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Politische Kommunikation in der digitalen Gesellschaft - Govermedia

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Nr. 484 März 2010<br />

Monatsschrift zu Fragen <strong>der</strong> Zeit<br />

D IE P OLITISCHE M EINUNG<br />

<strong>Politische</strong> <strong>Kommunikation</strong><br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>digitalen</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

<strong>Politische</strong> <strong>Kommunikation</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>digitalen</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

„Journalismus ist nötig,<br />

damit aus Zufallskommunikation<br />

Verlässlichkeitskommunikation wird.<br />

Die digitale Welt<br />

braucht Anker <strong>der</strong> Verlässlichkeit.“<br />

G ERNOT<br />

F ACIUS<br />

Zum Schwerpunkt<br />

E RNST<br />

E LITZ<br />

Medien <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verantwortung<br />

D IE P OLITISCHE M EINUNG<br />

März<br />

2010<br />

55. Jahrgang<br />

ISSN 0032-3446<br />

A RNE<br />

K LEMPERT<br />

Internet verän<strong>der</strong>t die Massenmedien<br />

Weitere Themen<br />

B RIGITTA<br />

K ÖGLER<br />

Volkskammerwahl vom 18. März 1990<br />

M ANFRED<br />

F UNKE<br />

Glückwunsch an Alfred Grosser


EDITORIAL<br />

❖ „Was wir über unsere <strong>Gesellschaft</strong>,<br />

ja über die Welt, <strong>in</strong> <strong>der</strong> wir<br />

leben, wissen, wissen wir durch<br />

die Massenmedien.“ So resümierte<br />

<strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>tsoziologe Niklas<br />

Luhmann die Bedeutung <strong>der</strong> Medien.<br />

Sie s<strong>in</strong>d Erschließungs- und<br />

Vermittlungs<strong>in</strong>stanzen für Wirklichkeitsbedeutungen,<br />

sie gestalten<br />

die gesellschaftliche Konstruktion <strong>der</strong><br />

Wirklichkeit ebenso wie die Gespräche <strong>der</strong><br />

<strong>Gesellschaft</strong> über sich selbst und die öffentliche<br />

Moral. Welche Bedeutung die Medien<br />

im Alltagsleben <strong>der</strong> Deutschen spielen, spiegeln<br />

die Zahlen zur Mediennutzung wi<strong>der</strong>.<br />

Von den rund 500 M<strong>in</strong>uten, die <strong>der</strong> von <strong>der</strong><br />

Statistik konstruierte Mitbürger <strong>in</strong>sgesamt<br />

pro Tag konsumiert, wurden 228 M<strong>in</strong>uten<br />

für das Fernsehen aufgewendet. An zweiter<br />

Stelle rangiert <strong>der</strong> Hörfunk mit 186 M<strong>in</strong>uten,<br />

das Internet br<strong>in</strong>gt es auf 70 M<strong>in</strong>uten, die<br />

Lektüre <strong>der</strong> Tageszeitung ist mittlerweile<br />

auf 28 M<strong>in</strong>uten gesunken.<br />

Für die Politik leistet <strong>der</strong> Wettbewerb <strong>der</strong><br />

Medien – garantiert durch Artikel 5 unserer<br />

Verfassung – nicht nur Aufklärung und<br />

Kritik, son<strong>der</strong>n stellt Öffentlichkeit her und<br />

ermöglicht gesellschaftliche und politische<br />

Teilhabe. Von den Medien wird e<strong>in</strong>erseits<br />

erwartet, dass sie ihre öffentliche Aufgabe<br />

erfüllen. An<strong>der</strong>erseits handelt es sich bei<br />

ihnen um überwiegend privatwirtschaftliche<br />

Unternehmen, <strong>der</strong>en Gew<strong>in</strong>ne umso<br />

größer s<strong>in</strong>d, je mehr Publikum sie erreichen.<br />

Darum wird <strong>der</strong> vermutete Publikumsgeschmack<br />

zum Entscheidungskriterium<br />

für Inhalte. E<strong>in</strong>e Folge dieser Entwicklung<br />

ist die zu beobachtende Boulevardisierung<br />

<strong>der</strong> Zeitungen. Ähnliches gilt auch für die<br />

öffentlich-rechtlichen Sen<strong>der</strong>, die sich <strong>in</strong><br />

manchen Formaten den privaten Sendeanstalten<br />

annähern.<br />

Seit e<strong>in</strong>iger Zeit bef<strong>in</strong>det sich die Medienwelt<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em dramatischen Verän<strong>der</strong>ungs-<br />

prozess. Das Internet, das vor e<strong>in</strong>igen<br />

Monaten se<strong>in</strong>en vierzigsten<br />

Geburtstag feiern konnte, stellt<br />

die Druckmedien wie die audiovisuellen<br />

Angebote vor neue<br />

Herausfor<strong>der</strong>ungen. Mittlerweile<br />

s<strong>in</strong>d 65 Prozent <strong>der</strong> Bevölkerung<br />

Onl<strong>in</strong>enutzer, 1997 waren es erst<br />

6,5 Prozent. Diesen Siegeszug verdankt<br />

das Netz se<strong>in</strong>em grenzenlosen Raum.<br />

Wo im Fernsehen o<strong>der</strong> im Hörfunk die<br />

Sendezeit auf Sekunden begrenzt wird und<br />

oft die E<strong>in</strong>schaltquote den Inhalt bestimmt,<br />

zählt im Netz nur noch <strong>der</strong> Inhalt. Es gibt<br />

unzählige Spezialangebote mit relativ begrenzten<br />

Besucherzahlen wie auch massenwirksame<br />

Inhalte, über <strong>der</strong>en politische und<br />

kulturelle Relevanz man streiten kann. Unabhängige<br />

und gegengeprüfte Nachrichten,<br />

Dokumentationsangebote und <strong>in</strong>vestigativer<br />

Journalismus s<strong>in</strong>d nach wie vor das<br />

Rückgrat unserer politischen <strong>Kommunikation</strong>.<br />

Diese werden zwar von allen Medien<br />

auch onl<strong>in</strong>e angeboten; im unbegrenzten<br />

Netz aber kann je<strong>der</strong>mann zu ger<strong>in</strong>gen Kosten<br />

veröffentlichen, was immer se<strong>in</strong>em Hirn<br />

entspr<strong>in</strong>gt. Die Selektion seriöser Information<br />

muss dann <strong>in</strong>dividuell erfolgen.<br />

Wie das Internet unsere politische <strong>Kommunikation</strong><br />

verän<strong>der</strong>t, ist deshalb Schwerpunktthema<br />

dieses Heftes. In ihm wird nach<br />

<strong>der</strong> Zukunft <strong>der</strong> Zeitung ebenso gefragt<br />

wie nach dem Engagement <strong>der</strong> Parteien im<br />

Netz. E<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Aufmerksamkeit wird<br />

dem Qualitätsjournalismus zugewandt, dessen<br />

Glaubwürdigkeitsverluste die kommunikative<br />

Basis unserer <strong>Gesellschaft</strong> bedroht.<br />

❖<br />

Wolfgang Bergsdorf<br />

Nr. 484 · März 2010 Seite 1


INHALT<br />

Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1<br />

<strong>Politische</strong> <strong>Kommunikation</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>digitalen</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

Repräsentativität und Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5<br />

Ernst Elitz<br />

Die bisherige Form <strong>der</strong> staatlichen Medienregulierung und Gremienarbeit entsprach den<br />

Bed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong> analogen <strong>Kommunikation</strong>swelt. Die durch die Digitalisierung aufgelösten<br />

Grenzen verlangen nach mehr Kompetenz, Unabhängigkeit und Transparenz<br />

bei medienpolitischen Entscheidungsprozessen.<br />

Zukunft <strong>der</strong> Zeitung – Zeitung <strong>der</strong> Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11<br />

Gernot Facius<br />

Gründliche Recherche, kluge Orientierung und H<strong>in</strong>tergrund<strong>in</strong>formation s<strong>in</strong>d dem traditionellen<br />

Pr<strong>in</strong>tjournalismus eigen. Die verän<strong>der</strong>ten Informationswege des Internets könnten diesen we<strong>der</strong><br />

ersetzen noch ernsthaft gefährden.<br />

Wissen und Bildung im Biotop Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16<br />

Bernt von zur Mühlen<br />

E<strong>in</strong>em klassisch verstandenen Bildungsbegriff steht die <strong>Kommunikation</strong> im Internet ke<strong>in</strong>eswegs<br />

entgegen. Sie kann ihm vielmehr durch ihre dialogischen Strukturen jenseits <strong>der</strong> Massenmedien<br />

zu e<strong>in</strong>er neuen Bühne verhelfen.<br />

Von <strong>der</strong> Politiker- zur Journalistenverdrossenheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21<br />

Wolfgang Donsbach/Mathias Rentsch<br />

Der Verlust an Glaubwürdigkeit rührt an den Markenkern des Journalismus und bedroht zudem<br />

die kommunikative Basis <strong>der</strong> gesamten <strong>Gesellschaft</strong>.<br />

Neue Medienpolitik für neue Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27<br />

Robert Grünewald<br />

Der gravierende Wandel <strong>der</strong> Medien, <strong>der</strong> politischen <strong>Kommunikation</strong> und Kultur<br />

durch das Internet for<strong>der</strong>t e<strong>in</strong>e Medienpolitik heraus, die sich ihrer Verantwortung<br />

zur Regulierung <strong>in</strong> allen Fel<strong>der</strong>n stellt.<br />

Der medienpolitische Urknall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33<br />

Jürgen Wilke<br />

Vor mehr als 25 Jahren wurde <strong>in</strong> Deutschland das duale Rundfunksystem e<strong>in</strong>gerichtet.<br />

Zu den Verän<strong>der</strong>ungen, die <strong>der</strong> private Rundfunk <strong>in</strong> <strong>der</strong> Medienlandschaft hervorgerufen hat.<br />

Netzpolitik aktuell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38<br />

„Wir müssen alle lernen, mit dem Internet umzugehen“<br />

Wie das Internet die Massenmedien verän<strong>der</strong>t . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39<br />

Arne Klempert<br />

Das Internet hat völlig neue Formen <strong>der</strong> <strong>Kommunikation</strong> und Informationsbeschaffung<br />

entstehen lassen, die die Spielregeln <strong>der</strong> Medienlandschaft grundlegend verän<strong>der</strong>n.<br />

Im Kampf um ihren Fortbestand <strong>in</strong> <strong>der</strong> herkömmlichen Form sche<strong>in</strong>en die Massenmedien<br />

den entscheidenden Diskurs zu verpassen.<br />

Im Netz <strong>der</strong> Parteien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44<br />

Ralf Güldenzopf/Stefan Hennewig<br />

Bei <strong>der</strong> Suche <strong>der</strong> Parteien nach adäquaten Aktivitäten im Internet s<strong>in</strong>d nicht nur dessen gänzlich<br />

verän<strong>der</strong>te <strong>Kommunikation</strong>sstrukturen „persönlicher Öffentlichkeiten“ zu beachten, son<strong>der</strong>n auch<br />

die Traditionen politischer <strong>Kommunikation</strong>, die hierzulande von den amerikanischen stark abweichen.<br />

Seite 2 Nr. 484 · März 2010


Das Engagement deutscher Parteien im Netz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49<br />

Hagen Albers<br />

Was haben die Parteien aus dem Onl<strong>in</strong>ewahlkampf 2009 gelernt, und welche Ziele<br />

verfolgen sie jetzt? Zu den Herausfor<strong>der</strong>ungen e<strong>in</strong>er notwendigen Profilbildung<br />

im Bereich von Onl<strong>in</strong>ekampagnen und Netzpolitik.<br />

Er<strong>in</strong>nern und verstehen<br />

Jurist, Kirchenmann und Politiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55<br />

Günter Buchstab<br />

Richard von Weizsäcker war <strong>in</strong> <strong>der</strong> Reihe <strong>der</strong> deutschen Bundespräsidenten <strong>der</strong> beliebteste.<br />

Die politische Klasse aber stand ihm aus vielen Gründen mit Skepsis gegenüber.<br />

E<strong>in</strong> Rückblick auf se<strong>in</strong> Leben anlässlich se<strong>in</strong>es bevorstehenden 90. Geburtstages.<br />

Der Demokratische Aufbruch und die Verfassungswirklichkeit <strong>der</strong> DDR . . 63<br />

Brigitta Kögler<br />

Die Ereignisse, die zur ersten freien Volkskammerwahl <strong>der</strong> DDR am 18. März 1990 führten, waren <strong>in</strong><br />

ihrer Dynamik kaum zu überbieten. Die Erarbeitung des Wahlgesetzes und die verfassungsrechtliche<br />

Gestaltung <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>vere<strong>in</strong>igung stellten e<strong>in</strong>e von Kontroversen erfüllte Herausfor<strong>der</strong>ung dar.<br />

Mit den Augen des an<strong>der</strong>en . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71<br />

Manfred Funke<br />

Der Weltbürger Alfred Grosser vollendete se<strong>in</strong> 85. Lebensjahr. Mit se<strong>in</strong>er schonungslosen<br />

Ehrlichkeit steht <strong>der</strong> e<strong>in</strong>stmals jüdische Emigrant aus Frankfurt am Ma<strong>in</strong> für Versöhnung<br />

durch e<strong>in</strong>e „warme Vernunft“ und „schöpferische Menschenfreundlichkeit“.<br />

E<strong>in</strong>e tödliche Wolke wie aus <strong>der</strong> Hölle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77<br />

Gisbert Kuhn<br />

Vor 95 Jahren begann mit dem Giftgase<strong>in</strong>satz bei Ypern <strong>der</strong> E<strong>in</strong>satz von Massenvernichtungsmitteln.<br />

gelesen<br />

Datenerhebung im Netz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54<br />

