Politische Kommunikation in der digitalen Gesellschaft - Govermedia
Politische Kommunikation in der digitalen Gesellschaft - Govermedia
Politische Kommunikation in der digitalen Gesellschaft - Govermedia
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Nr. 484 März 2010<br />
Monatsschrift zu Fragen <strong>der</strong> Zeit<br />
D IE P OLITISCHE M EINUNG<br />
<strong>Politische</strong> <strong>Kommunikation</strong><br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>digitalen</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
<strong>Politische</strong> <strong>Kommunikation</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>digitalen</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
„Journalismus ist nötig,<br />
damit aus Zufallskommunikation<br />
Verlässlichkeitskommunikation wird.<br />
Die digitale Welt<br />
braucht Anker <strong>der</strong> Verlässlichkeit.“<br />
G ERNOT<br />
F ACIUS<br />
Zum Schwerpunkt<br />
E RNST<br />
E LITZ<br />
Medien <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verantwortung<br />
D IE P OLITISCHE M EINUNG<br />
März<br />
2010<br />
55. Jahrgang<br />
ISSN 0032-3446<br />
A RNE<br />
K LEMPERT<br />
Internet verän<strong>der</strong>t die Massenmedien<br />
Weitere Themen<br />
B RIGITTA<br />
K ÖGLER<br />
Volkskammerwahl vom 18. März 1990<br />
M ANFRED<br />
F UNKE<br />
Glückwunsch an Alfred Grosser
EDITORIAL<br />
❖ „Was wir über unsere <strong>Gesellschaft</strong>,<br />
ja über die Welt, <strong>in</strong> <strong>der</strong> wir<br />
leben, wissen, wissen wir durch<br />
die Massenmedien.“ So resümierte<br />
<strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>tsoziologe Niklas<br />
Luhmann die Bedeutung <strong>der</strong> Medien.<br />
Sie s<strong>in</strong>d Erschließungs- und<br />
Vermittlungs<strong>in</strong>stanzen für Wirklichkeitsbedeutungen,<br />
sie gestalten<br />
die gesellschaftliche Konstruktion <strong>der</strong><br />
Wirklichkeit ebenso wie die Gespräche <strong>der</strong><br />
<strong>Gesellschaft</strong> über sich selbst und die öffentliche<br />
Moral. Welche Bedeutung die Medien<br />
im Alltagsleben <strong>der</strong> Deutschen spielen, spiegeln<br />
die Zahlen zur Mediennutzung wi<strong>der</strong>.<br />
Von den rund 500 M<strong>in</strong>uten, die <strong>der</strong> von <strong>der</strong><br />
Statistik konstruierte Mitbürger <strong>in</strong>sgesamt<br />
pro Tag konsumiert, wurden 228 M<strong>in</strong>uten<br />
für das Fernsehen aufgewendet. An zweiter<br />
Stelle rangiert <strong>der</strong> Hörfunk mit 186 M<strong>in</strong>uten,<br />
das Internet br<strong>in</strong>gt es auf 70 M<strong>in</strong>uten, die<br />
Lektüre <strong>der</strong> Tageszeitung ist mittlerweile<br />
auf 28 M<strong>in</strong>uten gesunken.<br />
Für die Politik leistet <strong>der</strong> Wettbewerb <strong>der</strong><br />
Medien – garantiert durch Artikel 5 unserer<br />
Verfassung – nicht nur Aufklärung und<br />
Kritik, son<strong>der</strong>n stellt Öffentlichkeit her und<br />
ermöglicht gesellschaftliche und politische<br />
Teilhabe. Von den Medien wird e<strong>in</strong>erseits<br />
erwartet, dass sie ihre öffentliche Aufgabe<br />
erfüllen. An<strong>der</strong>erseits handelt es sich bei<br />
ihnen um überwiegend privatwirtschaftliche<br />
Unternehmen, <strong>der</strong>en Gew<strong>in</strong>ne umso<br />
größer s<strong>in</strong>d, je mehr Publikum sie erreichen.<br />
Darum wird <strong>der</strong> vermutete Publikumsgeschmack<br />
zum Entscheidungskriterium<br />
für Inhalte. E<strong>in</strong>e Folge dieser Entwicklung<br />
ist die zu beobachtende Boulevardisierung<br />
<strong>der</strong> Zeitungen. Ähnliches gilt auch für die<br />
öffentlich-rechtlichen Sen<strong>der</strong>, die sich <strong>in</strong><br />
manchen Formaten den privaten Sendeanstalten<br />
annähern.<br />
Seit e<strong>in</strong>iger Zeit bef<strong>in</strong>det sich die Medienwelt<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em dramatischen Verän<strong>der</strong>ungs-<br />
prozess. Das Internet, das vor e<strong>in</strong>igen<br />
Monaten se<strong>in</strong>en vierzigsten<br />
Geburtstag feiern konnte, stellt<br />
die Druckmedien wie die audiovisuellen<br />
Angebote vor neue<br />
Herausfor<strong>der</strong>ungen. Mittlerweile<br />
s<strong>in</strong>d 65 Prozent <strong>der</strong> Bevölkerung<br />
Onl<strong>in</strong>enutzer, 1997 waren es erst<br />
6,5 Prozent. Diesen Siegeszug verdankt<br />
das Netz se<strong>in</strong>em grenzenlosen Raum.<br />
Wo im Fernsehen o<strong>der</strong> im Hörfunk die<br />
Sendezeit auf Sekunden begrenzt wird und<br />
oft die E<strong>in</strong>schaltquote den Inhalt bestimmt,<br />
zählt im Netz nur noch <strong>der</strong> Inhalt. Es gibt<br />
unzählige Spezialangebote mit relativ begrenzten<br />
Besucherzahlen wie auch massenwirksame<br />
Inhalte, über <strong>der</strong>en politische und<br />
kulturelle Relevanz man streiten kann. Unabhängige<br />
und gegengeprüfte Nachrichten,<br />
Dokumentationsangebote und <strong>in</strong>vestigativer<br />
Journalismus s<strong>in</strong>d nach wie vor das<br />
Rückgrat unserer politischen <strong>Kommunikation</strong>.<br />
Diese werden zwar von allen Medien<br />
auch onl<strong>in</strong>e angeboten; im unbegrenzten<br />
Netz aber kann je<strong>der</strong>mann zu ger<strong>in</strong>gen Kosten<br />
veröffentlichen, was immer se<strong>in</strong>em Hirn<br />
entspr<strong>in</strong>gt. Die Selektion seriöser Information<br />
muss dann <strong>in</strong>dividuell erfolgen.<br />
Wie das Internet unsere politische <strong>Kommunikation</strong><br />
verän<strong>der</strong>t, ist deshalb Schwerpunktthema<br />
dieses Heftes. In ihm wird nach<br />
<strong>der</strong> Zukunft <strong>der</strong> Zeitung ebenso gefragt<br />
wie nach dem Engagement <strong>der</strong> Parteien im<br />
Netz. E<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Aufmerksamkeit wird<br />
dem Qualitätsjournalismus zugewandt, dessen<br />
Glaubwürdigkeitsverluste die kommunikative<br />
Basis unserer <strong>Gesellschaft</strong> bedroht.<br />
❖<br />
Wolfgang Bergsdorf<br />
Nr. 484 · März 2010 Seite 1
INHALT<br />
Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1<br />
<strong>Politische</strong> <strong>Kommunikation</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>digitalen</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
Repräsentativität und Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5<br />
Ernst Elitz<br />
Die bisherige Form <strong>der</strong> staatlichen Medienregulierung und Gremienarbeit entsprach den<br />
Bed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong> analogen <strong>Kommunikation</strong>swelt. Die durch die Digitalisierung aufgelösten<br />
Grenzen verlangen nach mehr Kompetenz, Unabhängigkeit und Transparenz<br />
bei medienpolitischen Entscheidungsprozessen.<br />
Zukunft <strong>der</strong> Zeitung – Zeitung <strong>der</strong> Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11<br />
Gernot Facius<br />
Gründliche Recherche, kluge Orientierung und H<strong>in</strong>tergrund<strong>in</strong>formation s<strong>in</strong>d dem traditionellen<br />
Pr<strong>in</strong>tjournalismus eigen. Die verän<strong>der</strong>ten Informationswege des Internets könnten diesen we<strong>der</strong><br />
ersetzen noch ernsthaft gefährden.<br />
Wissen und Bildung im Biotop Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16<br />
Bernt von zur Mühlen<br />
E<strong>in</strong>em klassisch verstandenen Bildungsbegriff steht die <strong>Kommunikation</strong> im Internet ke<strong>in</strong>eswegs<br />
entgegen. Sie kann ihm vielmehr durch ihre dialogischen Strukturen jenseits <strong>der</strong> Massenmedien<br />
zu e<strong>in</strong>er neuen Bühne verhelfen.<br />
Von <strong>der</strong> Politiker- zur Journalistenverdrossenheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21<br />
Wolfgang Donsbach/Mathias Rentsch<br />
Der Verlust an Glaubwürdigkeit rührt an den Markenkern des Journalismus und bedroht zudem<br />
die kommunikative Basis <strong>der</strong> gesamten <strong>Gesellschaft</strong>.<br />
Neue Medienpolitik für neue Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27<br />
Robert Grünewald<br />
Der gravierende Wandel <strong>der</strong> Medien, <strong>der</strong> politischen <strong>Kommunikation</strong> und Kultur<br />
durch das Internet for<strong>der</strong>t e<strong>in</strong>e Medienpolitik heraus, die sich ihrer Verantwortung<br />
zur Regulierung <strong>in</strong> allen Fel<strong>der</strong>n stellt.<br />
Der medienpolitische Urknall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33<br />
Jürgen Wilke<br />
Vor mehr als 25 Jahren wurde <strong>in</strong> Deutschland das duale Rundfunksystem e<strong>in</strong>gerichtet.<br />
Zu den Verän<strong>der</strong>ungen, die <strong>der</strong> private Rundfunk <strong>in</strong> <strong>der</strong> Medienlandschaft hervorgerufen hat.<br />
Netzpolitik aktuell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38<br />
„Wir müssen alle lernen, mit dem Internet umzugehen“<br />
Wie das Internet die Massenmedien verän<strong>der</strong>t . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39<br />
Arne Klempert<br />
Das Internet hat völlig neue Formen <strong>der</strong> <strong>Kommunikation</strong> und Informationsbeschaffung<br />
entstehen lassen, die die Spielregeln <strong>der</strong> Medienlandschaft grundlegend verän<strong>der</strong>n.<br />
Im Kampf um ihren Fortbestand <strong>in</strong> <strong>der</strong> herkömmlichen Form sche<strong>in</strong>en die Massenmedien<br />
den entscheidenden Diskurs zu verpassen.<br />
Im Netz <strong>der</strong> Parteien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44<br />
Ralf Güldenzopf/Stefan Hennewig<br />
Bei <strong>der</strong> Suche <strong>der</strong> Parteien nach adäquaten Aktivitäten im Internet s<strong>in</strong>d nicht nur dessen gänzlich<br />
verän<strong>der</strong>te <strong>Kommunikation</strong>sstrukturen „persönlicher Öffentlichkeiten“ zu beachten, son<strong>der</strong>n auch<br />
die Traditionen politischer <strong>Kommunikation</strong>, die hierzulande von den amerikanischen stark abweichen.<br />
Seite 2 Nr. 484 · März 2010
Das Engagement deutscher Parteien im Netz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49<br />
Hagen Albers<br />
Was haben die Parteien aus dem Onl<strong>in</strong>ewahlkampf 2009 gelernt, und welche Ziele<br />
verfolgen sie jetzt? Zu den Herausfor<strong>der</strong>ungen e<strong>in</strong>er notwendigen Profilbildung<br />
im Bereich von Onl<strong>in</strong>ekampagnen und Netzpolitik.<br />
Er<strong>in</strong>nern und verstehen<br />
Jurist, Kirchenmann und Politiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55<br />
Günter Buchstab<br />
Richard von Weizsäcker war <strong>in</strong> <strong>der</strong> Reihe <strong>der</strong> deutschen Bundespräsidenten <strong>der</strong> beliebteste.<br />
Die politische Klasse aber stand ihm aus vielen Gründen mit Skepsis gegenüber.<br />
E<strong>in</strong> Rückblick auf se<strong>in</strong> Leben anlässlich se<strong>in</strong>es bevorstehenden 90. Geburtstages.<br />
Der Demokratische Aufbruch und die Verfassungswirklichkeit <strong>der</strong> DDR . . 63<br />
Brigitta Kögler<br />
Die Ereignisse, die zur ersten freien Volkskammerwahl <strong>der</strong> DDR am 18. März 1990 führten, waren <strong>in</strong><br />
ihrer Dynamik kaum zu überbieten. Die Erarbeitung des Wahlgesetzes und die verfassungsrechtliche<br />
Gestaltung <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>vere<strong>in</strong>igung stellten e<strong>in</strong>e von Kontroversen erfüllte Herausfor<strong>der</strong>ung dar.<br />
Mit den Augen des an<strong>der</strong>en . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71<br />
Manfred Funke<br />
Der Weltbürger Alfred Grosser vollendete se<strong>in</strong> 85. Lebensjahr. Mit se<strong>in</strong>er schonungslosen<br />
Ehrlichkeit steht <strong>der</strong> e<strong>in</strong>stmals jüdische Emigrant aus Frankfurt am Ma<strong>in</strong> für Versöhnung<br />
durch e<strong>in</strong>e „warme Vernunft“ und „schöpferische Menschenfreundlichkeit“.<br />
E<strong>in</strong>e tödliche Wolke wie aus <strong>der</strong> Hölle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77<br />
Gisbert Kuhn<br />
Vor 95 Jahren begann mit dem Giftgase<strong>in</strong>satz bei Ypern <strong>der</strong> E<strong>in</strong>satz von Massenvernichtungsmitteln.<br />
gelesen<br />
Datenerhebung im Netz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54<br />
Britta Rottbeck<br />
Patrick Brauckmann (Hrsg.): Web-Monitor<strong>in</strong>g. Gew<strong>in</strong>nung und Analyse von Daten<br />
über das <strong>Kommunikation</strong>sverhalten im Internet<br />
Die <strong>in</strong>strumentalisierte Symphonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61<br />
Norbert Lammert<br />
Christ<strong>in</strong>a M. Stahl: Was die Mode streng geteilt? Beethovens Neunte während <strong>der</strong> deutschen Teilung<br />
Medienpolitik <strong>in</strong> <strong>der</strong> DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69<br />
Hans-Joachim Föller<br />
Jochen Staadt/Tobias Voigt/Stefan Wolle: Operation Fernsehen – Die Stasi und die Medien <strong>in</strong> Ost und<br />
West<br />
Christian Chmel: Die DDR-Berichterstattung bundesdeutscher Massenmedien<br />
und die Reaktionen <strong>der</strong> SED (1972–1989)<br />
Deutsche Identitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74<br />
Manfred Wilke<br />
Wolfgang Schuller: Die deutsche Revolution 1989<br />
Jan Fleischhauer: Unter L<strong>in</strong>ken. Von e<strong>in</strong>em, <strong>der</strong> aus Versehen konservativ wurde<br />
Wilfried Reckert: Kommunismus-Erfahrung. Zwanzig Jahre als DKP-Funktionär<br />
Aktuelles <strong>in</strong>tern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79<br />
Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80<br />
Nr. 484 · März 2010<br />
Seite 3
Das duale System<br />
benötigt e<strong>in</strong>e<br />
geme<strong>in</strong>same Evaluation<br />
Repräsentativität<br />
und Kompetenz<br />
Ernst Elitz<br />
Die menschliche Natur, so erläutert uns<br />
<strong>der</strong>en <strong>in</strong>timer Kenner Friedrich Schiller,<br />
dürste nicht nur nach auserlesenen Vergnügungen,<br />
son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Mensch stürze<br />
sich gern „zügellos <strong>in</strong> wilde Zerstreuungen,<br />
die se<strong>in</strong>en H<strong>in</strong>fall beschleunigen und<br />
die Ruhe <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong> zerstören. Bacchantische<br />
Freuden, ver<strong>der</strong>bliches Spiel,<br />
tausend Rasereien, die <strong>der</strong> Müssiggang<br />
ausheckt, s<strong>in</strong>d unvermeidlich, wenn <strong>der</strong><br />
Gesetzgeber diesen Hang des Volkes<br />
nicht zu lenken weiss.“ Sprach Friedrich<br />
Schiller vom Fernsehen? Beschrieb er die<br />
Grenzen <strong>der</strong> Grundversorgung? Hat <strong>der</strong><br />
Gesetzgeber se<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>weise aufgenommen?<br />
Heute haben die staatlichen Lenker den<br />
Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks<br />
<strong>in</strong> Rundfunkgesetzen und Staatsverträgen<br />
ausformuliert. Aufsichtsgremien<br />
wachen über das Programmangebot.<br />
Nicht nur die bacchantischen Freuden,<br />
son<strong>der</strong>n die Legitimation des öffentlich-rechtlichen<br />
Rundfunks stehen zur<br />
Debatte. Die Gebührenf<strong>in</strong>anzierung ist<br />
ke<strong>in</strong> Automatismus mehr, sie muss vor<br />
dem Gesetzgeber und <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />
von Gebührenperiode zu Gebührenperiode<br />
neu gerechtfertigt werden. Staatliche<br />
Aufgabe des Gesetzgebers ist es,<br />
durch Marktregulierung dafür Sorge zu<br />
tragen, dass die Marktchancen <strong>der</strong> privaten<br />
Wettbewerber durch den gebührenf<strong>in</strong>anzierten<br />
und damit von Konjunkturschwankungen<br />
unabhängigen öffentlichrechtlichen<br />
Rundfunk nicht unziemlich<br />
e<strong>in</strong>geschränkt werden. Alle<strong>in</strong>stellungsmerkmal<br />
des öffentlich-rechtlichen Rund-<br />
funks ist e<strong>in</strong> breit gefächertes Angebot, das<br />
sich auszeichnet durch Qualität, durch<br />
„absolute Qualität“, wie <strong>der</strong> ehemalige<br />
ARD-Vorsitzende Fritz Raff für die ARD<br />
<strong>in</strong> Anspruch nimmt.<br />
Bewertung <strong>der</strong> Qualität<br />
Der öffentlich bekundete Qualitätsanspruch<br />
führte dazu, dass die Län<strong>der</strong> mit<br />
dem siebten Rundfunkän<strong>der</strong>ungsstaatsvertrag<br />
von 2003 die <strong>in</strong> <strong>der</strong> ARD zusammengeschlossenen<br />
Landesrundfunkanstalten,<br />
ZDF und Deutschlandradio<br />
verpflichteten,imZwei-Jahres-Rhythmus<br />
Berichte über die „Erfüllung ihres jeweiligen<br />
Auftrags, über Qualität und Quantität<br />
<strong>der</strong> Angebote und <strong>der</strong> Programme sowie<br />
die geplanten Schwerpunkte <strong>der</strong> jeweils<br />
anstehenden programmlichen Leistungen“<br />
abzugeben. Diese <strong>in</strong> Paragraf 11<br />
des Rundfunkstaatsvertrags geregelten<br />
programmlichen Selbstverpflichtungserklärungen<br />
werden von den Rundfunkanstalten<br />
veröffentlicht und s<strong>in</strong>d wie die<br />
nach Paragraf 5a des Rundfunkf<strong>in</strong>anzierungsstaatsvertrages<br />
vorgesehenen Berichte<br />
zur wirtschaftlichen Lage Gegenstand<br />
von Anhörungen <strong>in</strong> den Landesparlamenten.<br />
Die Berufung auf die Programmqualität<br />
provoziert zwangsläufig die Frage<br />
nach verb<strong>in</strong>dlichen Bewertungsmaßstäben<br />
und Evaluationskriterien. Diese<br />
Frage richtet sich auch an die Aufsichtsgremien,<br />
denn die Selbstverpflichtungsvorlagen<br />
<strong>der</strong> Intendanten müssen von<br />
ihnen geprüft und können nicht ohne ihr<br />
zustimmendes Votum an Parlamente und<br />
Nr. 484 · März 2010<br />
Seite 5
Ernst Elitz<br />
Landesregierungen weitergereicht werden.<br />
Nach den Klagen kommerzieller Veranstalter<br />
<strong>in</strong> Brüssel gegen vermutete<br />
Wettbewerbsverstöße wurden den Rundfunk-<br />
und Fernsehräten vom Gesetzgeber<br />
noch weiter gehende Kontrollaufgaben<br />
übertragen. So obliegt ihnen nach <strong>der</strong><br />
Verabschiedung des zwölften Rundfunkän<strong>der</strong>ungsstaatsvertrages<br />
die Durchführung<br />
des sogenannten Drei-Stufen-Tests<br />
für die Zulassung von Telemedienangeboten<br />
(Internet) und neuen <strong>digitalen</strong><br />
Programmen. Sie haben sicherzustellen,<br />
dass diese Angebote <strong>in</strong>haltlich dem öffentlich-rechtlichen<br />
Auftrag entsprechen;<br />
sie haben die f<strong>in</strong>anziellen Bed<strong>in</strong>gungen<br />
zu prüfen und dafür Sorge zu tragen,<br />
dass es nicht zu Wettbewerbsverzerrungen<br />
zulasten kommerzieller Anbieter<br />
kommt. Hier handelt es sich um höchst<br />
anspruchsvolle Bewertungsprozesse, für<br />
die die Rundfunkanstalten den Gremien<br />
eigene Personalapparate bereitstellen<br />
mussten.<br />
„Die Gutachter-Industrie“<br />
Bed<strong>in</strong>gt durch die Komplexität <strong>der</strong> Materie,<br />
etablierte sich e<strong>in</strong>e von den Rundfunkanstalten<br />
zu f<strong>in</strong>anzierende Gutachter-Industrie,<br />
die entscheidend an <strong>der</strong><br />
Erstellung <strong>der</strong> Telemedien-Konzepte mitarbeitete<br />
und sie mit ihren Testaten versah.<br />
Die entsprechenden Vorschriften des<br />
Rundfunkstaatsvertrags, die sich we<strong>der</strong><br />
durch <strong>in</strong>haltliche noch begriffliche Klarheit<br />
auszeichneten, produzierten Unsicherheiten,<br />
die die Bewältigung des Drei-<br />
Stufen-Tests zu e<strong>in</strong>er beson<strong>der</strong>en Herausfor<strong>der</strong>ung<br />
machten. Dabei blicken die privaten<br />
Wettbewerber mit Argusaugen auf<br />
die Telemedienkonzepte <strong>der</strong> öffentlichrechtlichen<br />
Anstalten, die ihnen zur Stellungnahme<br />
vorgelegt werden müssen.<br />
Die Vorgaben aus Brüssel und ihre<br />
Umsetzung durch den Gesetzgeber<br />
machen deutlich, dass <strong>der</strong> öffentlichrechtliche<br />
Rundfunk künftige Entwicklungen<br />
nur noch unter strenger Aufsicht<br />
<strong>der</strong> Politik und unter scharfer Beobachtung<br />
durch die private Konkurrenz absolvieren<br />
kann. Insoweit markieren die<br />
staatsvertraglichen Regelungen <strong>der</strong> letzten<br />
Jahre e<strong>in</strong>e medienpolitische Zeitenwende,<br />
<strong>der</strong>en Ausmaß wohl von den<br />
Spitzen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks,<br />
aber noch nicht von allen Mitglie<strong>der</strong>n<br />
<strong>der</strong> Aufsichtsgremien erkannt<br />
worden ist.<br />
Aufsichtsgremien<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Verantwortung<br />
Die wachsende Bedeutung <strong>der</strong> Aufsichtsgremien<br />
lenkt den Blick auf ihre Repräsentativität<br />
und Kompetenz. Die Gremien<br />
sollen die gesamte <strong>Gesellschaft</strong><br />
wi<strong>der</strong>spiegeln und setzen sich aus Vertretern<br />
von Verbänden, Institutionen, Regierungen<br />
und Parteien zusammen. Die<br />
fachliche Kompetenz <strong>der</strong> Gremienmitglie<strong>der</strong><br />
ist <strong>in</strong> ihren jeweiligen Tätigkeitsbereichen<br />
hoch zu veranschlagen, für den<br />
Zuwachs an Medienverantwortung aber<br />
bedürfen sie weiterer sachkundiger Unterstützung.<br />
Diese E<strong>in</strong>sicht ist allgegenwärtig.<br />
Die Repräsentativität <strong>der</strong> Gremienzusammensetzung<br />
wird aktuell im Zusammenhang<br />
mit <strong>der</strong> Nichtverlängerung<br />
des Anstellungsvertrages für den ZDF-<br />
Chefredakteur Nikolaus Bren<strong>der</strong> diskutiert.<br />
Für die Genehmigung <strong>der</strong> Verträge<br />
mit leitenden Mitarbeitern s<strong>in</strong>d jeweils<br />
die den Aufsichtsräten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wirtschaft<br />
nicht unähnlichen Verwaltungsräte <strong>der</strong><br />
Rundfunkanstalten zuständig, während<br />
Programmfragen und damit auch die<br />
Entscheidungen über die Telemedienkonzepte<br />
den an Mitglie<strong>der</strong>zahl größeren<br />
Rundfunk- o<strong>der</strong> Fernsehräten obliegen.<br />
Aufgrund <strong>der</strong> nationalen Struktur des<br />
ZDF entsenden alle Landesregierungen<br />
und die Bundesregierung Vertreter <strong>in</strong> die<br />
Gremien <strong>der</strong> Fernsehanstalt. Mith<strong>in</strong> ist<br />
die Zahl von Politikern und Inhabern von<br />
Regierungsfunktionen <strong>in</strong> den Aufsichts-<br />
Seite 6 Nr. 484 · März 2010
Repräsentativität und Kompetenz<br />
gremien des ZDF beson<strong>der</strong>s hoch, und<br />
die schon lange schwelende Debatte über<br />
Staats- und Parteivertreter im qua Gesetz<br />
staatsfreien Rundfunk konnte sich anlässlich<br />
dieser Personalentscheidung neu entzünden.<br />
Der Ruf nach e<strong>in</strong>er Reform <strong>der</strong><br />
Gremienzusammensetzung unter weitgehendem<br />
Ausschluss <strong>der</strong> Politik wurde<br />
unüberhörbar. Dabei ist erstens anzumerken,<br />
dass die Län<strong>der</strong> als Träger <strong>der</strong> Rundfunkhoheit<br />
auch Gewährsträger des ZDF<br />
s<strong>in</strong>d (sie tragen also Verantwortung für<br />
das Unternehmen) und dass zweitens bei<br />
<strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong> herrschenden Politikverdrossenheit<br />
e<strong>in</strong>e For<strong>der</strong>ung nach E<strong>in</strong>flussverzicht<br />
für die Politik sich des<br />
öffentlichen Beifalls auch ohne genauere<br />
Sachkenntnis sicher se<strong>in</strong> kann.<br />
Schw<strong>in</strong>den<strong>der</strong> E<strong>in</strong>fluss <strong>der</strong> Politik<br />
Nach e<strong>in</strong>em Ausscheiden von Partei- und<br />
Regierungsvertretern aus den Gremien<br />
würde zwangsläufig <strong>der</strong> E<strong>in</strong>fluss <strong>der</strong> Verbände<br />
steigen. Schwer zu verstehen<br />
bleibt, warum das Deutsche Rote Kreuz,<br />
<strong>der</strong> Bundesverband <strong>der</strong> Vertriebenen<br />
o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Tierschutzbund, warum die<br />
Interessenvertreter <strong>der</strong> Industrie o<strong>der</strong> des<br />
DGB berufenere Aufsichtsführende über<br />
das hehre Gut des öffentlichen-rechtlichen<br />
Rundfunks se<strong>in</strong> sollen als die Abgesandten<br />
von Parteien, die immerh<strong>in</strong><br />
über e<strong>in</strong> breites repräsentatives Mandat<br />
verfügen, was Funktionäre von Verbänden,<br />
<strong>der</strong>en Mitglie<strong>der</strong>zahl ständig s<strong>in</strong>kt,<br />
nicht gerade von sich behaupten können.<br />
Sie vertreten Korporations<strong>in</strong>teressen.<br />
Weniger Politiker <strong>in</strong> den Gremien<br />
heißt nicht weniger Parteipolitik, denn<br />
auch Verbandsvertreter s<strong>in</strong>d Multifunktionäre<br />
und Lobbyisten, die Allianzen mit<br />
dem Gesetzgeber schmieden und sich um<br />
e<strong>in</strong>en kräftigen Schlag aus den Suppenküchen<br />
<strong>der</strong> öffentlichen Mittelvergabe<br />
bewerben. Da hört man als Verbandsvertreter<br />
schon mal genauer h<strong>in</strong>, wenn Politiker<br />
etwas zu sagen haben, zumal die<br />
Spezies <strong>der</strong> Verbandsfunktionäre zum<br />
Milieu <strong>der</strong> politisch engagierten Bürger<br />
gehört, die sich lobenswerterweise <strong>in</strong><br />
Parteien engagieren und entsprechende<br />
politische Prioritäten setzen. So würde<br />
mit neuen Auswahlpr<strong>in</strong>zipien <strong>der</strong> Parteiene<strong>in</strong>fluss<br />
nicht etwa beseitigt, son<strong>der</strong>n<br />
von <strong>der</strong> Oberfläche <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en schwerer<br />
zu durchschauenden Untergrund abgedrängt.<br />
E<strong>in</strong> Zugew<strong>in</strong>n an Unabhängigkeit<br />
dürfte durch e<strong>in</strong>en Rückzug <strong>der</strong> Politik<br />
aus den Rundfunkgremien kaum<br />
messbar se<strong>in</strong>.<br />
Gäbe es e<strong>in</strong>en Zugew<strong>in</strong>n an Kompetenz?<br />
Der historische E<strong>in</strong>schnitt <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Medienpolitik, <strong>der</strong> durch programmliche<br />
Selbstverpflichtungserklärungen und<br />
Drei-Stufen-Test markiert ist, for<strong>der</strong>t von<br />
den Gremien als selbstständigen, vom<br />
Intendanten unabhängigen Organen <strong>der</strong><br />
Rundfunkanstalten künftig auch die Befassung<br />
mit den strategischen Themen,<br />
die die medienpolitischen und medienwirtschaftlichen<br />
Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen<br />
dieses Jahrzehnts bestimmen:<br />
Existenzielle Fragen<br />
<strong>der</strong> Rundfunkanstalten<br />
– Was s<strong>in</strong>d die Konsequenzen aus <strong>der</strong><br />
durch das Internet vorangetriebenen<br />
Auflösung <strong>der</strong> klassischen Mediengattungen?<br />
Rundfunksendungen werden<br />
verschriftet, s<strong>in</strong>d nachlesbar, werden<br />
durch Fotos und Videos ergänzt. Zeitungen<br />
machen ihre Inhalte hörbar, verknüpfen<br />
sich mit Netzangeboten und werden<br />
zugleich Video-Anbieter. Das Fernsehen<br />
verliert se<strong>in</strong> Privileg auf das bewegte Bild.<br />
– E<strong>in</strong>e verän<strong>der</strong>teMedienwelt mussneue<br />
F<strong>in</strong>anzierungsformen entwickeln. Werbeblöcke<br />
und Unterbrecherwerbung s<strong>in</strong>d<br />
schon heute e<strong>in</strong> Auslaufmodell. Die klassische<br />
Trennung zwischen Werbung und<br />
Programm wird sich zum<strong>in</strong>dest bei den<br />
kommerziellen Veranstaltern nicht aufrechterhalten<br />
lassen.<br />
– Es ist absehbar, dass dem öffentlichrechtlichen<br />
Rundfunk <strong>in</strong> künftigen Rundfunkstaatsverträgen<br />
Werbung und Spon-<br />
Nr. 484 · März 2010<br />
Seite 7
Ernst Elitz<br />
sor<strong>in</strong>g untersagt werden. Das Verbot des<br />
product placement ist <strong>der</strong> erste Schritt. Es ist<br />
nicht damit zu rechnen, dass Zusagen <strong>der</strong><br />
Politik, fehlende Werbee<strong>in</strong>nahmen durch<br />
e<strong>in</strong>e entsprechende Erhöhung <strong>der</strong> Gebühr<br />
auszugleichen, e<strong>in</strong>gehalten werden.<br />
Angesichts <strong>der</strong> wachsenden Vielfalt an<br />
Medienangeboten wird die Bereitschaft<br />
für e<strong>in</strong>e Gebührenzahlung rapide abnehmen.<br />
– Das f<strong>in</strong>anzielle Ungleichgewicht zwischen<br />
den Landesrundfunkanstalten <strong>der</strong><br />
ARD wird die kle<strong>in</strong>eren Sen<strong>der</strong> vollends<br />
<strong>in</strong> die Bedeutungslosigkeit zurückfallen<br />
lassen. Der ARD-Verbund, gegründet um<br />
die bundesweite Präsenz aller Anstalten<br />
im Ersten und den Programmaustausch<br />
<strong>in</strong> den Dritten zu gewährleisten, geht<br />
damit e<strong>in</strong>es Großteils se<strong>in</strong>er Aufgaben<br />
verlustig. Entwe<strong>der</strong> die Län<strong>der</strong> verpflichten<br />
die ARD, e<strong>in</strong>en für jede Anstalt geltenden<br />
Grundbestand an Radioprogrammen<br />
und regionalen Berichterstattungsflächen<br />
<strong>in</strong> den Dritten Programmen und<br />
Zulieferungen zum Ersten festzulegen<br />
und zu f<strong>in</strong>anzieren, o<strong>der</strong> die kle<strong>in</strong>eren<br />
und mittleren Landesrundfunkanstalten<br />
werden schrittweise abgewickelt. Nur<br />
NDR, SWR, WDR und BR überleben.<br />
– Welche Rolle übernehmen <strong>in</strong> diesem<br />
realistischen Zukunftsszenario die nationalen<br />
Anbieter ZDF und Deutschlandradio?<br />
– Bereits heute nehmen die Vertreter<br />
<strong>der</strong> privaten Radio- und Fernsehveranstalter<br />
für sich <strong>in</strong> Anspruch, dass ihre<br />
Programme ebenfalls gesellschaftliche<br />
Relevanz haben und öffentliche Aufgaben<br />
wahrnehmen. Wenn <strong>der</strong> Gesetzgeber<br />
angesichts e<strong>in</strong>er fortschreitenden<br />
Auflösung klassischer Mediengrenzen<br />
und zunehmen<strong>der</strong> Konkurrenz sicherstellen<br />
will, dass gesellschaftspolitisch<br />
erwünschte Inhalte wie Nachrichten,<br />
H<strong>in</strong>tergrund<strong>in</strong>formationen, Me<strong>in</strong>ungsbildung<br />
(klassische Pressefunktionen)<br />
nicht aus den kommerziellen Angeboten<br />
verschw<strong>in</strong>den, ist nicht auszuschließen,<br />
dass e<strong>in</strong>e f<strong>in</strong>anzielle För<strong>der</strong>ung entsprechen<strong>der</strong><br />
Formate aus öffentlichen o<strong>der</strong><br />
Gebührenmitteln erfolgt. Das Argument<br />
e<strong>in</strong>er gesellschaftspolitisch notwendigen<br />
Vielfalt- und Qualitätssicherung wäre<br />
auch von den Öffentlichen-Rechtlichen<br />
schwer zu wi<strong>der</strong>legen.<br />
– Welche Formen <strong>der</strong> Kooperation ergeben<br />
sich daraus zwischen Öffentlich-<br />
Rechtlichen und Privaten? Welche Anreizsysteme<br />
für die Produktion von Qualitätsformaten,<br />
unabhängig vom System,<br />
bieten sich an?<br />
Exzellenter Sachverstand<br />
ist gefor<strong>der</strong>t<br />
Diese existenziellen Fragen werden alle<br />
Organe <strong>der</strong> Rundfunkanstalten beschäftigen.<br />
Um sie kompetent zu diskutieren<br />
und im Interesse <strong>der</strong> ihnen anvertrauten<br />
Unternehmen zu entscheiden, bedarf es<br />
e<strong>in</strong>es Höchstmaßes an Kenntnissen <strong>in</strong> den<br />
Gremien. Politiker können dabei auf den<br />
Sachverstand <strong>in</strong> Regierungs- und Parlamentsapparaten<br />
zurückgreifen. Die Vertreter<br />
