Staat und Gesellschaft Flankiert wird das Übereinkommen durch die 2012 verabschiedete EU-Opferschutzrichtlinie 7) , die Mindeststandards für die Rechte, den Schutz und die Unterstützung von Opfern von Straftaten vorsieht sowie u.a. erweiterte Informationsrechte des bzw. der Verletzten festlegt. 8) Im März 2014 veröffentlichte die Agentur der Europäischen Union (EU) für Grundrechte schließlich die Ergebnisse der ersten in allen 28 Mitgliedstaaten der EU durchgeführten Erhebung zu Gewalt gegen Frauen 9) , die für den Bereich der gesamten EU Erfahrungen von Frauen mit körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt darstellt. 10) 1.3 Nationale Ebene 1.3.1 Staat und Gesellschaft Mit der Thematisierung der Formen häuslicher Gewalt auf internationaler Ebene entstanden auch in Deutschland, getragen durch eine erstarkende Frauenbewegung, frühzeitig erste gesellschaftspolitische Initiativen. Daneben entwickelte sich staatliches Engagement. So wurde am 01.11.1976 in Berlin das erste deutsche Frauenhaus als Modellprojekt der Bundesregierung und des Berliner Senats gegründet 11) , im Folgejahr nahmen die ersten „Notrufe“-Fachberatungsstellen für vergewaltigte Frauen die Arbeit auf. 12) Waren in Deutschland häusliche Gewalt und Frauenhäuser zunächst die im Vordergrund stehenden Themen, kamen in den Folgejahren sexuelle Gewalt und sexueller Missbrauch von Mädchen und Jungen, Menschenhandel und Prostitutionstourismus, sexuelle Übergriffe in Institutionen und Einrichtungen sowie Gewalt gegenüber ausländischen Frauen und Behinderten als weitere Themen hinzu. In Bund und Ländern entstanden Hilfeeinrichtungen, wurden Untersuchungen durchgeführt sowie Publikationen und Fortbildungsmaterialien veröffentlicht. Es entstand eine stärkere Vernetzung der Hilfeeinrichtungen auf der Ebene der Länder und des Bundes. Leseprobe Gesetzgeberische Initiativen griffen die fortschreitende Erkenntnislage auf. Bereits das erste Opferschutzgesetz von 1986 13) führte zu einer Besserstellung von Opfern, insbesondere von Opfern von Sexualdelikten, im Strafverfahren. Ergänzt 7) Europäische Union, 2012. 8) Die Bundesregierung hat die Istanbul-Konvention und die europäische Opferschutzrichtlinie noch nicht ratifiziert, da das deutsche Rechtssystem den in der Istanbul-Konvention formulierten Anforderungen gegenwärtig nicht in allen Punkten entspricht. Dies betrifft z.B. die Strafbarkeit von nicht einvernehmlichen sexuellen Handlungen, die nicht in jedem Fall vom Straftatbestand der Vergewaltigung gemäß § 177 StGB erfasst sind, die Verpflichtung zur Entschädigung von Opfern von psychischer Gewalt in jedem Fall oder die Möglichkeit eines eigenständigen Aufenthaltsrechts für von häuslicher Gewalt betroffene Migrantinnen. . Zur Umsetzung der Opferschutzrichtlinie ist mit Wirkung vom 30.12.2015 das 3. Opferrechtsreformgesetz in Kraft getreten. Gesetzesentwürfe zur Änderung des Sexualstrafrechts sind auf den Weg gebracht. 9) Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, 2014. 10) Näheres dazu in Abschnitt 4.1.1. 11) BMFSFJ, 1999, S. 6. 12) Kavemann, 2012, S. 99. 13) BGBl. 1986 I S. 2496. 11
Gesellschaftliche Wahrnehmung, gesellschaftspolitische Initiativen und staatliches Handeln wurde es im weiteren Verlauf durch Regelungen im Verbrechensbekämpfungsgesetz 1994 14) , dem Zeugenschutzgesetz 1998 15) sowie den Opferrechtsreformgesetzen von 2004 16) und 2009 17) . Insgesamt wurden Rechte des Opfers auf Information und anwaltlichen Beistand eingeführt und der Persönlichkeitsschutz von Opfern und Zeugen verbessert, ohne zwischen weiblichen und männlichen Opfern zu differenzieren. Die Nebenklage wurde umgestaltet; es wurden Regelungen zur Schadenswiedergutmachung zugunsten des Opfers getroffen. 18) Seit 1997 ist zudem durch Änderung des § 177 StGB die Vergewaltigung in der Ehe strafbar. Bereits im Vorgriff auf anstehende Initiativen der EU wurde auf Bundesebene 1999 mit einem Aktionsplan zur Bekämpfung der häuslichen Gewalt ein umfassendes Gesamtkonzept mit den Schwerpunkten Prävention, Recht, Kooperation zwischen Institutionen und Projekten, Vernetzung von Hilfsangeboten, Täterarbeit, Sensibilisierung von Fachleuten und Öffentlichkeit sowie internationale Zusammenarbeit vorgelegt. 19) Der Bundesrat unterstützte mit Beschluss vom 09.06.2000 den Aktionsplan der Bundesregierung und unterstrich die Notwendigkeit struktureller Veränderungen. Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Häusliche Gewalt“ erarbeitete „Rahmenbedingungen für polizeiliche/gerichtliche Schutzmaßnahmen bei häuslicher Gewalt“ 20) und legte damit u.a. grundlegende Empfehlungen für den polizeilichen Wohnungsverweis und zivilgerichtliche Schutzanordnungen vor. Am 01.01.2002 trat als wesentlicher Meilenstein das „Gesetz zur Verbesserung des zivilgerichtlichen Schutzes bei Gewalttaten und Nachstellungen sowie zur Erleichterung der Überlassung der Ehewohnung bei Trennung“ 21) in Kraft. Die so auf Bundesebene getroffene Regelung für Kontakt-, Näherungs- und Belästigungsverbote durch die Zivil- bzw. Familiengerichte bei vorsätzlichen und widerrechtlichen Verletzungen von Körper, Gesundheit oder Freiheit einer Person sowie in Fällen der Drohung mit diesen Taten erleichtert den Opfern gerichtliche Hilfen. 22) Die zivilrechtlichen Schutzmöglichkeiten für Opfer können im Einzelfall die Zuweisung der Wohnung, Schadensersatz und Schmerzensgeld, das alleinige Sorgerecht über die Kinder sowie die Aussetzung oder Beschränkung des Umgangsrechts betreffen. Leseprobe Parallel dazu wurden ab Ende der 1990er-Jahre in den Ländern mit unterschiedlicher Intensität Aktionspläne und Programme gegen häusliche Gewalt entwickelt. Ab 2001 wurden in fast allen Polizeigesetzen der Länder die notwendigen Rechtsgrundlagen für die Verweisung gewalttätiger Personen aus der Wohnung und ein Rückkehrverbot geschaffen. 14) BGBl. 1994 I S. 3186. 15) BGBl. 1998 I S. 820. 16) BGBl. 2004 I S. 1354. 17) BGBl. 2009 I S. 2280. 18) Ausführlich dazu Herrmann, 2010, S. 236 ff. 19) BMFSFJ, 1999, S. 8 ff. 20) BMFSFJ, 2002. 21) BGBl. 2001 I S. 3513 ff. 22) Die gesetzliche Hilfe wird durch entsprechende Antragsformulare in Fällen der §§ 1, 2 GewSchG, 1361b, 1666 BGB erleichtert: http://www.big-berlin.info/medien/schutzantraege (Zugriff am 11.06.2015). 12
Laden...
Laden...
Laden...