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Der Eisschnelltr

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Skog Ogvann<br />

<strong>Der</strong> <strong>Eisschnelltr</strong>äumer<br />

Roman<br />

Wolf & Delling


Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation<br />

in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte Informationen<br />

sind über www.dnb.d-nb.de abrufbar.<br />

Originalausgabe:<br />

© 2014 Jonas Plöttner Verlag, Leipzig (ISBN: 978-3-95537-<br />

146-3)<br />

Überarbeitete Neuauflage<br />

© 2020 Verlag Wolf und Delling, Leipzig<br />

1. Auflage Juli 2020<br />

www.wolfunddelling.de<br />

www.skogogvann.de<br />

Umschlaggestaltung: Maya Grünschloß<br />

Satz: Danilo Schröder<br />

(Lektorat der Originalausgabe: Maya Grünschloß)<br />

Druck und Bindung: Sowa Sp.<br />

Printed in Europe<br />

ISBN: 978-3-9819-0543-4


Still it was very uncomfortable, and, as there seemed<br />

to be<br />

no sort of chance of her ever getting out of the room<br />

again,<br />

no wonder she felt unhappy.<br />

Lewis Caroll, Aliceʼs Adventures in Wonderland


Natürlich habe ich es gelesen, es lag ja zwischen meinen<br />

Büchern, zwischen Carroll und Grass, zwischen<br />

Alice im Wunderland und Blechtrommel.<br />

Den Carroll, zerlesen und abgegriffen, habe ich von<br />

einer Engländerin bekommen, für einen Lonely Planet<br />

und eine Avocado.<br />

Den Grass hat mir Bruno geschenkt. Zugegeben, er<br />

ist mein Trost nicht geworden und könnte mein Glaube<br />

nicht sein; Strichmännchen habe ich in den Einband<br />

gekritzelt, mit dem Fingernagel Buchstaben aus ... Aber<br />

ich schweife ab.<br />

Zurück zum Tagebuch, Richards Tagebuch.<br />

Mein Bruder Richard.<br />

Ich habe es also gelesen, habe in Erinnerungen geblättert,<br />

habe lose Gedanken reflektiert, habe die Vergangenheit<br />

durch die Nacht getragen, habe ...<br />

Habe Bruno gefragt – mit seinen zerknitterten Ringeröhrchen<br />

hat er gewackelt –, ob es nicht vielleicht wichtig,<br />

ja unerlässlich sei, sie zu sortieren, zu veranschaulichen,<br />

zu interpretieren, diese Erinnerungen, diese losen Gedanken.<br />

Und er, was macht er, Bruno?<br />

Kauft mir in einer Schreibwarenhandlung fünfhundert<br />

Blatt unschuldiges Papier, reißt den Packen auf, zählt<br />

zehn Blatt ab und legt den Rest in mein Nachttischchen,<br />

reicht mir einen Füllfederhalter.<br />

Mehr Anstoß bedarf es nicht, beschreibe ich sie also,<br />

diese unschuldigen, mich tugendhaft beschmeichelnden,<br />

so gelehrigen Blätter, mögen sie Richards Erinnerungen<br />

tragen, wie die Frau die Frucht, wie der Tag den Sonnenschein,<br />

wie der ...<br />

9


Gott, was für wirre Gedanken. So kann man sich<br />

doch nicht treiben lassen.<br />

Nein, ich muss mich zur Seriosität zwingen, zur Besonnenheit<br />

ermahnen.<br />

Also gut, fange ich an.<br />

Oder halt. Lasse ich der Gegenwart – der dinglichen,<br />

der unverschleierten – den Vortritt, lasse ich sie vorangehen,<br />

folge ich ihr auf leisen Sohlen.<br />

10


<strong>Der</strong> Reiher<br />

Richard hat die letzten Äpfel gepflückt, das Laub geharkt<br />

und den Rasen noch einmal gemäht.<br />

Er setzt sich auf die alte Holzbank neben der Walnuss,<br />

sieht in den Teich und zählt Fische. Die Katze der<br />

Nachbarin schleicht geräuschlos durch den Garten,<br />

bläulich schimmernde Raben sitzen laut krächzend in<br />

den Bäumen.<br />

Ostwind, denkt Richard.<br />

Er hält Ausschau nach dem Reiher, der manchmal<br />

über Feld und Grundstück kreist. Er summt so vor sich<br />

hin, sieht gedankenverloren zu, wie die goldbraunen<br />

Blätter der Walnuss zu Boden und aufs Wasser fallen.<br />

»Summst du den Fischen was vor?«<br />

»Leo, na, alles klar?«, fragt Richard, aus den in welken<br />

Blättern schwebenden Gedanken gerissen. »Wie<br />

war’s in der Schule?«<br />

»Von der Schmidt«, sagt Leo. Er gibt seinem Vater<br />

einen Brief, setzt sich zu ihm auf die Bank.<br />

Die Schmidt – Dr. Jutta Schmidt, Schulleiterin am<br />

Friedrich-Schiller-Gymnasium – kennt der Vater schon<br />

länger, als ihm lieb ist. Sie war seine Klassenlehrerin.<br />

Damals. In der DDR. An der Polytechnischen Oberschule<br />

Ernst Thälmann.<br />

»Die Schmidt, die Schmidt«, raunt Richard. Er zieht<br />