von Verbänden und an<strong>der</strong>en Institutionen<br />
haben diese Möglichkeit nicht.<br />
Sie bedürfen ständiger Fortbildung und<br />
externer Beratung.<br />
Im Mittelpunkt des medialen Wettbewerbs<br />
werden künftig Inhalte, nicht<br />
Übertragungswege stehen. Damit richtet<br />
sich das Augenmerk auf die beson<strong>der</strong>e öffentlich-rechtliche<br />
Qualität – <strong>in</strong> den fiktionalen<br />
wie <strong>in</strong> den nonfiktionalen Genres,<br />
und die Qualitätsevaluation wird zur permanenten<br />
Aufgabe. Angesichts <strong>der</strong> Auflösung<br />
tradierter Vermittlungs- und<br />
Übermittlungsformen müssen die Aufsichtsgremien<br />
auch <strong>in</strong> die Lage versetzt<br />
werden, die Entwicklung <strong>der</strong> programmrelevanten<br />
<strong>Kommunikation</strong>stechnik zu<br />
begleiten. Für jede Beurteilung ist höchst<br />
differenzierter Sachverstand vonnöten.<br />
E<strong>in</strong>e Reihe dieser Aufgaben wird sich<br />
auch den Landesmedienanstalten, den<br />
Aufsichtsbehörden über den Privatrundfunk,<br />
und den Landesmedienräten stel-<br />
Seite 8 Nr. 484 · März 2010
Repräsentativität und Kompetenz<br />
len. Die Landesmedienräte bedürfen wie<br />
die Rundfunkräte e<strong>in</strong>er entsprechenden<br />
Hilfestellung. E<strong>in</strong>e komb<strong>in</strong>ierte Dienstleistung<br />
für die Aufsichtsorgane bei<strong>der</strong><br />
Säulen des dualen Systems ersche<strong>in</strong>t<br />
nicht nur aus ökonomischen und organisationstechnischen<br />
Gründen s<strong>in</strong>nvoll.<br />
Wenn e<strong>in</strong>erseits das öffentlich-rechtliche<br />
System se<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>en Qualitäten und<br />
an<strong>der</strong>erseits <strong>der</strong> kommerzielle Sektor<br />
se<strong>in</strong>e Leistungen zur gesellschaftlichen<br />
Funktion <strong>der</strong> Medien herausstellen will,<br />
spricht das für geme<strong>in</strong>sam akzeptierte<br />
Evaluationskataloge und die Heranziehung<br />
unabhängiger Experten, die nicht<br />
unter dem Verdacht stehen, e<strong>in</strong>em <strong>der</strong><br />
Systeme verpflichtet zu se<strong>in</strong>. Auf jeden<br />
Fall, ohne Expertenrat werden die Gremien<br />
diese Aufgaben nicht bewältigen<br />
können.<br />
Expertise<br />
im lockeren Arbeitsverbund<br />
Will man darauf verzichten, neue <strong>in</strong>stitutionelle<br />
Strukturen zu schaffen, so bietet<br />
sich als Dienstleister für die notwendige<br />
Expertise die Konstruktion e<strong>in</strong>es lockeren<br />
Arbeitsverbundes an, <strong>der</strong> aus E<strong>in</strong>richtungen<br />
wie dem Adolf-Grimme-Institut,<br />
dem Hans-Bredow-Institut, Hochschul<strong>in</strong>stituten<br />
und unabhängigen Medienforschern<br />
gebildet wird. In diesem<br />
Verbund könnten Themenbereiche bearbeitet<br />
werden, die mit den jeweiligen<br />
Aufsichtsgremien des öffentlich-rechtlichen<br />
wie des kommerziellen Rundfunks<br />
und gegebenenfalls mit politischen Institutionen<br />
abgestimmt werden. Auch die<br />
Kommission zur Ermittlung des F<strong>in</strong>anzbedarfs<br />
<strong>der</strong> Rundfunkanstalten (KEF)<br />
müsste auf die Arbeiten dieses Verbundes<br />
zurückgreifen können.<br />
In Großbritannien gibt die nationale<br />
Regulierungs- und Wettbewerbsbehörde<br />
Ofcom auch verb<strong>in</strong>dliche Ratschläge für<br />
die Entwicklung technischer Übertragungssysteme,<br />
was angesichts des Hun<strong>der</strong>te<br />
von Millionen verschl<strong>in</strong>genden<br />
Desasters um den <strong>digitalen</strong> Radio-Standard<br />
DAB für Deutschland ebenfalls<br />
wünschenswert wäre, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em fö<strong>der</strong>alen<br />
Staat aber nicht durchsetzbar ist. Zum<strong>in</strong>dest<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Bereichen könnte <strong>der</strong> beschriebene<br />
unabhängige Arbeitsverbund<br />
aber die Mängel e<strong>in</strong>er nationalen Entscheidungsf<strong>in</strong>dung<br />
durch se<strong>in</strong>e Autorität<br />
ausgleichen.<br />
Für die F<strong>in</strong>anzierung dieses Arbeitsverbundes<br />
könnten F<strong>in</strong>anzmittel herangezogen<br />
werden, die den Landesmedienanstalten<br />
aus Gebührengel<strong>der</strong>n zur<br />
Verfügung stehen. Der Arbeitsverbund<br />
könnte unter Aufsicht e<strong>in</strong>es relativ schmalen<br />
Boards von unabhängigen Fachleuten<br />
arbeiten. Er hätte, <strong>in</strong> Absprache mit den<br />
Rundfunkgremien und orientiert an den<br />
gesetzlichen Vorgaben, über se<strong>in</strong>e Arbeitsvorhaben<br />
zu entscheiden. Er wäre<br />
Auftragnehmer <strong>der</strong> Gremien. Dies wäre<br />
allemal effektiver als e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teressenbestimmte<br />
Auswahl von Experten aus dem<br />
Kreis <strong>der</strong> Beratungs<strong>in</strong>dustrie. Vorrangig<br />
wäre die Erarbeitung e<strong>in</strong>es geme<strong>in</strong>samen<br />
Rasters für die Selbstverpflichtungserklärungen<br />
<strong>der</strong> Rundfunkanstalten. Nur e<strong>in</strong><br />
geme<strong>in</strong>sames Raster ermöglicht Vergleichbarkeit<br />
und beför<strong>der</strong>t den Qualitätswettbewerb.<br />
Die Eckpunkte <strong>der</strong> Organisation<br />
und <strong>der</strong> Aufgabenstellung e<strong>in</strong>es<br />
solchen Arbeitsverbundes sollten durch<br />
die Län<strong>der</strong> rundfunkrechtlich festgelegt,<br />
die E<strong>in</strong>zelheiten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verantwortung<br />
<strong>der</strong> Beteiligten geregelt werden.<br />
Kriterien <strong>der</strong> Beurteilung<br />
Unabhängig von <strong>der</strong> konkreten Vorgehensweise<br />
wird es zunächst darauf ankommen,<br />
Kriterien für die Beurteilung<br />
von Programmqualität zu f<strong>in</strong>den. Sie<br />
sollten für den öffentlich-rechtlichen wie<br />
für den kommerziellen Bereich konsensfähig,<br />
überprüfbar und operationabel<br />
se<strong>in</strong>. In <strong>der</strong> Wissenschaft wie <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Publizistik gibt es bereits nutzbare Materialien,<br />
die ausgewertet und ergänzt werden<br />
könnten. Als mögliche Ansatzpunkte<br />
Nr. 484 · März 2010<br />
Seite 9
Ernst Elitz<br />
<strong>der</strong> Kriteriendef<strong>in</strong>ition könnten klassische<br />
journalistische Standards (Recherchentiefe,<br />
Informationsvielfalt, Verständlichkeit<br />
für Zielgruppen, H<strong>in</strong>tergrund<strong>in</strong>formation,<br />
Relevanz, Me<strong>in</strong>ungsvielfalt,<br />
Erarbeitung neuer Themen) dienen. Ansatzpunkte<br />
für den fiktionalen Bereich<br />
wären etwa das Verhältnis von Eigenproduktionen<br />
zu Übernahmen, <strong>in</strong>novative<br />
Ansätze bei Themenf<strong>in</strong>dung und Umsetzung,<br />
handwerkliche Professionalität,<br />
Publikumsresonanz et cetera. Die Anwendung<br />
dieser Kriterien würde die Arbeit<br />
<strong>der</strong> Aufsichtsgremien professionalisieren<br />
und ihre Unabhängigkeit gegenüber<br />
den Vertretern des Sen<strong>der</strong>-Managements<br />
stärken. Heute unterliegen sie häufig<br />
dem Verdacht, Abnicker <strong>der</strong> Intendanten-Vorlagen<br />
zu se<strong>in</strong>.<br />
Auch <strong>in</strong> strategischen Fragen könnte<br />
e<strong>in</strong> hier vorgeschlagener Arbeitsverbund<br />
die Kompetenz <strong>der</strong> Gremien stärken,<br />
<strong>in</strong>dem er regelmäßig Berichte über<br />
strukturelle Entwicklungen im dualen<br />
Rundfunksystem publiziert und öffentliche<br />
Anhörungen zu technischen, programmlichen,<br />
ökonomischen und wettbewerblichen<br />
Themen veranstaltet. Der<br />
Wildwuchs regionaler Medientage dürfte<br />
schon aus f<strong>in</strong>anziellen Gründen bald <strong>der</strong><br />
Vergangenheit angehören. Daraus ergibt<br />
sich die Chance zu e<strong>in</strong>er strukturierten<br />
öffentlichen Debatte über Medienfragen.<br />
Digitalisierung<br />
erzw<strong>in</strong>gt mehr Transparenz<br />
Die bisherige Form <strong>der</strong> staatlichen Medienregulierung<br />
und <strong>der</strong> Gremienarbeit<br />
entsprach den Bed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong> analogen<br />
<strong>Kommunikation</strong>swelt, <strong>in</strong> <strong>der</strong> es klare<br />
Unterscheidungen zwischen Fernsehen,<br />
Pr<strong>in</strong>t und Radio, zwischen Massen- und<br />
Individualkommunikation gab und wo<br />
das Angebot <strong>der</strong> elektronischen Medien –<br />
bed<strong>in</strong>gt durch die begrenzten Übertragungskapazitäten<br />
– relativ überschaubar<br />
war. Mit dem Übergang zur Digitalisierung<br />
hat sich diese klar strukturierte Medienwelt<br />
mehr und mehr aufgelöst. Umso<br />
wichtiger wird es für die Aufsichtsgremien,<br />
ihre Unabhängigkeit durch Kompetenzaufbau<br />
zu stärken und ihre Entscheidungen<br />
<strong>der</strong> Öffentlichkeit transparent<br />
zu machen. Das ist e<strong>in</strong>e Chance,<br />
aber zugleich e<strong>in</strong>e gesellschaftspolitische<br />
Herausfor<strong>der</strong>ung für die Aufsichtsgremien<br />
des Rundfunks.<br />
Perspektiven deutscher Netzpolitik<br />
Das Bundes<strong>in</strong>nenm<strong>in</strong>isterium lädt e<strong>in</strong><br />
Bundes<strong>in</strong>nenm<strong>in</strong>ister Thomas de Maizière wird im ersten Halbjahr 2010 unter dem<br />
Titel „Perspektiven deutscher Netz-Politik“ vier Dialogveranstaltungen und e<strong>in</strong>en<br />
begleitenden Onl<strong>in</strong>e-Dialog durchführen.<br />
Langfristiges Ziel <strong>der</strong> Initiative ist die Formulierung e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>heitlichen Strategie für<br />
die Netzpolitik <strong>der</strong> Bundesregierung. Über das neu e<strong>in</strong>gerichtete Internet-Portal<br />
e-konsultation.de soll den Bürgern hierbei die Möglichkeit zur Mitarbeit an den<br />
Grundsätzen <strong>der</strong> zukünftigen Netzpolitik gegeben werden.<br />
Seite 10 Nr. 484 · März 2010
Die Informationswege<br />
des Netzes<br />
s<strong>in</strong>d we<strong>der</strong> Ersatz<br />
noch Gefahr<br />
Zukunft <strong>der</strong><br />
Zeitung – Zeitung<br />
<strong>der</strong> Zukunft<br />
Gernot Facius<br />
Die Endzeit ist für 2043 avisiert. Dann,<br />
prophezeite vor sechs Jahren <strong>der</strong> Amerikaner<br />
Philip Meyer <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch<br />
The Vanish<strong>in</strong>g Newspaper, werde das letzte<br />
Mal das Exemplar e<strong>in</strong>er gedruckten Zeitung<br />
im Briefkasten o<strong>der</strong> vor <strong>der</strong> Tür<br />
e<strong>in</strong>es US-Bürgers liegen. Diese apokalyptische<br />
Vision ist seither tausendfach kolportiert<br />
worden. Die Medienmärkte s<strong>in</strong>d<br />
<strong>in</strong> Bewegung wie nie. Heute noch „<strong>in</strong>“,<br />
morgen schon „mega-out“?<br />
Tod <strong>der</strong> Gutenberg-Galaxis?<br />
Die Dynamik des Internets sche<strong>in</strong>t grenzenlos,<br />
ke<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Medium hat sich so<br />
zügig durchgesetzt wie das weltweit gespannte<br />
Netz. Das Fernsehen brauchte<br />
dreizehn Jahre, um <strong>in</strong> das Gros <strong>der</strong> Haushalte<br />
zu gelangen, das Internet erreichte<br />
schon fünf Jahre nach dem Start mehr als<br />
sechzehn Millionen Deutsche, und die<br />
Kurve schoss steil nach oben. Rückt <strong>der</strong><br />
Tod <strong>der</strong> Gutenberg-Galaxis nahe, ist die<br />
gute alte Zeitung bald von gestern? Auch<br />
Verleger und Journalisten haben sich von<br />
<strong>der</strong> Hysterie anstecken und sich e<strong>in</strong>reden<br />
lassen, das Geschäftsmodell des vor allem<br />
seriösen Pr<strong>in</strong>t-Journalismus sei <strong>in</strong> absehbarer<br />
Zeit am Ende. Defätismus pur!<br />
Natürlich darf man die Nachrichten<br />
über das „Zeitungssterben“ <strong>in</strong> den USA<br />
nicht ignorieren. Aber lassen sich die<br />
amerikanischen Medienverhältnisse e<strong>in</strong>s<br />
zu e<strong>in</strong>s auf die deutschen übertragen?<br />
Kaum. Verlage <strong>in</strong> den Vere<strong>in</strong>igten Staaten,<br />
lange von konjunkturellen Schwankungen<br />
verschont und an fließende E<strong>in</strong>nahmen<br />
aus <strong>der</strong> Werbung gewöhnt, ha-<br />
ben es versäumt, rechtzeitig auf verän<strong>der</strong>te<br />
Bed<strong>in</strong>gungen zu reagieren. Das<br />
deutsche Vertriebssystem ist zudem geeignet,<br />
die traditionellen B<strong>in</strong>dungskräfte<br />
zwischen Zeitung und Publikum zu stärken,<br />
e<strong>in</strong> Vorteil gegenüber den USA. Vor<br />
allem aber spr<strong>in</strong>gt <strong>der</strong> Unterschied <strong>der</strong><br />
Eigentumsverhältnisse <strong>in</strong>s Auge. Kurzfristige,<br />
hektische F<strong>in</strong>anz<strong>in</strong>teressen bestimmen<br />
Entscheidungen vieler amerikanischer<br />
Zeitungshäuser. E<strong>in</strong> von Eigentümern<br />
geführtes deutsches Presseunternehmen<br />
kann eher langfristige, nachhaltige<br />
Strategien entwickeln und dabei<br />
den publizistischen Anspruch wahren.<br />
Die deutsche Verlagskultur ist e<strong>in</strong> großes<br />
Plus. Sie hat bisher e<strong>in</strong>e breite Pressevielfalt<br />
garantiert. Und von ihrer Bewahrung<br />
hängt viel ab für die Zeitung von morgen.<br />
Kassandra ist ke<strong>in</strong>e Leitfigur<br />
Kassandra kann nicht Leitfigur <strong>der</strong> Branche<br />
se<strong>in</strong>, das wäre, fürwahr, e<strong>in</strong> schlechter<br />
Witz. Richtig ist freilich: Der Lesermarkt<br />
erodiert, es gibt Verschiebungen<br />
im Nutzerverhalten, beson<strong>der</strong>s des jungen<br />
Publikums. Nicht alle Probleme lassen<br />
sich eben auf die Wirtschaftskrise zurückführen,<br />
wir haben es auch mit e<strong>in</strong>em<br />
strukturellen Medienwandel zu tun. Die<br />
grundlegende Kulturtechnik des Lesens<br />
wird nicht mehr automatisch von Generation<br />
zu Generation weitergegeben. Die<br />
Lesefähigkeit hat gelitten, hier stellen sich<br />
Anfragen an Schule und Bildung. Zudem<br />
geben sich, wie <strong>der</strong> <strong>Kommunikation</strong>swissenschaftler<br />
Michael Haller (Leipzig)<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Untersuchungen festgehalten<br />
Nr. 484 · März 2010<br />
Seite 11
Gernot Facius<br />
hat, die jungen Leute unter dreißig „postpolitisch,<br />
ihre Interessen s<strong>in</strong>d auf Lifestyle,<br />
Gruppenmoral und Globalität gerichtet<br />
– Themen, die kaum Nachrichten<br />
erzeugen, die aber von den Unterhaltungsmedien<br />
(Zeitschriften und Fernsehen)<br />
<strong>in</strong>tensiv bedient werden“. Diese<br />
Generation f<strong>in</strong>det erst deutlich später als<br />
frühere Alterskohorten, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Phase <strong>der</strong><br />
Etablierung, zur regelmäßigen Zeitungslektüre.<br />
Zeitungsreichweiten stabil<br />
Richtig ist aber auch: Die Zeitungsreichweiten<br />
s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Deutschland selbst im<br />
Krisenjahr 2009 mit 71,4 Prozent (e<strong>in</strong><br />
Prozentpunkt weniger als 2008) weitgehend<br />
stabil geblieben. Das bedeutet, dass<br />
durchschnittlich 46,3 Millionen Deutsche,<br />
älter als vierzehn Jahre, pro Tag e<strong>in</strong>e Zeitung<br />
<strong>in</strong> die Hand nehmen, h<strong>in</strong>zu kommen<br />
17,3 Millionen Internetleser, die regelmäßig<br />
auf die Websites <strong>der</strong> Zeitungen gehen.<br />
Zwar ist e<strong>in</strong> nicht unwesentlicher Teil des<br />
klassischen Anzeigengeschäfts <strong>in</strong>s Internet<br />
abgewan<strong>der</strong>t. Früher haben Zeitungen<br />
<strong>in</strong> westdeutschen Ballungsräumen<br />
siebzig Prozent ihrer Erlöse aus Anzeigen<br />
beziehungsweise Werbung erzielt und<br />
dreißig Prozent aus Abonnements und<br />
E<strong>in</strong>zelverkauf; heute beträgt das Verhältnis<br />
fünfzig zu fünfzig.<br />
Das heißt aber noch lange nicht, dass<br />
über Pr<strong>in</strong>t <strong>der</strong> Todesengel schwebt. Alle<strong>in</strong><br />
die Regionalblätter setzen mehr als<br />
fünfzehn Millionen Exemplare pro Tag<br />
ab, die Regionalzeitung ist die Nummer<br />
e<strong>in</strong>s <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mediennutzung. Neunzig<br />
Prozent ihrer Leser benötigen sie für<br />
die regionale und für die überregionale<br />
Information. Sie haben mith<strong>in</strong> auch <strong>in</strong><br />
Zukunft e<strong>in</strong>e Doppelfunktion. Sie s<strong>in</strong>d<br />
Grund- und Komplettversorger <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em.<br />
Auf den großen Weltteil, die Berichterstattung<br />
aus Berl<strong>in</strong> o<strong>der</strong> dem Ausland,<br />
zu verzichten wäre von Nachteil. Es hat<br />
an Ratschlägen nicht gefehlt, regionale<br />
Blätter sollten den Nachrichtenteil zugunsten<br />
des me<strong>in</strong>ungsbildenden Journalismus<br />
reduzieren. „Ganz falsch“,<br />
weist <strong>der</strong> <strong>Kommunikation</strong>swissenschaftler<br />
Klaus Schönbach solche Empfehlungen<br />
zurück. Denn den Lesern sei genau<br />
dieser Nachrichtenteil mit se<strong>in</strong>em Überblicks-<br />
und Überraschungswert m<strong>in</strong>destens<br />
so wichtig wie die E<strong>in</strong>ordnungsfunktion.<br />
Aktualität ist heute die Domäne <strong>der</strong><br />
schnellen Medien Radio, Fernsehen und<br />
Internet. Ganz ohne Frage. Doch <strong>der</strong> Verzicht<br />
auf die Nachricht, möglichst exklusiv,<br />
wäre gegen die Natur <strong>der</strong> Zeitung. Sie<br />
wird auch gelesen, um sich überraschen<br />
zu lassen. „Nachrichtenfreude“ nannte<br />
dies Emil Dovifat, e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Großen <strong>der</strong><br />
<strong>Kommunikation</strong>swissenschaft.<br />
Letztes universales Medium<br />
und „Wun<strong>der</strong>tüte“<br />
Zeitungen, schrieb <strong>der</strong> 2003 verstorbene<br />
Journalist Herbert Riehl-Heyse (Süddeutsche<br />
Zeitung), hielten wenigstens den Anspruch<br />
aufrecht, die ganze Welt <strong>in</strong> ihrer<br />
Vielfalt wi<strong>der</strong>zuspiegeln, sich pr<strong>in</strong>zipiell<br />
für alles zu <strong>in</strong>teressieren; sie seien das<br />
Gegengift gegen das um sich greifende<br />
„Fachidiotentum“, e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> letzten Klammern<br />
e<strong>in</strong>er immer weiter ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>driftenden<br />
<strong>Gesellschaft</strong>, „<strong>in</strong> <strong>der</strong> sich<br />
schon die Orthopäden mit den Handchirurgen<br />
kaum mehr ohne Dolmetscher<br />
verständigen können“. Rundfunk und<br />
Fernsehen s<strong>in</strong>d nicht alles. Nach dem<br />
11. September 2001 zum Beispiel druckten<br />
viele Zeitungen e<strong>in</strong>e kräftig erhöhte<br />
Auflage, es gab e<strong>in</strong>en Bedarf an e<strong>in</strong>ordnenden<br />
Berichten, Analysen und Kommentaren.<br />
Kurz: an Orientierung. Michael<br />
Haller schließt daraus: Auch <strong>in</strong> Zukunft<br />
wollen die Menschen zur flüchtigen<br />
Fernsehbil<strong>der</strong>welt e<strong>in</strong> komplementäres<br />
H<strong>in</strong>tergrundmedium. Die Zeitung ist die<br />
„Wun<strong>der</strong>tüte“ (Verlegerpräsident Helmut<br />
He<strong>in</strong>en), sie enthält e<strong>in</strong>e Melange<br />
aus Lokalem und Politik, Sport, Kultur,<br />
Service und – man vergesse se<strong>in</strong>e Bedeutung<br />
nicht – Vermischtem. An<strong>der</strong>e<br />
Seite 12 Nr. 484 · März 2010
Zukunft <strong>der</strong> Zeitung – Zeitung <strong>der</strong> Zukunft<br />
Medien s<strong>in</strong>d segmentiert, das Fernsehen<br />
splittet sich auf <strong>in</strong> Spartenkanäle, alle<strong>in</strong><br />
die Zeitung verb<strong>in</strong>det als letztes universales<br />
Medium über die Altersgrenzen<br />
und sozialen Unterschiede h<strong>in</strong>weg.<br />
Gut gemachte Regionalzeitungen werden<br />
auch künftig ke<strong>in</strong>e Reichweitensorgen<br />
haben. „Wenn die Erkenntnis zutrifft,<br />
dass <strong>der</strong> Prozess <strong>der</strong> Zivilisation mit dem<br />
Fortschritt an <strong>in</strong>dividueller Handlungsfreiheit<br />
zusammenfällt, dann ist ‚Pr<strong>in</strong>t‘<br />
noch immer das Zukunftsmedium. Ke<strong>in</strong><br />
an<strong>der</strong>es Medium gestattet dem Nutzer<br />
e<strong>in</strong>en so hohen Freiheitsgrad: Er kann<br />
selbst entscheiden, was alles, wann, wo<br />
und wie oft er liest. Es wird Jahrzehnte<br />
dauern, ehe wir über e<strong>in</strong>e elektronische<br />
Zeitung mit ähnlich hohem Freiheitsgrad<br />
verfügen.“ (Haller)<br />
Die Gefahr bestehe, me<strong>in</strong>te e<strong>in</strong>e prom<strong>in</strong>ente<br />
Stimme aus dem Mutterland des<br />
Internets, Bill Cl<strong>in</strong>ton, dass man durch<br />
Surfen im Netz vielleicht alle Informationen<br />
dieser Welt zu kennen glaube, aber<br />
ke<strong>in</strong>e Möglichkeit habe zu evaluieren,<br />
„was denn falsch und was richtig ist“. Die<br />
angemessene Perspektive, e<strong>in</strong> Rahmen,<br />
e<strong>in</strong>e Balance, e<strong>in</strong> Vor und Zurück fehlten.<br />
Mit an<strong>der</strong>en Worten: Es bleibt die natürliche<br />
Stärke <strong>der</strong> Pr<strong>in</strong>tmedien, aus E<strong>in</strong>zelnachrichten<br />
Informationen zu machen,<br />
sie kritisch zu gewichten und zu analysieren.<br />
Das Internet mag viele Vorzüge haben.<br />
E<strong>in</strong> Informationsparadies, <strong>in</strong> dem<br />
sich <strong>der</strong> surfende Bürger auf sicheren<br />
Pfaden fühlt, ist es nicht. Paradiesische<br />
Zustände vermag natürlich auch die Zeitung<br />
nicht zu garantieren. Aber sie kann<br />
Zusammenhänge transparent machen,<br />
auf e<strong>in</strong>en Blick.<br />
Schlüssel zum Verstehen<br />
Die Stärken <strong>der</strong> Gattung ausspielen –<br />
das ist das Erfolgsrezept. Was ist es, das<br />
Zeitungen unverwechselbar macht, was<br />
ist <strong>der</strong> „Markenkern“? Es geht um die<br />
Wie<strong>der</strong>entdeckung o<strong>der</strong> Vervollkommnung<br />
des <strong>in</strong>tellektuellen, erzählenden,<br />
nachdenklichen und <strong>in</strong>terpretierenden<br />
Journalismus, es geht um die Zeitung als<br />
Schlüssel zum Verstehen <strong>der</strong> globalisierten<br />
Welt. E<strong>in</strong> solcher lebendiger Journalismus<br />
ist nicht gleichzusetzen mit polemischem<br />
Journalismus, auch wenn das<br />
mancher „Macher“ me<strong>in</strong>t. Tom Wolfe,<br />
e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Hauptvertreter des New Journalism,<br />
hat schon vor mehr als dreißig Jahren<br />
die Merkmale e<strong>in</strong>er Qualitätspublizistik<br />
benannt: erstens die realistische,<br />
szenische Beschreibung von Vorgängen;<br />
zweitens die Vorzüge präzise wie<strong>der</strong>gegebener<br />
Dialoge; drittens <strong>der</strong> Standpunkt<br />
<strong>der</strong> dritten Person, also die Fähigkeit des<br />
Schreibers, sich <strong>in</strong> die Sicht- und Denkweisen<br />
an<strong>der</strong>er Menschen h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zuversetzen;<br />
und schließlich die genaue Beschreibung<br />
von Gesten, Moden, Posen,<br />
Blicken. Distanz ist eben auch e<strong>in</strong> Qualitätskriterium.<br />
Reflexion ist nicht die<br />
Stärke des Internets.<br />
Zeitungsverleger-Präsident He<strong>in</strong>en hat<br />
sogar den E<strong>in</strong>druck, dass die – verme<strong>in</strong>tlich<br />
– große Freiheit im Netz erkauft<br />
wird mit e<strong>in</strong>er schleichenden publizistischen<br />
De-Professionalisierung: immer<br />
mehr, immer schneller, aber ohne<br />
den Mehrwert <strong>der</strong> fundierten Orientierung.<br />
Gewiss, die Zeitung <strong>der</strong> Zukunft<br />
wird zwei Gesichter haben: e<strong>in</strong> gedrucktes<br />
und e<strong>in</strong> vernetztes. Das Netz ist<br />
schneller als jedes an<strong>der</strong>e Medium. Ihm<br />
auf diesem Feld mit e<strong>in</strong>em gedruckten<br />
Produkt Konkurrenz zu machen habe<br />
e<strong>in</strong>fach ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n, sagt die <strong>in</strong> Sankt<br />
Gallen lehrende Miriam Meckel, Professor<strong>in</strong><br />
für <strong>Kommunikation</strong>smanagement.<br />
Aber als Medienhaus die Aktualität im<br />
Netz zu bespielen sei richtig. Das belegen<br />
Studien, die den Nachrichtenportalen<br />
im Internet e<strong>in</strong>en Nutzungszuwachs<br />
von dreißig Prozent <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es Jahres<br />
besche<strong>in</strong>igen, darunter viele Angebote<br />
<strong>der</strong> etablierten Medienhäuser. „Für<br />
e<strong>in</strong>en Überblick über die Tagesaktualität,<br />
die kurze E<strong>in</strong>ordnung <strong>der</strong> Welt, wie<br />
ich sie beim Aufwachen vorf<strong>in</strong>de, dafür<br />
Nr. 484 · März 2010<br />
Seite 13
Gernot Facius<br />
braucht es erst mal ke<strong>in</strong>e Edelfe<strong>der</strong>n o<strong>der</strong><br />
eigene Infrastruktur. Deshalb ist das Konzept<br />
des ‚Newsroom‘, das sich nun überall<br />
durchzusetzen beg<strong>in</strong>nt, für diese Art<br />
des Journalismus perfekt. Für diese.“<br />
(Meckel)<br />
Die Welt erzählen<br />
Etwas an<strong>der</strong>es ist <strong>der</strong> Journalismus, <strong>der</strong><br />
weiter am Kiosk zu kaufen o<strong>der</strong> per Abo<br />
zu erwerben ist. Se<strong>in</strong>e Aufgabe: die Welt<br />
erzählen, die Welt erklären. Wer sich<br />
darauf versteht, wird auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> verän<strong>der</strong>ten<br />
Medienära dem gedruckten Wort<br />
se<strong>in</strong>en Platz sichern. Miriam Meckel<br />
träumt von den Geschichten, die nicht „<strong>in</strong><br />
Häppchen als Schnäppchen“ im Sekundentakt<br />
im Netz platziert werden, son<strong>der</strong>n<br />
die recherchiert, korrigiert, gegengelesen,<br />
überarbeitet werden, also weiterh<strong>in</strong><br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em aufwendigen Prozess entstehen:<br />
„Sie s<strong>in</strong>d Meisterstücke, Ergebnisse<br />
von Individualität, Kreativität und den<br />
richtigen verlegerischen Investitionen <strong>in</strong><br />
Köpfe, die das können. Dazu braucht man<br />
ke<strong>in</strong>en Newsroom, dazu braucht man<br />
Schreiber, die die Welt erzählen. Auf e<strong>in</strong>e<br />
Weise, die wir im Netz oft vergeblich<br />
suchen, und wenn wir sie f<strong>in</strong>den, dann<br />
s<strong>in</strong>d sie meist Pr<strong>in</strong>tgeschichten, die <strong>in</strong>s<br />
Netz gestellt wurden.“ E<strong>in</strong> Kompliment<br />
an die Verlagshäuser.<br />
„Echtzeit“ und Echtheit<br />
Mit „Echtzeit“ und „Augenzeugenschaft“<br />
zu argumentieren, wie die Netz- und Twitter-Freaks<br />
es tun, mag avantgardistisch<br />
kl<strong>in</strong>gen. Aber oft spiegelt das nicht die<br />
Wirklichkeit. „Echtzeit sagt nichts über<br />
die Echtheit <strong>der</strong> Information“, gibt Ernst<br />
Elitz, <strong>der</strong> nach se<strong>in</strong>em Ausscheiden als<br />
Intendant des Deutschlandradios Kulturund<br />
Medienmanagement an <strong>der</strong> Freien<br />
Universität Berl<strong>in</strong> lehrt, zu bedenken. Der<br />
Empfänger e<strong>in</strong>er Twitter-Botschaft wisse<br />
nicht, wie echt die Augenzeugenschaft<br />
sei. „Damit aus <strong>der</strong> Vielfalt von Infobits,<br />
E<strong>in</strong>drücken und Gerüchten, von Selbsterlebtem<br />
und Ausgedachtem verlässliche<br />
Nachrichten werden, bedarf es <strong>der</strong> Prüfung<br />
durch journalistischen Fachverstand.“<br />
Von <strong>der</strong> Reporter-Legende Hans<br />
Ulrich Kempski (Süddeutsche Zeitung) ist<br />
bekannt, dass er im H<strong>in</strong>zutreten neuer<br />
Medien nie e<strong>in</strong> Problem für das gedruckte<br />
Wort sah: „Seit es das Fernsehen gibt,<br />
haben sich die Zeitungen verän<strong>der</strong>n müssen.<br />
Das war ja auch gut so. Aber das Fernsehen<br />
dr<strong>in</strong>gt fast nie h<strong>in</strong>ter die Kulissen.<br />
Die Kamera dreht, aber sie kann nicht denken.<br />
Fernsehbil<strong>der</strong> werden geistig nicht<br />
wahrgenommen.<br />
Glaubwürdigkeitsagenturen<br />
Das ist die große Chance <strong>der</strong> Zeitungen,<br />
<strong>der</strong> großen politischen Reportage.“ Journalismus<br />
ist nötig, damit aus Zufallskommunikation<br />
Verlässlichkeitskommunikation<br />
wird. Die digitale Welt braucht<br />
Anker <strong>der</strong> Verlässlichkeit. Hier tun sich<br />
Chancen auf für das angeblich alte, doch<br />
ewig neue gedruckte Medium. Die kluge<br />
Komb<strong>in</strong>ation von Alt und Neu, Zeitung<br />
und Internet, ist die sicherste Gewähr,<br />
auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zukunft zu bestehen. Vorausgesetzt,<br />
man bewahrt se<strong>in</strong> professionelles<br />
Ethos, se<strong>in</strong>e Leidenschaft für das Unerwartete<br />
und Überraschende sowie e<strong>in</strong>en<br />
unbestechlichen Blick für Qualität. Zeitungen<br />
müssen mehr denn je <strong>in</strong> <strong>der</strong> immer<br />
komplexer werdenden Welt Glaubwürdigkeitsagenturen<br />
se<strong>in</strong>.<br />
Das gegen den Zeitgeist gerichtete Fazit<br />
des Wissenschaftlers Haller, <strong>der</strong> auch e<strong>in</strong>mal<br />
Praktiker war, lautet: Verleger, die<br />
sich ernsthaft um die Zukunft <strong>der</strong> Zeitung<br />
sorgen, sollten ke<strong>in</strong>e Controller <strong>in</strong> die<br />
Redaktionen schicken, son<strong>der</strong>n gut ausgebildete<br />
Journalisten. Die Zukunft <strong>der</strong><br />
Zeitung liegt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Qualität des Journalismus<br />
begründet. Gebraucht werden<br />
Teams von exzellenten Rechercheuren.<br />
Dass sich <strong>in</strong> vielen Redaktionen Recherchepools<br />
bilden, ist e<strong>in</strong> positives Zeichen.<br />
Alles kreist <strong>in</strong> diesen ökonomisch<br />
schwierigen Zeiten um die Frage: Wie<br />
Seite 14 Nr. 484 · März 2010
Zukunft <strong>der</strong> Zeitung – Zeitung <strong>der</strong> Zukunft<br />
br<strong>in</strong>gt man es fertig, bei Senkung <strong>der</strong><br />
Kosten Qualität und Nutzwert <strong>der</strong> Zeitungen<br />
zu steigern? E<strong>in</strong>e Gratwan<strong>der</strong>ung<br />
mit vielerlei Versuchungen. Es gibt e<strong>in</strong>e<br />
Tendenz <strong>der</strong> Abkehr von den Fakten, des<br />
Infota<strong>in</strong>ments anstelle von Information,<br />
manchmal e<strong>in</strong> Abgleiten <strong>in</strong>s Triviale. Redaktionen<br />
neigen dazu, Information zu<br />
ästhetisieren, emotionalisieren, zuzuspitzen,<br />
e<strong>in</strong>e neue journalistische Funktion ist<br />
die des „Story-Designers“. Das Vertrauen<br />
<strong>in</strong> die Seriosität des gedruckten Wortes<br />
wird dabei aufs Spiel gesetzt.<br />
Infota<strong>in</strong>ment und<br />
Designjournalismus als Gefahr<br />
Dante Andrea Franzetti, Romancier und<br />
Auslandsredakteur des Schweizer Magaz<strong>in</strong>s<br />
Facts, hat schon vor Jahren gewarnt:<br />
„Die Ästhetisierung, Personalisierung<br />
und Trivialisierung <strong>der</strong> Information<br />
– das eigentliche Gebiet <strong>der</strong> angelsächsischen<br />
Thriller-Autoren – wird den<br />
Pr<strong>in</strong>tmedien (<strong>in</strong>des) nicht höhere Auflagen<br />
bescheren. Im Gegenteil: Der sicherste<br />
Weg, e<strong>in</strong> etabliertes Blatt zu ru<strong>in</strong>ieren,<br />