Britta Rottbeck<br />

Patrick Brauckmann (Hrsg.): Web-Monitor<strong>in</strong>g. Gew<strong>in</strong>nung und Analyse von Daten<br />

über das <strong>Kommunikation</strong>sverhalten im Internet<br />

Die <strong>in</strong>strumentalisierte Symphonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61<br />

Norbert Lammert<br />

Christ<strong>in</strong>a M. Stahl: Was die Mode streng geteilt? Beethovens Neunte während <strong>der</strong> deutschen Teilung<br />

Medienpolitik <strong>in</strong> <strong>der</strong> DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69<br />

Hans-Joachim Föller<br />

Jochen Staadt/Tobias Voigt/Stefan Wolle: Operation Fernsehen – Die Stasi und die Medien <strong>in</strong> Ost und<br />

West<br />

Christian Chmel: Die DDR-Berichterstattung bundesdeutscher Massenmedien<br />

und die Reaktionen <strong>der</strong> SED (1972–1989)<br />

Deutsche Identitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74<br />

Manfred Wilke<br />

Wolfgang Schuller: Die deutsche Revolution 1989<br />

Jan Fleischhauer: Unter L<strong>in</strong>ken. Von e<strong>in</strong>em, <strong>der</strong> aus Versehen konservativ wurde<br />

Wilfried Reckert: Kommunismus-Erfahrung. Zwanzig Jahre als DKP-Funktionär<br />

Aktuelles <strong>in</strong>tern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79<br />

Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80<br />

Nr. 484 · März 2010<br />

Seite 3


Das duale System<br />

benötigt e<strong>in</strong>e<br />

geme<strong>in</strong>same Evaluation<br />

Repräsentativität<br />

und Kompetenz<br />

Ernst Elitz<br />

Die menschliche Natur, so erläutert uns<br />

<strong>der</strong>en <strong>in</strong>timer Kenner Friedrich Schiller,<br />

dürste nicht nur nach auserlesenen Vergnügungen,<br />

son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Mensch stürze<br />

sich gern „zügellos <strong>in</strong> wilde Zerstreuungen,<br />

die se<strong>in</strong>en H<strong>in</strong>fall beschleunigen und<br />

die Ruhe <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong> zerstören. Bacchantische<br />

Freuden, ver<strong>der</strong>bliches Spiel,<br />

tausend Rasereien, die <strong>der</strong> Müssiggang<br />

ausheckt, s<strong>in</strong>d unvermeidlich, wenn <strong>der</strong><br />

Gesetzgeber diesen Hang des Volkes<br />

nicht zu lenken weiss.“ Sprach Friedrich<br />

Schiller vom Fernsehen? Beschrieb er die<br />

Grenzen <strong>der</strong> Grundversorgung? Hat <strong>der</strong><br />

Gesetzgeber se<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>weise aufgenommen?<br />

Heute haben die staatlichen Lenker den<br />

Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks<br />

<strong>in</strong> Rundfunkgesetzen und Staatsverträgen<br />

ausformuliert. Aufsichtsgremien<br />

wachen über das Programmangebot.<br />

Nicht nur die bacchantischen Freuden,<br />

son<strong>der</strong>n die Legitimation des öffentlich-rechtlichen<br />

Rundfunks stehen zur<br />

Debatte. Die Gebührenf<strong>in</strong>anzierung ist<br />

ke<strong>in</strong> Automatismus mehr, sie muss vor<br />

dem Gesetzgeber und <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />

von Gebührenperiode zu Gebührenperiode<br />

neu gerechtfertigt werden. Staatliche<br />

Aufgabe des Gesetzgebers ist es,<br />

durch Marktregulierung dafür Sorge zu<br />

tragen, dass die Marktchancen <strong>der</strong> privaten<br />

Wettbewerber durch den gebührenf<strong>in</strong>anzierten<br />

und damit von Konjunkturschwankungen<br />

unabhängigen öffentlichrechtlichen<br />

Rundfunk nicht unziemlich<br />

e<strong>in</strong>geschränkt werden. Alle<strong>in</strong>stellungsmerkmal<br />

des öffentlich-rechtlichen Rund-<br />

funks ist e<strong>in</strong> breit gefächertes Angebot, das<br />

sich auszeichnet durch Qualität, durch<br />

„absolute Qualität“, wie <strong>der</strong> ehemalige<br />

ARD-Vorsitzende Fritz Raff für die ARD<br />

<strong>in</strong> Anspruch nimmt.<br />

Bewertung <strong>der</strong> Qualität<br />

Der öffentlich bekundete Qualitätsanspruch<br />

führte dazu, dass die Län<strong>der</strong> mit<br />

dem siebten Rundfunkän<strong>der</strong>ungsstaatsvertrag<br />

von 2003 die <strong>in</strong> <strong>der</strong> ARD zusammengeschlossenen<br />

Landesrundfunkanstalten,<br />

ZDF und Deutschlandradio<br />

verpflichteten,imZwei-Jahres-Rhythmus<br />

Berichte über die „Erfüllung ihres jeweiligen<br />

Auftrags, über Qualität und Quantität<br />

<strong>der</strong> Angebote und <strong>der</strong> Programme sowie<br />

die geplanten Schwerpunkte <strong>der</strong> jeweils<br />

anstehenden programmlichen Leistungen“<br />

abzugeben. Diese <strong>in</strong> Paragraf 11<br />

des Rundfunkstaatsvertrags geregelten<br />

programmlichen Selbstverpflichtungserklärungen<br />

werden von den Rundfunkanstalten<br />

veröffentlicht und s<strong>in</strong>d wie die<br />

nach Paragraf 5a des Rundfunkf<strong>in</strong>anzierungsstaatsvertrages<br />

vorgesehenen Berichte<br />

zur wirtschaftlichen Lage Gegenstand<br />

von Anhörungen <strong>in</strong> den Landesparlamenten.<br />

Die Berufung auf die Programmqualität<br />

provoziert zwangsläufig die Frage<br />

nach verb<strong>in</strong>dlichen Bewertungsmaßstäben<br />

und Evaluationskriterien. Diese<br />

Frage richtet sich auch an die Aufsichtsgremien,<br />

denn die Selbstverpflichtungsvorlagen<br />

<strong>der</strong> Intendanten müssen von<br />

ihnen geprüft und können nicht ohne ihr<br />

zustimmendes Votum an Parlamente und<br />

Nr. 484 · März 2010<br />

Seite 5


Ernst Elitz<br />

Landesregierungen weitergereicht werden.<br />

Nach den Klagen kommerzieller Veranstalter<br />

<strong>in</strong> Brüssel gegen vermutete<br />

Wettbewerbsverstöße wurden den Rundfunk-<br />

und Fernsehräten vom Gesetzgeber<br />

noch weiter gehende Kontrollaufgaben<br />

übertragen. So obliegt ihnen nach <strong>der</strong><br />

Verabschiedung des zwölften Rundfunkän<strong>der</strong>ungsstaatsvertrages<br />

die Durchführung<br />

des sogenannten Drei-Stufen-Tests<br />

für die Zulassung von Telemedienangeboten<br />

(Internet) und neuen <strong>digitalen</strong><br />

Programmen. Sie haben sicherzustellen,<br />

dass diese Angebote <strong>in</strong>haltlich dem öffentlich-rechtlichen<br />

Auftrag entsprechen;<br />

sie haben die f<strong>in</strong>anziellen Bed<strong>in</strong>gungen<br />

zu prüfen und dafür Sorge zu tragen,<br />

dass es nicht zu Wettbewerbsverzerrungen<br />

zulasten kommerzieller Anbieter<br />

kommt. Hier handelt es sich um höchst<br />

anspruchsvolle Bewertungsprozesse, für<br />

die die Rundfunkanstalten den Gremien<br />

eigene Personalapparate bereitstellen<br />

mussten.<br />

„Die Gutachter-Industrie“<br />

Bed<strong>in</strong>gt durch die Komplexität <strong>der</strong> Materie,<br />

etablierte sich e<strong>in</strong>e von den Rundfunkanstalten<br />

zu f<strong>in</strong>anzierende Gutachter-Industrie,<br />

die entscheidend an <strong>der</strong><br />

Erstellung <strong>der</strong> Telemedien-Konzepte mitarbeitete<br />

und sie mit ihren Testaten versah.<br />

Die entsprechenden Vorschriften des<br />

Rundfunkstaatsvertrags, die sich we<strong>der</strong><br />

durch <strong>in</strong>haltliche noch begriffliche Klarheit<br />

auszeichneten, produzierten Unsicherheiten,<br />

die die Bewältigung des Drei-<br />

Stufen-Tests zu e<strong>in</strong>er beson<strong>der</strong>en Herausfor<strong>der</strong>ung<br />

machten. Dabei blicken die privaten<br />

Wettbewerber mit Argusaugen auf<br />

die Telemedienkonzepte <strong>der</strong> öffentlichrechtlichen<br />

Anstalten, die ihnen zur Stellungnahme<br />

vorgelegt werden müssen.<br />

Die Vorgaben aus Brüssel und ihre<br />

Umsetzung durch den Gesetzgeber<br />

machen deutlich, dass <strong>der</strong> öffentlichrechtliche<br />

Rundfunk künftige Entwicklungen<br />

nur noch unter strenger Aufsicht<br />

<strong>der</strong> Politik und unter scharfer Beobachtung<br />

durch die private Konkurrenz absolvieren<br />

kann. Insoweit markieren die<br />

staatsvertraglichen Regelungen <strong>der</strong> letzten<br />

Jahre e<strong>in</strong>e medienpolitische Zeitenwende,<br />

<strong>der</strong>en Ausmaß wohl von den<br />

Spitzen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks,<br />

aber noch nicht von allen Mitglie<strong>der</strong>n<br />

<strong>der</strong> Aufsichtsgremien erkannt<br />

worden ist.<br />

Aufsichtsgremien<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Verantwortung<br />

Die wachsende Bedeutung <strong>der</strong> Aufsichtsgremien<br />

lenkt den Blick auf ihre Repräsentativität<br />

und Kompetenz. Die Gremien<br />

sollen die gesamte <strong>Gesellschaft</strong><br />

wi<strong>der</strong>spiegeln und setzen sich aus Vertretern<br />

von Verbänden, Institutionen, Regierungen<br />

und Parteien zusammen. Die<br />

fachliche Kompetenz <strong>der</strong> Gremienmitglie<strong>der</strong><br />

ist <strong>in</strong> ihren jeweiligen Tätigkeitsbereichen<br />

hoch zu veranschlagen, für den<br />

Zuwachs an Medienverantwortung aber<br />

bedürfen sie weiterer sachkundiger Unterstützung.<br />

Diese E<strong>in</strong>sicht ist allgegenwärtig.<br />

Die Repräsentativität <strong>der</strong> Gremienzusammensetzung<br />

wird aktuell im Zusammenhang<br />

mit <strong>der</strong> Nichtverlängerung<br />

des Anstellungsvertrages für den ZDF-<br />

Chefredakteur Nikolaus Bren<strong>der</strong> diskutiert.<br />

Für die Genehmigung <strong>der</strong> Verträge<br />

mit leitenden Mitarbeitern s<strong>in</strong>d jeweils<br />

die den Aufsichtsräten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wirtschaft<br />

nicht unähnlichen Verwaltungsräte <strong>der</strong><br />

Rundfunkanstalten zuständig, während<br />

Programmfragen und damit auch die<br />

Entscheidungen über die Telemedienkonzepte<br />

den an Mitglie<strong>der</strong>zahl größeren<br />

Rundfunk- o<strong>der</strong> Fernsehräten obliegen.<br />

Aufgrund <strong>der</strong> nationalen Struktur des<br />

ZDF entsenden alle Landesregierungen<br />

und die Bundesregierung Vertreter <strong>in</strong> die<br />

Gremien <strong>der</strong> Fernsehanstalt. Mith<strong>in</strong> ist<br />

die Zahl von Politikern und Inhabern von<br />

Regierungsfunktionen <strong>in</strong> den Aufsichts-<br />

Seite 6 Nr. 484 · März 2010


Repräsentativität und Kompetenz<br />

gremien des ZDF beson<strong>der</strong>s hoch, und<br />

die schon lange schwelende Debatte über<br />

Staats- und Parteivertreter im qua Gesetz<br />

staatsfreien Rundfunk konnte sich anlässlich<br />

dieser Personalentscheidung neu entzünden.<br />

Der Ruf nach e<strong>in</strong>er Reform <strong>der</strong><br />

Gremienzusammensetzung unter weitgehendem<br />

Ausschluss <strong>der</strong> Politik wurde<br />

unüberhörbar. Dabei ist erstens anzumerken,<br />

dass die Län<strong>der</strong> als Träger <strong>der</strong> Rundfunkhoheit<br />

auch Gewährsträger des ZDF<br />

s<strong>in</strong>d (sie tragen also Verantwortung für<br />

das Unternehmen) und dass zweitens bei<br />

<strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong> herrschenden Politikverdrossenheit<br />

e<strong>in</strong>e For<strong>der</strong>ung nach E<strong>in</strong>flussverzicht<br />

für die Politik sich des<br />

öffentlichen Beifalls auch ohne genauere<br />

Sachkenntnis sicher se<strong>in</strong> kann.<br />

Schw<strong>in</strong>den<strong>der</strong> E<strong>in</strong>fluss <strong>der</strong> Politik<br />

Nach e<strong>in</strong>em Ausscheiden von Partei- und<br />

Regierungsvertretern aus den Gremien<br />

würde zwangsläufig <strong>der</strong> E<strong>in</strong>fluss <strong>der</strong> Verbände<br />

steigen. Schwer zu verstehen<br />

bleibt, warum das Deutsche Rote Kreuz,<br />

<strong>der</strong> Bundesverband <strong>der</strong> Vertriebenen<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Tierschutzbund, warum die<br />