einen Zettel aus dem Umschlag, entfaltet ihn und liest<br />

leise vor: »Sehr geehrte Familie Busch, da Leo wiederholt<br />

negativ im Schulbetrieb aufgefallen ist, bitte ich Sie<br />

am Donnerstag, den 11. Oktober um 18 Uhr, in Raum 8<br />

des Friedrich-Schiller-Gymnasiums zu einem Elterngespräch.<br />

Dr. Jutta Schmidt.«<br />

11


»Ich bin überhaupt nicht wiederholt aufgefallen«, sagt<br />

der Junge. »Ich bin einmal zu spät gekommen. Und als<br />

sie mich gefragt hat, warum, da hab ich gesagt, dass ich<br />

einer alten Omi noch über die Straße helfen musste.<br />

Das war alles.«<br />

»Soso, einer alten Omi«, nickt Richard und zeigt auf<br />

den Teich. »Ich glaube, der Reiher holt unsere Fische.«<br />

»<strong>Der</strong> Reiher?«<br />

»<strong>Der</strong> Reiher.«<br />

12


September 1983<br />

Dr. Schmidt hatte gelocktes, dunkelblondes Haar und<br />

kleine Füße. Ihr Kopf war rund, die Nase spitz. Saß sie<br />

hinter dem Lehrertisch, wirkte sie beinahe sportlich.<br />

Natürlich hatte sich Richard die erste Deutschstunde<br />

bei seiner neuen Klassenlehrerin anders vorgestellt.<br />

Mit fester Stimme sprach sie zu den fünfundzwanzig<br />

Schülerinnen und Schülern der 8a und rechtfertigte den<br />

Abschuss eines südkoreanischen Passagierflugzeuges<br />

durch einen sowjetischen Abfangjäger: Die Boeing 747<br />

sei ein Spionageflugzeug der USA gewesen und die<br />

Personen an Bord, Agenten, hätten mit Fallschirmen<br />

über dem Territorium der Sowjetunion abspringen wollen,<br />

um hetzerische Flugblätter zu verbreiten und die<br />

fortschrittlichen Kombinate der UdSSR auszukundschaften.<br />

Insgesamt sei es wieder einmal ein so schäbiger<br />

wie nutzloser Versuch der imperialistischen Länder<br />

gewesen, den Siegeszug des Kommunismus aufzuhalten;<br />

die Reaktion der Sowjetunion müsse daher unbedingt<br />

als logische und richtige Konsequenz auf diese<br />

plumpe Aggression verstanden werden.<br />

Nach der ersten Deutschstunde bei Dr. Schmidt waren<br />

Richard die Spionagemethoden der imperialistischen<br />

Welt hinlänglich bekannt. Und weil sich die Schmidt<br />

auch noch über angloamerikanische Wertevorstellungen<br />

lustig gemacht hatte, war er doch skeptisch, dass sie als<br />

Englischlehrerin überhaupt etwas taugte. Logische und<br />

richtige Konsequenz?, fragte er sich, als er zum Training<br />

fuhr. Agenten? Mit Fallschirmen abspringen? Schäbiger<br />

wie nutzloser Versuch der imperialistischen Länder?<br />

Richard war Radsportler. Bei den Bezirksmeisterschaf-<br />

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ten im Juni war er Fünfter im Zeitfahren geworden.<br />

Zweifellos ein Erfolg. Über den er sich aber nicht so<br />

recht hatte freuen können, nur wenige Sekunden war er<br />

an einer Medaille vorbeigefahren.<br />

Richard, mein Bruder Richard.<br />

Wir wohnten im Plattenbaukomplex Frohe Zukunft.<br />

Unsere Dreiraumwohnung im vierten Stock entsprach<br />

realsozialistischem Standard: Küche und Bad waren<br />

fensterlos, die Zimmer waren klein, der Flur war schmal.<br />

Die Stube hatte Südbalkon, mit Blick auf Wohnblocks,<br />

betonierte Wege und einen Baum. Schlaf- und Kinderzimmer<br />

hatten Nordfenster, mit Blick auf Wohnblocks,<br />

eine asphaltierte Straße und einen Baum. Als Richard<br />

nach Hause kam, stand Mutter in der Küche und trocknete<br />

Geschirr ab, ich saß mit einem gelben Karton in der<br />

Stube und wartete darauf, ihn öffnen zu dürfen.<br />

»Na, Großer, wie war’s in der Schule?«, fragte Mutter.<br />

»So lala«, antwortete Richard.<br />

»Aha, ach so, und das heißt?«<br />

»So lala eben«, sagte Richard und kam zu mir in die<br />

Stube. »Westpaket?«, fragte er.<br />

Ich nickte. »Von Renate.«<br />

Renate war eine Freundin unserer Mutter. Sie hatten<br />

sich irgendwann mal über die Junge Gemeinde kennengelernt,<br />

seither schickten sie sich gelegentlich Briefe und<br />

Pakete über die Grenze, besucht hatte uns Renate das<br />

letzte Mal zu meiner Taufe.<br />

»Ist da auch was für mich drin?«, wollte ich wissen.<br />

»Vielleicht ein Tintenkiller?«<br />

Schon zu meinem Geburtstag im Mai hatte ich mir<br />

einen Tintenkiller gewünscht, aber nicht bekommen. Und<br />

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natürlich hoffte Richard, dass ein Tintenkiller für mich in<br />