ist <strong>der</strong> des Infota<strong>in</strong>ments und des<br />
Designjournalismus, dessen Akteure aus<br />
dem Bauch heraus dekretieren, was <strong>der</strong><br />
Leser angeblich lesen will.“ Vor allem<br />
Tabloid-Formate s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Gefahr, das<br />
subjektive Bauchgefühl ihrer Macher<br />
zum Maßstab zu erheben und auf vieles<br />
von dem zu verzichten, was über das<br />
leicht Konsumierbare h<strong>in</strong>ausgeht. Sie<br />
orientieren sich zu oft am Internetverhalten<br />
des jungen Publikums. „Sexy“<br />
ist, was die Auflage <strong>in</strong> die Höhe treibt.<br />
Die Aufklärungsfunktion des Mediums<br />
kommt dabei zu kurz. Zum Schaden <strong>der</strong><br />
<strong>Gesellschaft</strong>.<br />
Die Demoskop<strong>in</strong> Renate Köcher (Allensbach)<br />
hat nachgewiesen, dass das Interesse<br />
<strong>der</strong> ans Internet gewöhnten Generation<br />
an politischen Entwicklungen kont<strong>in</strong>uierlich<br />
zurückgegangen ist. Die Bereitschaft,<br />
sich umfassend zu <strong>in</strong>formieren,<br />
hat nachgelassen. E<strong>in</strong>e <strong>Gesellschaft</strong>,<br />
die teilweise auf kont<strong>in</strong>uierliche Information<br />
verzichtet, wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> Urteilsf<strong>in</strong>dung<br />
unbeständiger und damit auch<br />
anfälliger für Manipulation. Am Ende<br />
kann es zur Politikverachtung kommen.<br />
Mit Politikverachtung lässt sich aber e<strong>in</strong>e<br />
demokratische <strong>Gesellschaft</strong>, die auf die<br />
Zustimmung <strong>der</strong> Bevölkerung angewiesen<br />
ist, nicht bewahren.<br />
Professioneller Journalismus, wie er <strong>in</strong><br />
den meisten Zeitungsredaktionen noch<br />
zu Hause ist, kann Bauste<strong>in</strong>e für politische<br />
Me<strong>in</strong>ungsbildung liefern. Zeitungen<br />
schaffen e<strong>in</strong>en sozialen Mehrwert. Sie<br />
s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> „Lebensmittel“. Deshalb wird die<br />
gut gemachte Zeitung, die sich auch <strong>in</strong><br />
wirtschaftlich stürmischen Zeiten Unabhängigkeit<br />
und Profil bewahrt, Informationsanbieter<br />
Nummer e<strong>in</strong>s bleiben. Das<br />
heißt: Die Zukunft <strong>der</strong> Zeitung liegt <strong>in</strong><br />
den Händen mutiger Verleger und Journalisten.<br />
Diffuse Angst und entrückte Abstraktion<br />
„Die erste ernstzunehmende gesellschaftliche Debatte über das Web <strong>in</strong> Deutschland,<br />
die nicht ausschließlich im Internet selbst ausgetragen wird, f<strong>in</strong>det erst jetzt,<br />
2009/2010 statt. Aber sie ist geprägt von entrückter Abstraktion und e<strong>in</strong>er diffusen<br />
Angst vor den neuen Technologien.“<br />
Marcel Weiss <strong>in</strong>: netzwertig.com<br />
Nr. 484 · März 2010<br />
Seite 15
E<strong>in</strong>e Annäherung<br />
Wissen und Bildung<br />
im Biotop Internet<br />
Bernt von zur Mühlen<br />
Weit mehr als e<strong>in</strong>e Milliarde Menschen nutzen<br />
das Internet bereits heute. Google, das<br />
weltweit erfolgreichste Geschäftsmodell,<br />
erfasst mehr als e<strong>in</strong>e Billion URLs, und jährlich<br />
steigt die Datenmenge im Netz um<br />
sechzig Prozent. Alle Leitmedien zerfasern,<br />
weil das Internet als „mediales Zentrum“<br />
die Mediengattungen Text, Audio<br />
und Video vere<strong>in</strong>t und die Zusammenhänge<br />
von Information, Wissen und Bildung<br />
gründlich durche<strong>in</strong>an<strong>der</strong>wirbelt.<br />
Sprachlich ist <strong>der</strong> Begriff Information<br />
zwar mit den platonischen und aristotelischen<br />
Gedanken verdrahtet, die menschenbildende<br />
und erkenntnistheoretische<br />
Beziehungen <strong>in</strong> den Bedeutungen von<br />
eidos, idea et cetera aufspüren, aber unsere<br />
griechischen Lehrmeister waren Skeptiker<br />
gegenüber e<strong>in</strong>er „gespeicherten Information“.<br />
Im Gegenteil, nur die freie Rede ohne<br />
Archivspuren war die Königsdiszipl<strong>in</strong> von<br />
Denken, Wissen und Bildung.<br />
Nicht umsonst lässt Platon <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />
Mythos vom ägyptischen König Phaidros<br />
den Herrscher vor <strong>der</strong> Erf<strong>in</strong>dung <strong>der</strong><br />
Schrift warnen. Sie führe zu e<strong>in</strong>er Abnahme<br />
des Gedächtnisses und sei schädlich.<br />
Freiheit des Denkens, Freiheit <strong>der</strong><br />
Information so Platon, war nur radikal<br />
im Gespräch, im Dialog möglich, ohne<br />
Fixierung und Speicherung. Die Computertechnologie,<br />
das elektronische Archivieren,<br />
attackiert die klassisch-griechische<br />
Sichtweise e<strong>in</strong>er archiv-unabhängigen<br />
Fundierung <strong>der</strong> Wissenschaften.<br />
Auch Descartes festigte mit se<strong>in</strong>er entschiedenen<br />
Def<strong>in</strong>ition cogito, ergo sum<br />
mehr e<strong>in</strong>e Illusion als e<strong>in</strong>e Tatsache. Wir<br />
wissen <strong>in</strong>zwischen, dass alle wissenschaftlichen<br />
Erkenntnisse <strong>in</strong>stabil s<strong>in</strong>d<br />
und diese Labilität auf alle Bedeutungsnetze<br />
zu übertragen ist.<br />
<strong>Kommunikation</strong> befeuert <strong>in</strong> diesen<br />
Netzwerken das Kurzlebige und das<br />
Neue, die Gegenwart dom<strong>in</strong>iert das Haltbare<br />
und das Vergangene – und dies<br />
obwohl <strong>in</strong> allen Denksystemen über Information<br />
und Wissen <strong>der</strong> Wunsch nach<br />
Beständigkeit <strong>der</strong> Wissensobjekte e<strong>in</strong><br />
ständiger Begleiter ist. In diesem Fluss<br />
des Unbeständigen können nur endliche<br />
Botschaften und spezifische Medien archiviert<br />
werden. Der Umstand macht<br />
die Botschaft relevant, und es entstehen<br />
durch die Omnipräsenz des Internets<br />
Informationskulturen, die nur noch mit<br />
kraftvollen Theorien von Botschaften entschlüsselt<br />
und <strong>in</strong>terpretiert werden können.<br />
E<strong>in</strong>e neue Hermeneutik wird zur<br />
Infrastruktur des Netzes.<br />
Wir me<strong>in</strong>en mit „Freiheit <strong>der</strong> Information“<br />
das Gegenteil unserer platonischen<br />
Vordenker. Auf dem Marsch über<br />
den Buchdruck, über die elektronischen<br />
Massenmedien s<strong>in</strong>d wir nicht unbed<strong>in</strong>gt<br />
<strong>in</strong>formiert, aber mit dem Werkzeug Computer<br />
verlangen wir e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teraktive,<br />
kompatible, multimediale und billige Bereitstellung<br />
<strong>der</strong> Informationen und Wissensobjekte<br />
je<strong>der</strong>zeit, überall und ohne<br />
Zugangsbarrieren.<br />
Freiheit des Zugangs<br />
statt Freiheit <strong>der</strong> Information<br />
Ke<strong>in</strong>erlei Anstrengungskultur, ke<strong>in</strong>erlei<br />
vorausgegangene Selbstbildung o<strong>der</strong><br />
Seite 16 Nr. 484 · März 2010
Wissen und Bildung im Biotop Internet<br />
Selbstformung darf den Wissenszugang<br />
stören o<strong>der</strong> beh<strong>in</strong><strong>der</strong>n.<br />
Die auf <strong>der</strong> Basis <strong>der</strong> Drucktechnologie<br />
basierende Freiheit <strong>der</strong> Presse hat ke<strong>in</strong>erlei<br />
Führungsbedeutung mehr. Jeremy<br />
Rifk<strong>in</strong> identifiziert freedom of access als<br />
die fundamentale Umwälzungskraft für<br />
Ökonomie und Moral des Informationsmarktes.<br />
Und, um die Analyse von Rifk<strong>in</strong><br />
zu ergänzen: Wer den freien Zugang<br />
zum Netz hat, kann als Sen<strong>der</strong> auftreten.<br />
Die Massenmediengesellschaft mit ihrem<br />
dualen Schema von Medienmachern und<br />
Publikum ist obsolet geworden. Die vom<br />
Berufsstand <strong>der</strong> Journalisten bereits im<br />
letzten Jahrhun<strong>der</strong>t eitel vorgetragene<br />
These von <strong>der</strong> „vierten Gewalt“ verkommt<br />
zu Makulatur, und das e<strong>in</strong>undzwanzigste<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t hat endgültig die<br />
Monopolstellung <strong>der</strong> Medien als Informationsaggregatoren<br />
und Verbreiter abgeschafft.<br />
Das als re<strong>in</strong> technisches Medium von<br />
<strong>der</strong> Informationselite noch vor wenigen<br />
Jahren verhöhnte Internet ist dialogisch<br />
und diskursiv, Sen<strong>der</strong> und Empfänger <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em. Es entzieht sich <strong>der</strong> Kontrolle <strong>der</strong><br />
sterbenden Massenmedien, und die Menetekel<br />
<strong>der</strong> Web-2.0-Welt, <strong>der</strong> Blogs und<br />
an<strong>der</strong>er Social Medias tra<strong>in</strong>ieren ihre Muskeln<br />
und etablieren e<strong>in</strong>e neue Sen<strong>der</strong>-<br />
Empfänger-Moral. Jedwedes Wissen existiert<br />
nur noch durch Internet und Computer<br />
und als shared knowledge. Des<strong>in</strong>formation<br />
und Information s<strong>in</strong>d dauernd<br />
<strong>in</strong>stabile Zustände. Nichts ist ewig. Die<br />
treibende Kraft <strong>der</strong> Informationssysteme<br />
im Internet paralysiert das Kanonische,<br />
das Redundante. Wissen wird zum endlosen<br />
Strom von Interpretationen, Auslegungen<br />
und Bedeutungszusammenhängen.<br />
Mit dem Internet gibt es e<strong>in</strong> Medium,<br />
das die Massenmedien mit den eigenen<br />
Waffen angreift und auch das Angebot<br />
<strong>der</strong> Massenmedien ablehnen wird, durch<br />
h<strong>in</strong>zuaddierte Interaktivität das herkömmliche<br />
Sen<strong>der</strong>-Empfänger-Schema<br />
lediglich zu kaschieren, nicht aber zu<br />
überw<strong>in</strong>den.<br />
Auch die wie<strong>der</strong>holt vorgetragene Attacke<br />
<strong>der</strong> Massenmedien, das Internet produziere<br />
Müll, zieht nicht. Selbst die Gutenberg-Technologie<br />
war ke<strong>in</strong> Garant für<br />
die Herausfilterung von Informationsmüll.<br />
Das e<strong>in</strong>undzwanzigste Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
wird als gewaltige Transitstrecke alle<br />
Reste <strong>der</strong> altmodischen Mediengesellschaften<br />
abstreifen und e<strong>in</strong>e message<br />
society etablieren, die den Akteuren e<strong>in</strong><br />
hohes Maß e<strong>in</strong>er neuen Informationsdiszipl<strong>in</strong><br />
abverlangt. Damit sich diese Attitüde<br />
entwickeln kann, ist e<strong>in</strong>e renovierte<br />
Sichtweise auf die Grundlagen <strong>der</strong> Bildung<br />
erfor<strong>der</strong>lich. „Bilde dich selbst“ ist<br />
das erste Gesetz e<strong>in</strong>er wahren Moral nach<br />
Wilhelm von Humboldt, und erst das<br />
zweite lautet: „Wirke auf an<strong>der</strong>e durch<br />
das, was du bist.“<br />
Auch <strong>der</strong> Soziologe Wolf Lepenies<br />
weist darauf h<strong>in</strong>, dass das <strong>in</strong>nere Zentrum<br />
<strong>der</strong> erfolgreichen Humboldt’schen Universitätsidee<br />
die Freiheit vom Nutzen war.<br />
Lehre und Forschung dienten nur dem<br />
Willen <strong>der</strong> Selbstbildung, <strong>der</strong> absoluten<br />
Freiheit des Geistes. O<strong>der</strong>, wie Karl Jaspers<br />
es e<strong>in</strong>mal s<strong>in</strong>ngemäß formulierte, <strong>der</strong><br />
Staat nobilitierte sich selbst, <strong>in</strong>dem er f<strong>in</strong>anzierte<br />
und för<strong>der</strong>te, was unabhängig<br />
von ihm bestehen und sich entfalten sollte.<br />
E<strong>in</strong>e neue Bildungsidee<br />
hat nichts mit Standards zu tun<br />
E<strong>in</strong>e Idee f<strong>in</strong>det sich unseren Klassikern<br />
zufolge nur im Innern des Menschen,<br />
nicht auf dem Acker <strong>der</strong> Wirklichkeit, für<br />
welche sie gleichwohl als Leitstern wirken<br />
und fungieren kann. E<strong>in</strong>e Idee ist per<br />
def<strong>in</strong>itionem unwirklich, jedoch nicht unwirksam<br />
aufs Mögliche und Reale.<br />
Es geht bei dem Rekurs auf e<strong>in</strong>e historische<br />
Bildungsidee zunächst darum,<br />
<strong>der</strong>en Kernbestand zu erörtern. Die Klage<br />
über die unwie<strong>der</strong>br<strong>in</strong>gliche vergangene<br />
Größe muss aber nicht eitel se<strong>in</strong>, sie<br />
könnte auch zu e<strong>in</strong>er Überw<strong>in</strong>dung<br />
Nr. 484 · März 2010<br />
Seite 17
Bernt von zur Mühlen<br />
gegenwärtiger Hybris beitragen, die ohne<br />
Begriff von Bildung umstandslos sogenannte<br />
„Bildungsstandards“ verordnen<br />
möchte.<br />
E<strong>in</strong>e neue Bildungsidee muss den nach<br />
obsoleten Mustern getragenen, bürokratisch<br />
blockierten Wissensmarkt grundstürzend<br />
verän<strong>der</strong>n. E<strong>in</strong>e solche Idee ist<br />
zuerst <strong>in</strong> den Me<strong>in</strong>ungsmarkt h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zugeben.<br />
Sie ist dort nicht vorrätig und kann<br />
aus dem bestehenden Wissenschaftspluralismus<br />
nicht deduziert werden. Hier<br />
heißt es vielmehr, zuerst die Baumgrenze<br />
des vertrauten Empirismus zu überw<strong>in</strong>den,<br />
hier ist Innovation auf apriorischem<br />
Risikogelände gefragt. Offensichtlich<br />
br<strong>in</strong>gt die Idee die Erfahrung hervor,<br />
nicht ungekehrt. Die Erfahrung stiftete<br />
zwar immer zur Ideensuche an, veranlasste<br />
sie, bewirkte alle<strong>in</strong> aber noch nie<br />
e<strong>in</strong>e Idee. Die reale und die ideelle Sphäre<br />
s<strong>in</strong>d pr<strong>in</strong>zipiell als getrennte Welten zu<br />
verstehen, die aber natürlich im Medium<br />
des natürlich-geistigen Menschen aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />
verweisen. Wovon also müssen wir<br />
ausgehen, wenn wir Bildung nach ihrer<br />
Katastrophe neu denken wollen?<br />
Zunächst ist es wichtig festzustellen,<br />
dass Bildung e<strong>in</strong>e Beson<strong>der</strong>heit des deutschen<br />
Sprachraums ist. Dieses Wissen<br />
kann man <strong>in</strong> Schulen erwerben, solches<br />
Verdienst aber bedarf <strong>der</strong> Selbstbildung,<br />
Selbstüberw<strong>in</strong>dung. Die Schulen und Institutionen<br />
<strong>der</strong> Ausbildung können darauf<br />
h<strong>in</strong>weisen, darauf vorbereiten und<br />
die Worte Goethes wie<strong>der</strong> richtig auslegen,<br />
die für diesen Bildungsprozess maßgebend<br />
bleiben: „Von <strong>der</strong> Gewalt, die alle<br />
Wesen b<strong>in</strong>det, Befreit <strong>der</strong> Mensch sich,<br />
<strong>der</strong> sich überw<strong>in</strong>det.“<br />
Selbstüberw<strong>in</strong>dung, Selbstbefreiung<br />
bedeutet <strong>in</strong> nuce auch Selbstausbildung<br />
aller <strong>in</strong>dividuellen Anlagen, zum voll entfalteten<br />
Menschen. Das ist die Bildungsidee,<br />
um die es unseren Klassikern g<strong>in</strong>g.<br />
Bildung, so a priori als Voraussetzung<br />
aller ihr folgenden Curricula, Ausbildungsgänge<br />
und Lernmethoden gedacht, entsteht<br />
<strong>in</strong> jedem <strong>in</strong>dividuell sich Bildenden<br />
neu als e<strong>in</strong>zigartiges Zeugnis e<strong>in</strong>er Idee,<br />
die allgeme<strong>in</strong> zugänglich ist, aber <strong>der</strong><br />
Allgeme<strong>in</strong>heit nicht zu verordnen o<strong>der</strong><br />
strikt vorzuschreiben ist.<br />
Man könnte diese Folgerelation von Bildung<br />
und Ausbildung auch analog zum<br />
Verhältnis von Forschung und Lehre verstehen,<br />
wo die Lehre auch nicht festzuschreiben<br />
ist, da sie stets vom aktuellen,<br />
kont<strong>in</strong>uierlichen Prozess <strong>der</strong> Forschung<br />
abhängig bleibt. Freiheit ist <strong>der</strong> Bildung<br />
Lebenselixier. Wie sie für die Ausbildung<br />
dennoch zeitweise e<strong>in</strong>geschränkt werden<br />
muss, solche Überlegung obliegt dann<br />
noch geordneter pädagogischer Arbeit.<br />
Bildung – das deutsche Wort und se<strong>in</strong>e<br />
Bedeutung s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>malig <strong>in</strong> Europa, ke<strong>in</strong><br />
an<strong>der</strong>es Volk stellt mit dem Begriff Bildung<br />
ähnlich hohe Ansprüche an e<strong>in</strong>e<br />
homogene Identität von Persönlichkeit,<br />
Charakter und Allgeme<strong>in</strong>wissen. E<strong>in</strong>e<br />
unwissende Persönlichkeit ist undenkbar,<br />
austauschbare Wissenschaftler, Wissensträger<br />
ohne <strong>in</strong>dividuellen, gebildeten<br />
Charakter, kennen wir <strong>in</strong>zwischen sehr<br />
wohl. Genau um diese Verb<strong>in</strong>dung zwischen<br />
<strong>in</strong>dividueller Persönlichkeit und<br />
verb<strong>in</strong>dlichem Allgeme<strong>in</strong>wissen geht es,<br />
nicht um Verfügungswissen alle<strong>in</strong>, aber<br />
auch nicht um Persönlichkeit o<strong>der</strong> Charakter<br />
alle<strong>in</strong>.<br />
Die klassische Bildungsidee respondiert<br />
ke<strong>in</strong>er bestimmten sozialen beziehungsweise<br />
soziologischen Kategorie.<br />
Der Gebildete ist auch ke<strong>in</strong>eswegs identisch<br />
mit dem Intellektuellen, <strong>der</strong> e<strong>in</strong> soziologisches<br />
Phänomen des neunzehnten<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts ist, und folglich auch nicht<br />
nach dessen Maßgabe zu verstehen.<br />
Die ursprüngliche Bedeutung des<br />
deutschen Wortes Bildung stammt aus<br />
<strong>der</strong> Theologie. Sie me<strong>in</strong>t die christliche<br />
E<strong>in</strong>pflanzung des Gottesbildes (imago dei)<br />
im e<strong>in</strong>zelnen guten Christenmenschen,<br />
<strong>der</strong> <strong>in</strong> allem, was er tut und wie er<br />
handelt, das Vorbild se<strong>in</strong>es Herrn Jesus<br />
im Inneren durchs Leben trägt. Unsere<br />
Seite 18 Nr. 484 · März 2010
Wissen und Bildung im Biotop Internet<br />
Klassiker, die diese Bedeutung aus ihrer<br />
meist protestantischen Herkunft gut<br />
kannten, verrücken dieses Ziel <strong>der</strong> <strong>in</strong>neren<br />
Bildung und Formung <strong>in</strong>s Anthropologische,<br />
Lebensphilosophisch-Lebensweltliche.<br />
Sie übersetzen den mystischreligiösen<br />
Bildungskern <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en metaphysisch-vernunftmäßigen.<br />
Der Akzent<br />
liegt dabei – wie gesagt – auf Selbstbildung,<br />
auf <strong>der</strong> Selbstentfaltung <strong>in</strong>dividueller<br />
Anlagen.<br />
Der metaphysische, wissenschaftlich<br />
ke<strong>in</strong>eswegs zu erledigende Grund bleibt<br />
als theologischer Rest deutlich. Die Erfahrung<br />
wird von <strong>der</strong> Idee geformt, nicht umgekehrt.<br />
Die Bildung hat demgemäß sogar<br />
die Funktion, das Individuum vor schlechten,<br />
unnützen und schädlichen Erfahrungen<br />
zu schützen. Unsere klassischen Denker<br />
universalisierten die christlichen Tugendansprüche<br />
zu <strong>in</strong>neren, ungeschriebenen<br />
Gesetzen des allgeme<strong>in</strong>en humanen<br />
Umgangs. Dieser Prozess <strong>der</strong> Ideentransformation<br />
wäre für die Mythologie<br />
<strong>der</strong> Zukunft <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit den Analysen<br />
zum mo<strong>der</strong>nen Wissensbegriff fortzusetzen,<br />
statt diesen Bildungsprozess<br />
e<strong>in</strong>fach versiegen zu lassen.<br />
Die Klassiker nahmen sich ihr Vorbild<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> antiken Kultur. Sie erstrebten nicht<br />
weniger als e<strong>in</strong>e Renaissance des griechisch-antiken<br />
Kulturideals auf neuzeitlich-humanistischer<br />
Geschichtsstufe. E<strong>in</strong><br />
Staat erschien ihnen nur s<strong>in</strong>nvoll als Kulturstaat.<br />
E<strong>in</strong>e humane Lebenskultur war<br />
<strong>der</strong> universelle Zweck. Auf ihn h<strong>in</strong> galt<br />
es, Bildungs-, Ausbildungs- und Erziehungsmethoden<br />
neu zu gestalten. Um<br />
dieses Ziel zu erreichen, um diese Renaissance<br />
e<strong>in</strong>er durchweg humanen Kultur im<br />
e<strong>in</strong>zelnen Menschen e<strong>in</strong>zupflanzen, e<strong>in</strong>zubilden,<br />
lagen die praktischen Nahziele<br />
gewissermaßen auf <strong>der</strong> Hand. Es galt,<br />
e<strong>in</strong>en antiken Kanon herzustellen. Die<br />
antiken Sprachen, die antike Philosophie<br />
und die antike Kultur waren komplett<br />
wie<strong>der</strong> zu lehren und zu studieren. Bildungsidee<br />
und Ausbildungszweck gehen<br />
hier e<strong>in</strong>e vollkommen plausible Wechselwirkung<br />
e<strong>in</strong>. Wer sich <strong>in</strong> dieser Welt <strong>der</strong><br />
antiken Renaissance zu bewegen wusste,<br />
wer aus diesem Geist zu reden und zu handeln<br />
imstande war, galt als Gebildeter.<br />
Bildung und Aufklärung<br />
Doch gebildet bedeutete mehr als aufgeklärt.<br />
E<strong>in</strong> Aufgeklärter im historischen<br />
S<strong>in</strong>ne war durch e<strong>in</strong> bestimmtes rationales<br />
Bewusstse<strong>in</strong> charakterisiert, welchem<br />
man ke<strong>in</strong>e Ammenmärchen o<strong>der</strong><br />
sonstige obskuren E<strong>in</strong>fälle mehr aufb<strong>in</strong>den<br />
konnte. Aufklärung <strong>in</strong>des, wo sie not<br />
tat, verstand sich für den Gebildeten bereits<br />
von selbst. Er zielte auf e<strong>in</strong>e ständige<br />
Veredelung und Verfe<strong>in</strong>erung <strong>der</strong> durch<br />
Wissenschaft gewonnenen, gangbaren<br />
Fortschritte im menschlichen Leben. Auf<br />
e<strong>in</strong>e neue universelle Lebenskultur.<br />
Mit dieser Universalität brachten sich<br />
die deutschen Gebildeten <strong>in</strong> Europa e<strong>in</strong>.<br />
Deutscher Geist, deutsche Musik, deutsche<br />
Philosophie und Bildung waren zu<br />
Beg<strong>in</strong>n des neunzehnten Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
überall beliebte und gern empfangene<br />
Gäste. Ganz Europa war deshalb so verwun<strong>der</strong>t<br />
und ungläubig, als man <strong>in</strong><br />
Deutschland bei voller elektrischer Beleuchtung<br />
plötzlich wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> die Barbarei<br />
zurückfiel.<br />
Diese E<strong>in</strong>bildung <strong>der</strong> Kulturideale <strong>in</strong>s<br />
Volk und <strong>in</strong> dessen Ausbildungs<strong>in</strong>stitutionen<br />
misslang allerd<strong>in</strong>gs gründlich.<br />
Zwischen <strong>der</strong> Bildungselite und dem<br />
Volk, das diesen Bildungsgang im zwar<br />
verm<strong>in</strong><strong>der</strong>ten, e<strong>in</strong>geschränkten S<strong>in</strong>ne<br />
von Ausbildungszwecken, aber <strong>in</strong> doch<br />
höchstmöglichem Maße mittragen sollte,<br />
klaffte e<strong>in</strong>e Kluft, die gerade von den<br />
Schulmeistern, wie Ernst Robert Curtius<br />
1932 vor dem Höllensturz scharf diagnostizierte,<br />
im Ganzen miserabel bewirtschaftet<br />
wurde.<br />
Die deutschen Schulmeister, die Ausbil<strong>der</strong><br />
also, verfälschten die Bildungstradition,<br />
streuten Gift <strong>in</strong>s Volk, das <strong>in</strong><br />
se<strong>in</strong>en Gebildeten zunehmend Fe<strong>in</strong>de<br />
Nr. 484 · März 2010<br />
Seite 19
Bernt von zur Mühlen<br />
und Schädl<strong>in</strong>ge erkennen wollte. Und es<br />
stellt sich die Frage, ob es bloß e<strong>in</strong> Zufall<br />
war, dass sich diese bildungsfe<strong>in</strong>dliche<br />
Entwicklung nach den 68er-Stürmen<br />
unheilvoll wie<strong>der</strong>holte und zur völligen<br />
Abschaffung des alten Bildungskanons<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Oberstufenreform von 1977<br />
führte.<br />
Wie nun Bildung mit Wissen zusammenhängt,<br />
könnte wie e<strong>in</strong> Sprengsatz<br />
wirken. Denn Bildung ordnet das Wissen,<br />
ist nicht gleichbedeutend mit ihm. Nur<br />
<strong>der</strong> Gebildete pflegt e<strong>in</strong>en vernünftigen,<br />
fruchttragenden Umgang mit dem Wissen.<br />
Er ist ke<strong>in</strong> Spezialist wie <strong>der</strong> Fachwissenschaftler,<br />
<strong>der</strong> von jenem e<strong>in</strong>gesetzt<br />
und <strong>in</strong>spiriert werden sollte, nicht umgekehrt<br />
und wie das heute meistens Usus<br />
ist. Es ist nicht <strong>in</strong> Ordnung, wenn <strong>der</strong><br />
Wissenschaftler dem Dichterphilosophen<br />
e<strong>in</strong>en Maulkorb umhängen, ihn aus <strong>der</strong><br />
Universität ausgrenzen darf, weil dieser<br />
<strong>in</strong> Bil<strong>der</strong>n spreche, was wissenschaftlich<br />
aber nicht seriös, nicht statthaft sei. Nach<br />
diesen kruden Methodenzwängen hätte<br />
heute e<strong>in</strong> Nietzsche an e<strong>in</strong>er deutschen<br />
Universität nichts mehr zu suchen. Der<br />
Wissenschaftsbetrieb bedarf <strong>der</strong> grundlegenden<br />
Deregulierung. Solange den<br />
Mythen schaffenden Kräften <strong>der</strong> Rückweg<br />
<strong>in</strong> die Universität <strong>der</strong> Wissenschaften<br />
und Künste versagt bleibt, wird man<br />
die gegenwärtigen Bildungs- und Ausbildungsprobleme<br />
nicht lösen können.<br />
Hohe Ausbildungsziele konkurrieren<br />
unvermittelt mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> und machen<br />
sich gegenseitig – ähnlich wie im Quotenwesen<br />
<strong>der</strong> Medien – die Etatposten streitig.<br />
Da die Biochemie gegenwärtig <strong>der</strong><br />
Universität mehr <strong>in</strong>ternationales Prestige<br />
e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>ge, dürfe sie e<strong>in</strong> Vielfaches an<br />
Macht und Etat gegenüber jenen armen<br />
Fächern beanspruchen, die kaum Anziehungskraft<br />
verbuchen könnten.<br />
Das <strong>in</strong>dividuelle, auf Persönlichkeit<br />
zentrierte Wesen <strong>der</strong> Bildung muss wie<strong>der</strong><br />
gestärkt werden. Nicht nur Th<strong>in</strong>k<br />
Tanks und Experten, son<strong>der</strong>n reich begabte,<br />
rhetorisch brillante Menschen sollten<br />
sichtbar die Spitze <strong>der</strong> Bildungsreformen<br />
repräsentieren und das Internet<br />
als Plattform nutzen. „Geistesmenschen“,<br />
wie Thomas Bernhard die Gebildeten bezeichnete,<br />
s<strong>in</strong>d autonom und scheuen <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Regel die rigide Verwaltungspolitik,<br />
die Metaphysikverbote ausspricht.<br />
E<strong>in</strong> atheistisches Europa zermürbt sich<br />
selbst und hat ke<strong>in</strong>e große Chancen gegen<br />
die von enormen mythologischen<br />
Schwungrä<strong>der</strong>n angetriebenen Zukunftsmächte<br />
wie Ch<strong>in</strong>a, Indien und die islamische<br />
Welt. Die Frage ist gegenwärtig also:<br />
Wie könnte dieses Bild des Ganzen heute<br />
aussehen? Wie f<strong>in</strong>den wir zu e<strong>in</strong>er uns<br />
alle beflügelnden Zukunftsmythologie?<br />
Durch welche neue Idee könnte man das<br />
antike Renaissanceideal heute ersetzen?<br />
Warum gel<strong>in</strong>gen uns solche für alle verb<strong>in</strong>dlichen<br />
Bil<strong>der</strong> des Ganzen gegenwärtig<br />
nicht mehr? Weil wir uns nicht genügend<br />
dessen bewusst s<strong>in</strong>d, wie nötig<br />
wir sie haben? Weil wir noch immer stolz<br />
auf unseren rationalen Ideologien und<br />
Dogmen beharren?<br />
Zukunft von Bildung und Wissen ist<br />
e<strong>in</strong>e mythologische Kategorie, ke<strong>in</strong>e re<strong>in</strong><br />
wissenschaftliche und schon gar ke<strong>in</strong>e<br />
pragmatische Angelegenheit. Es geht also<br />
nicht darum, e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>maliges und geniales<br />
Bildungskonzept zu kopieren o<strong>der</strong> zu<br />
wie<strong>der</strong>holen. Aber wir sollten uns dennoch<br />
<strong>in</strong> unser klassisches Bildungsvorbild<br />
vertiefen und Lehren herausziehen<br />
aus se<strong>in</strong>en <strong>in</strong>nersten, ideellen Beweggründen;<br />
wir sollten begreifen, welche<br />
fruchtbaren Irrtümer und welche Glaubensgehalte<br />
und Ideen es zugleich waren,<br />
die zur höchsten Bildungsblüte und zu<br />
e<strong>in</strong>em absoluten zivilisatorischen Höhepunkt<br />
<strong>in</strong> Europa führten.<br />
Das Internet mit se<strong>in</strong>er neuen Def<strong>in</strong>ition<br />
von Sen<strong>der</strong> und Empfänger als<br />
dialogischem Medium ist dabei die neue<br />
Bildungs- und Wissensrampe.<br />
Seite 20 Nr. 484 · März 2010
Die Deutschen<br />
zeigen sich von den<br />
Medien enttäuscht<br />
Von <strong>der</strong> Politiker- zur<br />
Journalistenverdrossenheit?<br />
Wolfgang Donsbach/Mathias Rentsch<br />
Viel ist <strong>in</strong> den letzten Jahren von <strong>der</strong><br />
Politikverdrossenheit <strong>der</strong> Bevölkerung<br />
gesprochen und geschrieben worden.<br />
Demoskopische Daten über Wertschätzung<br />
und Glaubwürdigkeit von Parteien<br />
und Politikern zeigen e<strong>in</strong>en mehr o<strong>der</strong><br />
weniger stetigen Rückgang im öffentlichen<br />
Ansehen <strong>der</strong> politischen Akteure.<br />
Es entbehrt nicht e<strong>in</strong>er gewissen Ironie,<br />
aber – wie noch gezeigt wird – auch<br />
Logik, dass nun ausgerechnet diejenigen,<br />
die man zu den Verursachern <strong>der</strong> Politikverdrossenheit<br />
zählt, vom gleichen<br />
Schicksal ereilt werden.<br />
Wenig Vertrauen und Ansehen<br />
Denn aus <strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong> Bevölkerung ist <strong>der</strong><br />
Journalismus ke<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>s geschätzter<br />
und schon gar ke<strong>in</strong> vertrauenswürdiger<br />
Beruf. Mit 65 Prozent sagen zwar noch<br />
rund zwei von drei Deutschen, dass sie<br />
Journalisten „eher schätzen“. Die Wertschätzung<br />
des Berufs liegt damit aber weit<br />
unter jener klassischer Professionen wie<br />
<strong>der</strong> Ärzte (90 Prozent), Professoren (82<br />
Prozent) und selbst <strong>der</strong> Lehrer (80 Prozent).<br />
Von zehn abgefragten Berufen rangiert<br />
<strong>der</strong> Journalismus auf Platz sechs.<br />
Noch stärker manifestiert sich die ger<strong>in</strong>ge<br />
öffentliche Reputation von Journalisten<br />
<strong>in</strong> dieser Zahl: Lediglich 35 Prozent<br />
sagen, dass sie ihnen „eher vertrauen“.<br />
Die Mehrheit von zwei Dritteln <strong>der</strong> Deutschen<br />
tut es also nicht. Beim Vertrauen<br />
fällt <strong>der</strong> Journalismus damit im Vergleich<br />
mit an<strong>der</strong>en Berufen noch weiter zurück.<br />
Selbst den nach Wahlen oft öffentlich gescholtenen<br />
Me<strong>in</strong>ungsforschern br<strong>in</strong>gen<br />
die Menschen mehr Vertrauen entgegen.<br />
Beson<strong>der</strong>s alarmierend ist dabei die Tatsache,<br />
dass die nachwachsende Generation<br />
<strong>der</strong> 18- bis 24-jährigen Deutschen die<br />
Journalisten mit 24 Prozent am wenigsten<br />
vertrauenswürdig f<strong>in</strong>det. Wenig überraschend<br />
liegen auch hier Ärzte (79 Prozent),<br />
Professoren (73 Prozent) und Lehrer<br />
(69 Prozent) an <strong>der</strong> Spitze, noch weniger<br />
überraschend die Politiker am unteren<br />
Ende <strong>der</strong> Vertrauensskala. An<strong>der</strong>s<br />
als die Journalisten können sich die Politiker<br />
nicht e<strong>in</strong>mal mit Wertschätzung<br />
durch die Mehrheit <strong>der</strong> Bevölkerung trösten.<br />
Nur gut je<strong>der</strong> vierte Deutsche schätzt,<br />
was sie tun.<br />
Dies alles gehört zu den Ergebnissen<br />
e<strong>in</strong>er deutschlandweiten telefonischen<br />
Repräsentativbefragung, die 2007/2008<br />
durchgeführt wurde und <strong>der</strong>en Ergebnisse<br />
<strong>in</strong> dem Band Entzauberung e<strong>in</strong>es<br />
Berufs zusammengefasst s<strong>in</strong>d. Vergleiche<br />
mit Trenddaten des Instituts für Demoskopie<br />
zeigen, dass es sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat um<br />