Interessenvertreter <strong>der</strong> Industrie o<strong>der</strong> des<br />

DGB berufenere Aufsichtsführende über<br />

das hehre Gut des öffentlichen-rechtlichen<br />

Rundfunks se<strong>in</strong> sollen als die Abgesandten<br />

von Parteien, die immerh<strong>in</strong><br />

über e<strong>in</strong> breites repräsentatives Mandat<br />

verfügen, was Funktionäre von Verbänden,<br />

<strong>der</strong>en Mitglie<strong>der</strong>zahl ständig s<strong>in</strong>kt,<br />

nicht gerade von sich behaupten können.<br />

Sie vertreten Korporations<strong>in</strong>teressen.<br />

Weniger Politiker <strong>in</strong> den Gremien<br />

heißt nicht weniger Parteipolitik, denn<br />

auch Verbandsvertreter s<strong>in</strong>d Multifunktionäre<br />

und Lobbyisten, die Allianzen mit<br />

dem Gesetzgeber schmieden und sich um<br />

e<strong>in</strong>en kräftigen Schlag aus den Suppenküchen<br />

<strong>der</strong> öffentlichen Mittelvergabe<br />

bewerben. Da hört man als Verbandsvertreter<br />

schon mal genauer h<strong>in</strong>, wenn Politiker<br />

etwas zu sagen haben, zumal die<br />

Spezies <strong>der</strong> Verbandsfunktionäre zum<br />

Milieu <strong>der</strong> politisch engagierten Bürger<br />

gehört, die sich lobenswerterweise <strong>in</strong><br />

Parteien engagieren und entsprechende<br />

politische Prioritäten setzen. So würde<br />

mit neuen Auswahlpr<strong>in</strong>zipien <strong>der</strong> Parteiene<strong>in</strong>fluss<br />

nicht etwa beseitigt, son<strong>der</strong>n<br />

von <strong>der</strong> Oberfläche <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en schwerer<br />

zu durchschauenden Untergrund abgedrängt.<br />

E<strong>in</strong> Zugew<strong>in</strong>n an Unabhängigkeit<br />

dürfte durch e<strong>in</strong>en Rückzug <strong>der</strong> Politik<br />

aus den Rundfunkgremien kaum<br />

messbar se<strong>in</strong>.<br />

Gäbe es e<strong>in</strong>en Zugew<strong>in</strong>n an Kompetenz?<br />

Der historische E<strong>in</strong>schnitt <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Medienpolitik, <strong>der</strong> durch programmliche<br />

Selbstverpflichtungserklärungen und<br />

Drei-Stufen-Test markiert ist, for<strong>der</strong>t von<br />

den Gremien als selbstständigen, vom<br />

Intendanten unabhängigen Organen <strong>der</strong><br />

Rundfunkanstalten künftig auch die Befassung<br />

mit den strategischen Themen,<br />

die die medienpolitischen und medienwirtschaftlichen<br />

Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen<br />

dieses Jahrzehnts bestimmen:<br />

Existenzielle Fragen<br />

<strong>der</strong> Rundfunkanstalten<br />

– Was s<strong>in</strong>d die Konsequenzen aus <strong>der</strong><br />

durch das Internet vorangetriebenen<br />

Auflösung <strong>der</strong> klassischen Mediengattungen?<br />

Rundfunksendungen werden<br />

verschriftet, s<strong>in</strong>d nachlesbar, werden<br />

durch Fotos und Videos ergänzt. Zeitungen<br />

machen ihre Inhalte hörbar, verknüpfen<br />

sich mit Netzangeboten und werden<br />

zugleich Video-Anbieter. Das Fernsehen<br />

verliert se<strong>in</strong> Privileg auf das bewegte Bild.<br />

– E<strong>in</strong>e verän<strong>der</strong>teMedienwelt mussneue<br />

F<strong>in</strong>anzierungsformen entwickeln. Werbeblöcke<br />

und Unterbrecherwerbung s<strong>in</strong>d<br />

schon heute e<strong>in</strong> Auslaufmodell. Die klassische<br />

Trennung zwischen Werbung und<br />

Programm wird sich zum<strong>in</strong>dest bei den<br />

kommerziellen Veranstaltern nicht aufrechterhalten<br />

lassen.<br />

– Es ist absehbar, dass dem öffentlichrechtlichen<br />

Rundfunk <strong>in</strong> künftigen Rundfunkstaatsverträgen<br />

Werbung und Spon-<br />

Nr. 484 · März 2010<br />

Seite 7


Ernst Elitz<br />

sor<strong>in</strong>g untersagt werden. Das Verbot des<br />

product placement ist <strong>der</strong> erste Schritt. Es ist<br />

nicht damit zu rechnen, dass Zusagen <strong>der</strong><br />

Politik, fehlende Werbee<strong>in</strong>nahmen durch<br />

e<strong>in</strong>e entsprechende Erhöhung <strong>der</strong> Gebühr<br />

auszugleichen, e<strong>in</strong>gehalten werden.<br />

Angesichts <strong>der</strong> wachsenden Vielfalt an<br />

Medienangeboten wird die Bereitschaft<br />

für e<strong>in</strong>e Gebührenzahlung rapide abnehmen.<br />

– Das f<strong>in</strong>anzielle Ungleichgewicht zwischen<br />

den Landesrundfunkanstalten <strong>der</strong><br />

ARD wird die kle<strong>in</strong>eren Sen<strong>der</strong> vollends<br />

<strong>in</strong> die Bedeutungslosigkeit zurückfallen<br />

lassen. Der ARD-Verbund, gegründet um<br />

die bundesweite Präsenz aller Anstalten<br />

im Ersten und den Programmaustausch<br />

<strong>in</strong> den Dritten zu gewährleisten, geht<br />

damit e<strong>in</strong>es Großteils se<strong>in</strong>er Aufgaben<br />

verlustig. Entwe<strong>der</strong> die Län<strong>der</strong> verpflichten<br />

die ARD, e<strong>in</strong>en für jede Anstalt geltenden<br />

Grundbestand an Radioprogrammen<br />

und regionalen Berichterstattungsflächen<br />

<strong>in</strong> den Dritten Programmen und<br />

Zulieferungen zum Ersten festzulegen<br />

und zu f<strong>in</strong>anzieren, o<strong>der</strong> die kle<strong>in</strong>eren<br />

und mittleren Landesrundfunkanstalten<br />

werden schrittweise abgewickelt. Nur<br />

NDR, SWR, WDR und BR überleben.<br />

– Welche Rolle übernehmen <strong>in</strong> diesem<br />

realistischen Zukunftsszenario die nationalen<br />

Anbieter ZDF und Deutschlandradio?<br />

– Bereits heute nehmen die Vertreter<br />

<strong>der</strong> privaten Radio- und Fernsehveranstalter<br />

für sich <strong>in</strong> Anspruch, dass ihre<br />

Programme ebenfalls gesellschaftliche<br />

Relevanz haben und öffentliche Aufgaben<br />

wahrnehmen. Wenn <strong>der</strong> Gesetzgeber<br />

angesichts e<strong>in</strong>er fortschreitenden<br />

Auflösung klassischer Mediengrenzen<br />

und zunehmen<strong>der</strong> Konkurrenz sicherstellen<br />

will, dass gesellschaftspolitisch<br />

erwünschte Inhalte wie Nachrichten,<br />

H<strong>in</strong>tergrund<strong>in</strong>formationen, Me<strong>in</strong>ungsbildung<br />

(klassische Pressefunktionen)<br />

nicht aus den kommerziellen Angeboten<br />

verschw<strong>in</strong>den, ist nicht auszuschließen,<br />

dass e<strong>in</strong>e f<strong>in</strong>anzielle För<strong>der</strong>ung entsprechen<strong>der</strong><br />

Formate aus öffentlichen o<strong>der</strong><br />

Gebührenmitteln erfolgt. Das Argument<br />

e<strong>in</strong>er gesellschaftspolitisch notwendigen<br />

Vielfalt- und Qualitätssicherung wäre<br />

auch von den Öffentlichen-Rechtlichen<br />

schwer zu wi<strong>der</strong>legen.<br />

– Welche Formen <strong>der</strong> Kooperation ergeben<br />

sich daraus zwischen Öffentlich-<br />

Rechtlichen und Privaten? Welche Anreizsysteme<br />

für die Produktion von Qualitätsformaten,<br />

unabhängig vom System,<br />

bieten sich an?<br />

Exzellenter Sachverstand<br />

ist gefor<strong>der</strong>t<br />

Diese existenziellen Fragen werden alle<br />

Organe <strong>der</strong> Rundfunkanstalten beschäftigen.<br />

Um sie kompetent zu diskutieren<br />

und im Interesse <strong>der</strong> ihnen anvertrauten<br />

Unternehmen zu entscheiden, bedarf es<br />

e<strong>in</strong>es Höchstmaßes an Kenntnissen <strong>in</strong> den<br />

Gremien. Politiker können dabei auf den<br />

Sachverstand <strong>in</strong> Regierungs- und Parlamentsapparaten<br />

zurückgreifen. Die Vertreter<br />

von Verbänden und an<strong>der</strong>en Institutionen<br />

haben diese Möglichkeit nicht.<br />

Sie bedürfen ständiger Fortbildung und<br />

externer Beratung.<br />

Im Mittelpunkt des medialen Wettbewerbs<br />

werden künftig Inhalte, nicht<br />

Übertragungswege stehen. Damit richtet<br />

sich das Augenmerk auf die beson<strong>der</strong>e öffentlich-rechtliche<br />

Qualität – <strong>in</strong> den fiktionalen<br />

wie <strong>in</strong> den nonfiktionalen Genres,<br />

und die Qualitätsevaluation wird zur permanenten<br />

Aufgabe. Angesichts <strong>der</strong> Auflösung<br />

tradierter Vermittlungs- und<br />

Übermittlungsformen müssen die Aufsichtsgremien<br />

auch <strong>in</strong> die Lage versetzt<br />

werden, die Entwicklung <strong>der</strong> programmrelevanten<br />

<strong>Kommunikation</strong>stechnik zu<br />

begleiten. Für jede Beurteilung ist höchst<br />

differenzierter Sachverstand vonnöten.<br />

E<strong>in</strong>e Reihe dieser Aufgaben wird sich<br />

auch den Landesmedienanstalten, den<br />

Aufsichtsbehörden über den Privatrundfunk,<br />

und den Landesmedienräten stel-<br />

Seite 8 Nr. 484 · März 2010


Repräsentativität und Kompetenz<br />

len. Die Landesmedienräte bedürfen wie<br />

die Rundfunkräte e<strong>in</strong>er entsprechenden<br />

Hilfestellung. E<strong>in</strong>e komb<strong>in</strong>ierte Dienstleistung<br />

für die Aufsichtsorgane bei<strong>der</strong><br />

Säulen des dualen Systems ersche<strong>in</strong>t<br />

nicht nur aus ökonomischen und organisationstechnischen<br />

Gründen s<strong>in</strong>nvoll.<br />

Wenn e<strong>in</strong>erseits das öffentlich-rechtliche<br />

System se<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>en Qualitäten und<br />

an<strong>der</strong>erseits <strong>der</strong> kommerzielle Sektor<br />

se<strong>in</strong>e Leistungen zur gesellschaftlichen<br />

Funktion <strong>der</strong> Medien herausstellen will,<br />

spricht das für geme<strong>in</strong>sam akzeptierte<br />

Evaluationskataloge und die Heranziehung<br />

unabhängiger Experten, die nicht<br />

unter dem Verdacht stehen, e<strong>in</strong>em <strong>der</strong><br />

Systeme verpflichtet zu se<strong>in</strong>. Auf jeden<br />

Fall, ohne Expertenrat werden die Gremien<br />

diese Aufgaben nicht bewältigen<br />

können.<br />

Expertise<br />

im lockeren Arbeitsverbund<br />

Will man darauf verzichten, neue <strong>in</strong>stitutionelle<br />

Strukturen zu schaffen, so bietet<br />

sich als Dienstleister für die notwendige<br />

Expertise die Konstruktion e<strong>in</strong>es lockeren<br />

Arbeitsverbundes an, <strong>der</strong> aus E<strong>in</strong>richtungen<br />

wie dem Adolf-Grimme-Institut,<br />

dem Hans-Bredow-Institut, Hochschul<strong>in</strong>stituten<br />

und unabhängigen Medienforschern<br />

gebildet wird. In diesem<br />

Verbund könnten Themenbereiche bearbeitet<br />

werden, die mit den jeweiligen<br />

Aufsichtsgremien des öffentlich-rechtlichen<br />

wie des kommerziellen Rundfunks<br />

und gegebenenfalls mit politischen Institutionen<br />

abgestimmt werden. Auch die<br />

Kommission zur Ermittlung des F<strong>in</strong>anzbedarfs<br />

<strong>der</strong> Rundfunkanstalten (KEF)<br />

müsste auf die Arbeiten dieses Verbundes<br />

zurückgreifen können.<br />

In Großbritannien gibt die nationale<br />

Regulierungs- und Wettbewerbsbehörde<br />

Ofcom auch verb<strong>in</strong>dliche Ratschläge für<br />

die Entwicklung technischer Übertragungssysteme,<br />

was angesichts des Hun<strong>der</strong>te<br />

von Millionen verschl<strong>in</strong>genden<br />

Desasters um den <strong>digitalen</strong> Radio-Standard<br />

DAB für Deutschland ebenfalls<br />

wünschenswert wäre, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em fö<strong>der</strong>alen<br />