diesem Paket war.<br />

»Wohl kaum«, antwortete er. »Da ist bestimmt nur<br />

Kram drin, nichts Spannendes.«<br />

»Nichts Spannendes? In einem Westpaket?«, wunderte<br />

ich mich. »Darf ich es aufmachen? Bitte.«<br />

»Erst wenn Papa da ist.«<br />

Unsere Eltern arbeiteten in volkseigenen Betrieben,<br />

Mutter in einem Büromaschinenwerk, Vater in einem<br />

Baustoffkombinat. Sie disponierte und er stellte Drähte<br />

her. Drähte für Maschenzäune, Spannbeton und solche<br />

Sachen. Dicke und dünne Drähte, kurze und lange. Aus<br />

Aluminium, aus Kupfer, aus Stahl und so weiter. Im<br />

Fernsehen sprachen sie manchmal über Leute, die sich<br />

mit Drähten beschäftigten, an Drähten zogen. Dunkle<br />

Gestalten, Halunken waren das aber meistens. Zugegeben,<br />

ich schämte mich dann für unseren Vater.<br />

Vater kam meistens erst so gegen fünf nach Hause.<br />

Ich sah zur Uhr, es war halb, ein paar Minuten musste<br />

ich also noch warten.<br />

Renate hatte wieder abgetragene Sachen, Schokolade<br />

und Backzutaten, aber auch, und das war ungewöhnlich,<br />

verschiedene Südfrüchte geschickt.<br />

Dass die Jeans doch Richard passen könnte, er sie<br />

doch mal anprobieren solle, rief Mutter und warf ihm die<br />

Hose zu, und an mir vorbei, und so nah an mir vorbei,<br />

dass mich ein leiser Lufthauch streifte.<br />

Ich sortierte die Früchte der Größe nach. Ob eine<br />

Kartoffel also auch eine Südfrucht sei, wollte ich wissen.<br />

Und warum uns Renate denn überhaupt Kartoffeln<br />

schicke.<br />

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Mutter lachte. Und erklärte mir, dass das eine Kiwi<br />

sei, keine Kartoffel.<br />

»Kiwi?«, fragte ich und ahnte, dass man eine so<br />

raue, so haarige Frucht wohl besser nicht mit Schale aß.<br />

»Muss man die schälen?«<br />

»Die muss man in der Mitte durchschneiden und<br />

dann auslöffeln«, erklärte sie mir.<br />

Südfrüchte schnitt man also in der Mitte durch, um<br />

sie dann auslöffeln zu können. »Und was ist das hier?<br />

Ist das eine Ananas?«<br />

»Eine Ananas, ja«, nickte Mutter. »Die muss man bestimmt<br />

schälen.«<br />

»Oder in der Mitte durchschneiden und dann auslöffeln«,<br />

vermutete ich.<br />

Mutter legte eine Kokosnuss aus der Hand und sah<br />

Vater beim Anprobieren eines Ledermantels zu.<br />

»<strong>Der</strong> ist ja recht hübsch, aber vielleicht doch etwas<br />

zu groß«, wiegte er unschlüssig den Kopf.<br />

»Ja, der ist zu groß«, fand auch Mutter. »Den kannst<br />

du nicht anziehen, nein, das sieht liederlich aus.«<br />

Inzwischen probierte Richard die ausgewaschene<br />

Jeans und einen weinroten Pullover an, auf dem in<br />

fetten weißen Druckbuchstaben St. Louis stand.<br />

»Passt doch ganz gut«, meinte Mutter. »Die Hose ist<br />

vielleicht ein bisschen zu lang, aber du wächst ja noch.«<br />

»Nicht schlecht«, fand Richard.<br />

»Kein Tintenkiller dabei«, sagte ich enttäuscht.<br />

Diesen weinroten Pullover, der so herrlich nach Westweichspüler<br />

roch, zog Richard am nächsten Tag in die<br />

Schule an. Doch einen Pullover mit dem Schriftzug einer<br />

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nordamerikanischen Stadt zu tragen, war töricht, ob der<br />

Pullover nun gut roch oder nicht.<br />

»St. Louis ist eine US-amerikanische Verbrecherstadt«,<br />

rief Dr. Schmidt, als Richard seine Jacke an<br />

den Kleiderhaken gehängt hatte. »Wie kannst du es<br />

wagen, so einen Pullover anzuziehen!«<br />

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