e<strong>in</strong>en schleichenden Vertrauensverlust<br />
des Journalismus handelt. Vergleiche mit<br />
Ergebnissen aus den USA o<strong>der</strong> Großbritannien<br />
machen deutlich, dass dies ke<strong>in</strong><br />
re<strong>in</strong> deutsches Phänomen ist, son<strong>der</strong>n<br />
e<strong>in</strong>es, das <strong>in</strong> gleicher Weise <strong>in</strong> entwickelten<br />
Demokratien auftritt. Was also geht<br />
hier vor sich bei e<strong>in</strong>em Beruf, <strong>der</strong> zu<br />
den Eckpfeilern <strong>der</strong> Demokratie gehört<br />
und den lange Zeit <strong>der</strong> Zauber des Unbestechlichen,<br />
Aufrechten und Glamourösen<br />
umgab?<br />
Wenngleich es um die Reputation von<br />
Journalisten nicht ganz so schlecht be-<br />
Nr. 484 · März 2010<br />
Seite 21
Wolfgang Donsbach/Mathias Rentsch<br />
Schaubild: Wertorientierungen von Journalisten: Wovon sie zu viel und zu wenig haben<br />
stellt ist wie bei den Politikern, so sticht<br />
<strong>der</strong> Journalismus durch die unter allen<br />
abgefragten Berufen größte Diskrepanz<br />
zwischen <strong>der</strong> öffentlichen Wertschätzung<br />
und dem entgegengebrachten Vertrauen<br />
heraus. Diese Kluft ist bereits e<strong>in</strong> erstes<br />
Anzeichen dafür, dass die Erwartungen<br />
<strong>der</strong> Menschen an Journalisten und die<br />
Wahrnehmung ihrer Berufspraxis beson<strong>der</strong>s<br />
weit ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>liegen. Während<br />
Wertschätzung auf die gesellschaftliche<br />
Relevanz abhebt und dort die Vorstellungen<br />
des Publikums darüber e<strong>in</strong>fließen,<br />
wie Journalisten se<strong>in</strong> sollen und<br />
welche Dienstleistungen sie zu erbr<strong>in</strong>gen<br />
haben, orientiert sich das Vertrauen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />
Beruf stärker an <strong>der</strong> tatsächlich wahrgenommenen<br />
Qualität <strong>der</strong> Berufspraxis.<br />
Scharfe Kritik an Journalisten<br />
und Medien<strong>in</strong>halten<br />
Das Verhältnis zwischen den Erwartungen<br />
und den Wahrnehmungen <strong>der</strong> Bürger<br />
haben wir genauer unter die Lupe genommen:<br />
Sowohl h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Eigenschaften<br />
<strong>der</strong> Berufsangehörigen als auch<br />
<strong>der</strong> von ihnen produzierten Nachrichten<br />
fragten wir die Bürger e<strong>in</strong>erseits, was sie<br />
erwarten, und an<strong>der</strong>erseits, wie sie die<br />
Realität sehen. Über den Vergleich von<br />
Erwartungen und Wahrnehmungen können<br />
wir zeigen, wo die Menschen ihre<br />
Erwartungen erfüllt sehen beziehungsweise<br />
Defizite erkennen.<br />
Das Ergebnis: Scharfe Kritik üben die<br />
Deutschen an den Journalisten selbst. Sie<br />
nehmen sie viel rücksichtsloser, <strong>in</strong>toleranter<br />
gegenüber den Me<strong>in</strong>ungen an<strong>der</strong>er<br />
und unsozialer wahr, als sie sie gern<br />
hätten. Aus Sicht <strong>der</strong> Bürger setzen Journalisten<br />
zu stark nur ihre eigenen Bedürfnisse<br />
durch und verfügen über unangemessen<br />
viel Macht und E<strong>in</strong>fluss <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Gesellschaft</strong>. Das Ausmaß des politischen<br />
Engagements von Journalisten ist den<br />
Bürgern gerade recht, zudem f<strong>in</strong>den sie<br />
ihren Anspruch an Journalisten, was Eigenverantwortlichkeit,<br />
Fleiß und Ehrgeiz<br />
Seite 22 Nr. 484 · März 2010
Von <strong>der</strong> Politiker- zur Journalistenverdrossenheit?<br />
sowie Unabhängigkeit betrifft, mehr o<strong>der</strong><br />
weniger <strong>in</strong> gerade richtigem Maße umgesetzt<br />
(siehe Schaubild).<br />
Die Nachrichten<strong>in</strong>halte erfüllen die Erwartungen<br />
<strong>der</strong> Bürger etwas besser, dennoch<br />
sieht sich das Publikum unterversorgt:<br />
Die Bürger kritisieren, dass ihnen<br />
<strong>der</strong> Nachrichtenjournalismus zu wenig<br />
H<strong>in</strong>tergründe, Fakten und konkurrierende<br />
Me<strong>in</strong>ungen anbietet. Gleichzeitig klagen<br />
sie über e<strong>in</strong>e zu starke subjektive<br />
Färbung und Emotionalisierung. Ausreichend<br />
bedient sieht sich das Publikum<br />
mit unterhaltsamen Nachrichten und solchen<br />
Nachrichten<strong>in</strong>halten, die ihnen helfen<br />
zu verstehen, was <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
geschieht.<br />
Insgesamt zeigt <strong>der</strong> Abgleich von Erwartungen<br />
und Wahrnehmungen <strong>der</strong><br />
Bürger: Sie fühlen sich <strong>in</strong> vielerlei H<strong>in</strong>sicht<br />
von Journalisten und dem, was ihnen <strong>in</strong><br />
den Medien geboten wird, enttäuscht.<br />
Was die Bürger <strong>der</strong>weil e<strong>in</strong>for<strong>der</strong>n, ist<br />
nicht die Bewirtschaftung abseitiger journalistischer<br />
Äcker, son<strong>der</strong>n die Bestellung<br />
<strong>der</strong> wichtigsten Fel<strong>der</strong> des Journalismus.<br />
Natürlich muss man bei solchen Antworten<br />
e<strong>in</strong> gewisses Maß sozialer Wünschbarkeit<br />
<strong>in</strong> Rechnung stellen. Die weiteren<br />
Ergebnisse – und auch die nahezu gleichlautenden<br />
aus den USA – sprechen aber<br />
dafür, dass die Nachrichtenmedien <strong>in</strong> den<br />
letzten Jahren e<strong>in</strong>en Teil ihres Kapitals als<br />
vertrauenswürdige Lieferanten seriöser<br />
Nachrichten verspielt haben.<br />
Überschreiten ethischer Grenzen<br />
Neben diesen allgeme<strong>in</strong>enWahrnehmungen<br />
des Journalismus haben wir auch ganz<br />
konkret anhand von anschaulichen Fallbeispielen<br />
erforscht, welche E<strong>in</strong>schätzungen<br />
<strong>der</strong> journalistischen Praxis die Triebfe<strong>der</strong><br />
für den Verlust an Glaubwürdigkeit<br />
s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong>er dieser Bereiche waren die ethischen<br />
Grenzen <strong>der</strong> Berichterstattung. Die<br />
Fallbeispiele stellten typische journalistische<br />
Entscheidungsdilemmata dar, die<br />
so <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis vorkommen können o<strong>der</strong><br />
bereits vorgekommen s<strong>in</strong>d. Auch hier<br />
haben wir danach gefragt, welches Verhalten<br />
die Bürger von Journalisten <strong>in</strong> dieser<br />
Situation erwarten und wie sie die<br />
Medienwirklichkeit wahrnehmen.<br />
Die Bürger mahnen e<strong>in</strong>e distanziertere<br />
und fe<strong>in</strong>fühlige Berichterstattung an. Die<br />
Darstellung persönlichen Leids ist für sie<br />
wenig akzeptabel: Acht von zehn sprechen<br />
sich dagegen aus, <strong>in</strong> den Medien<br />
zivile Kriegsopfer abzubilden. Immerh<strong>in</strong><br />
die Hälfte hält es für nicht angemessen,<br />
getötete Soldaten bildlich darzustellen.<br />
Respekt und Pietät wiegen demnach für<br />
die Bürger schwerer als das öffentliche<br />
Interesse o<strong>der</strong> die Absicht, über e<strong>in</strong>e solche<br />
Darstellung die grausame Kriegswirklichkeit<br />
wi<strong>der</strong>zuspiegeln. Gleichzeitig<br />
beklagen die Menschen, dass die<br />
mediale Wirklichkeit häufig von ihren<br />
Vorstellungen abweicht: 58 Prozent sagen,<br />
sie sähen häufig getötete Zivilisten<br />
<strong>in</strong> den Medien, 51 Prozent s<strong>in</strong>d es im<br />
Falle <strong>der</strong> Soldaten.<br />
E<strong>in</strong>e übergroße Mehrheit <strong>der</strong> Deutschen<br />
ist zudem gegen E<strong>in</strong>griffe <strong>in</strong> die<br />
Privatsphäre, auch wenn es dabei um die<br />
Berichterstattung über prom<strong>in</strong>ente Personen<br />
geht. Acht von zehn empf<strong>in</strong>den<br />
das Nachstellen durch Journalisten h<strong>in</strong>ter<br />
dem Feigenblatt e<strong>in</strong>es verme<strong>in</strong>tlichen<br />
Publikums<strong>in</strong>teresses als nicht h<strong>in</strong>nehmbar.<br />
Neun von zehn halten „Schlüssellochjournalismus“<br />
aber für übliche journalistische<br />
Praxis. Der Paparazzo, <strong>der</strong> se<strong>in</strong>en<br />
Opfern für exklusive Aufnahmen<br />
h<strong>in</strong>ter Büschen auflauert, ist also unbeliebt,<br />
gleichzeitig aber stark prägend für<br />
das Bild, das die Bürger vom Journalismus<br />
<strong>in</strong>sgesamt haben.<br />
Dass das Gros <strong>der</strong> Journalisten mit solchen<br />
Praktiken nichts zu tun hat, ja diese<br />
selbst als amoralisch und unseriös geißeln<br />
mag, tritt <strong>in</strong> <strong>der</strong> öffentlichen Wahrnehmung<br />
<strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergrund. Für die<br />
Grenzüberschreitungen E<strong>in</strong>zelner nimmt<br />
die Öffentlichkeit schnell den gesamten<br />
Berufsstand <strong>in</strong> Haftung.<br />
Nr. 484 · März 2010<br />
Seite 23
Wolfgang Donsbach/Mathias Rentsch<br />
Auch hier werden vor allem Journalisten<br />
<strong>der</strong> Boulevardzeitungen e<strong>in</strong>wenden,<br />
dass ihre Verkaufszahlen e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e<br />
Sprache sprechen. In <strong>der</strong> Tat schwanken<br />
die täglichen Verkaufszahlen von Bild<br />
o<strong>der</strong> Express mit <strong>der</strong> Auffälligkeit von<br />
Schlagzeilen und Fotos – und auffällig<br />
ist, was abweichend ist und/o<strong>der</strong> Reiz-<br />
Reaktions-Schemata beim Leser <strong>in</strong> Gang<br />
setzt: sei es <strong>der</strong> freie Busen o<strong>der</strong> die<br />
verkohlte Leiche. Mittel- und langfristig<br />
aber – und dies zeigen die Leserschaftsstudien<br />
– kratzen diese Praktiken des Sensationalismus<br />
und des Schlüssellochjournalismus<br />
am Markenkern des Mediums.<br />
Mächtiger als Politiker<br />
Wie schon die Zahlen im Schaubild zeigten,<br />
attestiert die Mehrheit <strong>der</strong> Bürger den<br />
Journalisten e<strong>in</strong>en enormen E<strong>in</strong>fluss <strong>in</strong> vielen<br />
Bereichen ihres Lebens: Aus Sicht <strong>der</strong><br />
Deutschen bee<strong>in</strong>flussen die Medien am<br />
stärksten jene Themen, über die sie im Familien-<br />
und Freundeskreis sprechen, acht<br />
von zehn erkennen hierauf e<strong>in</strong>en „großen“<br />
o<strong>der</strong> „etwas“ E<strong>in</strong>fluss <strong>der</strong> Medien. Für immer<br />
noch deutliche Mehrheiten nehmen<br />
die Medien E<strong>in</strong>fluss auf ihr Urteil von<br />
Bundesm<strong>in</strong>istern (64 Prozent), auf ihre<br />
Vorstellungen von dem, was die an<strong>der</strong>en<br />
Menschen denken (60 Prozent), für welche<br />
Partei sie bei Wahlen stimmen (57 Prozent)<br />
und welche Waren sie kaufen (56 Prozent).<br />
Über die Wirkungsmacht von Medien<br />
h<strong>in</strong>aus stand schon immer vor allem das<br />
Verhältnis von Journalisten zum politischen<br />
Prozess und zu Politikern im Zentrum<br />
<strong>der</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung um das<br />
richtige Berufsverständnis. Die traditionelle<br />
Gretchenfrage <strong>der</strong> politischen <strong>Kommunikation</strong>sforschung<br />
lautet: S<strong>in</strong>d Journalisten<br />
nur Mittler o<strong>der</strong> Motor <strong>der</strong> öffentlichen<br />
Me<strong>in</strong>ung? Das Urteil <strong>der</strong> Bürger<br />
ist e<strong>in</strong>deutig; ihrer Me<strong>in</strong>ung nach s<strong>in</strong>d<br />
Journalisten ke<strong>in</strong>e ehrlichen Makler, son<strong>der</strong>n<br />
zu häufig politische Eiferer <strong>in</strong> eigener<br />
Sache. Die Berichterstattung über Politik<br />
wird von fast zwei Dritteln <strong>der</strong> Deutschen<br />
als zu wenig objektiv kritisiert, obwohl<br />
gerade Objektivität von ebenfalls<br />
zwei Dritteln als wesentliches Qualitätskriterium<br />
von Politikberichterstattung erkannt<br />
und deshalb erwartet wird. Außerdem<br />
glauben 65 Prozent, Journalisten<br />
unterdrückten häufig Stellungnahmen<br />
von Experten, die e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Me<strong>in</strong>ung<br />
verträten als sie selbst.<br />
Die Bürger begegnen <strong>der</strong> politischen<br />
Macht von Journalisten mit großem Misstrauen:<br />
55 Prozent <strong>der</strong> Bürger stimmen<br />
<strong>der</strong> Aussage „voll und ganz“ o<strong>der</strong> „eher“<br />
zu, Journalisten seien mächtiger als Politiker.<br />
E<strong>in</strong>e deutliche Mehrheit hält die<br />
„vierte Gewalt“ für mächtiger als die<br />
erste und zweite. Trotz aller Politik- und<br />
Politikerverdrossenheit: Die Dom<strong>in</strong>anz<br />
<strong>der</strong> Medien sche<strong>in</strong>t für die Menschen<br />
ke<strong>in</strong>e Lösung zu se<strong>in</strong>. Gleichzeitig sagen<br />
nämlich mehr als drei von vier Befragten,<br />
die Journalisten für mächtiger als Politiker<br />
halten, sie fänden das nicht gut.<br />
Korruption<br />
durch Wettbewerbsdruck<br />
Auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> wachsenden Kommerzialisierung<br />
<strong>der</strong> Medien liegt e<strong>in</strong>e Ursache für<br />
das schwache öffentliche Ansehen und<br />
Vertrauen <strong>der</strong> Journalisten. Die Bürger<br />
zeichnen das Bild e<strong>in</strong>es Journalismus mit<br />
starken wirtschaftlichen Abhängigkeiten.<br />
Für die Wahrnehmung <strong>der</strong> gesellschaftlichen<br />
Rolle <strong>der</strong> Medien ist es ausgesprochen<br />
bedenklich, dass e<strong>in</strong>e deutliche<br />
Mehrheit Journalisten als käuflich beschreibt:<br />
Rund zwei Drittel <strong>der</strong> Bürger<br />
glauben jeweils daran, dass Journalisten<br />
(<strong>in</strong> unserem Fallbeispiel g<strong>in</strong>g es um e<strong>in</strong>en<br />
Motorjournalisten) sich ihre Recherchen<br />
häufig ohne Bedenken bezahlen lassen<br />
und dass die Interessen von Anzeigenkunden<br />
nicht nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> Anzeigenabteilung<br />
gehört werden, son<strong>der</strong>n letztlich<br />
auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Berichterstattung Berücksichtigung<br />
f<strong>in</strong>den. Dass die Bürger dies richtig<br />
sehen, haben im Übrigen <strong>in</strong>zwischen<br />
mehrere Studien bewiesen.<br />
Seite 24 Nr. 484 · März 2010
Von <strong>der</strong> Politiker- zur Journalistenverdrossenheit?<br />
Diese Praxis ersche<strong>in</strong>t vielen Deutschen<br />
nicht e<strong>in</strong>mal verwerflich: Knapp die<br />
Hälfte <strong>der</strong> Befragten f<strong>in</strong>det nämlich nichts<br />
Anstößiges daran, dass Journalisten und<br />
das, was sie schreiben, käuflich s<strong>in</strong>d. Unter<br />
den jungen Bürgern ist die Akzeptanz<br />
dieser Praktiken, die mit unabhängigem<br />
Journalismus nichts zu tun haben, dabei<br />
beson<strong>der</strong>s groß. Wenn die Unabhängigkeit<br />
als zentrale Kategorie des Journalismus<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em demokratisch verfassten<br />
Land <strong>in</strong>frage gestellt wird, ja nicht e<strong>in</strong>mal<br />
mehr von e<strong>in</strong>er großen Mehrheit erwartet<br />
wird, dann liegt es wirklich im Argen. Der<br />
Befund, dass die jungen Bürger mehrheitlich<br />
käuflichen Journalismus für ke<strong>in</strong>e kritikwürdige<br />
Ausnahmeersche<strong>in</strong>ung, son<strong>der</strong>n<br />
für den natürlichen Normalfall halten,<br />
muss den Alarm auslösen. Denn hier<br />
sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>getreten zu se<strong>in</strong>, was nicht nur<br />
gefährlich, son<strong>der</strong>n auch schwer umzukehren<br />
ist: Die Wahrnehmung <strong>der</strong> journalistischen<br />
Praxis hat bereits den Anspruch<br />
m<strong>in</strong>imiert.<br />
Letztlich geht es im Journalismus immer<br />
um die Frage, ob Medien<strong>in</strong>halte nach<br />
dem Kriterium <strong>der</strong> Attraktivität durch<br />
Unterhaltung o<strong>der</strong> nach dem Kriterium<br />
<strong>der</strong> Nützlichkeit für übergeordnete Ziele<br />
– etwa demokratietheoretischer Natur –<br />
zusammengestellt werden. E<strong>in</strong>e steigende<br />
Personalisierung, mehr Negativismus<br />
und Skandalisierung sowie e<strong>in</strong> höherer<br />
Anteil von soft news statt hard news<br />
s<strong>in</strong>d durch viele kommunikationswissenschaftliche<br />
Studien nachgewiesene Entwicklungen<br />
bei den Medien<strong>in</strong>halten.<br />
Die Menschen distanzieren sich von<br />
allzu viel Boulevard: Die übergroße<br />
Mehrheit <strong>der</strong> Deutschen wünscht sich<br />
e<strong>in</strong>e sachlichere Nachrichtenberichterstattung,<br />
die sich stärker an Fakten orientiert,<br />
Ereignisse und Entwicklungen ausführlich<br />
und objektiv darstellt. Über<br />
e<strong>in</strong>en sogenannten Schlagzeilentest und<br />
die <strong>in</strong>dexierten Antworten auf differenzierte<br />
Fragen zu den gewünschten Nachrichten<strong>in</strong>halten<br />
haben wir die Befragten<br />
verschiedenen Nutzungsgruppen zuordnen<br />
können. Nur je<strong>der</strong> Vierte gehört demnach<br />
zu jenem Teil des Publikums, <strong>der</strong><br />
sich hauptsächlich für seichtere soft news<br />
und e<strong>in</strong>en unterhaltsamen Boulevardjournalismus<br />
<strong>in</strong>teressiert.<br />
Die Frage, ob man sich aus den Medien<br />
heute überhaupt noch gut genug <strong>in</strong>formieren<br />
könne, verne<strong>in</strong>en unter allen Befragten<br />
24 Prozent. Je<strong>der</strong> Vierte ist also<br />
<strong>der</strong> Auffassung, dass die Medien so e<strong>in</strong>seitig<br />
und so lückenhaft <strong>in</strong>formieren, dass<br />
sich <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelne Bürger eben nicht mehr<br />
umfassend über se<strong>in</strong>e Umwelt und Fragen,<br />
die ihn unmittelbar betreffen, <strong>in</strong>formieren<br />
kann.<br />
Nach unseren Daten zeigen sich vor<br />
allem diejenigen von <strong>der</strong> Nachrichtenqualität<br />
enttäuscht, die hohe Erwartungen<br />
an die Medien haben: Während die Bürger,<br />
die e<strong>in</strong>en boulevardesken Nachrichtenjournalismus<br />
bevorzugen, <strong>der</strong> gegenwärtigen<br />
Informationsqualität <strong>der</strong> Medien<br />
eher unkritisch gegenüberstehen,<br />
stehen die Nachrichtenmedien vor allem<br />
bei den anspruchsvolleren (und formal<br />
besser gebildeten) Bürgern – und damit<br />
ihrem Kernpublikum – <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kritik.<br />
Auch dieser Befund ist deckungsgleich<br />
mit Ergebnissen aus den USA.<br />
Verschwimmende Grenzen,<br />
Verlust an Identität<br />
Die bisher angeführten Zahlen spiegeln<br />
die Wahrnehmung des Journalismus und<br />
<strong>der</strong> Medien durch die Bürger und nicht <strong>in</strong><br />
jedem Fall die objektive Performanz des<br />
Journalismus wi<strong>der</strong>. Dennoch stellt bereits<br />
e<strong>in</strong>e solche Wahrnehmung e<strong>in</strong> Problem<br />
dar, weil sich <strong>der</strong> Beruf offensichtlich<br />
nicht so darstellt, wie es se<strong>in</strong>er Rolle <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Demokratie angemessen wäre. Aber auch<br />
die Bevölkerung hat e<strong>in</strong> normatives Problem:<br />
Ihr fehlt es an e<strong>in</strong>er klaren Vorstellung<br />
davon, was Journalismus eigentlich<br />
ist und was nicht. 63 Prozent <strong>der</strong> Deutschen<br />
zählen Redakteure von Kundenzeitschriften,<br />
mit 53 Prozent noch immer<br />
Nr. 484 · März 2010<br />
Seite 25
Wolfgang Donsbach/Mathias Rentsch<br />
mehr als die Hälfte zählen Pressesprecher<br />
genauso zu den Journalisten wie Kommentatoren<br />
(66 Prozent) o<strong>der</strong> Nachrichtensprecher<br />
(58 Prozent). Die Bürger machen<br />
ke<strong>in</strong>en Unterschied mehr zwischen<br />
Journalismus und Public Relations.<br />
Zudem fehlt <strong>der</strong> Bevölkerung offenbar<br />
das Gespür für e<strong>in</strong>e weitere Unterscheidung:<br />
jener zwischen professionellem<br />
Journalismus und den vielen Angeboten<br />
im Internet, die nicht von Medienredaktionen,<br />
son<strong>der</strong>n zumeist von journalistischen<br />
Laien produziert werden. 28 Prozent<br />
<strong>der</strong> Bürger halten e<strong>in</strong>en Blogger<br />
zweifelsfrei für e<strong>in</strong>en Journalisten.<br />
Selbstverständlich s<strong>in</strong>d unter den Bloggern<br />
auch professionelle Journalisten, sie<br />
bilden aber die Ausnahme, denn <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Regel – das haben etliche Studien gezeigt<br />
– haben Blogger ke<strong>in</strong>en journalistischen<br />
H<strong>in</strong>tergrund und völlig an<strong>der</strong>e <strong>Kommunikation</strong>sabsichten<br />
als ausgebildete Journalisten.<br />
Die Phänomene, die durch die Digitalisierung<br />
und das Internet möglich geworden<br />
s<strong>in</strong>d und häufig unter dem Etikett<br />
„Bürgerjournalismus“ zusammengefasst<br />
werden, s<strong>in</strong>d gewiss journalismusähnlich,<br />
journalismusgleich aber s<strong>in</strong>d sie nicht.<br />
Die Grenzverwischung zwischen professionellem<br />
Journalismus und parajournalistischen<br />
Aktivitäten gilt wie<strong>der</strong>um<br />
beson<strong>der</strong>s für die jungen Bürger: Unter<br />
den 18- bis 24-Jährigen ist sogar die Hälfte<br />
<strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ung, Blogger seien ohne Zweifel<br />
auch Journalisten. Wie diese Altersgruppe<br />
den Journalismus sieht, ist e<strong>in</strong><br />
Seismograf dafür, wie sich die Identität<br />
des professionellen Journalismus zunehmend<br />
verwischt, wie <strong>der</strong> Journalismus<br />
se<strong>in</strong>e Konturen verliert.<br />
Gefahr e<strong>in</strong>er Weimarisierung<br />
<strong>der</strong> öffentlichen <strong>Kommunikation</strong>?<br />
Was bedeutet all dies für Journalismus<br />
und <strong>Gesellschaft</strong>? Genauso wie bei den<br />
Politikern berührt dieser Vertrauensverlust<br />
nicht e<strong>in</strong> re<strong>in</strong> aus berufsständischen<br />
Gründen relevantes Prestige e<strong>in</strong>er bestimmten<br />
Profession, son<strong>der</strong>n das Funktionieren<br />
des Geme<strong>in</strong>wesens. Die Menschen<br />
müssen denjenigen, die <strong>Kommunikation</strong><br />
herstellen sollen, vertrauen –<br />
mangelt es daran, fehlt den <strong>Gesellschaft</strong>smitglie<strong>der</strong>n<br />
die objektive Basis<br />
für ihre subjektive Urteilsbildung, sie<br />
ziehen sich enttäuscht zurück o<strong>der</strong> konzentrieren<br />
sich auf für sie glaubwürdige,<br />
objektiv aber verzerrte <strong>Kommunikation</strong>sangebote<br />
von Akteuren mit Partikular<strong>in</strong>teressen.<br />
Die Weimarer Republik<br />
mit ihren Tausenden ideologisch gebundenen<br />
Zeitungen und Zeitschriften<br />
ist das beste Beispiel dafür, wie e<strong>in</strong>e<br />
<strong>Gesellschaft</strong> kommunikativ zerfällt –<br />
und letztlich auch politisch ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>bricht.<br />
Droht uns heute e<strong>in</strong>e Weimarisierung<br />
<strong>der</strong> öffentlichen <strong>Kommunikation</strong>? Gerade<br />
die Segmentierung und Fragmentierung<br />
von <strong>Kommunikation</strong> verlangt e<strong>in</strong>e<br />
gesellschaftliche Instanz, die prüft, ordnet<br />
und verantwortungsvoll und ohne<br />
dom<strong>in</strong>ante Eigen<strong>in</strong>teressen mit Informationen<br />
umgeht. Dies ist die Aufgabe von<br />
professionellen Journalisten – und hierauf<br />
muss sich <strong>der</strong> gesamte Berufsstand<br />
wie<strong>der</strong> mehr bes<strong>in</strong>nen. Wenn sich Journalismus<br />
unterscheidbar macht von Angeboten,<br />
die wie Journalismus anmuten,<br />
es aber nicht s<strong>in</strong>d, und damit wie<strong>der</strong> se<strong>in</strong>e<br />
Konturen schärft, wenn er also se<strong>in</strong>en<br />
Markenkern wie<strong>der</strong> stärker bedient, dann<br />
hat er e<strong>in</strong>e Chance, sich aus se<strong>in</strong>em <strong>der</strong>zeitigen<br />
Dilemma zu befreien, das er zum<br />
Teil mitverschuldet hat. Aber natürlich<br />
braucht dieser professionelle Journalismus<br />
auf <strong>der</strong> Nachfrageseite auch e<strong>in</strong> Publikum,<br />
das sich an öffentlicher <strong>Kommunikation</strong><br />
beteiligen will. Das ist dann e<strong>in</strong>e<br />
Aufgabe für die politische Bildung.<br />
Seite 26 Nr. 484 · März 2010
Zu den Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />
des Wandels<br />
von Medien, politischer<br />
<strong>Kommunikation</strong> und Kultur<br />
Neue Medienpolitik<br />
für neue Medien<br />
Robert Grünewald<br />
E<strong>in</strong>en tief greifenden Wandel <strong>der</strong> Medienkultur<br />
konnte man im vergangenen<br />
Jahr bei <strong>der</strong> Jahrestagung <strong>der</strong> Deutschen<br />
<strong>Gesellschaft</strong> für Publizistik- und <strong>Kommunikation</strong>swissenschaft<br />
<strong>in</strong> Bremen registrieren.<br />
In den über dreißig Panels g<strong>in</strong>g<br />
es vor allem um das Vordr<strong>in</strong>gen des<br />
Internets <strong>in</strong> den Medienalltag <strong>der</strong> Bürger<br />
und das damit verbundene verän<strong>der</strong>te<br />
Medienverhalten, aber auch die verän<strong>der</strong>te<br />
Basis im Verhältnis von Politik und<br />
Medien wurde ausführlich diskutiert.<br />
Die zunehmende Bedeutung politischer<br />
Öffentlichkeit im Netz und die aufseiten<br />
<strong>der</strong> Politik zu registrierende größere und<br />
ständig wachsende Bedeutungszumessung<br />
für die Medien waren weitere Themen.<br />
Sie werden künftig e<strong>in</strong>e große Rolle<br />
spielen, wenn man danach fragt, wie <strong>der</strong><br />
Wandel <strong>der</strong> Medienkultur die Politik verän<strong>der</strong>t<br />
hat und weiter verän<strong>der</strong>n wird.<br />
Dies zeigt auch die Tatsache, dass die<br />
diesjährige Tagung <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong> noch<br />
e<strong>in</strong>en Schritt weiter geht und fragt, wie<br />
die Medienentwicklungen die <strong>Kommunikation</strong><br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong> verän<strong>der</strong>n.<br />
Die bei Weitem gravierendste Verän<strong>der</strong>ung<br />
ist allerd<strong>in</strong>gs bereits dar<strong>in</strong> zu<br />
sehen, dass sich das Internet als Informationsmedium<br />
durchgesetzt hat, wenn<br />
auch nennenswert zunächst nur <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
jüngeren Generation. Nach <strong>der</strong> Allensbacher<br />
Computer- und Technikanalyse<br />
2004 bis 2009 hat sich <strong>in</strong> den letzten fünf<br />
Jahren <strong>in</strong> <strong>der</strong> Altersgruppe <strong>der</strong> 20- bis 40-<br />
Jährigen <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong>er von zwanzig auf<br />
über vierzig Prozent verdoppelt, die angaben,<br />
das Internet als wichtigstes Infor-<br />
mationsmedium zu nutzen. Zwar rangiert<br />
das Fernsehen mit 71 Prozent immer noch<br />
an erster Stelle, aber zum<strong>in</strong>dest die Zeitungen<br />
landen mit 39 Prozent bereits<br />
h<strong>in</strong>ter dem Informationsbezug aus dem<br />
Netz. Allerd<strong>in</strong>gs muss man dabei berücksichtigen,<br />
dass auch im Internet Zeitung<br />
gelesen wird und Rundfunkempfang<br />
möglich ist. Dennoch wird so e<strong>in</strong> Mediennutzungswandel<br />
angezeigt, <strong>der</strong> sich <strong>in</strong><br />
s<strong>in</strong>kenden Auflagenzahlen <strong>der</strong> Zeitungen<br />
und zurück gehenden E<strong>in</strong>schaltquoten bei<br />
Hörfunk und Fernsehen nie<strong>der</strong>schlägt. Es<br />
wäre vermessen zu ignorieren, dass diese<br />
Entwicklung nicht auch Folgen für Demokratie,<br />
politische Kultur und Partizipation<br />
<strong>in</strong> unserem Geme<strong>in</strong>wesen hat. Zu<br />
analysieren ist vor allem, ob <strong>der</strong> Wandel<br />
<strong>der</strong> Medienkultur nicht auch mit e<strong>in</strong>em<br />
Wertewandel e<strong>in</strong>hergeht, wor<strong>in</strong> dieser<br />
Wertewandel besteht und welche Konsequenzen<br />
sich daraus für die gesellschaftliche<br />
<strong>Kommunikation</strong> ergeben. Nicht zuletzt<br />
muss danach gefragt werden, ob nicht<br />
auch die Politik gefor<strong>der</strong>t ist, den sich daraus<br />
ergebenden Handlungsbedarf zu<br />
identifizieren und gegebenenfalls zu reagieren.<br />
Wie jede Medien<strong>in</strong>novation bisher<br />
geht auch <strong>der</strong> kommunikative Durchbruch<br />
des Internets mit Sorgen e<strong>in</strong>her, die<br />
man zusammenfassend als Furcht vor e<strong>in</strong>em<br />
gesellschaftlichen Werteverfall charakterisieren<br />
kann. Allerd<strong>in</strong>gs lehrt <strong>der</strong><br />
Blick <strong>in</strong> die Geschichte <strong>der</strong> Medien<strong>in</strong>novationen,<br />
dass diese Befürchtungen immer<br />
auch politische und ethische Instanzen<br />
auf den Plan gerufen haben, die<br />
Nr. 484 · März 2010<br />
Seite 27
Robert Grünewald<br />
e<strong>in</strong>er solchen Entwicklung des Werteverfalls<br />
entgegengewirkt haben. Auch unser<br />
Rechtssystem ist e<strong>in</strong>e solche Instanz, die<br />
letztlich ethisch fundiert ist. Dies deshalb,<br />
weil sie auf e<strong>in</strong>er Verfassung beruht, die<br />
wie<strong>der</strong>um von ethischen Voraussetzungen<br />
lebt, die sie selbst nicht geschaffen<br />
hat. Daher ist durchaus auch das Rechtssystem<br />
durch den von vielen befürchteten<br />
Werteverfall herausgefor<strong>der</strong>t. Im Falle<br />
<strong>der</strong> Medien geht es dabei um die Medienregulierung,<br />
die schon e<strong>in</strong>e Reihe von<br />
wertebezogenen Schutzzäunen errichtet<br />
hat, wie etwa <strong>der</strong> Blick auf die umfassende<br />
Regulierung beim Jugendmedienschutz<br />
zeigt. Doch wo zeigen sich überhaupt<br />
die behaupteten gravierenden<br />
Än<strong>der</strong>ungen und Verschiebungen, und<br />
ist tatsächlich überall und an je<strong>der</strong> Stelle<br />
medienpolitischer Handlungsbedarf festzustellen?<br />
Mediengesetzgebung<br />
auch für das Internet<br />
Zunächst muss e<strong>in</strong>geräumt werden,<br />
dass die Politik bislang nur e<strong>in</strong>en sehr<br />
begrenzten Reaktions- und Handlungsspielraum<br />
hat, da das Internet sich <strong>der</strong> politischen<br />
Medienregulierung durch den<br />
Gesetzgeber – <strong>in</strong> Deutschland die Bundeslän<strong>der</strong><br />
– weitgehend entzieht, da es<br />
als nichtl<strong>in</strong>eares Medium nicht als publizistisch<br />
relevant betrachtet wird. Allenfalls<br />
dem Bund stehen zum Beispiel<br />
im Informations- und <strong>Kommunikation</strong>sdienstegesetz<br />
(IuKDG) begrenzte Regulierungsmöglichkeiten<br />
zur Verfügung.<br />
Damit stellt sich die Frage, ob es nicht an<br />
<strong>der</strong> Zeit ist, auch medienpolitisch umzudenken<br />
und zum<strong>in</strong>dest bei den neuen<br />
Medien dem Bund e<strong>in</strong> Mitwirkungsrecht<br />
bei <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> medienrechtlichen Regulierung<br />
e<strong>in</strong>zuräumen und die Mediengesetzgebung<br />
von den klassischen Medien<br />
auf das Internet auszudehnen. Die<br />
Europäische Union betrachtet die Medien<br />
<strong>in</strong>sgesamt längst als e<strong>in</strong>heitliche „Regulierungsmasse“,<br />
wie <strong>der</strong> Blick auf die<br />
jüngst <strong>in</strong> Kraft getretene Richtl<strong>in</strong>ie für audiovisuelle<br />
Medien zeigt. Den Mitgliedslän<strong>der</strong>n<br />
werden allerd<strong>in</strong>gs eigene Regulierungen<br />
im Detail zugestanden. Es wäre<br />
wünschenswert, dass <strong>der</strong> zugestandene<br />