Staat aber nicht durchsetzbar ist. Zum<strong>in</strong>dest<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Bereichen könnte <strong>der</strong> beschriebene<br />

unabhängige Arbeitsverbund<br />

aber die Mängel e<strong>in</strong>er nationalen Entscheidungsf<strong>in</strong>dung<br />

durch se<strong>in</strong>e Autorität<br />

ausgleichen.<br />

Für die F<strong>in</strong>anzierung dieses Arbeitsverbundes<br />

könnten F<strong>in</strong>anzmittel herangezogen<br />

werden, die den Landesmedienanstalten<br />

aus Gebührengel<strong>der</strong>n zur<br />

Verfügung stehen. Der Arbeitsverbund<br />

könnte unter Aufsicht e<strong>in</strong>es relativ schmalen<br />

Boards von unabhängigen Fachleuten<br />

arbeiten. Er hätte, <strong>in</strong> Absprache mit den<br />

Rundfunkgremien und orientiert an den<br />

gesetzlichen Vorgaben, über se<strong>in</strong>e Arbeitsvorhaben<br />

zu entscheiden. Er wäre<br />

Auftragnehmer <strong>der</strong> Gremien. Dies wäre<br />

allemal effektiver als e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teressenbestimmte<br />

Auswahl von Experten aus dem<br />

Kreis <strong>der</strong> Beratungs<strong>in</strong>dustrie. Vorrangig<br />

wäre die Erarbeitung e<strong>in</strong>es geme<strong>in</strong>samen<br />

Rasters für die Selbstverpflichtungserklärungen<br />

<strong>der</strong> Rundfunkanstalten. Nur e<strong>in</strong><br />

geme<strong>in</strong>sames Raster ermöglicht Vergleichbarkeit<br />

und beför<strong>der</strong>t den Qualitätswettbewerb.<br />

Die Eckpunkte <strong>der</strong> Organisation<br />

und <strong>der</strong> Aufgabenstellung e<strong>in</strong>es<br />

solchen Arbeitsverbundes sollten durch<br />

die Län<strong>der</strong> rundfunkrechtlich festgelegt,<br />

die E<strong>in</strong>zelheiten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verantwortung<br />

<strong>der</strong> Beteiligten geregelt werden.<br />

Kriterien <strong>der</strong> Beurteilung<br />

Unabhängig von <strong>der</strong> konkreten Vorgehensweise<br />

wird es zunächst darauf ankommen,<br />

Kriterien für die Beurteilung<br />

von Programmqualität zu f<strong>in</strong>den. Sie<br />

sollten für den öffentlich-rechtlichen wie<br />

für den kommerziellen Bereich konsensfähig,<br />

überprüfbar und operationabel<br />

se<strong>in</strong>. In <strong>der</strong> Wissenschaft wie <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Publizistik gibt es bereits nutzbare Materialien,<br />

die ausgewertet und ergänzt werden<br />

könnten. Als mögliche Ansatzpunkte<br />

Nr. 484 · März 2010<br />

Seite 9


Ernst Elitz<br />

<strong>der</strong> Kriteriendef<strong>in</strong>ition könnten klassische<br />

journalistische Standards (Recherchentiefe,<br />

Informationsvielfalt, Verständlichkeit<br />

für Zielgruppen, H<strong>in</strong>tergrund<strong>in</strong>formation,<br />

Relevanz, Me<strong>in</strong>ungsvielfalt,<br />

Erarbeitung neuer Themen) dienen. Ansatzpunkte<br />

für den fiktionalen Bereich<br />

wären etwa das Verhältnis von Eigenproduktionen<br />

zu Übernahmen, <strong>in</strong>novative<br />

Ansätze bei Themenf<strong>in</strong>dung und Umsetzung,<br />

handwerkliche Professionalität,<br />

Publikumsresonanz et cetera. Die Anwendung<br />

dieser Kriterien würde die Arbeit<br />

<strong>der</strong> Aufsichtsgremien professionalisieren<br />

und ihre Unabhängigkeit gegenüber<br />

den Vertretern des Sen<strong>der</strong>-Managements<br />

stärken. Heute unterliegen sie häufig<br />

dem Verdacht, Abnicker <strong>der</strong> Intendanten-Vorlagen<br />

zu se<strong>in</strong>.<br />

Auch <strong>in</strong> strategischen Fragen könnte<br />

e<strong>in</strong> hier vorgeschlagener Arbeitsverbund<br />

die Kompetenz <strong>der</strong> Gremien stärken,<br />

<strong>in</strong>dem er regelmäßig Berichte über<br />

strukturelle Entwicklungen im dualen<br />

Rundfunksystem publiziert und öffentliche<br />

Anhörungen zu technischen, programmlichen,<br />

ökonomischen und wettbewerblichen<br />

Themen veranstaltet. Der<br />

Wildwuchs regionaler Medientage dürfte<br />

schon aus f<strong>in</strong>anziellen Gründen bald <strong>der</strong><br />

Vergangenheit angehören. Daraus ergibt<br />

sich die Chance zu e<strong>in</strong>er strukturierten<br />

öffentlichen Debatte über Medienfragen.<br />

Digitalisierung<br />

erzw<strong>in</strong>gt mehr Transparenz<br />

Die bisherige Form <strong>der</strong> staatlichen Medienregulierung<br />

und <strong>der</strong> Gremienarbeit<br />

entsprach den Bed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong> analogen<br />

<strong>Kommunikation</strong>swelt, <strong>in</strong> <strong>der</strong> es klare<br />

Unterscheidungen zwischen Fernsehen,<br />

Pr<strong>in</strong>t und Radio, zwischen Massen- und<br />

Individualkommunikation gab und wo<br />

das Angebot <strong>der</strong> elektronischen Medien –<br />

bed<strong>in</strong>gt durch die begrenzten Übertragungskapazitäten<br />

– relativ überschaubar<br />

war. Mit dem Übergang zur Digitalisierung<br />

hat sich diese klar strukturierte Medienwelt<br />

mehr und mehr aufgelöst. Umso<br />

wichtiger wird es für die Aufsichtsgremien,<br />

ihre Unabhängigkeit durch Kompetenzaufbau<br />

zu stärken und ihre Entscheidungen<br />

<strong>der</strong> Öffentlichkeit transparent<br />

zu machen. Das ist e<strong>in</strong>e Chance,<br />

aber zugleich e<strong>in</strong>e gesellschaftspolitische<br />

Herausfor<strong>der</strong>ung für die Aufsichtsgremien<br />

des Rundfunks.<br />

Perspektiven deutscher Netzpolitik<br />

Das Bundes<strong>in</strong>nenm<strong>in</strong>isterium lädt e<strong>in</strong><br />

Bundes<strong>in</strong>nenm<strong>in</strong>ister Thomas de Maizière wird im ersten Halbjahr 2010 unter dem<br />

Titel „Perspektiven deutscher Netz-Politik“ vier Dialogveranstaltungen und e<strong>in</strong>en<br />

begleitenden Onl<strong>in</strong>e-Dialog durchführen.<br />

Langfristiges Ziel <strong>der</strong> Initiative ist die Formulierung e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>heitlichen Strategie für<br />

die Netzpolitik <strong>der</strong> Bundesregierung. Über das neu e<strong>in</strong>gerichtete Internet-Portal<br />

e-konsultation.de soll den Bürgern hierbei die Möglichkeit zur Mitarbeit an den<br />

Grundsätzen <strong>der</strong> zukünftigen Netzpolitik gegeben werden.<br />

Seite 10 Nr. 484 · März 2010


Die Informationswege<br />

des Netzes<br />

s<strong>in</strong>d we<strong>der</strong> Ersatz<br />

noch Gefahr<br />

Zukunft <strong>der</strong><br />

Zeitung – Zeitung<br />

<strong>der</strong> Zukunft<br />

Gernot Facius<br />

Die Endzeit ist für 2043 avisiert. Dann,<br />

prophezeite vor sechs Jahren <strong>der</strong> Amerikaner<br />

Philip Meyer <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch<br />

The Vanish<strong>in</strong>g Newspaper, werde das letzte<br />

Mal das Exemplar e<strong>in</strong>er gedruckten Zeitung<br />

im Briefkasten o<strong>der</strong> vor <strong>der</strong> Tür<br />

e<strong>in</strong>es US-Bürgers liegen. Diese apokalyptische<br />

Vision ist seither tausendfach kolportiert<br />

worden. Die Medienmärkte s<strong>in</strong>d<br />

<strong>in</strong> Bewegung wie nie. Heute noch „<strong>in</strong>“,<br />

morgen schon „mega-out“?<br />

Tod <strong>der</strong> Gutenberg-Galaxis?<br />

Die Dynamik des Internets sche<strong>in</strong>t grenzenlos,<br />

ke<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Medium hat sich so<br />

zügig durchgesetzt wie das weltweit gespannte<br />

Netz. Das Fernsehen brauchte<br />

dreizehn Jahre, um <strong>in</strong> das Gros <strong>der</strong> Haushalte<br />

zu gelangen, das Internet erreichte<br />

schon fünf Jahre nach dem Start mehr als<br />

sechzehn Millionen Deutsche, und die<br />

Kurve schoss steil nach oben. Rückt <strong>der</strong><br />

Tod <strong>der</strong> Gutenberg-Galaxis nahe, ist die<br />

gute alte Zeitung bald von gestern? Auch<br />

Verleger und Journalisten haben sich von<br />

<strong>der</strong> Hysterie anstecken und sich e<strong>in</strong>reden<br />

lassen, das Geschäftsmodell des vor allem<br />

seriösen Pr<strong>in</strong>t-Journalismus sei <strong>in</strong> absehbarer<br />

Zeit am Ende. Defätismus pur!<br />

Natürlich darf man die Nachrichten<br />

über das „Zeitungssterben“ <strong>in</strong> den USA<br />

nicht ignorieren. Aber lassen sich die<br />

amerikanischen Medienverhältnisse e<strong>in</strong>s<br />

zu e<strong>in</strong>s auf die deutschen übertragen?<br />

Kaum. Verlage <strong>in</strong> den Vere<strong>in</strong>igten Staaten,<br />

lange von konjunkturellen Schwankungen<br />

verschont und an fließende E<strong>in</strong>nahmen<br />

aus <strong>der</strong> Werbung gewöhnt, ha-<br />

ben es versäumt, rechtzeitig auf verän<strong>der</strong>te<br />

Bed<strong>in</strong>gungen zu reagieren. Das<br />

deutsche Vertriebssystem ist zudem geeignet,<br />

die traditionellen B<strong>in</strong>dungskräfte<br />

zwischen Zeitung und Publikum zu stärken,<br />

e<strong>in</strong> Vorteil gegenüber den USA. Vor<br />

allem aber spr<strong>in</strong>gt <strong>der</strong> Unterschied <strong>der</strong><br />

Eigentumsverhältnisse <strong>in</strong>s Auge. Kurzfristige,<br />

hektische F<strong>in</strong>anz<strong>in</strong>teressen bestimmen<br />

Entscheidungen vieler amerikanischer<br />

Zeitungshäuser. E<strong>in</strong> von Eigentümern<br />

geführtes deutsches Presseunternehmen<br />

kann eher langfristige, nachhaltige<br />

Strategien entwickeln und dabei<br />

den publizistischen Anspruch wahren.<br />

Die deutsche Verlagskultur ist e<strong>in</strong> großes<br />

Plus. Sie hat bisher e<strong>in</strong>e breite Pressevielfalt<br />

garantiert. Und von ihrer Bewahrung<br />

hängt viel ab für die Zeitung von morgen.<br />

Kassandra ist ke<strong>in</strong>e Leitfigur<br />

Kassandra kann nicht Leitfigur <strong>der</strong> Branche<br />

se<strong>in</strong>, das wäre, fürwahr, e<strong>in</strong> schlechter<br />

Witz. Richtig ist freilich: Der Lesermarkt<br />

erodiert, es gibt Verschiebungen<br />

im Nutzerverhalten, beson<strong>der</strong>s des jungen<br />

Publikums. Nicht alle Probleme lassen<br />

sich eben auf die Wirtschaftskrise zurückführen,<br />

wir haben es auch mit e<strong>in</strong>em<br />

strukturellen Medienwandel zu tun. Die<br />

grundlegende Kulturtechnik des Lesens<br />

wird nicht mehr automatisch von Generation<br />

zu Generation weitergegeben. Die<br />

Lesefähigkeit hat gelitten, hier stellen sich<br />

Anfragen an Schule und Bildung. Zudem<br />

geben sich, wie <strong>der</strong> <strong>Kommunikation</strong>swissenschaftler<br />

Michael Haller (Leipzig)<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Untersuchungen festgehalten<br />

Nr. 484 · März 2010<br />

Seite 11


Gernot Facius<br />

hat, die jungen Leute unter dreißig „postpolitisch,<br />

ihre Interessen s<strong>in</strong>d auf Lifestyle,<br />

Gruppenmoral und Globalität gerichtet<br />

– Themen, die kaum Nachrichten<br />

erzeugen, die aber von den Unterhaltungsmedien<br />

(Zeitschriften und Fernsehen)<br />

<strong>in</strong>tensiv bedient werden“. Diese<br />

Generation f<strong>in</strong>det erst deutlich später als<br />

frühere Alterskohorten, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Phase <strong>der</strong><br />

Etablierung, zur regelmäßigen Zeitungslektüre.<br />

Zeitungsreichweiten stabil<br />

Richtig ist aber auch: Die Zeitungsreichweiten<br />

s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Deutschland selbst im<br />

