabern waren die Narrative entglitten:<br />
Diejenigen Wahrheiten, die Jahrzehntelang als Kitt und Mörtel für ein<br />
künstliches, heterogenes Gebilde benutzt wurden, brachten gleichzeitig<br />
auch jene Gestalten hervor, die ganz andere Wahrheiten für die<br />
verschiedenen, zusammenlebenden Ethnien parat hatten, Gestalten,<br />
deren Säuberungsphantasien kein Jahrzehnt später das größte Blutbad<br />
auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg anrichten<br />
sollten.<br />
Marko Dinic<br />
Marko Dinic<br />
ZUR WIEDERHOLUNG<br />
Ein marodes, sozialistisches System bringt Armut, Ausgrenzung<br />
und Inflation hervor. Die Menschen klammern sich nicht mehr an<br />
solidarisch-pluralistische Heilsversprechen, sie klammern sich an die<br />
eigene Lebensrealität, die von Hunger und Existenzangst geprägt ist.<br />
In dieses Vakuum tritt der Nationalismus als — wie der jugoslawische<br />
Schriftsteller Danilo Kiš ihn nannte — Linie des geringeren Wider-<br />
11