Handlungsspielraum <strong>in</strong> Deutschland<br />
entsprechend genutzt wird. Dies wäre <strong>in</strong>sofern<br />
angemessen, als sich mit dem diagnostizierten<br />
Medienwandel auch <strong>der</strong><br />
politische <strong>Kommunikation</strong>srahmen verän<strong>der</strong>t<br />
hat. Dafür gibt es e<strong>in</strong>e Reihe von<br />
Indizien.<br />
Alle<strong>in</strong> mit Blick auf das <strong>in</strong>tramediäre<br />
Konkurrenzverhältnis <strong>der</strong> Medien untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />
hat es <strong>in</strong> <strong>der</strong> jüngsten Vergangenheit<br />
gravierende Verschiebungen gegeben.<br />
Es ist nicht zu übersehen, dass<br />
klassische Tageszeitungen immer mehr<br />
<strong>der</strong> Konkurrenz durch web-basierte Medien<br />
ausgesetzt s<strong>in</strong>d, wie Beispiele nicht<br />
nur <strong>in</strong> Deutschland, son<strong>der</strong>n auch im<br />
Ausland zeigen. So sieht sich die renommierte<br />
Wash<strong>in</strong>gton Post e<strong>in</strong>em zunehmenden<br />
Konkurrenzdruck durch e<strong>in</strong><br />
Internetportal ausgesetzt, das durch ehemalige<br />
Redakteure <strong>der</strong> Zeitung gegründet<br />
wurde und durch mehrmals<br />
wöchentlich ersche<strong>in</strong>ende Pr<strong>in</strong>tausgaben<br />
mit Anzeigen und Werbung ergänzt<br />
wird. Das neue Medium hat sich zur Aufgabe<br />
gemacht, den Wash<strong>in</strong>gtoner Regierungsalltag<br />
bis <strong>in</strong> die letzten Ecken auszuleuchten,<br />
und trifft damit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hauptstadt<br />
den Nerv <strong>der</strong> Leser, vor allem <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> politischen Klasse. Vor allem aber zeigen<br />
sich immer mehr Interessengruppen,<br />
die mit Anzeigenkampagnen E<strong>in</strong>fluss auf<br />
die politische Elite <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton nehmen<br />
wollen, was dem neuen Medium e<strong>in</strong>en<br />
ungeahnten Wettbewerbsvorteil verschafft.<br />
Das Beispiel zeigt, dass man von<br />
<strong>der</strong> klassischen Aufteilung nach Mediengattungen<br />
nicht mehr ausgehen kann.<br />
Dies sollte und muss auch Folgen für die<br />
Medienregulierung haben. Denn es kann<br />
nicht se<strong>in</strong>, dass Mediengesetze nur für die<br />
gedruckte Form bestimmter Medien<strong>in</strong>halte<br />
gelten, die Internetausgabe dagegen<br />
Seite 28 Nr. 484 · März 2010
Neue Medienpolitik für neue Medien<br />
von <strong>der</strong> Gesetzgebung unberührt bleibt.<br />
Dies würde web-basierten Medien <strong>in</strong><br />
Deutschland e<strong>in</strong>en beträchtlichen Wettbewerbsvorteil<br />
verschaffen, wenn sie den<br />
Restriktionen <strong>der</strong> klassischen Medienregulierung<br />
nicht unterlägen.<br />
Schon haben die unterschiedlichen Regulierungstiefen<br />
zwischen neuen und<br />
klassischen Medien auch <strong>in</strong> Deutschland<br />
bereits zu tiefen Verwerfungen geführt,<br />
die dauerhaft nicht h<strong>in</strong>genommen werden<br />
können, weil sie den politischen<br />
<strong>Kommunikation</strong>srahmen nachhaltig beschädigen.<br />
Konflikte weichen <strong>in</strong>s Netz aus<br />
So kann hierzulande zunehmend e<strong>in</strong> Ausweichen<br />
publizistischer Inhalte <strong>in</strong>s Netz<br />
dort registriert werden, wo Journalisten<br />
Gesetzgebung, Regulierung und vor allem<br />
Sanktionen durch den publizistischen<br />
Arbeitgeber umgehen wollen. Auf <strong>der</strong><br />
Internetseite „Wir <strong>in</strong> NRW“ etwa schreiben<br />
Journalisten kritische Texte über die<br />
Politik <strong>in</strong> Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalen, dies allerd<strong>in</strong>gs<br />
jeweils unter e<strong>in</strong>em Pseudonym,<br />
das die wahre Identität des Autors verdeckt.<br />
Es handelt sich dabei um Redakteure<br />
angesehener Tageszeitungen und<br />
des Rundfunks. Sie weichen mit ihren<br />
Texten <strong>in</strong> das Internet aus, weil sie diese <strong>in</strong><br />
ihrer Zeitung o<strong>der</strong> Rundfunkberichterstattung<br />
offensichtlich nicht publizieren<br />
können. Letztendlich gehen sie damit publizistischen<br />
und politischen Konflikten<br />
aus dem Weg, auf die aber e<strong>in</strong>e mo<strong>der</strong>ne<br />
<strong>Gesellschaft</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Demokratie nicht verzichten<br />
kann, wenn sie sich weiterentwickeln<br />
will. Auch die Medienpolitik kann<br />
dies nicht unberührt lassen, denn mit <strong>der</strong><br />
Publikation im Netz entzieht sich die<br />
Berichterstattung jeglicher medienrechtlicher<br />
Relevanz. Gegendarstellungen können<br />
zum Beispiel nicht verlangt werden,<br />
und auch sonst gelten medienrechtliche<br />
Vorschriften nur <strong>in</strong> sehr e<strong>in</strong>geschränktem<br />
Maße. Von <strong>der</strong> Umgehung des Medienrechts<br />
bis zur nachhaltigen Beschädigung<br />
journalistischer Berufsnormen dürfte <strong>der</strong><br />
Weg allerd<strong>in</strong>gs nicht mehr weit se<strong>in</strong>. Ob<br />
dieser Wandel <strong>der</strong> Medien- und Journalismuskultur<br />
allerd<strong>in</strong>gs noch konstitutiv<br />
für e<strong>in</strong> demokratisches Geme<strong>in</strong>wesen ist,<br />
bleibt dah<strong>in</strong>gestellt.<br />
Gleichförmigkeit<br />
<strong>der</strong> Informationsbeschaffung<br />
E<strong>in</strong> weiteres Indiz für e<strong>in</strong>en tief greifenden<br />
Wandel <strong>der</strong> Journalismuskultur<br />
durch den E<strong>in</strong>fluss des Web ist die zunehmende<br />
Konsonanz <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ungen.<br />
Während früher die journalistische Recherche<br />
noch vergleichsweise mühsam<br />
war, zum<strong>in</strong>dest zeitaufwendig und mit<br />
<strong>der</strong> Überw<strong>in</strong>dung von Zutrittsbarrieren<br />
verbunden, genügt heute <strong>der</strong> Klick <strong>in</strong>s<br />
Netz, um sich alle aktuellen und relevanten<br />
Informationen zu beschaffen. Parteien<br />
und Fraktionen etwa veröffentlichen ihre<br />
Positionen zu bestimmten politischen<br />
Fragen auf ihren Webseiten, und am<br />
nächsten Tag kann man diese nochmals <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Presse <strong>in</strong> verkürzter Form nachlesen.<br />
Dieser Verteilmechanismus beför<strong>der</strong>t geradezu<br />
e<strong>in</strong>e Gleichförmigkeit <strong>der</strong> Informationsbeschaffung<br />
und damit <strong>der</strong> journalistischen<br />
Arbeitsweisen. Wenn aber<br />
Arbeitstechniken und Auswahlregeln <strong>der</strong><br />
Journalisten übere<strong>in</strong>stimmen, kommt<br />
e<strong>in</strong>e Konsonanz <strong>der</strong> Berichterstattung zustande,<br />
die auf das Publikum wie e<strong>in</strong>e<br />
Bestätigung wirkt (Elisabeth Noelle-<br />
Neumann, Die Schweigespirale). Weil alle<br />
es so machen, verbreitert sich <strong>der</strong> journalistische<br />
Ma<strong>in</strong>stream auch me<strong>in</strong>ungsmäßig:<br />
Alle Medien s<strong>in</strong>d heute für etwas,<br />
um wenig später fast ohne Ausnahme gegen<br />
die gleiche Sache zu se<strong>in</strong>. Zu beobachten<br />
war dies zuletzt beim sogenannten<br />
Konjunkturpaket, das <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en ersten<br />
beiden Teilen zunächst fast e<strong>in</strong>hellige Zustimmung<br />
fand, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em dritten Teil,<br />
dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz,<br />
dagegen fast unisono abgelehnt wurde.<br />
Auf die Spitze getrieben wird die Gleichförmigkeit<br />
<strong>der</strong> Medienkritik dabei durch<br />
Nr. 484 · März 2010<br />
Seite 29
Robert Grünewald<br />
die Konzentration auf e<strong>in</strong>e steuerrechtliche<br />
Marg<strong>in</strong>alie, nämlich die Absenkung<br />
des Mehrwertsteuersatzes für Hotelübernachtungen.<br />
Das Netz erleichtert zweifellos<br />
die journalistische Informationsbeschaffung<br />
und Recherche; weil es aber<br />
alle mit demselben beliefert, ebnet es <strong>in</strong>dividuelle<br />
Positionierung und Me<strong>in</strong>ungsvielfalt<br />
im Journalismus e<strong>in</strong>.<br />
„Subjektive Mediatisierung“<br />
<strong>der</strong> Politik<br />
Die Wucht konsonanter politischer Stimmungswechsel<br />
ist es auch, die e<strong>in</strong>en Kulturwandel<br />
<strong>der</strong> politischen <strong>Kommunikation</strong><br />
anzeigt. Unter dieser Überschrift berichteten<br />
die Düsseldorfer Medienwissenschaftler<br />
Gerhard Vowe und Marco<br />
Dohle <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Studie, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Befragung<br />
von politischen Akteuren zugrunde liegt,<br />
dass bei Politikern mittlerweile e<strong>in</strong>e<br />
grundlegend verän<strong>der</strong>te Sichtweise <strong>der</strong><br />
Medien vorherrsche. Den Medien werde<br />
von <strong>der</strong> Politik deutlich mehr Macht zugeordnet<br />
als früher. Vor allem aber werde<br />
den Medien neuerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong> deutlich größerer<br />
politischer E<strong>in</strong>fluss zugeschrieben<br />
als den Bürgern – mit wachsen<strong>der</strong> Tendenz.<br />
Die Orientierung <strong>der</strong> Politik an <strong>der</strong><br />
Medienlogik – so muss man h<strong>in</strong>zufügen –<br />
wird durch das Internet geför<strong>der</strong>t, weil<br />
dort die Berichterstattung sozusagen<br />
schon vorgeprägt ist und e<strong>in</strong>en beschleunigten<br />
Journalismus ermöglicht. Das Internet<br />
diktiert sozusagen Takt und Tempo<br />
<strong>der</strong> Medien und <strong>der</strong> politischen <strong>Kommunikation</strong>.<br />
Während die Politik früher<br />
auf e<strong>in</strong>e Tagesschau-Meldung reagiert<br />
hat, so reagiert sie heute auf die Meldung<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Internet-Veröffentlichung,<br />
so dass die Reaktion bereits <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tagesschau<br />
präsentiert werden kann. Diese<br />
Anpassung an die Medienlogik nennen<br />
Vowe und Dohle „subjektive Mediatisierung“<br />
<strong>der</strong> Politik. Damit soll offensichtlich<br />
angedeutet werden soll, dass die Anpassungsleistung<br />
von <strong>der</strong> Politik ausgeht,<br />
weil sie mit <strong>der</strong> subjektiven Wahrnehmung<br />
<strong>der</strong> Politiker korrespondiert. Je höher<br />
aber <strong>der</strong> E<strong>in</strong>fluss <strong>der</strong> Medien e<strong>in</strong>geschätzt<br />
wird, so die beiden Medienforscher,<br />
desto negativer wird er auch<br />
beurteilt. Man muss ke<strong>in</strong> hellsichtiger<br />
Prophet se<strong>in</strong>, um zu dem Ergebnis zu<br />
kommen, dass bei weiterer Beschleunigung<br />
dieses Prozesses das Verhältnis von<br />
Medien und Politik möglicherweise irreparablen<br />
Schaden erleiden wird. Auch<br />
hier zeichnet sich schon jetzt medienpolitischer<br />
Handlungsbedarf ab, auch wenn<br />
zunächst weitere wissenschaftliche Analyse<br />
vonnöten ist.<br />
Die Piratenpartei<br />
E<strong>in</strong>en mit Händen greifbaren <strong>in</strong>ternet-basierten<br />
Wandel <strong>der</strong> politischen <strong>Kommunikation</strong><br />
konnte man auch bei <strong>der</strong> letzten<br />
Bundestagswahl registrieren. Mit zwei<br />
Prozent <strong>der</strong> Zweitstimmen auf Anhieb errang<br />
e<strong>in</strong>e Partei e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>drucksvolles Ergebnis,<br />
die sich erst drei Jahre zuvor gegründet<br />
hatte – aus Mitglie<strong>der</strong>n, die sich<br />
im Netz kennengelernt hatten. Auch <strong>der</strong><br />
Bundestagswahlkampf <strong>der</strong> „Piratenpartei“<br />
fand fast ausschließlich im Netz statt.<br />
In e<strong>in</strong>em Hamburger Stadtteil kam die<br />
Partei schließlich auf über zehn Prozent<br />
<strong>der</strong> Wählerstimmen. Nun s<strong>in</strong>d Parteitage<br />
über das Virtuelle h<strong>in</strong>aus avisiert, jedoch<br />
f<strong>in</strong>det die <strong>Kommunikation</strong> zwischen Partei<br />
und Anhängern weiterh<strong>in</strong> fast ausschließlich<br />
im Netz statt. In den Internet-<br />
Debatten werden ebenfalls die Beiträge<br />
von Nichtmitglie<strong>der</strong>n berücksichtigt. Der<br />
Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte<br />
besche<strong>in</strong>igt den „Piraten“ daher e<strong>in</strong> hohes<br />
Maß an <strong>in</strong>nerparteilicher Demokratie,<br />
mit dem diese den etablierten Parteien e<strong>in</strong><br />
großes Stück voraus seien. Dass mittlerweile<br />
nicht nur das Gründungsthema <strong>der</strong><br />
Partei, die Netzpolitik, diskutiert wird,<br />
son<strong>der</strong>n auch Debatten über Sozial- o<strong>der</strong><br />
Außenpolitik geführt werden und diese<br />
Themen <strong>in</strong> e<strong>in</strong> noch zu beschließendes<br />
Parteiprogramm aufgenommen werden<br />
sollen, dokumentieren den Fortschritt <strong>der</strong><br />
Seite 30 Nr. 484 · März 2010
Neue Medienpolitik für neue Medien<br />
„Internet-Partei“ auf dem Weg zu e<strong>in</strong>em<br />
etablierteren Status <strong>der</strong> Parteiwerdung.<br />
Die Mitglie<strong>der</strong>zahl, die nach eigenen Angaben<br />
mittlerweile die 10 000er-Marke<br />
überschritten hat, ist e<strong>in</strong> weiterer Beleg<br />
dafür. Allerd<strong>in</strong>gs dürfte zum<strong>in</strong>dest auf<br />
mittlere Sicht die Netzpolitik, wie weiland<br />
bei den Grünen die Umweltpolitik,<br />
die Hauptantriebsfe<strong>der</strong> bleiben, womit<br />
die „Piratenpartei“ trotz aller Fortschritte<br />
über den Status e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>-Themen-Partei<br />
nicht h<strong>in</strong>auskäme. Ihr Thema, die Netzpolitik<br />
und hier neben dem Datenschutz<br />
vor allem die Abschaffung des Urheberrechts,<br />
birgt allerd<strong>in</strong>gs gesellschaftsverän<strong>der</strong>nden<br />
Sprengstoff. Ihre For<strong>der</strong>ungen,<br />
würden sie heute umgesetzt, bedeuteten<br />
das Ende <strong>der</strong> Arbeit von Verlagen,<br />
Autoren und Künstlern. Und niemand<br />
zweifelt daran, dass die größte „Volkspartei<br />
im Internet“ (Handelsblatt) ihre<br />
For<strong>der</strong>ungen auch wahr machen würde,<br />
wenn sich politische Mehrheiten dafür<br />
f<strong>in</strong>den ließen.<br />
Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> politischen Kultur<br />
Dass die Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
vom Netz ausgeht, sche<strong>in</strong>t unbestritten.<br />
Sie ist jedoch nur die e<strong>in</strong>e Seite <strong>der</strong> Medaille.<br />
„Um politisch aktiv zu se<strong>in</strong>, dafür<br />
muss sich heute niemand mehr aus se<strong>in</strong>em<br />
Haus bewegen.“ Der Politikwissenschaftler<br />
Christoph Bieber deutet damit<br />
e<strong>in</strong>e Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> politischen Kultur<br />
an, die mit <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong>sverän<strong>der</strong>ung<br />
e<strong>in</strong>hergeht. <strong>Politische</strong> Kultur wird immer<br />
noch verstanden als die Orientierung<br />
politischen Handelns an Me<strong>in</strong>ungen, E<strong>in</strong>stellungen<br />
und Werten von Menschen,<br />
die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Summe die Bevölkerung e<strong>in</strong>er<br />
<strong>Gesellschaft</strong> beziehungsweise e<strong>in</strong>es Staates<br />
bilden. Dazu gehört auch die politische<br />
Sozialisation <strong>in</strong> <strong>der</strong> Familie, <strong>in</strong> Schulen,<br />
Parteien, Peergroups und Medien sowie<br />
Demokratiezufriedenheit, politische<br />
Beteiligung und das Vertrauen <strong>in</strong> die politischen<br />
Institutionen. Wenn nun wichtige<br />
Kulturationsprozesse wie politische<br />
Sozialisation und Partizipation e<strong>in</strong>er ganzen<br />
Generation o<strong>der</strong> <strong>digitalen</strong> Klasse sich<br />
weitgehend nur noch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Teilbereich<br />
wie dem Internet vollziehen und<br />
sich dort konzentrieren, so bedeutet dies<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat e<strong>in</strong>en gravierenden Wandel <strong>der</strong><br />
politischen Kultur: Sozialisationsorte wie<br />
Familie, Schulen und Vere<strong>in</strong>e verlieren<br />
damit an Bedeutung. Allerd<strong>in</strong>gs: <strong>Politische</strong><br />
Partizipation wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> Summe<br />
nicht ger<strong>in</strong>ger, sie än<strong>der</strong>t sich nur und<br />
verän<strong>der</strong>t dabei die Politik. Dar<strong>in</strong> besteht<br />
e<strong>in</strong>e latente Gefahr auch für die politische<br />
<strong>Kommunikation</strong>, dass sie ihre Adressaten<br />
zu verlieren droht, wenn sie auf diese<br />
Verän<strong>der</strong>ung durch Verän<strong>der</strong>ung ihrer<br />
selbst nicht reagiert. Da aber auch die Medienlogiken<br />
von <strong>der</strong> politischen <strong>Kommunikation</strong><br />
e<strong>in</strong>kalkuliert werden und somit<br />
Bestandteil <strong>der</strong> politischen Kultur s<strong>in</strong>d,<br />
bietet <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ungsprozess neben<br />
den e<strong>in</strong>gangs erwähnten Risiken e<strong>in</strong>es beschleunigten<br />
Journalismus auch große<br />
Chancen für die politische Kultur. Denn<br />
als nicht l<strong>in</strong>eares Medium bietet das Netz<br />
dem Nutzer die Chance zur Vertiefung<br />
von Information und Wissen – an<strong>der</strong>s als<br />
das flüchtige Medium Fernsehen, das politische<br />
Inhalte nur selektiv und verkürzt<br />
vermittelt. Dies anzuerkennen bedeutet<br />
aber auch, dass die Politik das Internet<br />
nicht mehr nur als Verteilnetz sieht, son<strong>der</strong>n<br />
auch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er publizistischen Bedeutung<br />
begreift und <strong>in</strong> die Medienregulierung<br />
mit e<strong>in</strong>bezieht. Die zunehmende<br />
Konvergenz von klassischen Medien und<br />
Netzmedien und <strong>der</strong> fortschreitende Medienwandel<br />
wird dies über kurz o<strong>der</strong><br />
lang ohneh<strong>in</strong> erfor<strong>der</strong>lich machen. H<strong>in</strong>zu<br />
kommt <strong>der</strong> politische E<strong>in</strong>fluss <strong>der</strong> Netzöffentlichkeit,<br />
die zurzeit noch als Parallelphänomen<br />
auftritt, im Zuge <strong>der</strong> technischen<br />
Medienkonvergenz aber über kurz<br />
o<strong>der</strong> lang mit <strong>der</strong> klassischen Medienöffentlichkeit<br />
emulgieren und von dieser<br />
nicht mehr zu trennen se<strong>in</strong> wird.<br />
Darauf setzen <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie auch die<br />
Fernsehanstalten, bei denen vor allem die<br />
Nr. 484 · März 2010<br />
Seite 31
Robert Grünewald<br />
öffentlich-rechtlichen diese Entwicklung<br />
für sich nutzen, <strong>in</strong>dem ihnen nichts an<strong>der</strong>es<br />
e<strong>in</strong>fällt als die Expansion <strong>in</strong>s Netz<br />
und das Vordr<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> neue technische<br />
Empfangswelten wie iPhone und Mobilfunk,<br />
die für den Rundfunkempfang<br />
eigentlich nicht entwickelt wurden.<br />
Auch wenn dies mit dem EU-Recht und<br />
dem Rundfunkstaatsvertrag vere<strong>in</strong>bar<br />
se<strong>in</strong> mag, so zeigt sich hier doch e<strong>in</strong> gewisser<br />
medienpolitischer Überprüfungsbedarf,<br />
denn den Medienwandel machen<br />
sich mit ARD und ZDF gerade diejenigen<br />
zunutze, die ihn sich aufgrund ihrer Gebührenalimentierung<br />
leisten können. Der<br />
Medienwandel darf jedoch nicht dazu<br />
führen, dass er am Ende e<strong>in</strong>e Zweiklassengesellschaft<br />
unter den Anbietern begünstigt.<br />
Wie weit <strong>der</strong> Prozess <strong>der</strong> Rundfunkausbreitung<br />
<strong>in</strong>s Netz bereits fortgeschritten<br />
ist, darauf macht e<strong>in</strong>e Studie<br />
<strong>der</strong> Medienwissenschaftler<strong>in</strong> Joan Krist<strong>in</strong><br />
Bleicher aufmerksam. Sie spricht von<br />
e<strong>in</strong>er zunehmenden Hybridisierung <strong>der</strong><br />
Rundfunkangebote im Netz und belegt<br />
dies vor allem mit <strong>der</strong> Ablösung <strong>der</strong><br />
klassischen Programmmodelle durch Navigationsmodelle<br />
im Internetfernsehen.<br />
Dabei kommt es <strong>in</strong> steigendem Maße zu<br />
nutzergeneriertenProgramm<strong>in</strong>halten,sodass<br />
sich mit herkömmlichen Unterscheidungskriterien<br />
gar nicht mehr bestimmen<br />
lässt, ob es sich noch um Rundfunk<br />
(Broad-) o<strong>der</strong> E<strong>in</strong>zelme<strong>in</strong>ung (Microcast<strong>in</strong>g)<br />
handelt. So gerät <strong>der</strong> Rundfunk <strong>in</strong>sgesamt<br />
<strong>in</strong> den Grenzbereich se<strong>in</strong>er demokratischen<br />
Legitimation, denn e<strong>in</strong> Je<strong>der</strong>mannrecht<br />
zur Programmveranstaltung<br />
ist <strong>in</strong> den geltenden Mediengesetzen ausdrücklich<br />
ausgeschlossen. Möglich ist<br />
dies bislang nur, weil es sich um e<strong>in</strong> Phänomen<br />
handelt, das <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em unregulierten,<br />
weil dem Rundfunk nicht zugerechneten<br />
Bereich auftritt.<br />
Verantwortung zur Regulierung<br />
Allerd<strong>in</strong>gs ist es vor allem die oben skizzierte<br />
Abwan<strong>der</strong>ung des Journalismus<br />
aus dem regulierten <strong>in</strong> den unregulierten<br />
Bereich, die deutlich macht: Die Medienpolitik<br />
darf sich nicht ihrer Verantwortung<br />
zur Regulierung entziehen. Der<br />
Bundes<strong>in</strong>nenm<strong>in</strong>ister hat versichert, <strong>der</strong><br />
Staat garantiere auch die Freiheit des<br />
Internets. Nicht nur, weil er dies auch<br />
als Verfassungsm<strong>in</strong>ister gesagt hat, son<strong>der</strong>n<br />
weil es sich um e<strong>in</strong>e Garantie handelt,<br />
die <strong>der</strong>jenigen des Artikel 5 des<br />
Grundgesetzes gleich kommt, ist es notwendig,<br />
den damit verbundenen Gesetzgebungsvorbehalt<br />
mit Leben zu erfüllen.<br />
Die Schutzgarantie <strong>der</strong> Verfassung für<br />
Presse, Hörfunk und Fernsehen sollte<br />
auf das Internet ausgeweitet werden –<br />
bei allen politischen und kompetenzrechtlichen<br />
Konsequenzen, die e<strong>in</strong> solches<br />
Unterfangen auslösen würde. Die<br />
CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat beschlossen,<br />
e<strong>in</strong>e Enquete-Kommission zu<br />
beantragen, die aufzeigen soll, wie Internet<br />
und Digitalisierung das gesellschaftliche<br />
Leben verän<strong>der</strong>n und welche politischen<br />
Konsequenzen daraus zu ziehen<br />
s<strong>in</strong>d. In <strong>der</strong> Begründung heißt es, dass<br />
es sich beim Internet nicht mehr nur um<br />
e<strong>in</strong>e technische Plattform handelt, son<strong>der</strong>n<br />
wie bei den klassischen Medien um<br />
e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>tegralen Bestandteil des Lebens<br />
<strong>der</strong> Menschen. Der Untersuchungsauftrag<br />
zielt unter an<strong>der</strong>em auf Erkenntnisse<br />
zur Medienverantwortung, zur<br />
Medien- und Me<strong>in</strong>ungsvielfalt, zu Wettbewerb<br />
und Marktsituation, Jugendschutz<br />
sowie Persönlichkeitsschutz und<br />
weitere Regelungsbereiche, wie sie aus<br />
<strong>der</strong> bisheri-gen Mediengesetzgebung bekannt<br />
s<strong>in</strong>d. Bis zur Umsetzung <strong>der</strong> Erkenntnisse<br />
von Enquete-Kommissionen<br />
ist es erfahrungsgemäß zwar meist e<strong>in</strong><br />
weiter Weg, aber dennoch handelt es<br />
sich um e<strong>in</strong>en wichtigen Schritt <strong>in</strong> die<br />
richtige Richtung, um für den Medienwandel<br />
den notwendigen medienpolitischen<br />
Ordnungsrahmen zu schaffen und<br />
e<strong>in</strong>e neue Phase <strong>der</strong> Medienpolitik e<strong>in</strong>zuläuten.<br />
Seite 32 Nr. 484 · März 2010
Hoffnungen,<br />
Erwartungen,<br />
Befürchtungen<br />
– e<strong>in</strong>e Bilanz<br />
Der medienpolitische Urknall<br />
Jürgen Wilke<br />
Der Begriff, ja das Bild vom Urknall, mit<br />
dem vor e<strong>in</strong>em Vierteljahrhun<strong>der</strong>t <strong>der</strong><br />
Start des dualen Systems im Rundfunk<br />
gekennzeichnet wurde, ist 1987 durch<br />
e<strong>in</strong> Buch von zwei se<strong>in</strong>erzeit am Ludwigshafener<br />
Kabelpilotprojekt Beteiligten<br />
<strong>in</strong> Umlauf gebracht worden (Stephan<br />
Ory/Ra<strong>in</strong>er Sura: Der Urknall im Medienlabor.<br />
Das Kabelpilotprojekt Ludwigshafen,<br />
Berl<strong>in</strong> 1987). Es handelt sich um e<strong>in</strong>e Anleihe<br />
bei <strong>der</strong> physikalischen Kosmologie.<br />
Doch ist die Inanspruchnahme dieses Begriffs<br />
<strong>in</strong> unserem Zusammenhang ziemlich<br />
irreführend, zum<strong>in</strong>dest wenn man<br />
damit die Plötzlichkeit e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>tretenden<br />
Ereignisses me<strong>in</strong>t. Am Anfang des medialen<br />
Universums befand man sich ohneh<strong>in</strong><br />
auch nicht mehr.<br />
Von Plötzlichkeit konnte bei <strong>der</strong> E<strong>in</strong>führung<br />
des privaten Rundfunks <strong>in</strong><br />
Deutschland jedenfalls ke<strong>in</strong>e Rede se<strong>in</strong>.<br />
Sieht man von den ersten Initiativen schon<br />
<strong>in</strong> den 1950er-Jahren ab, die notwendigerweise<br />
an den technischen und rechtlichen<br />
Umständen damals scheitern mussten,<br />
zog sich die Etablierung des Privatfunks<br />
mehr als e<strong>in</strong> Jahrzehnt h<strong>in</strong>, lässt man die<br />
Rechnung mit <strong>der</strong> E<strong>in</strong>setzung <strong>der</strong> Kommission<br />
für den Ausbau des technischen<br />
<strong>Kommunikation</strong>ssystems (KtK) im Jahre<br />
1973 beg<strong>in</strong>nen. Der Weg zum sogenannten<br />
„Urknall“ war langwierig, bed<strong>in</strong>gt<br />
vor allem durch den medienpolitischen<br />
Grundsatzstreit zwischen den Unionsparteien<br />
und <strong>der</strong> SPD. Nicht nur die E<strong>in</strong>richtung<br />
<strong>der</strong> Kabelpilotprojekte war strittig.<br />
Zumal um ihre Ausgestaltung und F<strong>in</strong>anzierung<br />
gab es Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen.<br />
Die Etablierung des privaten Rundfunks<br />
war von politischen Absichten bestimmt<br />
und wurde mit Befürchtungen<br />
begleitet. Leitend war die Absicht, das<br />
Monopol <strong>der</strong> öffentlich-rechtlichen Anstalten<br />
aufzuheben, vor allem das Fernsehen<br />
zu „entautorisieren“ und durch<br />
Konkurrenz den Menschen mehr Auswahl<br />
und Freiheit zu ermöglichen. Befürchtet<br />
wurden von den Gegnern negative<br />
Konsequenzen für Individuen und<br />
<strong>Gesellschaft</strong>. Man sprach beispielsweise<br />
von Reizüberflutung, drohen<strong>der</strong> Abhängigkeit,<br />
Programmverflachung und von<br />
Geschäft statt Geme<strong>in</strong>wohl. Dabei wurde<br />
unterstellt, dass die öffentlich-rechtliche<br />
Organisationsform per se das Geme<strong>in</strong>wohl<br />
verwirkliche.<br />
Welche Folgen, so ist heute nach<br />
fünfundzwanzig Jahren zu fragen, hatte<br />
die E<strong>in</strong>führung des privaten Rundfunks<br />
<strong>in</strong> Deutschland? Die Antworten darauf<br />
werden im Folgenden ohne Anspruch auf<br />
Vollständigkeit <strong>in</strong> neun Punkten zusammengefasst:<br />
Drastische Erhöhung<br />
<strong>der</strong> Sen<strong>der</strong> und Programme<br />
1. Die Zahl <strong>der</strong> Sen<strong>der</strong> und <strong>der</strong> Programmangebote<br />
<strong>in</strong> Hörfunk und Fernsehen<br />
hat sich drastisch erhöht. 1984 gab<br />
es <strong>in</strong> Deutschland dreizehn öffentlichrechtliche<br />
Rundfunksen<strong>der</strong>, die sieben<br />
Fernsehprogramme (ARD, ZDF, fünf<br />
Dritte) und 31 Radioprogramme ausstrahlten.<br />
2007 gab es fünfzehn öffentlichrechtliche<br />
und 354 privat-kommerzielle<br />
Fernsehprogramme sowie 56 öffentlich-<br />
Nr. 484 · März 2010<br />
Seite 33
Jürgen Wilke<br />
rechtliche und 228 private Radioprogramme.<br />
Diese Vermehrung hat sich <strong>in</strong><br />
mehreren Wellen vollzogen, sprunghaft<br />
erst recht <strong>in</strong> den letzten Jahren, bed<strong>in</strong>gt<br />
durch die Digitalisierung. Anfang <strong>der</strong><br />
Achtzigerjahre waren es nur Kabel und<br />
Satelliten gewesen, die die Enge des terrestrischen<br />
Frequenzspektrums erweiterten.<br />
Inzwischen s<strong>in</strong>d neue Technologien<br />
h<strong>in</strong>zugetreten, die die Übertragungskapazitäten<br />
nochmals enorm potenziert<br />
haben, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e das Internet. Freilich<br />
geht damit e<strong>in</strong>e Fragmentierung <strong>der</strong> Sen<strong>der</strong>landschaft<br />
e<strong>in</strong>her, die den Handlungsund<br />
Ref<strong>in</strong>anzierungsspielraum für die<br />
e<strong>in</strong>zelnen Anbieter immer stärker partialisiert.<br />
Verän<strong>der</strong>te Reichweiten und<br />
Marktanteile<br />
2. Verän<strong>der</strong>t haben sich <strong>der</strong> Radio- und<br />
Fernsehempfang. Nach anfänglicher Stabilität<br />
hat sich die tägliche Reichweite des<br />
Fernsehens erhöht. 1982 hatte das Fernsehen<br />
im Jahresdurchschnitt bei <strong>der</strong> Bevölkerung<br />
e<strong>in</strong>e Reichweite pro Tag von<br />
72 Prozent, 2005 waren es 79 Prozent. In<br />
ger<strong>in</strong>gerem Umfang stieg die Hörfunk-<br />
Reichweite von 76 Prozent auf 84 Prozent.<br />
Im Jahr 1984 verteilten sich die Marktanteile<br />
<strong>der</strong> Sehdauer im Wochendurchschnitt<br />
wie folgt: ARD 46 Prozent, ZDF 44<br />
Prozent, Dritte Programme zehn Prozent.<br />
Im Jahre 2007 hatte das Erste im Jahresdurchschnitt<br />
e<strong>in</strong>en Marktanteil von 13,4<br />
Prozent, das ZDF von 12,8 Prozent, die Dritten<br />
zusammengenommen von 13,3 Prozent,<br />
RTL von 12,5 Prozent, Sat.1 von 9,5<br />
Prozent und ProSieben von 6,5 Prozent. Dabei<br />
beruht <strong>der</strong> Vorsprung <strong>der</strong> Öffentlich-<br />
Rechtlichen <strong>in</strong> den letzten Jahren vor allem<br />
auf Sportübertragungen. Sie alle<strong>in</strong> können<br />
bisher dafür die gestiegenen Kosten für die<br />
Übertragungsrechte aufbr<strong>in</strong>gen.<br />
Erhöhter Konsum<br />
3. Erhöht haben sich <strong>der</strong> Radio- und<br />
Fernsehkonsum. 1983/1984 betrug im<br />
Durchschnitt die Hördauer <strong>der</strong> Gesamtbevölkerung<br />
pro Tag 159 M<strong>in</strong>uten, die<br />
tägliche Sehdauer 119 M<strong>in</strong>uten, 2007 waren<br />
es beim Radio 186 M<strong>in</strong>uten und beim<br />
Fernsehen 208 M<strong>in</strong>uten. Die Erhöhung<br />
beträgt beim Fernsehen etwas weniger als<br />
die Hälfte, beim Radio e<strong>in</strong> Sechstel. Das<br />
ist zwar <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e beim Fernsehen e<strong>in</strong><br />
nicht ger<strong>in</strong>ger Anstieg, dürfte aber noch<br />
ke<strong>in</strong>eswegs jene Abhängigkeit bedeuten,<br />
die vor <strong>der</strong> E<strong>in</strong>führung des Privatfunks<br />
befürchtet wurde. Zudem ist die Fernsehnutzungsdauer<br />
leicht rückläufig: Von<br />
2004 bis 2006 lag sie schon bei 210 bis<br />
212 M<strong>in</strong>uten, was durch die beson<strong>der</strong>en<br />