Krisenjahr 2009 mit 71,4 Prozent (e<strong>in</strong><br />

Prozentpunkt weniger als 2008) weitgehend<br />

stabil geblieben. Das bedeutet, dass<br />

durchschnittlich 46,3 Millionen Deutsche,<br />

älter als vierzehn Jahre, pro Tag e<strong>in</strong>e Zeitung<br />

<strong>in</strong> die Hand nehmen, h<strong>in</strong>zu kommen<br />

17,3 Millionen Internetleser, die regelmäßig<br />

auf die Websites <strong>der</strong> Zeitungen gehen.<br />

Zwar ist e<strong>in</strong> nicht unwesentlicher Teil des<br />

klassischen Anzeigengeschäfts <strong>in</strong>s Internet<br />

abgewan<strong>der</strong>t. Früher haben Zeitungen<br />

<strong>in</strong> westdeutschen Ballungsräumen<br />

siebzig Prozent ihrer Erlöse aus Anzeigen<br />

beziehungsweise Werbung erzielt und<br />

dreißig Prozent aus Abonnements und<br />

E<strong>in</strong>zelverkauf; heute beträgt das Verhältnis<br />

fünfzig zu fünfzig.<br />

Das heißt aber noch lange nicht, dass<br />

über Pr<strong>in</strong>t <strong>der</strong> Todesengel schwebt. Alle<strong>in</strong><br />

die Regionalblätter setzen mehr als<br />

fünfzehn Millionen Exemplare pro Tag<br />

ab, die Regionalzeitung ist die Nummer<br />

e<strong>in</strong>s <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mediennutzung. Neunzig<br />

Prozent ihrer Leser benötigen sie für<br />

die regionale und für die überregionale<br />

Information. Sie haben mith<strong>in</strong> auch <strong>in</strong><br />

Zukunft e<strong>in</strong>e Doppelfunktion. Sie s<strong>in</strong>d<br />

Grund- und Komplettversorger <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em.<br />

Auf den großen Weltteil, die Berichterstattung<br />

aus Berl<strong>in</strong> o<strong>der</strong> dem Ausland,<br />

zu verzichten wäre von Nachteil. Es hat<br />

an Ratschlägen nicht gefehlt, regionale<br />

Blätter sollten den Nachrichtenteil zugunsten<br />

des me<strong>in</strong>ungsbildenden Journalismus<br />

reduzieren. „Ganz falsch“,<br />

weist <strong>der</strong> <strong>Kommunikation</strong>swissenschaftler<br />

Klaus Schönbach solche Empfehlungen<br />

zurück. Denn den Lesern sei genau<br />

dieser Nachrichtenteil mit se<strong>in</strong>em Überblicks-<br />

und Überraschungswert m<strong>in</strong>destens<br />

so wichtig wie die E<strong>in</strong>ordnungsfunktion.<br />

Aktualität ist heute die Domäne <strong>der</strong><br />

schnellen Medien Radio, Fernsehen und<br />

Internet. Ganz ohne Frage. Doch <strong>der</strong> Verzicht<br />

auf die Nachricht, möglichst exklusiv,<br />

wäre gegen die Natur <strong>der</strong> Zeitung. Sie<br />

wird auch gelesen, um sich überraschen<br />

zu lassen. „Nachrichtenfreude“ nannte<br />

dies Emil Dovifat, e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Großen <strong>der</strong><br />

<strong>Kommunikation</strong>swissenschaft.<br />

Letztes universales Medium<br />

und „Wun<strong>der</strong>tüte“<br />

Zeitungen, schrieb <strong>der</strong> 2003 verstorbene<br />

Journalist Herbert Riehl-Heyse (Süddeutsche<br />

Zeitung), hielten wenigstens den Anspruch<br />

aufrecht, die ganze Welt <strong>in</strong> ihrer<br />

Vielfalt wi<strong>der</strong>zuspiegeln, sich pr<strong>in</strong>zipiell<br />

für alles zu <strong>in</strong>teressieren; sie seien das<br />

Gegengift gegen das um sich greifende<br />

„Fachidiotentum“, e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> letzten Klammern<br />

e<strong>in</strong>er immer weiter ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>driftenden<br />

<strong>Gesellschaft</strong>, „<strong>in</strong> <strong>der</strong> sich<br />

schon die Orthopäden mit den Handchirurgen<br />

kaum mehr ohne Dolmetscher<br />

verständigen können“. Rundfunk und<br />

Fernsehen s<strong>in</strong>d nicht alles. Nach dem<br />

11. September 2001 zum Beispiel druckten<br />

viele Zeitungen e<strong>in</strong>e kräftig erhöhte<br />

Auflage, es gab e<strong>in</strong>en Bedarf an e<strong>in</strong>ordnenden<br />

Berichten, Analysen und Kommentaren.<br />

Kurz: an Orientierung. Michael<br />

Haller schließt daraus: Auch <strong>in</strong> Zukunft<br />

wollen die Menschen zur flüchtigen<br />

Fernsehbil<strong>der</strong>welt e<strong>in</strong> komplementäres<br />

H<strong>in</strong>tergrundmedium. Die Zeitung ist die<br />

„Wun<strong>der</strong>tüte“ (Verlegerpräsident Helmut<br />

He<strong>in</strong>en), sie enthält e<strong>in</strong>e Melange<br />

aus Lokalem und Politik, Sport, Kultur,<br />

Service und – man vergesse se<strong>in</strong>e Bedeutung<br />

nicht – Vermischtem. An<strong>der</strong>e<br />

Seite 12 Nr. 484 · März 2010


Zukunft <strong>der</strong> Zeitung – Zeitung <strong>der</strong> Zukunft<br />

Medien s<strong>in</strong>d segmentiert, das Fernsehen<br />

splittet sich auf <strong>in</strong> Spartenkanäle, alle<strong>in</strong><br />

die Zeitung verb<strong>in</strong>det als letztes universales<br />

Medium über die Altersgrenzen<br />

und sozialen Unterschiede h<strong>in</strong>weg.<br />

Gut gemachte Regionalzeitungen werden<br />

auch künftig ke<strong>in</strong>e Reichweitensorgen<br />

haben. „Wenn die Erkenntnis zutrifft,<br />

dass <strong>der</strong> Prozess <strong>der</strong> Zivilisation mit dem<br />

Fortschritt an <strong>in</strong>dividueller Handlungsfreiheit<br />

zusammenfällt, dann ist ‚Pr<strong>in</strong>t‘<br />

noch immer das Zukunftsmedium. Ke<strong>in</strong><br />

an<strong>der</strong>es Medium gestattet dem Nutzer<br />

e<strong>in</strong>en so hohen Freiheitsgrad: Er kann<br />

selbst entscheiden, was alles, wann, wo<br />

und wie oft er liest. Es wird Jahrzehnte<br />

dauern, ehe wir über e<strong>in</strong>e elektronische<br />

Zeitung mit ähnlich hohem Freiheitsgrad<br />

verfügen.“ (Haller)<br />

Die Gefahr bestehe, me<strong>in</strong>te e<strong>in</strong>e prom<strong>in</strong>ente<br />

Stimme aus dem Mutterland des<br />

Internets, Bill Cl<strong>in</strong>ton, dass man durch<br />

Surfen im Netz vielleicht alle Informationen<br />

dieser Welt zu kennen glaube, aber<br />

ke<strong>in</strong>e Möglichkeit habe zu evaluieren,<br />

„was denn falsch und was richtig ist“. Die<br />

angemessene Perspektive, e<strong>in</strong> Rahmen,<br />

e<strong>in</strong>e Balance, e<strong>in</strong> Vor und Zurück fehlten.<br />

Mit an<strong>der</strong>en Worten: Es bleibt die natürliche<br />

Stärke <strong>der</strong> Pr<strong>in</strong>tmedien, aus E<strong>in</strong>zelnachrichten<br />

Informationen zu machen,<br />

sie kritisch zu gewichten und zu analysieren.<br />

Das Internet mag viele Vorzüge haben.<br />

E<strong>in</strong> Informationsparadies, <strong>in</strong> dem<br />

sich <strong>der</strong> surfende Bürger auf sicheren<br />

Pfaden fühlt, ist es nicht. Paradiesische<br />

Zustände vermag natürlich auch die Zeitung<br />

nicht zu garantieren. Aber sie kann<br />

Zusammenhänge transparent machen,<br />

auf e<strong>in</strong>en Blick.<br />

Schlüssel zum Verstehen<br />

Die Stärken <strong>der</strong> Gattung ausspielen –<br />

das ist das Erfolgsrezept. Was ist es, das<br />

Zeitungen unverwechselbar macht, was<br />

ist <strong>der</strong> „Markenkern“? Es geht um die<br />

Wie<strong>der</strong>entdeckung o<strong>der</strong> Vervollkommnung<br />

des <strong>in</strong>tellektuellen, erzählenden,<br />

nachdenklichen und <strong>in</strong>terpretierenden<br />

Journalismus, es geht um die Zeitung als<br />

Schlüssel zum Verstehen <strong>der</strong> globalisierten<br />

Welt. E<strong>in</strong> solcher lebendiger Journalismus<br />

ist nicht gleichzusetzen mit polemischem<br />

Journalismus, auch wenn das<br />

mancher „Macher“ me<strong>in</strong>t. Tom Wolfe,<br />

e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Hauptvertreter des New Journalism,<br />

hat schon vor mehr als dreißig Jahren<br />

die Merkmale e<strong>in</strong>er Qualitätspublizistik<br />

benannt: erstens die realistische,<br />

szenische Beschreibung von Vorgängen;<br />

zweitens die Vorzüge präzise wie<strong>der</strong>gegebener<br />

Dialoge; drittens <strong>der</strong> Standpunkt<br />

<strong>der</strong> dritten Person, also die Fähigkeit des<br />

Schreibers, sich <strong>in</strong> die Sicht- und Denkweisen<br />

an<strong>der</strong>er Menschen h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zuversetzen;<br />

und schließlich die genaue Beschreibung<br />

von Gesten, Moden, Posen,<br />

Blicken. Distanz ist eben auch e<strong>in</strong> Qualitätskriterium.<br />

Reflexion ist nicht die<br />

Stärke des Internets.<br />

Zeitungsverleger-Präsident He<strong>in</strong>en hat<br />

sogar den E<strong>in</strong>druck, dass die – verme<strong>in</strong>tlich<br />

– große Freiheit im Netz erkauft<br />

wird mit e<strong>in</strong>er schleichenden publizistischen<br />

De-Professionalisierung: immer<br />

mehr, immer schneller, aber ohne<br />

den Mehrwert <strong>der</strong> fundierten Orientierung.<br />

Gewiss, die Zeitung <strong>der</strong> Zukunft<br />

wird zwei Gesichter haben: e<strong>in</strong> gedrucktes<br />

und e<strong>in</strong> vernetztes. Das Netz ist<br />

schneller als jedes an<strong>der</strong>e Medium. Ihm<br />

auf diesem Feld mit e<strong>in</strong>em gedruckten<br />

Produkt Konkurrenz zu machen habe<br />

e<strong>in</strong>fach ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n, sagt die <strong>in</strong> Sankt<br />

Gallen lehrende Miriam Meckel, Professor<strong>in</strong><br />

für <strong>Kommunikation</strong>smanagement.<br />

Aber als Medienhaus die Aktualität im<br />

Netz zu bespielen sei richtig. Das belegen<br />

Studien, die den Nachrichtenportalen<br />

im Internet e<strong>in</strong>en Nutzungszuwachs<br />

von dreißig Prozent <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es Jahres<br />

besche<strong>in</strong>igen, darunter viele Angebote<br />

<strong>der</strong> etablierten Medienhäuser. „Für<br />

e<strong>in</strong>en Überblick über die Tagesaktualität,<br />

die kurze E<strong>in</strong>ordnung <strong>der</strong> Welt, wie<br />

ich sie beim Aufwachen vorf<strong>in</strong>de, dafür<br />

Nr. 484 · März 2010<br />

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Gernot Facius<br />

braucht es erst mal ke<strong>in</strong>e Edelfe<strong>der</strong>n o<strong>der</strong><br />

eigene Infrastruktur. Deshalb ist das Konzept<br />

des ‚Newsroom‘, das sich nun überall<br />

durchzusetzen beg<strong>in</strong>nt, für diese Art<br />

des Journalismus perfekt. Für diese.“<br />

(Meckel)<br />

Die Welt erzählen<br />

Etwas an<strong>der</strong>es ist <strong>der</strong> Journalismus, <strong>der</strong><br />

weiter am Kiosk zu kaufen o<strong>der</strong> per Abo<br />

zu erwerben ist. Se<strong>in</strong>e Aufgabe: die Welt<br />

erzählen, die Welt erklären. Wer sich<br />

darauf versteht, wird auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> verän<strong>der</strong>ten<br />

Medienära dem gedruckten Wort<br />

se<strong>in</strong>en Platz sichern. Miriam Meckel<br />

träumt von den Geschichten, die nicht „<strong>in</strong><br />

Häppchen als Schnäppchen“ im Sekundentakt<br />

im Netz platziert werden, son<strong>der</strong>n<br />

die recherchiert, korrigiert, gegengelesen,<br />

überarbeitet werden, also weiterh<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em aufwendigen Prozess entstehen:<br />

„Sie s<strong>in</strong>d Meisterstücke, Ergebnisse<br />

von Individualität, Kreativität und den<br />

richtigen verlegerischen Investitionen <strong>in</strong><br />

Köpfe, die das können. Dazu braucht man<br />

ke<strong>in</strong>en Newsroom, dazu braucht man<br />

Schreiber, die die Welt erzählen. Auf e<strong>in</strong>e<br />

Weise, die wir im Netz oft vergeblich<br />

suchen, und wenn wir sie f<strong>in</strong>den, dann<br />

s<strong>in</strong>d sie meist Pr<strong>in</strong>tgeschichten, die <strong>in</strong>s<br />