Sportereignisse dieser Jahre bed<strong>in</strong>gt gewesen<br />
se<strong>in</strong> dürfte. Als „Bremse“ wirkt zudem<br />
die zunehmende Internetnutzung.<br />
Da man <strong>in</strong>zwischen auch im Internet<br />
fernsehen kann, wird die Messung <strong>der</strong><br />
Reichweite immer komplizierter.<br />
Bemerkenswerte „Kanaltreue“<br />
4. Die Rundfunknutzung hat sich diversifiziert.<br />
Das gilt <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e für das<br />
Fernsehen. Im dualen System werden <strong>in</strong><br />
den Haushalten selbstverständlich mehr<br />
Programme genutzt, als dies im öffentlich-rechtlichen<br />
Monopol möglich war.<br />
An<strong>der</strong>erseits hat sich gezeigt, dass die<br />
persönliche Auswahl aus den Programmen<br />
limitiert bleibt. Natürlich hängt<br />
das von <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen Verfügbarkeit<br />
ab. Man misst das mit dem sogenannten<br />
Kanalrepertoire (auch relevant set genannt),<br />
das heißt <strong>der</strong> Anzahl <strong>der</strong> vom E<strong>in</strong>zelnen<br />
genutzten Programme. Tatsächlich<br />
begnügen sich knapp zwei Drittel <strong>der</strong><br />
Fernsehzuschauer mit drei Programmen.<br />
Mehr als neunzig Prozent <strong>der</strong> gesamten<br />
Fernsehnutzung entfallen auf nicht mehr<br />
als zehn Sen<strong>der</strong>. Die befürchtete Fragmentierung<br />
des Publikums ist jedenfalls<br />
nicht e<strong>in</strong>getreten. Denn bei vielen Zuschauern<br />
lässt sich auch e<strong>in</strong>e bemerkenswerte<br />
„Kanaltreue“ feststellen. Immerh<strong>in</strong><br />
gibt es e<strong>in</strong>e deutliche Spaltung zwischen<br />
<strong>der</strong> älteren Bevölkerung, die die öffent-<br />
Seite 34 Nr. 484 · März 2010
Der medienpolitische Urknall<br />
Am 30. April 1986 hatte <strong>der</strong> bundesweit erste private UKW-Hörfunksen<strong>der</strong> „Radio 4“<br />
se<strong>in</strong>en Sendebetrieb aufgenommen. Hier beim Sendebeg<strong>in</strong>n um 18.30 Uhr <strong>in</strong> Ludwigshafen<br />
Bernhard Vogel, damaliger M<strong>in</strong>isterpräsident von Rhe<strong>in</strong>land-Pfalz,<br />
Dieter Maurer, Mo<strong>der</strong>ator des Sen<strong>der</strong>s, und Klaus Ulbert, Fallschirmspr<strong>in</strong>ger (v.l.n.r.).<br />
© picture-alliance/dpa, Foto: Christ<strong>in</strong>e Pfund<br />
lich-rechtlichen Programme bevorzugt,<br />
und den jüngeren Menschen, die mehr<br />
die privaten Sen<strong>der</strong> e<strong>in</strong>schalten. Bei den<br />
Jüngeren haben daher auch die Privaten<br />
den höheren Marktanteil.<br />
Ökonomische Effekte<br />
5. Von <strong>der</strong> E<strong>in</strong>führung des Privatfunks<br />
wurden auch ökonomische Effekte erwartet.<br />
An zwei Indikatoren soll dies belegt<br />
werden. Der Privatfunk, von Pay-<br />
TV abgesehen, muss sich ausschließlich<br />
durch Werbee<strong>in</strong>nahmen f<strong>in</strong>anzieren. Tatsächlich<br />
ist <strong>der</strong> Werbemarkt <strong>in</strong> Deutschland<br />
<strong>in</strong> den letzten fünfundzwanzig<br />
Jahren enorm gewachsen, vor allem im<br />
Bereich <strong>der</strong> Fernsehwerbung. Die Gesamtwerbeaufwendungen<br />
<strong>in</strong> Deutschland<br />
wuchsen, gerechnet <strong>in</strong> Euro, von<br />
7,65 Milliarden 1984 auf 20,35 Milliarden<br />
2006. Den Löwenanteil an <strong>der</strong> Steigerung<br />
machte die Fernsehwerbung aus. Sie<br />
erhöhte sich von 680 Millionen Euro 1984<br />
auf 4,1 Milliarden 2006. Die Hörfunkwerbung<br />
wuchs (<strong>in</strong> ger<strong>in</strong>gerem Umfang) von<br />
268 Millionen Euro auf 680 Millionen<br />
Euro. Der Anteil <strong>der</strong> Fernsehwerbung<br />
an den gesamten jährlichen Werbeaufwendungen<br />
<strong>in</strong> Deutschland verdoppelte<br />
sich. Allerd<strong>in</strong>gs hatte auch das Fernsehen<br />
unter <strong>der</strong> Werbekrise Anfang des Jahrtausends<br />
zu leiden (2002 sank <strong>der</strong> genannte<br />
Anteil um 11,5 Prozent), und dies<br />
wird auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> gegenwärtigen F<strong>in</strong>anzkrise<br />
nicht an<strong>der</strong>s se<strong>in</strong>.<br />
Effekte auf dem Arbeitsmarkt<br />
6. E<strong>in</strong> weiterer ökonomischer Indikator<br />
können die Arbeitsmarkteffekte se<strong>in</strong>. Wie<br />
viele neue Beschäftigungsmöglichkeiten<br />
und Stellen die E<strong>in</strong>führung des privaten<br />
Rundfunks nach sich zog, lässt sich kaum<br />
präzise beziffern. Die Zahl <strong>der</strong> fest angestellten<br />
und sonstigen Mitarbeiter im privaten<br />
Fernsehen stieg sozusagen von null<br />
bis 1996 auf über 8900. Von 1998 bis 2001<br />
kam es zu e<strong>in</strong>em weiteren kräftigen Beschäftigtenaufbau.<br />
Danach g<strong>in</strong>g die Zahl<br />
Nr. 484 · März 2010<br />
Seite 35
Jürgen Wilke<br />
<strong>der</strong> Beschäftigten im Rahmen von Maßnahmen<br />
<strong>der</strong> Kostene<strong>in</strong>sparung zurück.<br />
Seitdem setzte wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Phase langsamen<br />
Anstiegs e<strong>in</strong>. 2006 betrug die Gesamtzahl<br />
<strong>der</strong> Beschäftigten im privaten<br />
Fernsehen 16 500, davon 9400 Beschäftigte<br />
ohneTeleshopp<strong>in</strong>g-Kanäle.2001hatte<br />
<strong>der</strong>en Zahl 12 500 betragen, was e<strong>in</strong>en<br />
Höhepunkt darstellte. Im privaten Hörfunk<br />
wurden 1996 7400 Beschäftigte gezählt.<br />
Hier gab es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folgezeit weniger<br />
Ausschläge. 2006 waren es noch 6700.<br />
Allerd<strong>in</strong>gs geben diese Zahlen ke<strong>in</strong>e h<strong>in</strong>reichende<br />
Vorstellung von den Arbeitsmarkteffekten,<br />
weil beispielsweise die<br />
Arbeitsplätze, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fernsehproduktionswirtschaft<br />
und an<strong>der</strong>weitig mittelbar<br />
mit dem Privatfunk verbunden s<strong>in</strong>d,<br />
nicht e<strong>in</strong>berechnet s<strong>in</strong>d. Die Personalstärke<br />
<strong>der</strong> öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten<br />
ist mit 52 000 noch weit<br />
größer.<br />
Folgen für die Programmgestaltung<br />
7. Das Aufkommen des Privatfunks<br />
hatte erhebliche Folgen für die Programme.<br />
Im Hörfunk bildeten sich bestimmte<br />
Programmformate heraus (Formatradios),<br />
die durch ihre „Musikfarben“<br />
auf die jeweilige werberelevante<br />
Zielgruppe ausgerichtet s<strong>in</strong>d. Im Fernsehen<br />
entstanden e<strong>in</strong>erseits Vollprogramme,<br />
außerdem aber auch Spartenprogramme<br />
(für Nachrichten, Sport,<br />
Videoclips). Die Vollprogramme entwickelten,<br />
um Zuschauer zu gew<strong>in</strong>nen, e<strong>in</strong>e<br />
ganze Reihe neuer Sendeformen mit Boulevard-Charakter.<br />
Dazu gehören diverse<br />
Shows, Talk-Sendungen, Gew<strong>in</strong>nspiele,<br />
Vorabendserien, Reality-TV und so weiter.<br />
Mit nicht wenigen dieser Sendungen<br />
erregten die privaten Sen<strong>der</strong> Anstoß wie<br />
jüngst wie<strong>der</strong> RTL mit <strong>der</strong> Serie „Erwachsen<br />
auf Probe“. Die öffentliche Aufmerksamkeit<br />
kam ihnen im Grunde zupass.<br />
Bemängelt wird das Fehlen seriöser Information.<br />
Sie gibt es zwar auch, aber<br />
meist <strong>in</strong> den „Fensterprogrammen“, die<br />
den privaten Sen<strong>der</strong>n zur „Vielfaltsicherung“<br />
auferlegt s<strong>in</strong>d.<br />
8. Der Privatfunk hat nicht nur eigene<br />
Programmformate hervorgebracht, son<strong>der</strong>n<br />
auch Auswirkungen gehabt auf<br />
die öffentlich-rechtlichen Programme. Erfolgreiche<br />
Sendeformen <strong>der</strong> Privaten s<strong>in</strong>d<br />
von ARD und ZDF übernommen o<strong>der</strong><br />
zum<strong>in</strong>dest adaptiert worden. Solche Anpassung<br />
wird seit Jahren unter dem Stichwort<br />
„Konvergenz“ diskutiert. Während<br />
ARD und ZDF dies unter H<strong>in</strong>weis auf<br />
ihre nach wie vor hohen Informationsanteile<br />
bestreiten, s<strong>in</strong>d doch Tendenzen<br />
<strong>der</strong> Angleichung nicht zu übersehen.<br />
„Entautorisierung“ des Fernsehens?<br />
9. Schwer messbar ist, <strong>in</strong>wieweit die beabsichtigte<br />
„Entautorisierung“ des Fernsehens<br />
e<strong>in</strong>getreten ist. Das Fernsehen<br />
würden, wie Erhebungen zeigen, heute<br />
zum<strong>in</strong>dest nicht weniger Leute vermissen<br />
als noch Mitte <strong>der</strong> Achtzigerjahre,<br />
wohl aber das Radio. Allerd<strong>in</strong>gs dürfte<br />
die B<strong>in</strong>dung eher noch stärker über die<br />
Unterhaltung laufen. Zuschauer e<strong>in</strong>gebüßt<br />
haben jedenfalls auch die Nachrichtensendungen<br />
von ARD und ZDF, die<br />
gleichwohl immer noch stärker genutzt<br />
werden als die <strong>der</strong> privaten Anbieter.<br />
Größer s<strong>in</strong>d die Verluste bei den politischen<br />
Magaz<strong>in</strong>en.<br />
Enttäuschte<br />
Hoffnung <strong>der</strong> Zeitungsverleger<br />
In e<strong>in</strong>em Vierteljahrhun<strong>der</strong>t privaten<br />
Rundfunks haben sich durchaus nicht alle<br />
Erwartungen erfüllt. Dies gilt vor allem<br />
für die Erwartungen <strong>der</strong> Zeitungsverleger,<br />
die lange Zeit auf die Zulassung privaten<br />
Rundfunks gedrängt hatten und<br />
dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Chance für e<strong>in</strong> zusätzliches<br />
Geschäftsfeld erblickten, <strong>in</strong> dem sie ihre<br />
Unternehmen auch bei abnehmen<strong>der</strong><br />
Auflagenentwicklung würden sichern<br />
können.<br />
In <strong>der</strong> Gründungsphase des privaten<br />
Rundfunks waren die Zeitungsverleger<br />
Seite 36 Nr. 484 · März 2010
Der medienpolitische Urknall<br />
durchaus präsent. 167 Zeitungsverleger<br />
waren an <strong>der</strong> PKS, <strong>der</strong> Programmgesellschaft<br />
für Kabel- und Satellitenrundfunk,<br />
beteiligt, aus <strong>der</strong> Sat.1 hervorg<strong>in</strong>g. Wegen<br />
<strong>der</strong> großen Verluste <strong>in</strong> den ersten Jahren<br />
zogen sich die Zeitungsverleger und auch<br />
die Zeitschriftenhäuser Burda und Bauer<br />
aus diesem Sen<strong>der</strong> zurück. Im Grunde<br />
gibt es Anteilseigner aus <strong>der</strong> Presse heute<br />
nur noch im privaten Hörfunk. Der Versuch<br />
<strong>der</strong> Übernahme <strong>der</strong> ProSiebenSat.1.<br />
Media AG durch den Spr<strong>in</strong>ger Verlag<br />
scheiterte bekanntlich vor drei Jahren am<br />
deutschen Kartellrecht beziehungsweise<br />
an dessen restriktiver Auslegung. Wozu<br />
das geführt hat und mit welchen Folgen –<br />
e<strong>in</strong>er Übernahme durch die F<strong>in</strong>anz<strong>in</strong>vestoren<br />
Permira/KKR –, ist bekannt. Der<br />
Sen<strong>der</strong> ist hoch verschuldet, muss Programmkosten<br />
e<strong>in</strong>sparen. Vor diesem<br />
H<strong>in</strong>tergrund s<strong>in</strong>d auch die E<strong>in</strong>wände <strong>der</strong><br />
Zeitungs- und Zeitschriftenverleger gegen<br />
e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> ihren Augen extensive Erlaubnis<br />
von Internetaktivitäten für ARD und<br />
ZDF im jüngsten Rundfunkän<strong>der</strong>ungsstaatsvertrag<br />
zu verstehen.<br />
Medienpolitische Konvergenzen<br />
Der private Rundfunk ist <strong>in</strong> Deutschland<br />
vor e<strong>in</strong>em Vierteljahrhun<strong>der</strong>t gegen<br />
große Wi<strong>der</strong>stände durchgesetzt worden.<br />
Diese Wi<strong>der</strong>stände haben sich <strong>in</strong>zwischen<br />
weitgehend gelegt, was nicht heißt,<br />
dass es ke<strong>in</strong>e Kritik gäbe und auch ke<strong>in</strong>e<br />
Probleme für se<strong>in</strong>e wirtschaftliche Entwicklung.<br />
Ähnlich wie man von e<strong>in</strong>er<br />
Konvergenz zwischen den öffentlichrechtlichen<br />
und den privaten Rundfunkprogrammen<br />
spricht, kann man vielleicht<br />
von e<strong>in</strong>er medienpolitischen Konvergenz<br />
zwischen den großen Parteien sprechen.<br />
Die Unionsparteien, die sich im Wesentlichen<br />
die Durchsetzung des Privatfunks<br />
zuschreiben können, brauchen dies<br />
angesichts <strong>der</strong> erzielten Effekte nicht zu<br />
bedauern, werden aber <strong>in</strong> an<strong>der</strong>er H<strong>in</strong>sicht<br />
enttäuscht se<strong>in</strong>. Die publizistische<br />
Vielfalt ist, so wie man sich das vorstellte,<br />
wohl nicht e<strong>in</strong>getreten, und auch diverse<br />
Programmformate werden <strong>in</strong> wertkonservativen<br />
Kreisen nicht auf Gegenliebe<br />
stoßen. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite hat sich die<br />
SPD mit dem privaten Rundfunk nicht<br />
nur abgefunden, son<strong>der</strong>n anerkennt se<strong>in</strong>en<br />
Beitrag zur Medienlandschaft, ja<br />
sieht <strong>in</strong> <strong>der</strong>en Weiterentwicklung e<strong>in</strong>e<br />
genu<strong>in</strong>e Gestaltungsaufgabe. Dabei hat<br />
man die Vorbehalte gewiss nicht allesamt<br />
aufgegeben, welche die kommerziellen<br />
Rundfunkanbieter als nicht chancengerecht<br />
empf<strong>in</strong>den und die öffentlichrechtlichen<br />
Anstalten stärken. Dennoch<br />
gibt es auch aufseiten <strong>der</strong> SPD ernsthafte<br />
Bemühungen um e<strong>in</strong> gedeihliches Nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />
<strong>der</strong> beiden Säulen des deutschen<br />
Rundfunksystems.<br />
Wie sehr sich die Situation geän<strong>der</strong>t<br />
hat, mag man an folgen<strong>der</strong> Episode ersehen:<br />
Im Februar 2009 ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ma<strong>in</strong>zer<br />
Staatskanzlei <strong>der</strong> Leiter <strong>der</strong> Rundfunkabteilung,<br />
Dieter Dewitz, <strong>in</strong> den Ruhestand<br />
getreten. Er gehörte schon mit zu<br />
den Beamten, die unter M<strong>in</strong>isterpräsident<br />
Bernhard Vogel und Staatssekretär Schreckenberger<br />
Anfang <strong>der</strong> 1980er-Jahre die<br />
gesetzlichen Grundlagen für den Privatfunk<br />
<strong>in</strong> Rhe<strong>in</strong>land-Pfalz legten. Dewitz<br />
ist aus Anlass se<strong>in</strong>es Ausscheidens e<strong>in</strong>e<br />
Festschrift gewidmet worden, an <strong>der</strong><br />
„Mannschaftskameraden und Gegenspieler“<br />
mitgeschrieben haben, darunter auch<br />
M<strong>in</strong>isterpräsident Kurt Beck und Mart<strong>in</strong><br />
Stadelmaier, <strong>der</strong> Leiter <strong>der</strong> Staatskanzlei<br />
und Koord<strong>in</strong>ator <strong>der</strong> Rundfunkpolitik <strong>der</strong><br />
Bundeslän<strong>der</strong>. Diese Festschrift trägt den<br />
schönen Titel „Das Wun<strong>der</strong> von Ma<strong>in</strong>z“:<br />
(Matthias Knothe/Klaus-Peter Potthast<br />
[Hrsg.]: Das Wun<strong>der</strong> von Ma<strong>in</strong>z – Rundfunk<br />
als gestaltete Freiheit. Festschrift für<br />
Hans-Dieter Dewitz, Baden-Baden 2009).<br />
Das ist e<strong>in</strong>e erstaunliche Formulierung<br />
nach mehr als fünfundzwanzig Jahren<br />
und könnte implizieren, auch Bernhard<br />
Vogel als „Wun<strong>der</strong>täter“ anzusehen.<br />
Nr. 484 · März 2010<br />
Seite 37
Das Festhalten am Bestehenden<br />
gefährdet den dr<strong>in</strong>gend<br />
notwendigen Zukunftsdiskurs<br />
Wie das Internet die<br />
Massenmedien verän<strong>der</strong>t<br />
Arne Klempert<br />
Den privaten Fernsehsen<strong>der</strong>n s<strong>in</strong>d die<br />
Onl<strong>in</strong>e-Aktivitäten <strong>der</strong> Öffentlich-Rechtlichen<br />
e<strong>in</strong> Dorn im Auge. Für die Zeitungsverleger<br />
ist <strong>der</strong> Suchmasch<strong>in</strong>enkonzern<br />
Google <strong>der</strong> Bösewicht. Und die<br />
Musik<strong>in</strong>dustrie sieht sich gleich von e<strong>in</strong>er<br />
ganzen „Generation Download“ <strong>in</strong> ihrer<br />
Existenz bedroht. Ke<strong>in</strong>e Frage: In den<br />
vergangenen Jahren ist e<strong>in</strong>iges durche<strong>in</strong>an<strong>der</strong>geraten<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Medienwelt. Entsprechend<br />
verunsichert s<strong>in</strong>d die etablierten<br />
Akteure. Mit Recht. Denn wir erleben<br />
<strong>der</strong>zeit e<strong>in</strong>en Medienumbruch, <strong>der</strong> es von<br />
se<strong>in</strong>er Bedeutung her mit <strong>der</strong> Etablierung<br />
des Buchdrucks mit beweglichen Lettern<br />
aufnehmen kann.<br />
Durch Gutenbergs Erf<strong>in</strong>dung und die<br />
damit möglich gewordene e<strong>in</strong>fache Reproduktion<br />
von Wissen wurde die Voraussetzung<br />
für Massenkommunikation<br />
überhaupt erst geschaffen. Seither hat<br />
sich zwar technisch vieles verän<strong>der</strong>t, aber<br />
e<strong>in</strong>e wesentliche Geme<strong>in</strong>samkeit haben<br />
alle Massenmedien: Die Verbreitungskanäle<br />
s<strong>in</strong>d begrenzt. Es braucht jemanden,<br />
<strong>der</strong> über das nötige Fachwissen und<br />
die Ressourcen verfügt, um Inhalte massenhaft<br />
verbreiten zu können, und es<br />
muss e<strong>in</strong>e Auswahl getroffen werden,<br />
weil auch <strong>der</strong> Platz begrenzt ist.<br />
Heute kann über das Internet je<strong>der</strong>mann<br />
ohne beson<strong>der</strong>e technische Fähigkeiten<br />
und völlig ohne Investitionen zum<br />
Sen<strong>der</strong> werden und mit se<strong>in</strong>en Inhalten<br />
Massen erreichen. Das br<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>ige<br />
grundlegende Verän<strong>der</strong>ungen mit sich,<br />
<strong>der</strong>en Auswirkungen <strong>in</strong> manchen Bereichen<br />
schon heute dramatisch s<strong>in</strong>d – nicht<br />
nur für diejenigen, die bisher mit und<br />
über die Massenmedien ihren Lebensunterhalt<br />
verdient haben, son<strong>der</strong>n für die<br />
gesamte <strong>Gesellschaft</strong>.<br />
Geschichte des Internets<br />
Um diesen Verän<strong>der</strong>ungen auf den<br />
Grund zu gehen, ist e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Rückblick<br />
<strong>in</strong> die jüngere Geschichte des Internets<br />
hilfreich. Als Ende <strong>der</strong> 1990er-Jahre AOL<br />
alle deutschen Haushalte mit CD-ROMs<br />
für den e<strong>in</strong>fachen Internetzugang überschüttete,<br />
schien die Welt noch <strong>in</strong> Ordnung.<br />
Das Internet war e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong> weiteres<br />
Massenmedium. Das Geschäftsmodell<br />
von AOL war typisch für die damalige<br />
massenmediale Denkweise: Nutzer<br />
sollten Internetzugang, Inhalte und<br />
weitere Angebote aus e<strong>in</strong>er Hand bekommen<br />
– quasi als Rundum-glücklich-Paket.<br />
Sie sollten Mitglied e<strong>in</strong>er exklusiven Onl<strong>in</strong>e-Geme<strong>in</strong>schaft<br />
werden. Alle Informations-<br />
und <strong>Kommunikation</strong>sbedürfnisse<br />
sollten an e<strong>in</strong>er Stelle befriedigt werden –<br />
ganz so, wie man das von klassischen<br />
Massenmedien her kannte. Der Abonnent<br />
als treuer Kunde. Das hat im Netz nicht<br />
funktioniert. Denn dieser Ansatz lässt e<strong>in</strong>en<br />
entscheidenden Unterschied zwischen<br />
dem Internet und Massenmedien<br />
außer acht: Die technische Infrastruktur<br />
ist ke<strong>in</strong> limitieren<strong>der</strong> Faktor mehr. Je<strong>der</strong>mann<br />
kann das Internet zur Verbreitung<br />
von Inhalten nutzen.<br />
Weblogs: Vernetzte Publikation<br />
Im Folgenden soll anhand von drei Beispielen<br />
dargestellt werden, wie sehr sich<br />
Nr. 484 · März 2010<br />
Seite 39
Arne Klempert<br />
dies auf die Zukunft <strong>der</strong> Massenmedien<br />
auswirkt.<br />
Anfang <strong>der</strong> 2000er-Jahre wurden Weblogs<br />
populär. Mit dem Begriff – abgeleitet<br />
aus „World Wide Web“ und „Logbuch“<br />
– werden öffentlich im Internet geführte<br />
Journale o<strong>der</strong> Tagebücher bezeichnet.<br />
Mit Weblogs wurde es zum K<strong>in</strong><strong>der</strong>spiel,<br />
im Internet zu publizieren. Anfangs<br />
musste dafür noch e<strong>in</strong>e Software <strong>in</strong>stalliert<br />
werden, später wurde es noch e<strong>in</strong>facher:<br />
Mitteilungsbedürftige Internetnutzer<br />
müssen sich seither nur bei e<strong>in</strong>em <strong>der</strong><br />
zahlreichen kostenlosen Weblog-Dienste<br />
anmelden und können sofort damit beg<strong>in</strong>nen,<br />
ihre E<strong>in</strong>drücke und Erfahrungen<br />
mit an<strong>der</strong>en Internetnutzern zu teilen.<br />
Von den Medien wurden diese „Internettagebücher“<br />
lange belächelt, unter an<strong>der</strong>em<br />
weil sich viele von ihnen nicht den<br />
ganz großen Themen widmen. Die meisten<br />
Blogs s<strong>in</strong>d stark persönlich geprägt,<br />
und die Autoren suchen ihre Themen<br />
nicht nach ihrer Relevanz für e<strong>in</strong> großes<br />
Publikum, son<strong>der</strong>n nach ihren persönlichen<br />
Interessen aus. Manche Weblogs<br />
richten sich sogar nur an den engeren<br />
Bekanntenkreis des jeweiligen Autors.<br />
Für die Vertreter klassischer Medien war<br />
und ist das alles schwer nachvollziehbar.<br />
Sie vergleichen solche neuartigen Publikations-<br />
und <strong>Kommunikation</strong>sformen<br />
allzu oft mit dem eigenen Produkt. Und<br />
wenn Zeitungsmacher Weblogs mit den<br />
Maßstäben <strong>der</strong> eigenen Arbeit vergleichen,<br />
dann kommen sie schnell zum<br />
Schluss, dass Weblogs natürlich ke<strong>in</strong>e<br />
besseren Zeitungen s<strong>in</strong>d.<br />
Doch diesen Anspruch haben Blogger<br />
auch gar nicht. Wohl ke<strong>in</strong> Weblog erhebt<br />
für sich den Anspruch, e<strong>in</strong> umfassendes<br />
Bild des Weltgeschehens abbilden zu<br />
wollen. Stattdessen liefern viele Weblog-<br />
Autoren lieber Debattenbeiträge zu Themen,<br />
die sie <strong>in</strong>teressieren. Debatten, die<br />
sich oft über mehrere Weblogs h<strong>in</strong>weg<br />
erstrecken und auf diese Weise auch<br />
Reichweiten erzielen, die es mit <strong>der</strong> e<strong>in</strong><br />
o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Zeitung aufnehmen können.<br />
E<strong>in</strong> wesentlicher Faktor für den Erfolg<br />
<strong>der</strong> Weblogs ist <strong>der</strong>en gegenseitige Verl<strong>in</strong>kung<br />
und das dadurch entstehende<br />
Netz. Dieses Ökosystem aus Inhalten und<br />
Autoren – oft als „Blogosphäre“ bezeichnet<br />
– ist für Außenstehende nur schwer<br />
zu durchschauen. Zu vielfältig s<strong>in</strong>d die<br />
Verknüpfungen, und zu sehr überlagern<br />
sie sich, abhängig vom jeweiligen Thema.<br />
Doch nicht nur untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> s<strong>in</strong>d Weblogs<br />
mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> vernetzt – die Blogosphäre<br />
ist ke<strong>in</strong> geschlossenes System.<br />
Vielmehr nimmt sie gern und oft auch Bezug<br />
auf Inhalte von Massenmedien –<br />
greift <strong>der</strong>en Themen auf und diskutiert<br />
diese weiter.<br />
Wikipedia:<br />
Die Weisheit des Kollektivs<br />
Im Jahr 2001 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er stillen Ecke des<br />
Internets als Experiment gestartet, gehört<br />
die Onl<strong>in</strong>e-Enzyklopädie Wikipedia<br />
mittlerweile zu den zehn am häufigsten<br />
aufgerufenen Websites <strong>der</strong> Welt und gilt<br />
als umfangreichste Wissenssammlung<br />
<strong>der</strong> Menschheitsgeschichte. Alle<strong>in</strong> die<br />
deutschsprachige Ausgabe umfasst über<br />
e<strong>in</strong>e Million Artikel, die alle<strong>in</strong> von Freiwilligen<br />
verfasst und gepflegt werden –<br />
ganz ohne e<strong>in</strong>e zentrale Kontroll<strong>in</strong>stanz.<br />
An<strong>der</strong>s als bei Weblogs stehen hier nicht<br />
die Vielfalt von Me<strong>in</strong>ungen und Autoren<br />
und die Debatte im Vor<strong>der</strong>grund, son<strong>der</strong>n<br />
die Zusammenarbeit an geme<strong>in</strong>samen,<br />
möglichst ausgewogenen Artikeln.<br />
Den Vertretern des massenmedialen<br />
Zeitalters war auch dieses Pr<strong>in</strong>zip zunächst<br />
sehr suspekt. Sie fanden schlechte<br />
Beiträge, sie fanden es merkwürdig, dass<br />
bedeutende Dichter gleichberechtigt neben<br />
Figuren aus dem Star-Wars-Universum<br />
stehen. Und verlassen wollten sie<br />
sich auf e<strong>in</strong> von Amateuren verfasstes<br />
Werk ohne zentral gesteuerte Qualitätskontrolle<br />
sowieso nicht. Mit dem Brockhaus<br />
– so e<strong>in</strong>e weit verbreitete Me<strong>in</strong>ung –<br />
Seite 40 Nr. 484 · März 2010
Wie das Internet die Massenmedien verän<strong>der</strong>t<br />
könne die Wikipedia e<strong>in</strong>fach nicht mithalten.<br />
Ihr fehlten die Verlässlichkeit, die<br />
richtige Gewichtung <strong>der</strong> Themen und<br />
natürlich die Haptik. Wie schon bei den<br />
Weblogs wurden auch hier wie<strong>der</strong> Äpfel<br />
mit Birnen verglichen.<br />
Ähnlich wie für die Blogosphäre ist<br />
auch für die Wikipedia die Vernetzung<br />
zwischen den Beteiligten und ihren Beiträgen<br />
e<strong>in</strong> entscheiden<strong>der</strong> Faktor für das<br />
Funktionieren des Systems. Ohne diese<br />
Verknüpfungen – auch heute lässt sich<br />
noch feststellen, welcher Benutzer im Jahr<br />
2001 den Artikel über die Nordsee angelegt<br />
hat und diesen mit den Worten begann<br />
„Die Nordsee ist e<strong>in</strong> Mehr [sic!], …“<br />
– würden die Selbstheilungsmechanismen<br />
<strong>der</strong> Wikipedia nicht funktionieren.<br />
Doch nicht nur <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Wikipedia<br />
spielt Vernetzung e<strong>in</strong>e entscheidende<br />
Rolle. Ihre kritische Masse an Mitarbeitern<br />
und Inhalten konnte die Wikipedia<br />
vor allem deshalb erreichen, weil viele<br />
Blogger auf die Wikipedia verwiesen<br />
haben. Statt Fachbegriffe o<strong>der</strong> H<strong>in</strong>tergründe<br />
selbst zu erläutern, setzen sie häufig<br />
e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong>en L<strong>in</strong>k zum entsprechenden<br />
Wikipedia-Artikel. Durch diese Aufmerksamkeit<br />
wurde <strong>der</strong> Anreiz zur Verbesserung<br />
des Artikels gesetzt, <strong>der</strong> fortan<br />
noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zog.<br />
E<strong>in</strong> sich selbst verstärken<strong>der</strong> Effekt.<br />
Und wie die Blogosphäre nimmt auch<br />
die Wikipedia gern Bezug auf klassische<br />
Massenmedien – ja sie ist geradezu<br />
darauf angewiesen, dass es außerhalb<br />
<strong>der</strong> Wikipedia publizierte Informationen<br />
gibt, die e<strong>in</strong>e geordnete Qualitätskontrolle<br />
durchlaufen haben. An<strong>der</strong>s könnten<br />
die vielen freiwilligen Helfer die Richtigkeit<br />
e<strong>in</strong>zelner Aussagen nicht mit h<strong>in</strong>reichen<strong>der</strong><br />
Sicherheit überprüfen.<br />
Twitter: Zwischen<br />
Publikation und Konversation<br />
Erst im letzten Jahr wurde <strong>in</strong> Gestalt von<br />
Twitter das sogenannte Microblogg<strong>in</strong>g<br />
populär. Ähnlich wie bei Weblogs kann<br />
hier je<strong>der</strong>mann se<strong>in</strong>e Gedanken mitteilen.<br />
An<strong>der</strong>s als <strong>in</strong> Weblogs üblich passiert<br />
dies aber nicht <strong>in</strong> Form von längeren Artikeln<br />
e<strong>in</strong>ige Male im Monat, son<strong>der</strong>n<br />
mehrmals täglich – mit e<strong>in</strong>er maximalen<br />
Länge von 140 Zeichen. Diese Kurznachrichten<br />
können von an<strong>der</strong>en Nutzern des<br />
Dienstes verfolgt werden.<br />
Von se<strong>in</strong>en Erf<strong>in</strong><strong>der</strong>n war Twitter<br />
ursprünglich dafür gedacht, den eigenen<br />
Freundeskreis darüber auf dem Laufenden<br />
zu halten, was man gerade tut („What<br />
are you do<strong>in</strong>g right now?“ stand bis vor<br />
Kurzem über dem E<strong>in</strong>gabefeld für neue<br />
Beiträge). Doch die Nutzer haben die vergleichsweise<br />
e<strong>in</strong>fache Technik zunehmend<br />
auch für an<strong>der</strong>e D<strong>in</strong>ge genutzt. E<strong>in</strong>en<br />
erheblichen Teil <strong>der</strong> <strong>Kommunikation</strong><br />
machen heute H<strong>in</strong>weise auf <strong>in</strong>teressante<br />
Beiträge <strong>in</strong> Blogs o<strong>der</strong> klassischen Medien<br />
aus – oft <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit kurzen Kommentaren<br />
dazu.<br />
Twitter ist wie e<strong>in</strong> Gespräch über das,<br />
was die Teilnehmer gerade <strong>in</strong>teressiert.<br />
Es ist <strong>in</strong> Echtzeit erfolgende und für<br />
je<strong>der</strong>mann sichtbare Mundpropaganda.<br />
Gelegentlich wird dabei auch wirklich<br />
Neues publiziert – wenn zum Beispiel<br />
wie Anfang 2009 e<strong>in</strong> Twitter-Nutzer Augenzeuge<br />
bei <strong>der</strong> Notlandung e<strong>in</strong>es Flugzeugs<br />
auf dem Hudson River wird. Solche<br />
Erlebnisse wurden auch früher schon<br />
im Bekanntenkreis weitererzählt, nur<br />
eben erst nach Stunden o<strong>der</strong> gar Tagen<br />
und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel auch immer nur E<strong>in</strong>zelnen.<br />
Heute erreichen solche Mitteilungen<br />
praktisch ohne Zeitverzögerung alle Bekannten,<br />
die gerade onl<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>d. Diese<br />
wie<strong>der</strong>um können es sogleich an ihren<br />
Bekanntenkreis weiterleiten. Innerhalb<br />
weniger M<strong>in</strong>uten können solche Informationen<br />
e<strong>in</strong>mal rund um den Erdball gelangen.<br />
Und auch beim Beispiel Twitter erliegen<br />
e<strong>in</strong>ige Medienmacher dem Reflex,<br />
solche Phänomene mit den Maßstäben ihrer<br />
eigenen Arbeit zu vergleichen: „Twitter<br />
ist doch nicht verlässlich“, heißt es da,<br />
Nr. 484 · März 2010<br />
Seite 41
Arne Klempert<br />
o<strong>der</strong> es wird beklagt, dass es doch niemanden<br />
<strong>in</strong>teressiere, dass e<strong>in</strong> Bekannter<br />
gerade U-Bahn fahre. Dennoch werden<br />
solche Mitteilungen <strong>in</strong>teressiert verfolgt –<br />
zu Hun<strong>der</strong>ttausenden. Allerd<strong>in</strong>gs nicht<br />
von e<strong>in</strong>er breiten Öffentlichkeit, son<strong>der</strong>n<br />
im Rahmen von vielen unterschiedlichen,<br />
mehr o<strong>der</strong> weniger privaten Öffentlichkeiten.<br />
Obwohl die Nachrichten auf<br />
Twitter technisch gesehen öffentlich s<strong>in</strong>d<br />
und grundsätzlich von je<strong>der</strong>mann gelesen<br />
und weiterverbreitet werden können,<br />
richten sie sich nicht an e<strong>in</strong> breites Publikum.<br />
Sie s<strong>in</strong>d gedacht für e<strong>in</strong>en Kreis von<br />
Menschen, <strong>der</strong> sich grundsätzlich für die<br />
Mitteilungen e<strong>in</strong>er Person <strong>in</strong>teressiert.<br />
Das können e<strong>in</strong>e Handvoll Freunde se<strong>in</strong>,<br />
e<strong>in</strong> paar Tausend wie bei Krist<strong>in</strong>a Köhler<br />
(http://twitter.com/krist<strong>in</strong>akoehler)<br />
o<strong>der</strong> gar Millionen wie bei Britney Spears<br />
(http://twitter.com/britneyspears). Die<br />
Grenzen zwischen Publikation und Konversation<br />
können hier bis zur Unkenntlichkeit<br />
verschwimmen. Solche Phänomene<br />
s<strong>in</strong>d mit den bekannten Maßstäben<br />
e<strong>in</strong>fach nicht erfassbar.<br />
Im Netz s<strong>in</strong>d die Nutzer <strong>der</strong> Filter<br />
Das Internet ist ke<strong>in</strong> Massenmedium –<br />
zum<strong>in</strong>dest nicht im klassischen S<strong>in</strong>ne. Es<br />
ist heute vielmehr e<strong>in</strong> Raum für digitale<br />