Netz gestellt wurden.“ E<strong>in</strong> Kompliment<br />

an die Verlagshäuser.<br />

„Echtzeit“ und Echtheit<br />

Mit „Echtzeit“ und „Augenzeugenschaft“<br />

zu argumentieren, wie die Netz- und Twitter-Freaks<br />

es tun, mag avantgardistisch<br />

kl<strong>in</strong>gen. Aber oft spiegelt das nicht die<br />

Wirklichkeit. „Echtzeit sagt nichts über<br />

die Echtheit <strong>der</strong> Information“, gibt Ernst<br />

Elitz, <strong>der</strong> nach se<strong>in</strong>em Ausscheiden als<br />

Intendant des Deutschlandradios Kulturund<br />

Medienmanagement an <strong>der</strong> Freien<br />

Universität Berl<strong>in</strong> lehrt, zu bedenken. Der<br />

Empfänger e<strong>in</strong>er Twitter-Botschaft wisse<br />

nicht, wie echt die Augenzeugenschaft<br />

sei. „Damit aus <strong>der</strong> Vielfalt von Infobits,<br />

E<strong>in</strong>drücken und Gerüchten, von Selbsterlebtem<br />

und Ausgedachtem verlässliche<br />

Nachrichten werden, bedarf es <strong>der</strong> Prüfung<br />

durch journalistischen Fachverstand.“<br />

Von <strong>der</strong> Reporter-Legende Hans<br />

Ulrich Kempski (Süddeutsche Zeitung) ist<br />

bekannt, dass er im H<strong>in</strong>zutreten neuer<br />

Medien nie e<strong>in</strong> Problem für das gedruckte<br />

Wort sah: „Seit es das Fernsehen gibt,<br />

haben sich die Zeitungen verän<strong>der</strong>n müssen.<br />

Das war ja auch gut so. Aber das Fernsehen<br />

dr<strong>in</strong>gt fast nie h<strong>in</strong>ter die Kulissen.<br />

Die Kamera dreht, aber sie kann nicht denken.<br />

Fernsehbil<strong>der</strong> werden geistig nicht<br />

wahrgenommen.<br />

Glaubwürdigkeitsagenturen<br />

Das ist die große Chance <strong>der</strong> Zeitungen,<br />

<strong>der</strong> großen politischen Reportage.“ Journalismus<br />

ist nötig, damit aus Zufallskommunikation<br />

Verlässlichkeitskommunikation<br />

wird. Die digitale Welt braucht<br />

Anker <strong>der</strong> Verlässlichkeit. Hier tun sich<br />

Chancen auf für das angeblich alte, doch<br />

ewig neue gedruckte Medium. Die kluge<br />

Komb<strong>in</strong>ation von Alt und Neu, Zeitung<br />

und Internet, ist die sicherste Gewähr,<br />

auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zukunft zu bestehen. Vorausgesetzt,<br />

man bewahrt se<strong>in</strong> professionelles<br />

Ethos, se<strong>in</strong>e Leidenschaft für das Unerwartete<br />

und Überraschende sowie e<strong>in</strong>en<br />

unbestechlichen Blick für Qualität. Zeitungen<br />

müssen mehr denn je <strong>in</strong> <strong>der</strong> immer<br />

komplexer werdenden Welt Glaubwürdigkeitsagenturen<br />

se<strong>in</strong>.<br />

Das gegen den Zeitgeist gerichtete Fazit<br />

des Wissenschaftlers Haller, <strong>der</strong> auch e<strong>in</strong>mal<br />

Praktiker war, lautet: Verleger, die<br />

sich ernsthaft um die Zukunft <strong>der</strong> Zeitung<br />

sorgen, sollten ke<strong>in</strong>e Controller <strong>in</strong> die<br />

Redaktionen schicken, son<strong>der</strong>n gut ausgebildete<br />

Journalisten. Die Zukunft <strong>der</strong><br />

Zeitung liegt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Qualität des Journalismus<br />

begründet. Gebraucht werden<br />

Teams von exzellenten Rechercheuren.<br />

Dass sich <strong>in</strong> vielen Redaktionen Recherchepools<br />

bilden, ist e<strong>in</strong> positives Zeichen.<br />

Alles kreist <strong>in</strong> diesen ökonomisch<br />

schwierigen Zeiten um die Frage: Wie<br />

Seite 14 Nr. 484 · März 2010


Zukunft <strong>der</strong> Zeitung – Zeitung <strong>der</strong> Zukunft<br />

br<strong>in</strong>gt man es fertig, bei Senkung <strong>der</strong><br />

Kosten Qualität und Nutzwert <strong>der</strong> Zeitungen<br />

zu steigern? E<strong>in</strong>e Gratwan<strong>der</strong>ung<br />

mit vielerlei Versuchungen. Es gibt e<strong>in</strong>e<br />

Tendenz <strong>der</strong> Abkehr von den Fakten, des<br />

Infota<strong>in</strong>ments anstelle von Information,<br />

manchmal e<strong>in</strong> Abgleiten <strong>in</strong>s Triviale. Redaktionen<br />

neigen dazu, Information zu<br />

ästhetisieren, emotionalisieren, zuzuspitzen,<br />

e<strong>in</strong>e neue journalistische Funktion ist<br />

die des „Story-Designers“. Das Vertrauen<br />

<strong>in</strong> die Seriosität des gedruckten Wortes<br />

wird dabei aufs Spiel gesetzt.<br />

Infota<strong>in</strong>ment und<br />

Designjournalismus als Gefahr<br />

Dante Andrea Franzetti, Romancier und<br />

Auslandsredakteur des Schweizer Magaz<strong>in</strong>s<br />

Facts, hat schon vor Jahren gewarnt:<br />

„Die Ästhetisierung, Personalisierung<br />

und Trivialisierung <strong>der</strong> Information<br />

– das eigentliche Gebiet <strong>der</strong> angelsächsischen<br />

Thriller-Autoren – wird den<br />

Pr<strong>in</strong>tmedien (<strong>in</strong>des) nicht höhere Auflagen<br />

bescheren. Im Gegenteil: Der sicherste<br />

Weg, e<strong>in</strong> etabliertes Blatt zu ru<strong>in</strong>ieren,<br />

ist <strong>der</strong> des Infota<strong>in</strong>ments und des<br />

Designjournalismus, dessen Akteure aus<br />

dem Bauch heraus dekretieren, was <strong>der</strong><br />

Leser angeblich lesen will.“ Vor allem<br />

Tabloid-Formate s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Gefahr, das<br />

subjektive Bauchgefühl ihrer Macher<br />

zum Maßstab zu erheben und auf vieles<br />

von dem zu verzichten, was über das<br />

leicht Konsumierbare h<strong>in</strong>ausgeht. Sie<br />

orientieren sich zu oft am Internetverhalten<br />

des jungen Publikums. „Sexy“<br />

ist, was die Auflage <strong>in</strong> die Höhe treibt.<br />

Die Aufklärungsfunktion des Mediums<br />

kommt dabei zu kurz. Zum Schaden <strong>der</strong><br />

<strong>Gesellschaft</strong>.<br />

Die Demoskop<strong>in</strong> Renate Köcher (Allensbach)<br />

hat nachgewiesen, dass das Interesse<br />

<strong>der</strong> ans Internet gewöhnten Generation<br />

an politischen Entwicklungen kont<strong>in</strong>uierlich<br />

zurückgegangen ist. Die Bereitschaft,<br />

sich umfassend zu <strong>in</strong>formieren,<br />

hat nachgelassen. E<strong>in</strong>e <strong>Gesellschaft</strong>,<br />

die teilweise auf kont<strong>in</strong>uierliche Information<br />

verzichtet, wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> Urteilsf<strong>in</strong>dung<br />

unbeständiger und damit auch<br />

anfälliger für Manipulation. Am Ende<br />

kann es zur Politikverachtung kommen.<br />

Mit Politikverachtung lässt sich aber e<strong>in</strong>e<br />

demokratische <strong>Gesellschaft</strong>, die auf die<br />

Zustimmung <strong>der</strong> Bevölkerung angewiesen<br />

ist, nicht bewahren.<br />

Professioneller Journalismus, wie er <strong>in</strong><br />

den meisten Zeitungsredaktionen noch<br />

zu Hause ist, kann Bauste<strong>in</strong>e für politische<br />

Me<strong>in</strong>ungsbildung liefern. Zeitungen<br />

schaffen e<strong>in</strong>en sozialen Mehrwert. Sie<br />

s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> „Lebensmittel“. Deshalb wird die<br />

gut gemachte Zeitung, die sich auch <strong>in</strong><br />

wirtschaftlich stürmischen Zeiten Unabhängigkeit<br />

und Profil bewahrt, Informationsanbieter<br />

Nummer e<strong>in</strong>s bleiben. Das<br />

heißt: Die Zukunft <strong>der</strong> Zeitung liegt <strong>in</strong><br />

den Händen mutiger Verleger und Journalisten.<br />

Diffuse Angst und entrückte Abstraktion<br />

„Die erste ernstzunehmende gesellschaftliche Debatte über das Web <strong>in</strong> Deutschland,<br />

die nicht ausschließlich im Internet selbst ausgetragen wird, f<strong>in</strong>det erst jetzt,<br />

2009/2010 statt. Aber sie ist geprägt von entrückter Abstraktion und e<strong>in</strong>er diffusen<br />

Angst vor den neuen Technologien.“<br />

Marcel Weiss <strong>in</strong>: netzwertig.com<br />

Nr. 484 · März 2010<br />

Seite 15


E<strong>in</strong>e Annäherung<br />

Wissen und Bildung<br />

im Biotop Internet<br />

Bernt von zur Mühlen<br />

Weit mehr als e<strong>in</strong>e Milliarde Menschen nutzen<br />

das Internet bereits heute. Google, das<br />

weltweit erfolgreichste Geschäftsmodell,<br />

erfasst mehr als e<strong>in</strong>e Billion URLs, und jährlich<br />

steigt die Datenmenge im Netz um<br />

sechzig Prozent. Alle Leitmedien zerfasern,<br />

weil das Internet als „mediales Zentrum“<br />

die Mediengattungen Text, Audio<br />

und Video vere<strong>in</strong>t und die Zusammenhänge<br />

von Information, Wissen und Bildung<br />

gründlich durche<strong>in</strong>an<strong>der</strong>wirbelt.<br />

Sprachlich ist <strong>der</strong> Begriff Information<br />

zwar mit den platonischen und aristotelischen<br />

Gedanken verdrahtet, die menschenbildende<br />

und erkenntnistheoretische<br />

Beziehungen <strong>in</strong> den Bedeutungen von<br />

eidos, idea et cetera aufspüren, aber unsere<br />

griechischen Lehrmeister waren Skeptiker<br />

gegenüber e<strong>in</strong>er „gespeicherten Information“.<br />

Im Gegenteil, nur die freie Rede ohne<br />

Archivspuren war die Königsdiszipl<strong>in</strong> von<br />

Denken, Wissen und Bildung.<br />

Nicht umsonst lässt Platon <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

Mythos vom ägyptischen König Phaidros<br />

den Herrscher vor <strong>der</strong> Erf<strong>in</strong>dung <strong>der</strong><br />

Schrift warnen. Sie führe zu e<strong>in</strong>er Abnahme<br />

des Gedächtnisses und sei schädlich.<br />

Freiheit des Denkens, Freiheit <strong>der</strong><br />

Information so Platon, war nur radikal<br />

im Gespräch, im Dialog möglich, ohne<br />

Fixierung und Speicherung. Die Computertechnologie,<br />

das elektronische Archivieren,<br />

attackiert die klassisch-griechische<br />

Sichtweise e<strong>in</strong>er archiv-unabhängigen<br />

Fundierung <strong>der</strong> Wissenschaften.<br />

Auch Descartes festigte mit se<strong>in</strong>er entschiedenen<br />

Def<strong>in</strong>ition cogito, ergo sum<br />

mehr e<strong>in</strong>e Illusion als e<strong>in</strong>e Tatsache. Wir<br />

wissen <strong>in</strong>zwischen, dass alle wissenschaftlichen<br />

Erkenntnisse <strong>in</strong>stabil s<strong>in</strong>d<br />

und diese Labilität auf alle Bedeutungsnetze<br />

zu übertragen ist.<br />

<strong>Kommunikation</strong> befeuert <strong>in</strong> diesen<br />

Netzwerken das Kurzlebige und das<br />

Neue, die Gegenwart dom<strong>in</strong>iert das Haltbare<br />

und das Vergangene – und dies<br />

obwohl <strong>in</strong> allen Denksystemen über Information<br />

und Wissen <strong>der</strong> Wunsch nach<br />

Beständigkeit <strong>der</strong> Wissensobjekte e<strong>in</strong><br />

ständiger Begleiter ist. In diesem Fluss<br />

des Unbeständigen können nur endliche<br />

Botschaften und spezifische Medien archiviert<br />

werden. Der Umstand macht<br />

die Botschaft relevant, und es entstehen<br />

durch die Omnipräsenz des Internets<br />

Informationskulturen, die nur noch mit<br />

kraftvollen Theorien von Botschaften entschlüsselt<br />

und <strong>in</strong>terpretiert werden können.<br />

E<strong>in</strong>e neue Hermeneutik wird zur<br />

Infrastruktur des Netzes.<br />

Wir me<strong>in</strong>en mit „Freiheit <strong>der</strong> Information“<br />

das Gegenteil unserer platonischen<br />

Vordenker. Auf dem Marsch über<br />

den Buchdruck, über die elektronischen<br />

Massenmedien s<strong>in</strong>d wir nicht unbed<strong>in</strong>gt<br />

<strong>in</strong>formiert, aber mit dem Werkzeug Computer<br />

verlangen wir e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teraktive,<br />

kompatible, multimediale und billige Bereitstellung<br />

<strong>der</strong> Informationen und Wissensobjekte<br />

je<strong>der</strong>zeit, überall und ohne<br />

Zugangsbarrieren.<br />

Freiheit des Zugangs<br />

statt Freiheit <strong>der</strong> Information<br />

Ke<strong>in</strong>erlei Anstrengungskultur, ke<strong>in</strong>erlei<br />

vorausgegangene Selbstbildung o<strong>der</strong><br />

Seite 16 Nr. 484 · März 2010


Wissen und Bildung im Biotop Internet<br />

Selbstformung darf den Wissenszugang<br />

stören o<strong>der</strong> beh<strong>in</strong><strong>der</strong>n.<br />

Die auf <strong>der</strong> Basis <strong>der</strong> Drucktechnologie<br />

basierende Freiheit <strong>der</strong> Presse hat ke<strong>in</strong>erlei<br />

Führungsbedeutung mehr. Jeremy<br />

Rifk<strong>in</strong> identifiziert freedom of access als<br />

die fundamentale Umwälzungskraft für<br />

Ökonomie und Moral des Informationsmarktes.<br />

Und, um die Analyse von Rifk<strong>in</strong><br />

zu ergänzen: Wer den freien Zugang<br />

zum Netz hat, kann als Sen<strong>der</strong> auftreten.<br />

Die Massenmediengesellschaft mit ihrem<br />

dualen Schema von Medienmachern und<br />

Publikum ist obsolet geworden. Die vom<br />

Berufsstand <strong>der</strong> Journalisten bereits im<br />

letzten Jahrhun<strong>der</strong>t eitel vorgetragene<br />

These von <strong>der</strong> „vierten Gewalt“ verkommt<br />

zu Makulatur, und das e<strong>in</strong>undzwanzigste<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t hat endgültig die<br />

Monopolstellung <strong>der</strong> Medien als Informationsaggregatoren<br />

und Verbreiter abgeschafft.<br />

Das als re<strong>in</strong> technisches Medium von<br />

<strong>der</strong> Informationselite noch vor wenigen<br />

Jahren verhöhnte Internet ist dialogisch<br />

und diskursiv, Sen<strong>der</strong> und Empfänger <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em. Es entzieht sich <strong>der</strong> Kontrolle <strong>der</strong><br />

sterbenden Massenmedien, und die Menetekel<br />

<strong>der</strong> Web-2.0-Welt, <strong>der</strong> Blogs und<br />

an<strong>der</strong>er Social Medias tra<strong>in</strong>ieren ihre Muskeln<br />

und etablieren e<strong>in</strong>e neue Sen<strong>der</strong>-<br />

Empfänger-Moral. Jedwedes Wissen existiert<br />

nur noch durch Internet und Computer<br />

und als shared knowledge. Des<strong>in</strong>formation<br />

und Information s<strong>in</strong>d dauernd<br />

<strong>in</strong>stabile Zustände. Nichts ist ewig. Die<br />

treibende Kraft <strong>der</strong> Informationssysteme<br />

im Internet paralysiert das Kanonische,<br />

das Redundante. Wissen wird zum endlosen<br />

Strom von Interpretationen, Auslegungen<br />

und Bedeutungszusammenhängen.<br />

Mit dem Internet gibt es e<strong>in</strong> Medium,<br />

das die Massenmedien mit den eigenen<br />

Waffen angreift und auch das Angebot<br />

<strong>der</strong> Massenmedien ablehnen wird, durch<br />

h<strong>in</strong>zuaddierte Interaktivität das herkömmliche<br />

Sen<strong>der</strong>-Empfänger-Schema<br />

lediglich zu kaschieren, nicht aber zu<br />

überw<strong>in</strong>den.<br />

Auch die wie<strong>der</strong>holt vorgetragene Attacke<br />

<strong>der</strong> Massenmedien, das Internet produziere<br />

Müll, zieht nicht. Selbst die Gutenberg-Technologie<br />

war ke<strong>in</strong> Garant für<br />

die Herausfilterung von Informationsmüll.<br />

Das e<strong>in</strong>undzwanzigste Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

wird als gewaltige Transitstrecke alle<br />

Reste <strong>der</strong> altmodischen Mediengesellschaften<br />

abstreifen und e<strong>in</strong>e message<br />

society etablieren, die den Akteuren e<strong>in</strong><br />

hohes Maß e<strong>in</strong>er neuen Informationsdiszipl<strong>in</strong><br />

abverlangt. Damit sich diese Attitüde<br />

entwickeln kann, ist e<strong>in</strong>e renovierte<br />

Sichtweise auf die Grundlagen <strong>der</strong> Bildung<br />

erfor<strong>der</strong>lich. „Bilde dich selbst“ ist<br />

das erste Gesetz e<strong>in</strong>er wahren Moral nach<br />

Wilhelm von Humboldt, und erst das<br />

zweite lautet: „Wirke auf an<strong>der</strong>e durch<br />

das, was du bist.“<br />

Auch <strong>der</strong> Soziologe Wolf Lepenies<br />

weist darauf h<strong>in</strong>, dass das <strong>in</strong>nere Zentrum<br />

<strong>der</strong> erfolgreichen Humboldt’schen Universitätsidee<br />

die Freiheit vom Nutzen war.<br />

Lehre und Forschung dienten nur dem<br />

Willen <strong>der</strong> Selbstbildung, <strong>der</strong> absoluten<br />

Freiheit des Geistes. O<strong>der</strong>, wie Karl Jaspers<br />

es e<strong>in</strong>mal s<strong>in</strong>ngemäß formulierte, <strong>der</strong><br />

Staat nobilitierte sich selbst, <strong>in</strong>dem er f<strong>in</strong>anzierte<br />

und för<strong>der</strong>te, was unabhängig<br />

von ihm bestehen und sich entfalten sollte.<br />

E<strong>in</strong>e neue Bildungsidee<br />

hat nichts mit Standards zu tun<br />

E<strong>in</strong>e Idee f<strong>in</strong>det sich unseren Klassikern<br />

zufolge nur im Innern des Menschen,<br />

nicht auf dem Acker <strong>der</strong> Wirklichkeit, für<br />

welche sie gleichwohl als Leitstern wirken<br />

und fungieren kann. E<strong>in</strong>e Idee ist per<br />

def<strong>in</strong>itionem unwirklich, jedoch nicht unwirksam<br />

aufs Mögliche und Reale.<br />

Es geht bei dem Rekurs auf e<strong>in</strong>e historische<br />

Bildungsidee zunächst darum,<br />

<strong>der</strong>en Kernbestand zu erörtern. Die Klage<br />

über die unwie<strong>der</strong>br<strong>in</strong>gliche vergangene<br />

Größe muss aber nicht eitel se<strong>in</strong>, sie<br />

könnte auch zu e<strong>in</strong>er Überw<strong>in</strong>dung<br />

Nr. 484 · März 2010<br />

Seite 17


Bernt von zur Mühlen<br />

gegenwärtiger Hybris beitragen, die ohne<br />

Begriff von Bildung umstandslos sogenannte<br />

„Bildungsstandards“ verordnen<br />

möchte.<br />

E<strong>in</strong>e neue Bildungsidee muss den nach<br />

obsoleten Mustern getragenen, bürokratisch<br />

blockierten Wissensmarkt grundstürzend<br />

verän<strong>der</strong>n. E<strong>in</strong>e solche Idee ist<br />

zuerst <strong>in</strong> den Me<strong>in</strong>ungsmarkt h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zugeben.<br />

Sie ist dort nicht vorrätig und kann<br />

aus dem bestehenden Wissenschaftspluralismus<br />

nicht deduziert werden. Hier<br />

heißt es vielmehr, zuerst die Baumgrenze<br />

des vertrauten Empirismus zu überw<strong>in</strong>den,<br />

hier ist Innovation auf apriorischem<br />

Risikogelände gefragt. Offensichtlich<br />

br<strong>in</strong>gt die Idee die Erfahrung hervor,<br />

nicht ungekehrt. Die Erfahrung stiftete<br />

zwar immer zur Ideensuche an, veranlasste<br />

sie, bewirkte alle<strong>in</strong> aber noch nie<br />

e<strong>in</strong>e Idee. Die reale und die ideelle Sphäre<br />

s<strong>in</strong>d pr<strong>in</strong>zipiell als getrennte Welten zu<br />

verstehen, die aber natürlich im Medium<br />

des natürlich-geistigen Menschen aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

verweisen. Wovon also müssen wir<br />

ausgehen, wenn wir Bildung nach ihrer<br />

Katastrophe neu denken wollen?<br />

Zunächst ist es wichtig festzustellen,<br />

dass Bildung e<strong>in</strong>e Beson<strong>der</strong>heit des deutschen<br />

Sprachraums ist. Dieses Wissen<br />

kann man <strong>in</strong> Schulen erwerben, solches<br />

Verdienst aber bedarf <strong>der</strong> Selbstbildung,<br />

Selbstüberw<strong>in</strong>dung. Die Schulen und Institutionen<br />

<strong>der</strong> Ausbildung können darauf<br />

h<strong>in</strong>weisen, darauf vorbereiten und<br />

die Worte Goethes wie<strong>der</strong> richtig auslegen,<br />

die für diesen Bildungsprozess maßgebend<br />

bleiben: „Von <strong>der</strong> Gewalt, die alle<br />

Wesen b<strong>in</strong>det, Befreit <strong>der</strong> Mensch sich,<br />

<strong>der</strong> sich überw<strong>in</strong>det.“<br />

Selbstüberw<strong>in</strong>dung, Selbstbefreiung<br />

bedeutet <strong>in</strong> nuce auch Selbstausbildung<br />

aller <strong>in</strong>dividuellen Anlagen, zum voll entfalteten<br />

Menschen. Das ist die Bildungsidee,<br />

um die es unseren Klassikern g<strong>in</strong>g.<br />

Bildung, so a priori als Voraussetzung<br />

aller ihr folgenden Curricula, Ausbildungsgänge<br />

und Lernmethoden gedacht, entsteht<br />

<strong>in</strong> jedem <strong>in</strong>dividuell sich Bildenden<br />

neu als e<strong>in</strong>zigartiges Zeugnis e<strong>in</strong>er Idee,<br />

die allgeme<strong>in</strong> zugänglich ist, aber <strong>der</strong><br />

Allgeme<strong>in</strong>heit nicht zu verordnen o<strong>der</strong><br />

strikt vorzuschreiben ist.<br />

Man könnte diese Folgerelation von Bildung<br />

und Ausbildung auch analog zum<br />

Verhältnis von Forschung und Lehre verstehen,<br />

wo die Lehre auch nicht festzuschreiben<br />

ist, da sie stets vom aktuellen,<br />

kont<strong>in</strong>uierlichen Prozess <strong>der</strong> Forschung<br />

abhängig bleibt. Freiheit ist <strong>der</strong> Bildung<br />

Lebenselixier. Wie sie für die Ausbildung<br />

dennoch zeitweise e<strong>in</strong>geschränkt werden<br />

muss, solche Überlegung obliegt dann<br />

noch geordneter pädagogischer Arbeit.<br />

Bildung – das deutsche Wort und se<strong>in</strong>e<br />

Bedeutung s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>malig <strong>in</strong> Europa, ke<strong>in</strong><br />

an<strong>der</strong>es Volk stellt mit dem Begriff Bildung<br />

ähnlich hohe Ansprüche an e<strong>in</strong>e<br />

homogene Identität von Persönlichkeit,<br />

Charakter und Allgeme<strong>in</strong>wissen. E<strong>in</strong>e<br />

unwissende Persönlichkeit ist undenkbar,<br />

austauschbare Wissenschaftler, Wissensträger<br />

ohne <strong>in</strong>dividuellen, gebildeten<br />

Charakter, kennen wir <strong>in</strong>zwischen sehr<br />

wohl. Genau um diese Verb<strong>in</strong>dung zwischen<br />

<strong>in</strong>dividueller Persönlichkeit und<br />

verb<strong>in</strong>dlichem Allgeme<strong>in</strong>wissen geht es,<br />

nicht um Verfügungswissen alle<strong>in</strong>, aber<br />

auch nicht um Persönlichkeit o<strong>der</strong> Charakter<br />

alle<strong>in</strong>.<br />

Die klassische Bildungsidee respondiert<br />

ke<strong>in</strong>er bestimmten sozialen beziehungsweise<br />

soziologischen Kategorie.<br />

Der Gebildete ist auch ke<strong>in</strong>eswegs identisch<br />

mit dem Intellektuellen, <strong>der</strong> e<strong>in</strong> soziologisches<br />

Phänomen des neunzehnten<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts ist, und folglich auch nicht<br />

nach dessen Maßgabe zu verstehen.<br />

Die ursprüngliche Bedeutung des<br />

deutschen Wortes Bildung stammt aus<br />

<strong>der</strong> Theologie. Sie me<strong>in</strong>t die christliche<br />

E<strong>in</strong>pflanzung des Gottesbildes (imago dei)<br />

im e<strong>in</strong>zelnen guten Christenmenschen,<br />

<strong>der</strong> <strong>in</strong> allem, was er tut und wie er<br />

handelt, das Vorbild se<strong>in</strong>es Herrn Jesus<br />

im Inneren durchs Leben trägt. Unsere<br />

Seite 18 Nr. 484 · März 2010


Wissen und Bildung im Biotop Internet<br />

Klassiker, die diese Bedeutung aus ihrer<br />

meist protestantischen Herkunft gut<br />

kannten, verrücken dieses Ziel <strong>der</strong> <strong>in</strong>neren<br />