Gespräche, an denen je<strong>der</strong>mann teilnehmen<br />
kann – und zwar unabhängig von<br />
Zeit und Raum. E<strong>in</strong>e klare Ordnung gibt<br />
es dabei nicht: Bei e<strong>in</strong>er schier unbegrenzten<br />
Zahl von Gesprächsteilnehmern<br />
und <strong>der</strong> Möglichkeit, sowohl zeitgleich<br />
als auch zeitversetzt mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu<br />
kommunizieren, bleibt es jedem selbst<br />
überlassen, sich Ordnung <strong>in</strong> dieses Chaos<br />
zu br<strong>in</strong>gen. Die Aufgabe des Filterns –<br />
bisher von den Kontrolleuren <strong>der</strong> massenmedialen<br />
Verbreitungskanäle wahrgenommen<br />
– liegt plötzlich beim Rezipienten.<br />
Die Onl<strong>in</strong>e-Aktivitäten <strong>der</strong> Massenmedien<br />
berücksichtigen diese Entwicklung<br />
bisher noch wenig bis gar nicht.<br />
Fast alle Inhalte, die von ihnen onl<strong>in</strong>e<br />
angeboten werden, s<strong>in</strong>d Zweitverwertungen,<br />
die ursprünglich für die l<strong>in</strong>eare<br />
Verbreitung produziert wurden, und<br />
wi<strong>der</strong>setzen sich allzu oft e<strong>in</strong>er Vernetzung.<br />
Inhalte können nicht direkt<br />
verl<strong>in</strong>kt werden, das Fehlen von öffentlich<br />
zugänglichen Meta-Daten bei Video-<br />
o<strong>der</strong> Audio<strong>in</strong>halten macht die Suche<br />
nach relevanten Informationen fast<br />
unmöglich, o<strong>der</strong> die Inhalte verschw<strong>in</strong>den<br />
e<strong>in</strong>fach nach e<strong>in</strong>er Woche – e<strong>in</strong>e<br />
für die digitale <strong>Gesellschaft</strong> unsägliche<br />
Konsequenz aus dem Rundfunkstaatsvertrag.<br />
Mit <strong>der</strong> Abschottung ihrer Inhalte<br />
schaden sich die klassischen Medien<br />
letztlich selbst. Denn dies wird auf Dauer<br />
dazu führen, dass die Inhalte nicht mehr<br />
wahrgenommen werden. Schw<strong>in</strong>dende<br />
Auflagen und e<strong>in</strong> Rückgang des Fernsehkonsums<br />
gehen mit e<strong>in</strong>er zunehmenden<br />
Internetnutzung e<strong>in</strong>her und führen dazu,<br />
dass immer mehr Menschen ihre Informationen<br />
aus dem Netz beziehen. Die<br />
Aufmerksamkeit richten sie dabei immer<br />
seltener an bekannten Marken aus. Man<br />
besucht nicht mehr se<strong>in</strong>e Zeitung, um zu<br />
sehen, was es Neues gibt. Stattdessen<br />
werden Internetnutzer immer öfter über<br />
Freunde und Bekannte auf Neuigkeiten<br />
h<strong>in</strong>gewiesen.<br />
Verlorener Kampf gegen das Netz<br />
Während die Zeitungsverlage noch auf<br />
dem Kreuzzug gegen den verme<strong>in</strong>tlichen<br />
Parasiten Google s<strong>in</strong>d, <strong>der</strong> mit se<strong>in</strong>em<br />
Dienst Google News <strong>in</strong>formationssuchende<br />
Nutzer auf passende Artikel<br />
klassischer Medien h<strong>in</strong>weist, spielt dieser<br />
gar nicht mehr die zentrale Rolle.<br />
Facebook ist gerade dabei, die Nummer<br />
e<strong>in</strong>s zu werden, wenn es um L<strong>in</strong>ks auf<br />
Medien<strong>in</strong>halte geht. Im Gegensatz zu<br />
Google s<strong>in</strong>d es aber hier ke<strong>in</strong>e Algorithmen,<br />
son<strong>der</strong>n die Nutzer des Dienstes,<br />
die über die Relevanz von Inhalten entscheiden.<br />
Seite 42 Nr. 484 · März 2010
Wie das Internet die Massenmedien verän<strong>der</strong>t<br />
Insofern greift auch die aktuelle Kampagne<br />
<strong>der</strong> Zeitungsverlage, die sich e<strong>in</strong>e<br />
Beteiligung an den Umsätzen von Google<br />
erträumen, weil <strong>der</strong> Suchmasch<strong>in</strong>en-<br />
Gigant sich angeblich auf ihre Kosten<br />
bereichert, deutlich zu kurz. Denn es ist<br />
nicht Google, son<strong>der</strong>n das Netz <strong>in</strong>sgesamt,<br />
das die Rolle <strong>der</strong> Massenmedien <strong>in</strong>frage<br />
stellt. Und e<strong>in</strong>en Kampf gegen das<br />
Netz können die Verlage nicht gew<strong>in</strong>nen.<br />
Notwendiger Diskurs<br />
wird verschlafen<br />
E<strong>in</strong>e Antwort auf die für Massenmedien<br />
existenzielle Frage nach ihrer Geschäftsgrundlage<br />
ist das freilich nicht. Es zeichnet<br />
sich noch ke<strong>in</strong>e Perspektive ab, wie <strong>in</strong><br />
Zukunft die Produktion von hochwertigen<br />
journalistischen Inhalten f<strong>in</strong>anziert<br />
werden kann. Denn so überzeugt man<br />
zum Beispiel von dem Projekt Wikipedia<br />
se<strong>in</strong> kann, so bedauerlich ist es doch, dass<br />
e<strong>in</strong>e wichtige traditionelle Informationsquelle,<br />
<strong>der</strong> Brockhaus, kürzlich praktisch<br />
abgewickelt werden musste.<br />
Sicher wird das Netz nicht alle Massenmedien<br />
verschw<strong>in</strong>den lassen, aber zum<strong>in</strong>dest<br />
bei den Tageszeitungen steht<br />
noch e<strong>in</strong>e sehr schmerzhafte Konzentration<br />
aus. Ob die Überlebenden dieses Prozesses<br />
noch ausreichend Kraft haben werden,<br />
um ihre gesellschaftlich wichtige<br />
Funktion auszufüllen, vermag niemand<br />
vorherzusagen. Aber <strong>in</strong> Gefahr ist ihre<br />
stabilisierende Funktion <strong>in</strong> Bezug auf den<br />
gesellschaftlichen Diskurs <strong>in</strong> jedem Fall.<br />
Den dr<strong>in</strong>gend notwendigen gesellschaftlichen<br />
Diskurs über die Zukunft <strong>der</strong><br />
Medien <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>digitalen</strong> <strong>Gesellschaft</strong> verschlafen<br />
viele Massenmedien aber gerade<br />
– weil wichtige Akteure unter dem Deckmantel<br />
ihrer gesellschaftlich wichtigen<br />
Funktion damit beschäftigt s<strong>in</strong>d, ihren<br />
Fortbestand <strong>in</strong> möglichst unverän<strong>der</strong>ter<br />
Form für möglichst lange Zeit zu sichern.<br />
Denn e<strong>in</strong>e Fortsetzung <strong>der</strong> bisherigen Arbeitsweise<br />
ist nicht kompatibel mit e<strong>in</strong>er<br />
<strong>digitalen</strong> <strong>Gesellschaft</strong>. Zu grundlegend<br />
hat das Internet die Spielregeln verän<strong>der</strong>t.<br />
Im April beschäftigt sich die <strong>Politische</strong> Me<strong>in</strong>ung <strong>in</strong> ihrem Schwerpunkt mit <strong>der</strong><br />
Deutschen E<strong>in</strong>heit und Integration Europas –<br />
Helmut Kohl zum 80. Geburtstag<br />
Es schreiben unter an<strong>der</strong>en<br />
Michail Gorbatschow, Henn<strong>in</strong>g Köhler, Michael Stürmer<br />
und Horst Teltschik.<br />
Nr. 484 · März 2010<br />
Seite 43
<strong>Politische</strong> <strong>Kommunikation</strong><br />
<strong>in</strong> Zeiten des Web 2.0<br />
Im Netz <strong>der</strong> Parteien?<br />
Ralf Güldenzopf/Stefan Hennewig<br />
Die Parteien und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die Volksparteien<br />
haben es schwer. Nicht nur die<br />
immer schwächer werdende Wählerb<strong>in</strong>dung,<br />
son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong>schwund<br />
geht an ihre Substanz. Fast<br />
schon zu e<strong>in</strong>em klagenden Vorwurf werden<br />
die Rufe, die vor dem Ende <strong>der</strong> Volksparteien<br />
warnen. Häufig wird gefragt,<br />
ob das Erfolgsmodell <strong>der</strong> deutschen Parteiengeschichte,<br />
Garant für politische Stabilität,<br />
am Ende sei. Sicher können gesellschaftliche<br />
Prozesse für die wachsende<br />
Distanz zwischen Bürger und Partei verantwortlich<br />
gemacht werden – vom Wertewandel<br />
bis zur Schwächung sozialer<br />
Milieus durch die zunehmende Individualisierung.<br />
Allerd<strong>in</strong>gs hat das Modell <strong>der</strong><br />
Volksparteien nicht nur auf <strong>der</strong> Nachfrageseite<br />
e<strong>in</strong> Problem. Immer wie<strong>der</strong> wird<br />
auch Kritik an die Parteien selbst gerichtet:<br />
zu starr und unflexibel, zu hierarchisch<br />
und zu eng, zu ähnlich und zu abgehoben.<br />
E<strong>in</strong>e Vielzahl von Betroffenen und Beobachtern<br />
ist <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ung, dass gerade<br />
das Internet den Parteien helfen kann, mit<br />
den Bürgern <strong>in</strong> Kontakt o<strong>der</strong> gar Dialog<br />
zu kommen. Die Utopie <strong>der</strong> grenzenlosen,<br />
gleichberechtigten, direkten und<br />
<strong>in</strong>teraktiven politischen Partizipation<br />
sche<strong>in</strong>t durch das Internet e<strong>in</strong> Stück näher<br />
gerückt zu se<strong>in</strong>. Diesen Ansatz gibt es<br />
schon seit den Anfängen <strong>der</strong> E-Mail- und<br />
Foren-<strong>Kommunikation</strong>. Aktuell wird vor<br />
allem das Web 2.0 als e<strong>in</strong>e Möglichkeit<br />
<strong>der</strong> Demokratisierung und e<strong>in</strong> Raum für<br />
soziale Bewegungen gesehen. Ist das Web<br />
2.0 also e<strong>in</strong>e neue Chance für die deutschen<br />
Volksparteien, mit ihren Mitglie<strong>der</strong>n<br />
und potenziellen Wählern <strong>in</strong> Kontakt<br />
zu kommen, sich zu „konsolidieren“?<br />
O<strong>der</strong> verstärkt die Machtverschiebung<br />
im Internet vom Anbieter zum Nachfrager<br />
die zentrifugalen Kräfte, die drohen,<br />
die Volksparteien zu zerreißen? Macht<br />
nicht gerade das Internet den Schritt<br />
von <strong>der</strong> Volks- und Mitglie<strong>der</strong>partei zur<br />
Kampagnenpartei nötig und möglich?<br />
Es besteht ke<strong>in</strong> Zweifel: Das Internet<br />
hat die politische <strong>Kommunikation</strong> revolutioniert<br />
und wird sie auch zukünftig<br />
noch nachhaltig verän<strong>der</strong>n. Bereits im<br />
Jahr 2004 betonte Joe Trippi: „The revolution<br />
will not be televised.“ Trippi erkannte<br />
als Wahlkampfmanager des demokratischen<br />
Präsidentschaftskandidaten<br />
Howard Dean die Möglichkeit, mithilfe<br />
des Internets Politik von unten<br />
nach oben (bottom-up) zu bee<strong>in</strong>flussen<br />
und zu verän<strong>der</strong>n. Er spürte, dass die<br />
E<strong>in</strong>bahnstraße „Fernsehen“ an Bedeutung<br />
verlieren würde und sich Politik neu<br />
organisieren müsste. Zu Recht wurde<br />
Trippi damals für se<strong>in</strong>en Wahlkampf und<br />
se<strong>in</strong>e Grassroots-Philosophie gefeiert. Als<br />
Trippi zur Revolution anstimmte, war<br />
von Web 2.0 noch nicht die Rede. Facebook<br />
o<strong>der</strong> Youtube gab es noch nicht.<br />
Heute, nur knapp sechs Jahre später, wissen<br />
wir, welchen E<strong>in</strong>fluss das Internet<br />
haben kann.<br />
Das Internet hat ohne Frage die <strong>Gesellschaft</strong><br />
verän<strong>der</strong>t. Der Psychologe Peter<br />
Kruse weist etwa darauf h<strong>in</strong>, dass die<br />
Digital Natives, also die Generation, die<br />
mit dem Internet aufgewachsen ist, wie<br />
Seite 44 Nr. 484 · März 2010
Im Netz <strong>der</strong> Parteien?<br />
Menschen aus e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Kultur s<strong>in</strong>d<br />
und wahrsche<strong>in</strong>lich grundlegend an<strong>der</strong>e<br />
unbewusste Wertepräferenzen ausbilden.<br />
Kruse br<strong>in</strong>gt das auf den Punkt:<br />
„Heimat ist, wo man se<strong>in</strong>e Pubertät<br />
durchlitten hat.“ Und ohne Frage ist dies<br />
für viele <strong>der</strong> unter Dreißigjährigen das<br />
World Wide Web. Die Jugendlichen f<strong>in</strong>den<br />
dort vor allem Raum für Freundschaften,<br />
Unterhaltung und Interaktion.<br />
Selbst „(E-)Sport“ wird bereits seit Jahren<br />
onl<strong>in</strong>e <strong>in</strong> vere<strong>in</strong>sähnlichen Strukturen<br />
betrieben. Als Informationsquelle auch<br />
für <strong>Politische</strong>s ist für diese Generation<br />
das Internet nicht mehr wegzudenken.<br />
Längst ist für die 18- bis 29-Jährigen das<br />
Internet vor dem Fernsehen die wichtigste<br />
Quelle für politische Informationen.<br />
Dies ist auch die Alterskohorte,<br />
die zum Beispiel E-Mails an Politiker<br />
schreibt, anstatt das persönliche Gespräch<br />
zu suchen o<strong>der</strong> Briefe zu senden.<br />
Diese Form <strong>der</strong> E-Mail ist nicht etwa Anzeichen<br />
für Missachtung o<strong>der</strong> ger<strong>in</strong>gen<br />
E<strong>in</strong>satz. Es ist für diese Generation die<br />
Form <strong>der</strong> <strong>Kommunikation</strong> mit dem<br />
Establishment. Auf e<strong>in</strong>em solchen Weg<br />
bewirbt man sich, nimmt mit se<strong>in</strong>en Lehrern<br />
Kontakt auf und wendet sich eben<br />
auch an Politiker.<br />
Untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> hat sich das <strong>Kommunikation</strong>sverhalten<br />
<strong>der</strong> netzaff<strong>in</strong>en 18- bis<br />
29-Jährigen noch weit gravieren<strong>der</strong> verän<strong>der</strong>t.<br />
Dort haben sich die Prämissen <strong>der</strong><br />
Informationssuche verschoben: „Wenn<br />
die Information relevant ist, wird sie mich<br />
f<strong>in</strong>den“, so das Mantra <strong>der</strong> Web-2.0-Nutzer.<br />
An die Stelle langwieriger Recherchen<br />
und Informationssuche treten die<br />
L<strong>in</strong>ks und Empfehlungen <strong>der</strong> eigenen<br />
Netzwerke. Im übertragenen S<strong>in</strong>ne ist <strong>der</strong><br />
Filter somit nicht mehr <strong>der</strong> Zeitungsredakteur<br />
o<strong>der</strong> Fernsehreporter. Vielmehr<br />
verlässt man sich auf Menschen,<br />
die e<strong>in</strong>em ähnlich s<strong>in</strong>d und mit denen<br />
man E<strong>in</strong>stellungen teilt. Den <strong>in</strong>teressanten<br />
politischen Artikel von Spiegel-Onl<strong>in</strong>e<br />
liest man nicht mehr, weil man ihn dort<br />
bei <strong>der</strong> laufenden Suche nach Updates<br />
aufgestöbert hat, son<strong>der</strong>n weil ihn <strong>der</strong><br />
Kontakt aus dem persönlichen Netzwerk<br />
bei Facebook etwa verl<strong>in</strong>kt hat. Der Kontakt<br />
liefert nicht nur den L<strong>in</strong>k, son<strong>der</strong>n<br />
teilt auch gleich se<strong>in</strong>e persönliche Sicht<br />
<strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge dazu mit. Diese wird dann<br />
entwe<strong>der</strong> still zur Kenntnis genommen,<br />
ignoriert o<strong>der</strong> wie<strong>der</strong>um kommentiert.<br />
Auf diese Weise entstehen <strong>Kommunikation</strong><br />
und politischer Diskurs.<br />
Persönliche Öffentlichkeiten<br />
Und die <strong>in</strong> den Netzwerken veröffentlichten<br />
Ansichten haben Gewicht. Schon<br />
seit Jahren weiß man, dass den Me<strong>in</strong>ungen<br />
und Empfehlungen aus dem<br />
Verwandten- und Bekanntenkreis die<br />
höchste Glaubwürdigkeit entgegengebracht<br />
wird. Das gilt onl<strong>in</strong>e wie offl<strong>in</strong>e.<br />
Wie man sich diesen psychologischen<br />
Mechanismus im Web 2.0 erfolgreich zunutze<br />
macht, zeigt e<strong>in</strong> Blick auf die Internetseite<br />
des (Bücher-)Versandanbieters<br />
Amazon. Sehr wichtiger Bestandteil s<strong>in</strong>d<br />
dort die von an<strong>der</strong>en Kunden verfassten<br />
Rezensionen. Hier kann man lesen, was<br />
an<strong>der</strong>e Menschen von dem Buch halten,<br />
für dessen Kauf man sich gerade <strong>in</strong>teressiert.<br />
Alle<strong>in</strong> dieses identische Interesse<br />
br<strong>in</strong>gt den unbekannten Autor näher und<br />
macht die Rezension glaubwürdiger als<br />
e<strong>in</strong> offizieller Werbetext des Verlages.<br />
Wie praktisch, dass Amazon dann auch<br />
noch mitteilt, welche an<strong>der</strong>en Bücher dieser<br />
Mensch gekauft hat, die dann ebenfalls<br />
von Interesse se<strong>in</strong> könnten.<br />
Das eigene Netzwerk bleibt Anker und<br />
Orientierungspunkt für die Suche und<br />
Bewertung von neuen Informationen. Jedoch<br />
f<strong>in</strong>det dieser Prozess verstärkt im<br />
Internet statt. Es entstehen quasi persönliche<br />
Öffentlichkeiten, die zwar bekannten<br />
Mechanismen folgen, diese jedoch variieren<br />
o<strong>der</strong> weiterentwickeln.<br />
Das Web 2.0 erlaubt e<strong>in</strong> Konglomerat<br />
vieler kle<strong>in</strong>er Netzwerke, die nicht ohne<br />
H<strong>in</strong><strong>der</strong>nisse durch Politik erreichbar s<strong>in</strong>d.<br />
Nr. 484 · März 2010<br />
Seite 45
Ralf Güldenzopf/Stefan Hennewig<br />
Es reicht nicht mehr aus, e<strong>in</strong>en Artikel auf<br />
bereits erwähntem Spiegel-Onl<strong>in</strong>e zu haben,<br />
wenn dieser nicht „mundgerecht“ <strong>in</strong><br />
den Netzwerken aufbereitet wird. Erst<br />
dort wird e<strong>in</strong> Thema zum Bestandteil <strong>der</strong><br />
Agenda – und dies meist schon netzwerkspezifisch<br />
<strong>in</strong>terpretiert und kommentiert.<br />
So ist es möglich, dass verschiedene<br />
Netzwerke über dasselbe Thema reden,<br />
dies jedoch vollkommen an<strong>der</strong>s deuten.<br />
Beispielsweise ist <strong>der</strong> Diebstahl e<strong>in</strong>es M<strong>in</strong>ister-Dienstwagens<br />
zunächst e<strong>in</strong> Fakt,<br />
<strong>der</strong> sowohl zu kritischer Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung<br />
als auch zu schamloser Häme taugt.<br />
Viele Web-2.0-Rezipienten bilden sich<br />
ihre Me<strong>in</strong>ung nicht mehr auf Basis <strong>der</strong><br />
orig<strong>in</strong>alen Artikel <strong>in</strong> Medien, son<strong>der</strong>n lassen<br />
die gefilterten und kommentierten<br />
Botschaften <strong>in</strong> ihren Netzwerken auf sich<br />
wirken. E<strong>in</strong>drücke und E<strong>in</strong>stellungen<br />
werden je nachdem verstärkt o<strong>der</strong> geschwächt.<br />
Neue Formen <strong>der</strong> Mitbestimmung<br />
Mit dem Informationsverhalten än<strong>der</strong>t<br />
sich auch die Erwartung an die <strong>Kommunikation</strong><br />
von Politikern. Diese „Kulturrevolution“<br />
kann nicht ohne Folgen<br />
für die Politik se<strong>in</strong>. Der Blick auf die<br />
Erfolgsfaktoren Barack Obamas zeigt,<br />
dass diese auch mit den Bedürfnissen<br />
<strong>der</strong> deutschen Wählerschaft korrespondieren:<br />
Personalisierung, überzeugende<br />
Botschaft, klare politische Alternativen,<br />
Plattformen für direkte Mitsprache und<br />
Diskussion, Raum für Selbstorganisation<br />
und vor allem zeitlich begrenztes Engagement<br />
für e<strong>in</strong> konkretes Projekt. O<strong>der</strong><br />
an<strong>der</strong>s gewendet: Während die Menschen<br />
skeptischer gegenüber Politikern<br />
werden und sich nicht mehr gänzlich auf<br />
e<strong>in</strong>e Partei festlegen wollen, verlangen<br />
sie nach (neuen) Formen <strong>der</strong> Mitsprache<br />
und Mitbestimmung bei politischen Prozessen.<br />
Das Internet bietet die Chance,<br />
dieses Verlangen zu kanalisieren und die<br />
Kräfte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Partei e<strong>in</strong>zub<strong>in</strong>den. Dazu<br />
müssen <strong>in</strong>nerparteiliche Diskurs- und<br />
Entscheidungsprozesse angepasst werden.<br />
Die bereits seit e<strong>in</strong>igen Jahren vorhandenen<br />
<strong>in</strong>ternen Netze <strong>der</strong> Parteien,<br />
teilweise <strong>in</strong>stitutionalisierte Onl<strong>in</strong>e-Beteiligungsstrukturen,<br />
s<strong>in</strong>d da nur e<strong>in</strong><br />
erster Schritt. Gerade <strong>der</strong> Rückgang <strong>der</strong><br />
normativen B<strong>in</strong>dung stellt die Parteien<br />
vor die Herausfor<strong>der</strong>ungen, dass sie immer<br />
wie<strong>der</strong> unter Beweis stellen müssen,<br />
die Ziele, Interessen und Vorstellungen<br />
ihrer Mitglie<strong>der</strong> zu vertreten. Das bedeutet<br />
unter an<strong>der</strong>em auch, dass man<br />
noch stärker nachhören muss, was die<br />
Basis will. Und e<strong>in</strong> Teil <strong>der</strong> Basis will<br />
nicht nur mitgenommen werden. E<strong>in</strong><br />
Teil möchte mitbestimmen.<br />
E<strong>in</strong>e entscheidende Frage ist, <strong>in</strong>wieweit<br />
es Parteien gel<strong>in</strong>gt, sich zu öffnen<br />
und mit <strong>der</strong> Konkurrenz von S<strong>in</strong>gle-Issue-<br />
Kampagnen im Internet umzugehen. Wie<br />
an den Aktienmärkten können die Bürger<br />
mittlerweile auch im politischen Prozess<br />
bei <strong>der</strong> Suche nach „strategischen Partnern“<br />
diversifizieren. Sie können aus e<strong>in</strong>em<br />
breiten Angebot von beispielsweise<br />
Nichtregierungsorganisationen und Bürger<strong>in</strong>itiativen<br />
auswählen. Warum sollte<br />
man heute noch <strong>in</strong> den großen, als<br />
schwerfällig empfundenen Mischkonzern<br />
„Volkspartei“ Zeit und Geld <strong>in</strong>vestieren,<br />
wenn man den größten Profit<br />
mithilfe schnell agieren<strong>der</strong>, hoch spezialisierter<br />
Bewegungen realisieren kann?<br />
Wie die E-Petition beim Bundestag zum<br />
Thema Netzsperren gezeigt hat, kann<br />
mit vergleichsweise niedrigem Aufwand<br />
onl<strong>in</strong>e mehr erreicht werden als <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
langwierigen Sitzung im Ortsverband,<br />
die möglicherweise kaum Platz im Term<strong>in</strong>kalen<strong>der</strong><br />
f<strong>in</strong>det. Etwas technischer<br />
ausgedrückt: Die Partizipationskosten im<br />
Ortsverband e<strong>in</strong>er Partei s<strong>in</strong>d im Zweifel<br />
um e<strong>in</strong> Vielfaches höher als im Internet,<br />
<strong>der</strong> Gew<strong>in</strong>n aber <strong>in</strong> beiden Fällen zunächst<br />
ungewiss. E<strong>in</strong>en Informationsvorsprung<br />
durch Parteimitgliedschaft gibt<br />
es kaum noch. Auch als Diskussionsraum<br />
ist die Verbandssitzung im Stammlokal<br />
Seite 46 Nr. 484 · März 2010
Im Netz <strong>der</strong> Parteien?<br />
nicht mehr notwendig. Nicht gebunden<br />
an Ort und Zeit, sche<strong>in</strong>t das Internet für<br />
viele die günstigere Alternative. Während<br />
die Möglichkeiten <strong>der</strong> Partizipation<br />
über das Internet sicherlich e<strong>in</strong>en Gew<strong>in</strong>n<br />
für die Politik im Allgeme<strong>in</strong>en darstellen,<br />
s<strong>in</strong>d sie per se noch ke<strong>in</strong> Garant für die<br />
Erhöhung <strong>der</strong> Attraktivität von Volksparteien.<br />
Parteien müssen verstehen, dass<br />
nicht alles, was sie <strong>in</strong>s Internet stellen,<br />
euphorisch erwartet wird. Dies gilt auch<br />
und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e für Angebote <strong>der</strong> Partizipation,<br />
die über den e<strong>in</strong>fachen Klick<br />
h<strong>in</strong>ausgehen. Während sich für Onl<strong>in</strong>e-<br />
Petitionen und Abstimmungen, die mit<br />
e<strong>in</strong>em o<strong>der</strong> wenigen Klicks zu bedienen<br />
s<strong>in</strong>d, Hun<strong>der</strong>te bis Tausende von Netznutzern<br />
mobilisieren lassen, ist die Quote<br />
<strong>der</strong> Beteiligung an Diskussionsprozessen<br />
deutlich ger<strong>in</strong>ger. Je höher <strong>der</strong> (Zeit-)<br />
E<strong>in</strong>satz, <strong>der</strong> im politischen Prozess als<br />
Investment gefor<strong>der</strong>t wird, desto ger<strong>in</strong>ger<br />
ist die Anzahl <strong>der</strong> Teilnehmer. Auch<br />
dieser Grundsatz gilt onl<strong>in</strong>e wie offl<strong>in</strong>e.<br />
Nahezu alle Parteien s<strong>in</strong>d daher auf <strong>der</strong><br />
Suche danach, wie sie attraktive und<br />
passende Angebote für möglichst viele<br />
Bürger schaffen können.<br />
Permanent Organiz<strong>in</strong>g<br />
Das Web 2.0 bietet neben den Möglichkeiten<br />
<strong>der</strong> Information zahlreiche Ansätze<br />
zur Organisation. Das Permanent<br />
Campaign<strong>in</strong>g kann und muss gerade im<br />
Zeitalter des Internets zu e<strong>in</strong>em Permanent<br />
Organiz<strong>in</strong>g werden. Die Wahlkämpfe<br />
<strong>in</strong> den USA haben gezeigt, dass die Organisation<br />
und Mobilisierung eigener Unterstützer<br />
wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> den Vor<strong>der</strong>grund<br />
rücken. Im übertragenen S<strong>in</strong>ne bewegt<br />
man sich wie<strong>der</strong> zurück zu den Wurzeln<br />
politischer Organisation. Will e<strong>in</strong>e Partei<br />
schlagkräftig se<strong>in</strong>, muss sie ihren Fokus<br />
über die klassischen Medien h<strong>in</strong>ausbewegen.<br />
Multiplikatoren – onl<strong>in</strong>e und<br />
offl<strong>in</strong>e – werden als vertrauenswürdige<br />
Quellen politischer Informationen immer<br />
wichtiger. Gerade vor dem H<strong>in</strong>tergrund<br />
des schw<strong>in</strong>denden Vertrauens <strong>in</strong> Medien.<br />
Das Web 2.0 schafft hier die Möglichkeit,<br />
wie<strong>der</strong> relevante Größenordnungen zu<br />
erreichen. Der Aufwand für politische<br />
Hausbesuche im Wahlkampf ist deutlich<br />
größer als <strong>der</strong> für e<strong>in</strong>en Twitter-Beitrag<br />
o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Facebook-Nachricht. In beiden<br />
Fällen kann man aber die persönliche<br />
Sicht <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge an<strong>der</strong>en Menschen nahebr<strong>in</strong>gen<br />
und für die eigene politische Ansicht<br />
werben. In Zeiten, <strong>in</strong> denen sich tendenziell<br />
weniger Menschen f<strong>in</strong>den, die<br />
sich auf dem Wochenmarkt an den Informationsstand<br />
stellen, erlaubt das Web 2.0<br />
damit quasi den Rückschritt zur basisorientierten<br />
Parteiarbeit.<br />
Bei allem Rummel um das Internet und<br />
die Möglichkeiten für die Parteien muss<br />
man aber nüchtern feststellen, dass das<br />
politische Web 2.0 erst am Anfang steht .<br />
Es bleiben noch viele Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />
zu bewältigen. So ist die Frage nach Verdichtung<br />
und Steuerung von Diskussionen,<br />
Beiträgen und H<strong>in</strong>weisen im Internet<br />
ganz zentral, wenn man über die<br />
Möglichkeiten <strong>der</strong> E-Partizipation diskutiert.<br />
Hierbei geht es nicht um die<br />
Steuerung durch Parteien, son<strong>der</strong>n des<br />
reibungslosen Diskurses <strong>der</strong> Aktivisten.<br />
Während viele das Ideal <strong>der</strong> Polis vor<br />
Augen haben, muss man danach fragen,<br />
was passieren würde, wenn sich 63 Millionen<br />
Wähler am Onl<strong>in</strong>e-Diskurs mit<br />
Stellungnahmen et cetera beteiligen würden.<br />
An<strong>der</strong>erseits stellt sich die Frage:<br />
Was passiert, wenn „wenige“ Zehntausende<br />
gut ausgebildete und mit dem<br />
Internet vertraute junge Menschen die<br />
Agenda e<strong>in</strong>er ganzen Nation bestimmen?<br />
Gibt es so etwas wie die Schweigespirale<br />
2.0? Bislang ist die politische Partizipation<br />
im Internet e<strong>in</strong>e „Spielfläche“, die<br />
überwiegend beherrscht wird von jungen,<br />
formal überdurchschnittlich gebildeten<br />
Menschen; überwiegend Männern.<br />
Es ist nicht nur die Politik, die lernen<br />
muss, mit den neuen Instrumenten des<br />
Web 2.0 umzugehen. Auch die breite<br />
Nr. 484 · März 2010<br />
Seite 47
Ralf Güldenzopf/Stefan Hennewig<br />
Masse <strong>der</strong> Nutzer – Bürger und Wähler –<br />
wird sich erst langsam <strong>der</strong> (politischen)<br />
Informations- und E<strong>in</strong>flussmöglichkeiten<br />
bewusst. Aber auch hier hat Obama e<strong>in</strong>en<br />
entscheidenden Beitrag geleistet. Nicht<br />
nur beim Spenden wurden Bürgern verschiedene<br />
Facetten <strong>der</strong> Partizipation verdeutlicht.<br />
Unterschied zu den USA<br />
Allerd<strong>in</strong>gs stimmt <strong>der</strong> E<strong>in</strong>wand, dass die<br />
kont<strong>in</strong>uierliche Parteiarbeit <strong>in</strong> Deutschland<br />
nur schwer mit den Wahlkampfmasch<strong>in</strong>en<br />
<strong>in</strong> den USA zu vergleichen ist,<br />
die je nach Bedarf alle vier Jahre angeschmissen<br />
werden. Es wäre jedoch e<strong>in</strong><br />
Fehler, die Entwicklungen mit dem kritischen<br />
Blick auf e<strong>in</strong>e drohende „Amerikanisierung“<br />
e<strong>in</strong>fach abzulehnen. Genauso<br />
falsch wäre es, mit Copy and Paste („ausschneiden<br />
und e<strong>in</strong>fügen“) die US-Vorgaben<br />
zu übernehmen. Es muss auf Verhalten,<br />
Interessen und Werte im Internet<br />
e<strong>in</strong>gegangen werden, um auch die Philosophie<br />
des Internets sowie <strong>der</strong>en län<strong>der</strong>spezifische<br />
Unterschiede zu verstehen.<br />
Dass dabei das e<strong>in</strong> o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e auch<br />
mal schiefgeht, versteht sich von selbst.<br />
Diesen Raum des Experimentierens aufseiten<br />
<strong>der</strong> Politik und Bevölkerung müssen<br />
auch die Medien e<strong>in</strong>räumen.<br />
Noch zu häufig wurden etwa die deutschen<br />
Bundestagskampagnen mit Obama<br />
verglichen – e<strong>in</strong> Vergleich, <strong>der</strong> aus vielerlei<br />
Gründen h<strong>in</strong>ken muss. Es ist nicht<br />
e<strong>in</strong>mal so sehr die große Differenz <strong>in</strong> den<br />
Budgets. Vielmehr herrscht <strong>in</strong> den USA<br />
e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Kultur <strong>der</strong> politischen Beteiligung.<br />
Dort ist es üblich, sich als Anhänger<br />
e<strong>in</strong>er politischen Richtung offensiv und<br />
öffentlich zu bekennen. Die sprichwörtlichen<br />
Yard Signs heißen deshalb so, weil<br />
<strong>in</strong> jedem guten US-Vorgarten e<strong>in</strong> entsprechendes<br />
Schild steht, das den Besitzer als<br />
Anhänger von Demokraten o<strong>der</strong> Republikanern<br />
auszeichnet. Diese „Kultur des<br />
politischen Bekenntnisses“ f<strong>in</strong>det onl<strong>in</strong>e<br />
ihre Entsprechung <strong>in</strong> Unterstützerzahlen,<br />
Netzwerkgröße und Erfolgen des Fundrais<strong>in</strong>g.<br />
Die Situation <strong>in</strong> Deutschland<br />
ersche<strong>in</strong>t wie das exakte Gegenmodell.<br />
Onl<strong>in</strong>e wie offl<strong>in</strong>e.<br />
H<strong>in</strong>zu mag kommen, dass die US-<br />
Bevölkerung im Umgang mit Technologien<br />
grundsätzlich <strong>in</strong>novativer und mutiger<br />
ist. Das gilt auch für das Internet.<br />
Sicher hat auch Deutschland se<strong>in</strong>e Digital<br />
Natives, aber <strong>in</strong> <strong>der</strong> Masse s<strong>in</strong>d sie noch<br />
nicht mit dem Potenzial <strong>der</strong> USA vergleichbar.<br />
Auch die Netzwerke müssen<br />
sich hierzulande noch weiter verdichten.<br />
Es ist heute unbestritten: Das Internet<br />
gehört zum Standard<strong>in</strong>strument <strong>der</strong> politischen<br />
<strong>Kommunikation</strong>. Es trägt maßgeblich<br />
zum Erfolg o<strong>der</strong> Misserfolg e<strong>in</strong>er<br />
Kampagne bei und kann e<strong>in</strong> entscheiden<strong>der</strong><br />
Pfeiler für die Organisation von Politik<br />
und Partei se<strong>in</strong>. Es gibt vielen Engagierten<br />
und Interessierten neue Möglichkeiten,<br />
sich <strong>in</strong> den politischen Prozess<br />
e<strong>in</strong>zubr<strong>in</strong>gen. Die deutschen (Volks-)Parteien<br />
müssen Antworten auf die gesellschaftlichen,<br />
aber auch technologischen<br />
Herausfor<strong>der</strong>ungen f<strong>in</strong>den, wollen sie<br />
nicht zwischen aktiven S<strong>in</strong>gle-Issue-Netzwerken<br />
zerrieben werden. Dies wird nur<br />
gel<strong>in</strong>gen, wenn man sich auf das Medium<br />
e<strong>in</strong>lässt und se<strong>in</strong>e Nutzer ernst nimmt –<br />
ohne dabei aber zu verkennen, dass das<br />
Internet für breite Teile <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
noch nicht zur Selbstverständlichkeit<br />
geworden ist. Erst recht gilt dies für<br />
die Möglichkeiten <strong>der</strong> politischen Partizipation.<br />
Das sollte man im H<strong>in</strong>terkopf<br />
behalten, wenn man über die neue<br />
„Wun<strong>der</strong>waffe“ spricht. Auch Obama hat<br />
nie vergessen, dass das Internet nur e<strong>in</strong><br />
Vehikel ist, am Ende Menschen mit Menschen<br />
kommunizieren müssen. Diesen<br />
Dialog zu ermöglichen ist e<strong>in</strong> klassisches<br />
Ziel <strong>der</strong> Parteien. Das Internet kann dabei<br />
helfen.<br />
Seite 48 Nr. 484 · März 2010
Zwischen Neuausrichtung<br />
und Kont<strong>in</strong>uität<br />
Das Engagement<br />
deutscher Parteien im Netz<br />
Hagen Albers<br />
Die mediale Berichterstattung über die<br />
Onl<strong>in</strong>ekampagnen deutscher Parteien ist<br />
vorerst verstummt. Das Superwahljahr<br />
2009 ist vorbei, und die neue Regierung ist<br />
mehr als e<strong>in</strong>hun<strong>der</strong>t Tage im Amt. Dennoch<br />
o<strong>der</strong> gerade deshalb stellen sich nun<br />
zwei Fragen: Was haben die Parteien aus<br />
dem Onl<strong>in</strong>ewahlkampf gelernt? Und welche<br />
Ziele verfolgen sie jetzt, da die nächste<br />
Bundestagswahl <strong>in</strong> weiter Ferne liegt?<br />
Weiterh<strong>in</strong> existent ist <strong>der</strong> gesetzliche<br />
Regelungsbedarf im Zusammenhang mit<br />
„Neuen Medien“ o<strong>der</strong> dem „Recht auf<br />
<strong>in</strong>formationelle Selbstbestimmung“. Neben<br />
<strong>der</strong> postelektoralen strategischen<br />
Ausrichtung deutscher Parteien im Geflecht<br />
mo<strong>der</strong>ner <strong>Kommunikation</strong>smöglichkeiten<br />
stellt sich daher die Frage: Wie<br />
ist es bestimmt um den Stellenwert netzpolitischer<br />
Themen <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit<br />
<strong>der</strong> Wahrung des Persönlichkeitsrechts?<br />
Beide Aspekte – Onl<strong>in</strong>ekampagne und<br />
Netzpolitik – s<strong>in</strong>d unmittelbar mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />
verwoben und lassen sich dennoch<br />
getrennt betrachten.<br />
Im Mittelpunkt des Wandels <strong>der</strong> Onl<strong>in</strong>ekampagnen<br />
deutscher Parteien standen<br />
technologische Innovationen. Sie<br />
bildeten die große Herausfor<strong>der</strong>ung im<br />
Onl<strong>in</strong>ewahlkampf 2009 – und tun es <strong>in</strong><br />
Teilen bis heute. Denn obwohl die großen<br />
deutschen Parteien ihre Webauftritte<br />
zunehmend professionalisieren, fand<br />
gelungene <strong>in</strong>teraktive Massenmobilisierung<br />
über das Internet nur bed<strong>in</strong>gt statt.<br />
Trügerische Erwartungen weckte die erfolgreiche<br />
Obama-Kampagne nicht nur <strong>in</strong><br />
den Medien, son<strong>der</strong>n auch unter den<br />
deutschen Parteien. Die unreflektierte<br />
Gegenüberstellung <strong>der</strong> Präsidentschaftskampagne<br />
<strong>der</strong> USA im Jahr 2008 und <strong>der</strong><br />
Wahl zum Deutschen Bundestag 2009 ist<br />
wie <strong>der</strong> Vergleich von Äpfeln mit Birnen.<br />
Derartig schwammige Analogien führen<br />
<strong>in</strong> die Irre und bieten kaum ernst zu<br />
nehmende Anhaltspunkte für Parteistrategen.<br />
Unterschiede <strong>der</strong> Medien-, Wahlund<br />
Parteiensysteme werden oftmals<br />
ebenso ausgeblendet wie Abweichungen<br />
bei Spendenbereitschaft, Parteienf<strong>in</strong>anzierung,<br />
<strong>der</strong> Internetnutzung o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Bevölkerungsgröße.<br />
Dennoch besteht Optimierungsbedarf<br />
bei den Onl<strong>in</strong>estrategien<br />
hiesiger Parteien. Wenige Monate nach<br />
den Wahlen im eigenen Land bietet sich<br />
den politischen Akteuren nun die Möglichkeit,<br />
aus Vergangenem die Lehren zu<br />
ziehen. Bereits die bevorstehende Landtagswahl<br />
<strong>in</strong> Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalen im Mai<br />
2010 wird diesen Lernprozess wi<strong>der</strong>spiegeln.<br />
Jetzt ist <strong>der</strong> richtige Zeitpunkt für<br />
die Parteien, ihre Informationsarchitekturen<br />
langfristig auszurichten und auf<br />
Basis <strong>der</strong> Erfahrungen vergangener Kampagnen<br />
und aus <strong>der</strong> Symbiose von traditionellen<br />
Web<strong>in</strong>strumenten und neuen<br />
Web-2.0-Kanälen e<strong>in</strong>e ganzheitliche Informations<strong>in</strong>frastruktur<br />
zu kreieren.<br />
Gegen Ende des letzten Jahres wurden<br />
Daten erhoben, die darauf schließen<br />
lassen, dass genau dies gegenwärtig<br />
passiert. E<strong>in</strong> Vergleich <strong>der</strong> Nutzung von<br />
Social-Media-Profilen zwischen <strong>der</strong> sechzehnten<br />
und siebzehnten Wahlperiode<br />
belegt, dass die Abgeordneten des Deutschen<br />
Bundestages gegenwärtig stärker<br />
Nr. 484 · März 2010<br />
Seite 49
Hagen Albers<br />
als zuvor auf Twitter, Facebook und<br />
Me<strong>in</strong>VZ setzen. Erhoben von den Betreibern<br />
<strong>der</strong> Plattform „Wahl.de“, suggerieren<br />
diese Daten, dass Politiker ihr Mediennutzungsverhalten<br />
den gesellschaftlichen<br />
Trends anpassen. Auch besteht<br />
Grund zu <strong>der</strong> Annahme, dass tendenziell<br />
zunehmend solche Politiker e<strong>in</strong> Mandat<br />
erkämpfen, die sogenannte „Soziale Medien“<br />
<strong>in</strong> ihre <strong>Kommunikation</strong>saktivitäten<br />
e<strong>in</strong>b<strong>in</strong>den. Die erhobenen Daten beantworten<br />
jedoch nicht die Frage, ob die<br />
berücksichtigten Profile und Kanäle noch<br />
immer aktiv genutzt werden. Möglicherweise<br />
fand ihre Nutzung mit dem Wahljahr<br />
2009 e<strong>in</strong> Ende.<br />
In dieser womöglichen Entwicklung<br />
liegt e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> großen Gefahren beim Umgang<br />
mit den neuen <strong>Kommunikation</strong>smöglichkeiten<br />
des Netzes. Sicherlich bedeutet<br />
das Ende e<strong>in</strong>es Wahlkampfs auch<br />
immer die Abnahme <strong>der</strong> Intensität kommunikativer<br />
Handlungen zwischen Bürgern<br />
und politischen Akteuren. Jedoch<br />
untergräbt die Politik ihre Glaubwürdigkeit<br />
bei den Bürgern, wenn YouTube-Kanäle<br />
brachliegen und Me<strong>in</strong>VZ- und Facebook-Profile<br />
nicht länger gepflegt werden.<br />
Erkennbar ist gegenwärtig, dass die<br />
Parteien sche<strong>in</strong>bar Probleme haben,<br />
sämtliche während des Wahlkampfs geschaffenen<br />
Kanäle weiterh<strong>in</strong> zu bedienen.<br />
Anlass zur Sorge gibt gegenwärtig <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />
das Netzwerk „Me<strong>in</strong>VZ“. Hier<br />
bef<strong>in</strong>den sich Profile deutscher Spitzenpolitiker,<br />
die zuletzt unmittelbar nach <strong>der</strong><br />
Wahl gepflegt wurden. Auch e<strong>in</strong>ige Aufrufe<br />
zur Wahl s<strong>in</strong>d nach wie vor prom<strong>in</strong>ent<br />
platziert o<strong>der</strong> <strong>in</strong> Form von Videobotschaften<br />
abrufbar.<br />
Schlimmstenfalls bef<strong>in</strong>den sich noch<br />
immer zahlreiche unbeantwortete Anfragen<br />
von <strong>in</strong>teressierten jungen Wählern <strong>in</strong><br />
den sozialen Netzwerken. Doch wie wollen<br />
die Parteien und Politiker mittels dieser<br />
Medien zu Wahlkampfzeiten glaubhaft<br />
kommunizieren, wenn gegenwärtig<br />
Fragen und Kommentare ignoriert werden?<br />
Reduzierte Aktivitäten nach dem<br />
Kampf um Wählerstimmen s<strong>in</strong>d verständlich.<br />
Doch neue Kanäle e<strong>in</strong>zurichten<br />
und im Wahlkampf emsig den Kontakt zu<br />
möglichst vielen Personen aufzubauen,<br />
um diese für die Stimmabgabe zu mobilisieren,<br />
und dieselben Personen letztlich<br />
zu ignorieren ersche<strong>in</strong>t als e<strong>in</strong>e Herabwürdigung<br />
von Teilen <strong>der</strong> Wählerschaft.<br />
Wer <strong>der</strong>artig mit se<strong>in</strong>en Stimmgebern<br />
verfährt, darf sich auch über <strong>der</strong>en Abwendung<br />
von <strong>der</strong> Partei o<strong>der</strong> von Politik<br />
<strong>in</strong>sgesamt nicht wun<strong>der</strong>n.<br />
Strategische Ausrichtung<br />
Zwischen den Wahlkämpfen ist Zeit für<br />
e<strong>in</strong>e konsequente und gegebenenfalls<br />
neue strategische Ausrichtung. Das bedeutet<br />
auch, sich im Zweifelsfall gegen<br />
die e<strong>in</strong> o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Onl<strong>in</strong>epräsenz zu entscheiden.<br />
Nicht je<strong>der</strong> Politiker muss überall<br />
im Netz vertreten se<strong>in</strong>. Maßstab ist<br />
stattdessen, dass e<strong>in</strong> politischer Akteur<br />
den ihm im Web 2.0 abverlangten <strong>Kommunikation</strong>saufwand<br />
bewältigen kann.<br />
Wurde e<strong>in</strong> Kanal erst bespielt und haben<br />
sich dort Unterstützer gesammelt, gestaltet<br />
sich <strong>der</strong> Rückzug umso problematischer.<br />
Die deutschen Parteien haben<br />
sich sche<strong>in</strong>bar während des Wahlkampfs<br />
rückl<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Welt gestürzt, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sie<br />
sich nun nicht mehr zurechtf<strong>in</strong>den. Zur<br />
Schadensbegrenzung könnten die politischen<br />
Akteure offen und transparent darlegen,<br />
bei welchem <strong>der</strong> <strong>Kommunikation</strong>smedien<br />
auch <strong>der</strong> wichtige Rückkanal<br />
vom Bürger zum Politiker zur Verfügung<br />
steht. Transparenz und Authentizität lassen<br />
sich auch dadurch schaffen, auf bestimmte<br />
Onl<strong>in</strong>e<strong>in</strong>strumente zu verzichten<br />
und dies an an<strong>der</strong>er Stelle im Netz zu<br />
begründen. Besser, als die Nutzer e<strong>in</strong>er<br />
bestimmten Plattform nicht länger zu beachten,<br />
ist <strong>der</strong> H<strong>in</strong>weis auf Erreichbarkeit<br />
an an<strong>der</strong>er Stelle im Web. Über die e<strong>in</strong>malige<br />
E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung von RSS-Feeds (Really<br />
Simple Syndication, e<strong>in</strong>e Technologie zum<br />
Abonnement von Webseiten-Inhalten)<br />
Seite 50 Nr. 484 · März 2010
Das Engagement deutscher Parteien im Netz<br />
auf ansonsten brachliegenden Profilen<br />
ließe sich zudem e<strong>in</strong> gewisser Grad<br />
an Aktualität gewährleisten. Zweifellos<br />
könnten Politiker auf sämtlichen Social-<br />
Web-Kanälen als Sen<strong>der</strong> <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung<br />
treten. Möglichkeiten zur automatisierten<br />
Syndizierung, <strong>der</strong> parallelen Bespielung<br />
mehrerer Präsenzen durch e<strong>in</strong>maliges<br />
Handeln, existieren zur Genüge. Doch<br />
<strong>in</strong> ähnlichem Maßstab auch Nachrichten<br />
zu empfangen und den kommunikativ<br />
hochwertigen, wechselseitigen und <strong>in</strong>dividuellen<br />
Austausch zwischen Bürger<br />
und Politiker an je<strong>der</strong> Stelle im Netz zu<br />
garantieren ist weitaus schwieriger und<br />
ungleich aufwendiger.<br />
Hilfreich bei <strong>der</strong> Entscheidung für<br />
o<strong>der</strong> gegen e<strong>in</strong> soziales Medium können<br />
auch technische Eigenschaften se<strong>in</strong>.<br />
Wer nicht <strong>in</strong> großem Maßstab o<strong>der</strong> <strong>in</strong><br />
beson<strong>der</strong>s kreativer Manier Videostatements<br />
im Netz verbreiten will, braucht<br />
ke<strong>in</strong>en eigenen YouTube-Kanal. Wer<br />
berufliche und private Bil<strong>der</strong> bei Facebook<br />
und StudiVZ e<strong>in</strong>stellt, sollte sich<br />
nicht genötigt sehen, e<strong>in</strong> Konto bei <strong>der</strong><br />
„Foto-Shar<strong>in</strong>g-Plattform“ Flickr e<strong>in</strong>zurichten.<br />
Wenn nicht vorgesehen ist, den<br />
eigenen Arbeitsalltag im Web auszubreiten<br />
o<strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em thematischen Rahmen<br />
auf neue Entwicklungen aufmerksam<br />
zu machen, welchen Zweck erfüllt<br />
dann e<strong>in</strong> aufwendig, weil im täglichen<br />
Rhythmus zu bespielendes Profil bei<br />
dem Mikroblogg<strong>in</strong>g-Dienst Twitter? Wie<br />
so oft bedeutet weniger hier also mehr.<br />
Der Verzicht auf e<strong>in</strong>en <strong>Kommunikation</strong>skanal<br />
stärkt gegebenenfalls e<strong>in</strong>en<br />
an<strong>der</strong>en. Die Aufgabe <strong>der</strong> Top-down-<br />
<strong>Kommunikation</strong> über das e<strong>in</strong>e Medium<br />
führt möglicherweise zu mehr Authentizität<br />
<strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> beibehaltenen Kanäle,<br />
denn hier kann umfassen<strong>der</strong> und<br />
<strong>in</strong>tensiver mit den Bürgern kommuniziert<br />
werden.<br />
Aktuell gibt es im Gegensatz zum<br />
Superwahljahr ke<strong>in</strong>e wirklich neuen, tief<br />
greifenden Verän<strong>der</strong>ungen im Web, auf<br />
die reagiert werden muss. Umso wichtiger<br />
ist es, dass politische Akteure endlich<br />
ihren Umgang mit den bestehenden Instrumenten<br />
optimieren. Insbeson<strong>der</strong>e die<br />
kürzlich neu formierten Bundestagsfraktionen<br />
könnten ihre Onl<strong>in</strong>eaktivitäten<br />
koord<strong>in</strong>ieren, geme<strong>in</strong>same <strong>Kommunikation</strong>sziele<br />
def<strong>in</strong>ieren und umsetzen.<br />
Die möglichst präzise Abstimmung und<br />
Streuung von Botschaften im Netz ersche<strong>in</strong>t<br />
mit Blick auf die Me<strong>in</strong>ungsführerschaft<br />
ebenso erstrebenswert wie Experimente,<br />
etwa <strong>in</strong> Form von exklusiver<br />
Vorabverbreitung von Inhalten <strong>in</strong> Web-<br />
Communitys.<br />
Auch die <strong>in</strong>haltliche und gestalterische<br />
Bespielung <strong>der</strong> vorhandenen Kanäle<br />
sollte überdacht werden. Denn bei Betrachtung<br />
<strong>der</strong> Aktivitäten <strong>der</strong> Parteien<br />
auf YouTube offenbart sich, dass sie<br />
sche<strong>in</strong>bar kaum aus den Bundestagswahlen<br />
gelernt haben. Noch immer präsentieren<br />
sie ermüdend und pastoral wirkende<br />
Stellungnahmen des politischen Spitzenpersonals.<br />
Erfolglose Formate werden<br />
fortgeführt. So können auch die Betrachtungszahlen<br />
nicht überraschen. Abgesehen<br />
von wenigen Ausnahmen, kommen<br />
die Filme auf den YouTube-Kanälen<br />
deutscher Parteien auf mehrere Hun<strong>der</strong>t<br />
bis wenige Tausend Klicks pro Video. Dabei<br />
gab es während des Wahlkampfs auch<br />
Erfolgsgeschichten, die heute Grundlage<br />
zur Orientierung böten. Statt an reichweitenstarke<br />
Beiträge o<strong>der</strong> Animationen<br />
anzuknüpfen, sche<strong>in</strong>en die Verantwortlichen<br />
dem Motto „Quantität vor Qualität“<br />
zu folgen. Kohärente Konzepte zur<br />
<strong>Kommunikation</strong> mit den Bürgern über<br />
Onl<strong>in</strong>evideoportale s<strong>in</strong>d offensichtlich<br />
bei ke<strong>in</strong>er Partei vorhanden. Dabei hatte<br />
e<strong>in</strong>e Forsa-Umfrage bereits 2009 belegt:<br />
Der größte Teil <strong>der</strong> politisch <strong>in</strong>teressierten<br />
Internetnutzer <strong>in</strong> Deutschland bezieht<br />
Informationen von Webseiten <strong>der</strong> klassischen<br />
Medien. Auf Basis solcher Fakten<br />
könnten die Verantwortlichen Ziele def<strong>in</strong>ieren.<br />
Alternativ ließen sich Botschaften<br />
Nr. 484 · März 2010<br />
Seite 51
Hagen Albers<br />
parteipolitisch stärker nach <strong>in</strong>nen an die<br />
eigenen Mitglie<strong>der</strong> richten.<br />
E<strong>in</strong>e neue Netzpolitik?<br />
Neben <strong>der</strong> strategischen Ausrichtung<br />
verfügbarer Instrumente und Kanäle s<strong>in</strong>d<br />
Parteien und Politiker vor allem <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
Sache gefor<strong>der</strong>t: Die Netzgeme<strong>in</strong>schaft<br />
hat im letzten Jahr ihre Ansprüche an das<br />
Internet und dessen rechtliche Regelung<br />
verdeutlicht. Aufgrund von Unkenntnis<br />
<strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> politischen Reihen wurde<br />
entgegen den Standpunkten mehrerer<br />
10 000 Onl<strong>in</strong>eaktivisten das Gesetz zur<br />
Verh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung zum Zugang von k<strong>in</strong><strong>der</strong>pornografischen<br />
Seiten im Internet verabschiedet,<br />
obwohl anerkannte Datenschützer<br />
ihren Protest äußerten. Mittlerweile<br />
hat sich die schwarz-gelbe Koalition<br />
von <strong>der</strong> Umsetzung des Gesetzes<br />
<strong>in</strong> ursprünglichem S<strong>in</strong>ne verabschiedet.<br />
Zwar hat Bundespräsident Köhler das<br />
„Zugangserschwerungsgesetz“am17. Februar<br />
2010 unterzeichnet. Die Bundesregierung<br />
machte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Schreiben an das<br />
Präsidialamt jedoch deutlich, dass sie<br />
ke<strong>in</strong>erlei Gebrauch von Netzsperren machen<br />
werde. Anstelle <strong>der</strong> Sperrungen<br />
solle die Polizei versuchen, Internetseiten<br />
mit entsprechenden Inhalten zu löschen.<br />
Die SPD revidierte gegen Ende des Jahres<br />
2009 ihre Auffassung zur Sperrung<br />
von Seiten im Internet. Während sie die<br />
Initiative <strong>der</strong> damaligen Familienm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong><br />
von <strong>der</strong> Leyen noch im April mittrug,<br />
wi<strong>der</strong>rief sie diese Entscheidung im vergangenen<br />
Dezember. Als Ersatz für den<br />
SPD-Onl<strong>in</strong>ebeirat, <strong>der</strong> sich nach <strong>der</strong> Missachtung<br />
se<strong>in</strong>er Empfehlung zum Abstimmungsverhalten<br />
<strong>in</strong> Sachen Netzsperren<br />
aufgelöst hatte, solle <strong>in</strong> Kürze e<strong>in</strong> neues<br />
netzpolitisches Gremium geschaffen werden.<br />
Der „Gesprächskreis Netzpolitik“<br />
hat zum Ziel, die Partei bei <strong>der</strong> F<strong>in</strong>dung<br />
neuer netzpolitischer Standpunkte zu<br />
unterstützen. Björn Böhn<strong>in</strong>g, Sprecher<br />
<strong>der</strong> Parteil<strong>in</strong>ken, hob <strong>in</strong> diesem Zusammenhang<br />
hervor, die SPD habe <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Vergangenheit die Logik des Internets<br />
nicht begriffen. Die Rolle des Gesprächskreises<br />
wurde vorerst vage skizziert.<br />
Auch die personelle Besetzung betreffend,<br />
fiel, abgesehen von Sascha Lobo,<br />
bisher ke<strong>in</strong> Name. Jedoch kündigten<br />
sche<strong>in</strong>bar alle Mitglie<strong>der</strong> des ehemaligen<br />
Onl<strong>in</strong>ebeirats ihren Willen zum Mitwirken<br />
an.<br />
Auch die Union zieht aus Vergangenem<br />
die Lehren. Zu Beg<strong>in</strong>n des Jahres<br />
kündigte die CDU/CSU-Fraktion die<br />
Schaffung e<strong>in</strong>erEnquete-Kommission mit<br />
dem Titel „Internet und digitale <strong>Gesellschaft</strong>“<br />
an. Sie soll fraktionsübergreifend<br />
aus Abgeordneten des Bundestags<br />
hervorgehen. Der Chef des Vorstands<br />
<strong>der</strong> Unionsfraktion, Volker Kau<strong>der</strong>, beabsichtigt,<br />
<strong>der</strong> Frage nachzugehen, wie<br />
die Digitalisierung und das Internet das<br />
gesellschaftliche Zusammenleben verän<strong>der</strong>t<br />
haben und welche Konsequenzen<br />
sich daraus ergeben. Bestehen soll die<br />
Kommission aus fünf Abgeordneten <strong>der</strong><br />
Unionsfraktion, drei <strong>der</strong> SPD und jeweils<br />
zwei Delegierten <strong>der</strong> FDP und <strong>der</strong> L<strong>in</strong>kspartei.<br />
Die Grünen werden mit e<strong>in</strong>em<br />
Delegierten vertreten se<strong>in</strong>. Dieser Vorstoß<br />
verdeutlicht, dass die netzpolitischen<br />
Debatten des vergangenen Jahres<br />
nicht spurlos an den großen deutschen<br />
Parteien vorübergegangen s<strong>in</strong>d. Zwar erfolgt<br />
die ernsthafte Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung<br />
<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e mit Themen wie Netzsperren,<br />
geistigem Eigentum, Digital Divide<br />
und dem Recht auf <strong>in</strong>formationelle<br />
Selbstbestimmung etwa um e<strong>in</strong> Jahr verspätet,<br />
dennoch ist gutzuheißen, dass die<br />
Politik sich dieser Themen endlich annimmt.<br />
2009 waren <strong>in</strong> Deutschland so viele<br />
Personen onl<strong>in</strong>e wie nie zuvor. Zugleich<br />
stieg laut <strong>der</strong> aktuellen ARD/ZDF-Onl<strong>in</strong>estudie<br />
die Verweildauer im Web auf<br />
durchschnittlich 136 M<strong>in</strong>uten pro Tag.<br />
Der Trend <strong>der</strong> vergangenen Jahre hält<br />
folglich an. Die kontroverse Debatte um<br />
dasZugangserschwerungsgesetz und das<br />
Seite 52 Nr. 484 · März 2010
Das Engagement deutscher Parteien im Netz<br />
Erstarken <strong>der</strong> Piratenpartei dürften nicht<br />
zuletzt dazu geführt haben, dass sich alle<br />
etablierten Parteien verstärkt netzpolitischen<br />
Themen widmen. Die Frage, ob es<br />
sich bei <strong>der</strong> Piratenpartei um die temporäre<br />
Organisation politischer Onl<strong>in</strong>eaktivisten<br />
o<strong>der</strong> um e<strong>in</strong>e zunehmend etablierte<br />
politische Kraft handelt, kann zum<br />
gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht mit<br />
Sicherheit beantwortet werden.<br />
Im Rahmen <strong>der</strong> Debatte um die E<strong>in</strong>führung<br />
von Netzsperren konnten die<br />
Piraten ihre Mitglie<strong>der</strong>zahl signifikant<br />
steigern. Seither wächst die Partei nur<br />
langsam. Aktuell, so ist auf <strong>der</strong> Website<br />
<strong>der</strong> Piraten zu lesen, liegt die Zahl bei etwas<br />
unter 12 000 Mitglie<strong>der</strong>n. Diese Entwicklung<br />
sowie <strong>der</strong> Gew<strong>in</strong>n von bundesweit<br />
zwei Prozent <strong>der</strong> Wählerstimmen<br />
können als Signal dafür gewertet werden,<br />
dass die Piraten e<strong>in</strong>en festen Stamm von<br />
Unterstützern aggregieren konnten. In<br />
ihrem Kernkompetenzbereich schärft die<br />
Partei <strong>der</strong>weil ihr Profil. So demonstrierten<br />
Piraten mit spontanen Aktionen gegen<br />
Nacktscanner auf deutschen Flughäfen<br />
und werben für e<strong>in</strong>e Onl<strong>in</strong>epetition<br />
mit dem Ziel, die E<strong>in</strong>führung <strong>der</strong> Geräte<br />
zu verbieten. Zugleich engagieren sie sich<br />
gegen das am 1. Januar 2010 <strong>in</strong> Kraft getretene<br />
Gesetz zur Erhebung von elektronischen<br />
Entgeltnachweisen (ELENA).<br />
Auch hier organisieren sie Kundgebungen<br />
und Informationsaktionen, unterstützen<br />
laufende Onl<strong>in</strong>epetitionen und<br />
positionieren sich, bevor an<strong>der</strong>e Parteien<br />
<strong>in</strong> Stellung gehen. Der Vorteil <strong>der</strong> Piraten<br />
gegenüber den etablierten Parteien ist<br />
neben ihrer noch weitestgehend monothematischen<br />
Ausrichtung die Glaubwürdigkeit<br />
beim Engagement für ihre<br />
Ziele. Die großen Parteien sche<strong>in</strong>en mit<br />
ihren jüngsten Initiativen e<strong>in</strong> Stück weit<br />
auf e<strong>in</strong>e gesellschaftliche Debatte zu reagieren,<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> den Piraten viel Aufmerksamkeit<br />
geschenkt wird. Jedoch haben die<br />
CDU, CSU, SPD und auch die Grünen<br />
durch ihr Abstimmungsverhalten und ihr<br />
schwerfälliges Reagieren auf das Thema<br />
Netzsperren <strong>in</strong>sgesamt e<strong>in</strong>en Teil des<br />
ihnen entgegengebrachten Vertrauens<br />
verspielt. Bündnis 90/Die Grünen und<br />
die FDP dürfen sich <strong>in</strong> Zukunft noch am<br />
ehesten Chancen ausrechnen, erfolgreich<br />
um die politisch <strong>in</strong>teressierte und onl<strong>in</strong>eaff<strong>in</strong>e<br />
junge Wählerschaft – die Wählerklientel<br />
<strong>der</strong> Piraten – zu werben. Datenschutz<br />
und Bürgerrechten räumten beide<br />
Parteien bereits vor dem Erstarken <strong>der</strong><br />
Piratenpartei e<strong>in</strong>en hohen Stellenwert<br />
e<strong>in</strong>.<br />
Mit dem Wandel des Internets zum<br />
„Social Web“ entwickeln sich neue Ansprüche<br />
an die Politik. Völlig ohne Social-<br />
Media-Instrumente sollte <strong>in</strong> Zukunft ke<strong>in</strong><br />
Abgeordneter dastehen. Und das gilt<br />
nicht nur für Zeiten des Wahlkampfs.<br />
Homepage und E-Mail alle<strong>in</strong> wirken <strong>in</strong><br />
Zukunft bei <strong>der</strong> wichtigen <strong>Kommunikation</strong><br />
zwischen Politik und Bürgern nicht<br />
mo<strong>der</strong>n genug. Umso wichtiger ist die<br />
strategische Entscheidung, welche Kanäle<br />
aktiv genutzt werden. Die Zeit des<br />
Ausprobierens sollte zum Ende kommen.<br />
Die Bürger sollten unter gleichbleibenden<br />
Bed<strong>in</strong>gungen im Web adäquate <strong>Kommunikation</strong>skanäle<br />
angeboten bekommen.<br />
Wie stark das Internet bei den bevorstehenden<br />
Wahlen auf Landtags- und Bundestagsebene<br />
den Wahlausgang bee<strong>in</strong>flussen<br />
wird, hängt von zwei D<strong>in</strong>gen ab: zum<br />
e<strong>in</strong>en davon, ob es den politischen Akteuren<br />
gel<strong>in</strong>gen wird, ihre <strong>Kommunikation</strong>sstrategien<br />
erwartungsgetreu und überzeugend<br />
auszurichten. Missl<strong>in</strong>gt dies, so werden<br />
auch <strong>in</strong> Zukunft die Stimmen <strong>der</strong><br />
Presse laut, die sich die Obama-Kampagne<br />
nach Deutschland wünschen. Zum an<strong>der</strong>en<br />
ist entscheidend, welchen Weg die Politik<br />
e<strong>in</strong>schlägt, wenn es um die Regulierung<br />
des Internets und <strong>der</strong> Neuen Medien<br />
geht. Gel<strong>in</strong>gt es nicht, zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>en<br />
Teil <strong>der</strong> politisch aktiven Onl<strong>in</strong>er zu überzeugen,<br />
mag das bestehende Fünf-Parteien-System<br />
langfristig um e<strong>in</strong>en weiteren<br />
Akteur ergänzt werden.<br />
Nr. 484 · März 2010<br />
Seite 53
AUTOREN<br />
Hagen Albers, geboren 1982 <strong>in</strong> Osnabrück, ist<br />
Berater und Projektentwickler <strong>der</strong> Internetagentur<br />
„Ressourcenmangel“.<br />
Günter Buchstab, geboren 1944 <strong>in</strong> Lauchheim,<br />
leitete bis März 2009 die Hauptabteilung<br />
Wissenschaftliche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische<br />
Politik <strong>der</strong> Konrad-Adenauer-Stiftung.<br />
Wolfgang Donsbach, geboren 1949 <strong>in</strong> Bad<br />
Kreuznach, leitet das Institut für <strong>Kommunikation</strong>swissenschaft<br />
<strong>der</strong> Technischen Universität<br />
Dresden und war Präsident <strong>der</strong> „International<br />
Communication Association“ (ICA)<br />
sowie <strong>der</strong> „World Association for Public<br />
Op<strong>in</strong>ion Research“ (WAPOR).<br />
Ernst Elitz, geboren 1941 <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, war von<br />
1994 bis 2009 Gründungs<strong>in</strong>tendant des<br />
Deutschlandradios. Er lehrt an <strong>der</strong> Freien Universität<br />
Berl<strong>in</strong> Kultur- und Medienmanagement.<br />
Gernot Facius, geboren 1942 <strong>in</strong> Karlsbad, war<br />
Stellvertreten<strong>der</strong> Chefredakteur <strong>der</strong> Tageszeitung<br />
„Die Welt“. Er lebt als freier Journalist<br />
bei Bonn.<br />
Hans-Joachim Föller, geboren 1958 <strong>in</strong><br />
Schlüchtern (Hessen), war nach dem Volontariat<br />
<strong>in</strong> den 1990er-Jahren als Redakteur <strong>in</strong><br />
Thür<strong>in</strong>gen tätig und arbeitet seitdem als freier<br />
Journalist, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e zum Thema Aufarbeitung<br />
<strong>der</strong> SED-Diktatur.<br />
Manfred Funke, geboren 1939 <strong>in</strong> Reckl<strong>in</strong>ghausen,<br />
ist emeritierter Professor für <strong>Politische</strong><br />
Wissenschaft an <strong>der</strong> Rhe<strong>in</strong>ischen Friedrich-Wilhelms-Universität<br />
Bonn.<br />
Robert Grünewald, geboren 1955 <strong>in</strong> Hösbach,<br />
ist Referent für <strong>Politische</strong> <strong>Kommunikation</strong> <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Hauptabteilung <strong>Politische</strong> Bildung <strong>der</strong><br />
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.<br />
Ralf Güldenzopf, geboren 1977 <strong>in</strong> Nordhausen,<br />
ist Leiter <strong>der</strong> Abteilung <strong>Politische</strong><br />
<strong>Kommunikation</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hauptabteilung <strong>Politische</strong><br />
Bildung <strong>der</strong> Konrad-Adenauer-Stiftung<br />
e. V.<br />
Stefan Hennewig, geboren 1973 <strong>in</strong> Haltern,<br />
ist Leiter des Internen Managements <strong>der</strong><br />
CDU-Bundesgeschäftsstelle und promovierte<br />
über die politische Regulierung des Internet<br />
<strong>in</strong> Deutschland.<br />
Arne Klempert, geboren 1972 <strong>in</strong> Frankfurt am<br />
Ma<strong>in</strong>, ist Leiter des Geschäftsfeldes Digitale<br />
<strong>Kommunikation</strong> des Instituts für Organisationskommunikation<br />
(IFOK GmbH), Bensheim.<br />
Brigitta Kögler, geboren 1944 <strong>in</strong> Chemnitz,<br />
Rechtsanwält<strong>in</strong> und Mitglied <strong>der</strong> Konrad-<br />
Adenauer-Stiftung e. V., gehörte als Abgeordnete<br />
<strong>der</strong> Volkskammer an. Sie ist stellvertretende<br />
Vorsitzende des Vere<strong>in</strong>s von Mitglie<strong>der</strong>n<br />
<strong>der</strong> ehemaligen Volkskammerfraktion<br />
CDU/DA.<br />
Gisbert Kuhn, geboren 1941 <strong>in</strong> Falkenau/<br />
Egerland, war unter an<strong>der</strong>em Korrespondent<br />
<strong>der</strong> „Augsburger Allgeme<strong>in</strong>en Zeitung“ <strong>in</strong><br />
Bonn und Brüssel. Er arbeitet heute als freier<br />
Journalist <strong>in</strong> Bonn.<br />
Norbert Lammert, geboren 1948 <strong>in</strong> Bochum,<br />
Sozialwissenschaftler, war von 1998 bis 2002<br />
kultur- und medienpolitischer Sprecher <strong>der</strong><br />
CDU/CSU-Bundestagsfraktion und ist seit<br />
Oktober 2005 Präsident des Deutschen Bundestages.<br />
Bernt von zur Mühlen, geboren 1947 <strong>in</strong><br />
Rheden/Hannover, Journalist, Publizist und<br />
Berater, ist Geschäftsführen<strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong>er<br />
des Consultant- und Research-Unternehmens<br />
moreUneed GmbH mit den Schwerpunkten<br />
Medien und Bildung <strong>in</strong> Mondorf-Les-Ba<strong>in</strong>s/<br />
Luxemburg.<br />
Mathias Rentsch, geboren 1981 <strong>in</strong> Bautzen,<br />
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut<br />
für <strong>Kommunikation</strong>swissenschaft <strong>der</strong> Technischen<br />
Universität Dresden.<br />
Britta Rottbeck, geboren 1982 <strong>in</strong> Dorsten, ist<br />
Graduiertenstipendiat<strong>in</strong> <strong>der</strong> Konrad-Adenauer-Stiftung<br />
und promoviert zum Thema<br />
„Die Onl<strong>in</strong>e-Strategien <strong>der</strong> CDU und <strong>der</strong> SPD<br />
im Bundestagswahlkampf 2009“.<br />
Jürgen Wilke, geboren 1943 <strong>in</strong> Goldap, ist<br />
Professor am Institut für Publizistik <strong>der</strong><br />
Johannes-Gutenberg-Universität Ma<strong>in</strong>z.<br />
Manfred Wilke, geboren 1941 <strong>in</strong> Kassel, Soziologe,<br />
Zeithistoriker und Publizist, war bis<br />
2006 Professor für Soziologie an <strong>der</strong> Fachhochschule<br />
für Wirtschaft <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> und e<strong>in</strong>er<br />
<strong>der</strong> beiden Leiter des Forschungsverbundes<br />
SED-Staat an <strong>der</strong> Freien Universität Berl<strong>in</strong>, zu<br />
dessen Mitbegrün<strong>der</strong>n er zählt.<br />
Seite 80 Nr. 484 · März 2010