Bildung und Formung <strong>in</strong>s Anthropologische,<br />

Lebensphilosophisch-Lebensweltliche.<br />

Sie übersetzen den mystischreligiösen<br />

Bildungskern <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en metaphysisch-vernunftmäßigen.<br />

Der Akzent<br />

liegt dabei – wie gesagt – auf Selbstbildung,<br />

auf <strong>der</strong> Selbstentfaltung <strong>in</strong>dividueller<br />

Anlagen.<br />

Der metaphysische, wissenschaftlich<br />

ke<strong>in</strong>eswegs zu erledigende Grund bleibt<br />

als theologischer Rest deutlich. Die Erfahrung<br />

wird von <strong>der</strong> Idee geformt, nicht umgekehrt.<br />

Die Bildung hat demgemäß sogar<br />

die Funktion, das Individuum vor schlechten,<br />

unnützen und schädlichen Erfahrungen<br />

zu schützen. Unsere klassischen Denker<br />

universalisierten die christlichen Tugendansprüche<br />

zu <strong>in</strong>neren, ungeschriebenen<br />

Gesetzen des allgeme<strong>in</strong>en humanen<br />

Umgangs. Dieser Prozess <strong>der</strong> Ideentransformation<br />

wäre für die Mythologie<br />

<strong>der</strong> Zukunft <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit den Analysen<br />

zum mo<strong>der</strong>nen Wissensbegriff fortzusetzen,<br />

statt diesen Bildungsprozess<br />

e<strong>in</strong>fach versiegen zu lassen.<br />

Die Klassiker nahmen sich ihr Vorbild<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> antiken Kultur. Sie erstrebten nicht<br />

weniger als e<strong>in</strong>e Renaissance des griechisch-antiken<br />

Kulturideals auf neuzeitlich-humanistischer<br />

Geschichtsstufe. E<strong>in</strong><br />

Staat erschien ihnen nur s<strong>in</strong>nvoll als Kulturstaat.<br />

E<strong>in</strong>e humane Lebenskultur war<br />

<strong>der</strong> universelle Zweck. Auf ihn h<strong>in</strong> galt<br />

es, Bildungs-, Ausbildungs- und Erziehungsmethoden<br />

neu zu gestalten. Um<br />

dieses Ziel zu erreichen, um diese Renaissance<br />

e<strong>in</strong>er durchweg humanen Kultur im<br />

e<strong>in</strong>zelnen Menschen e<strong>in</strong>zupflanzen, e<strong>in</strong>zubilden,<br />

lagen die praktischen Nahziele<br />

gewissermaßen auf <strong>der</strong> Hand. Es galt,<br />

e<strong>in</strong>en antiken Kanon herzustellen. Die<br />

antiken Sprachen, die antike Philosophie<br />

und die antike Kultur waren komplett<br />

wie<strong>der</strong> zu lehren und zu studieren. Bildungsidee<br />

und Ausbildungszweck gehen<br />

hier e<strong>in</strong>e vollkommen plausible Wechselwirkung<br />

e<strong>in</strong>. Wer sich <strong>in</strong> dieser Welt <strong>der</strong><br />

antiken Renaissance zu bewegen wusste,<br />

wer aus diesem Geist zu reden und zu handeln<br />

imstande war, galt als Gebildeter.<br />

Bildung und Aufklärung<br />

Doch gebildet bedeutete mehr als aufgeklärt.<br />

E<strong>in</strong> Aufgeklärter im historischen<br />

S<strong>in</strong>ne war durch e<strong>in</strong> bestimmtes rationales<br />

Bewusstse<strong>in</strong> charakterisiert, welchem<br />

man ke<strong>in</strong>e Ammenmärchen o<strong>der</strong><br />

sonstige obskuren E<strong>in</strong>fälle mehr aufb<strong>in</strong>den<br />

konnte. Aufklärung <strong>in</strong>des, wo sie not<br />

tat, verstand sich für den Gebildeten bereits<br />

von selbst. Er zielte auf e<strong>in</strong>e ständige<br />

Veredelung und Verfe<strong>in</strong>erung <strong>der</strong> durch<br />

Wissenschaft gewonnenen, gangbaren<br />

Fortschritte im menschlichen Leben. Auf<br />

e<strong>in</strong>e neue universelle Lebenskultur.<br />

Mit dieser Universalität brachten sich<br />

die deutschen Gebildeten <strong>in</strong> Europa e<strong>in</strong>.<br />

Deutscher Geist, deutsche Musik, deutsche<br />

Philosophie und Bildung waren zu<br />

Beg<strong>in</strong>n des neunzehnten Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

überall beliebte und gern empfangene<br />

Gäste. Ganz Europa war deshalb so verwun<strong>der</strong>t<br />

und ungläubig, als man <strong>in</strong><br />

Deutschland bei voller elektrischer Beleuchtung<br />

plötzlich wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> die Barbarei<br />

zurückfiel.<br />

Diese E<strong>in</strong>bildung <strong>der</strong> Kulturideale <strong>in</strong>s<br />

Volk und <strong>in</strong> dessen Ausbildungs<strong>in</strong>stitutionen<br />

misslang allerd<strong>in</strong>gs gründlich.<br />

Zwischen <strong>der</strong> Bildungselite und dem<br />

Volk, das diesen Bildungsgang im zwar<br />

verm<strong>in</strong><strong>der</strong>ten, e<strong>in</strong>geschränkten S<strong>in</strong>ne<br />

von Ausbildungszwecken, aber <strong>in</strong> doch<br />

höchstmöglichem Maße mittragen sollte,<br />

klaffte e<strong>in</strong>e Kluft, die gerade von den<br />

Schulmeistern, wie Ernst Robert Curtius<br />

1932 vor dem Höllensturz scharf diagnostizierte,<br />

im Ganzen miserabel bewirtschaftet<br />

wurde.<br />

Die deutschen Schulmeister, die Ausbil<strong>der</strong><br />

also, verfälschten die Bildungstradition,<br />

streuten Gift <strong>in</strong>s Volk, das <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>en Gebildeten zunehmend Fe<strong>in</strong>de<br />

Nr. 484 · März 2010<br />

Seite 19


Bernt von zur Mühlen<br />

und Schädl<strong>in</strong>ge erkennen wollte. Und es<br />

stellt sich die Frage, ob es bloß e<strong>in</strong> Zufall<br />

war, dass sich diese bildungsfe<strong>in</strong>dliche<br />

Entwicklung nach den 68er-Stürmen<br />

unheilvoll wie<strong>der</strong>holte und zur völligen<br />

Abschaffung des alten Bildungskanons<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Oberstufenreform von 1977<br />

führte.<br />

Wie nun Bildung mit Wissen zusammenhängt,<br />

könnte wie e<strong>in</strong> Sprengsatz<br />

wirken. Denn Bildung ordnet das Wissen,<br />

ist nicht gleichbedeutend mit ihm. Nur<br />

<strong>der</strong> Gebildete pflegt e<strong>in</strong>en vernünftigen,<br />

fruchttragenden Umgang mit dem Wissen.<br />

Er ist ke<strong>in</strong> Spezialist wie <strong>der</strong> Fachwissenschaftler,<br />

<strong>der</strong> von jenem e<strong>in</strong>gesetzt<br />

und <strong>in</strong>spiriert werden sollte, nicht umgekehrt<br />

und wie das heute meistens Usus<br />

ist. Es ist nicht <strong>in</strong> Ordnung, wenn <strong>der</strong><br />

Wissenschaftler dem Dichterphilosophen<br />

e<strong>in</strong>en Maulkorb umhängen, ihn aus <strong>der</strong><br />

Universität ausgrenzen darf, weil dieser<br />

<strong>in</strong> Bil<strong>der</strong>n spreche, was wissenschaftlich<br />

aber nicht seriös, nicht statthaft sei. Nach<br />

diesen kruden Methodenzwängen hätte<br />

heute e<strong>in</strong> Nietzsche an e<strong>in</strong>er deutschen<br />

Universität nichts mehr zu suchen. Der<br />

Wissenschaftsbetrieb bedarf <strong>der</strong> grundlegenden<br />

Deregulierung. Solange den<br />

Mythen schaffenden Kräften <strong>der</strong> Rückweg<br />

<strong>in</strong> die Universität <strong>der</strong> Wissenschaften<br />

und Künste versagt bleibt, wird man<br />

die gegenwärtigen Bildungs- und Ausbildungsprobleme<br />

nicht lösen können.<br />

Hohe Ausbildungsziele konkurrieren<br />

unvermittelt mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> und machen<br />

sich gegenseitig – ähnlich wie im Quotenwesen<br />

<strong>der</strong> Medien – die Etatposten streitig.<br />

Da die Biochemie gegenwärtig <strong>der</strong><br />

Universität mehr <strong>in</strong>ternationales Prestige<br />

e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>ge, dürfe sie e<strong>in</strong> Vielfaches an<br />

Macht und Etat gegenüber jenen armen<br />

Fächern beanspruchen, die kaum Anziehungskraft<br />

verbuchen könnten.<br />

Das <strong>in</strong>dividuelle, auf Persönlichkeit<br />

zentrierte Wesen <strong>der</strong> Bildung muss wie<strong>der</strong><br />

gestärkt werden. Nicht nur Th<strong>in</strong>k<br />

Tanks und Experten, son<strong>der</strong>n reich begabte,<br />

rhetorisch brillante Menschen sollten<br />

sichtbar die Spitze <strong>der</strong> Bildungsreformen<br />

repräsentieren und das Internet<br />

als Plattform nutzen. „Geistesmenschen“,<br />

wie Thomas Bernhard die Gebildeten bezeichnete,<br />

s<strong>in</strong>d autonom und scheuen <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Regel die rigide Verwaltungspolitik,<br />

die Metaphysikverbote ausspricht.<br />

E<strong>in</strong> atheistisches Europa zermürbt sich<br />

selbst und hat ke<strong>in</strong>e große Chancen gegen<br />

die von enormen mythologischen<br />

Schwungrä<strong>der</strong>n angetriebenen Zukunftsmächte<br />

wie Ch<strong>in</strong>a, Indien und die islamische<br />

Welt. Die Frage ist gegenwärtig also:<br />

Wie könnte dieses Bild des Ganzen heute<br />

aussehen? Wie f<strong>in</strong>den wir zu e<strong>in</strong>er uns<br />

alle beflügelnden Zukunftsmythologie?<br />

Durch welche neue Idee könnte man das<br />

antike Renaissanceideal heute ersetzen?<br />

Warum gel<strong>in</strong>gen uns solche für alle verb<strong>in</strong>dlichen<br />

Bil<strong>der</strong> des Ganzen gegenwärtig<br />

nicht mehr? Weil wir uns nicht genügend<br />

dessen bewusst s<strong>in</strong>d, wie nötig<br />

wir sie haben? Weil wir noch immer stolz<br />

auf unseren rationalen Ideologien und<br />

Dogmen beharren?<br />

Zukunft von Bildung und Wissen ist<br />

e<strong>in</strong>e mythologische Kategorie, ke<strong>in</strong>e re<strong>in</strong><br />

wissenschaftliche und schon gar ke<strong>in</strong>e<br />

pragmatische Angelegenheit. Es geht also<br />

nicht darum, e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>maliges und geniales<br />

Bildungskonzept zu kopieren o<strong>der</strong> zu<br />

wie<strong>der</strong>holen. Aber wir sollten uns dennoch<br />

<strong>in</strong> unser klassisches Bildungsvorbild<br />

vertiefen und Lehren herausziehen<br />

aus se<strong>in</strong>en <strong>in</strong>nersten, ideellen Beweggründen;<br />

wir sollten begreifen, welche<br />

fruchtbaren Irrtümer und welche Glaubensgehalte<br />

und Ideen es zugleich waren,<br />

die zur höchsten Bildungsblüte und zu<br />

e<strong>in</strong>em absoluten zivilisatorischen Höhepunkt<br />

<strong>in</strong> Europa führten.<br />

Das Internet mit se<strong>in</strong>er neuen Def<strong>in</strong>ition<br />

von Sen<strong>der</strong> und Empfänger als<br />

dialogischem Medium ist dabei die neue<br />

Bildungs- und Wissensrampe.<br />

Seite 20 Nr. 484 · März 2010


Die Deutschen<br />

zeigen sich von den<br />

Medien enttäuscht<br />

Von <strong>der</strong> Politiker- zur<br />

Journalistenverdrossenheit?<br />

Wolfgang Donsbach/Mathias Rentsch<br />

Viel ist <strong>in</strong> den letzten Jahren von <strong>der</strong><br />

Politikverdrossenheit <strong>der</strong> Bevölkerung<br />

gesprochen und geschrieben worden.<br />

Demoskopische Daten über Wertschätzung<br />

und Glaubwürdigkeit von Parteien<br />

und Politikern zeigen e<strong>in</strong>en mehr o<strong>der</strong><br />

weniger stetigen Rückgang im öffentlichen<br />

Ansehen <strong>der</strong> politischen Akteure.<br />

Es entbehrt nicht e<strong>in</strong>er gewissen Ironie,<br />

aber – wie noch gezeigt wird – auch<br />

Logik, dass nun ausgerechnet diejenigen,<br />

die man zu den Verursachern <strong>der</strong> Politikverdrossenheit<br />

zählt, vom gleichen<br />

Schicksal ereilt werden.<br />

Wenig Vertrauen und Ansehen<br />

Denn aus <strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong> Bevölkerung ist <strong>der</strong><br />

Journalismus ke<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>s geschätzter<br />

und schon gar ke<strong>in</strong> vertrauenswürdiger<br />

Beruf. Mit 65 Prozent sagen zwar noch<br />

rund zwei von drei Deutschen, dass sie<br />

Journalisten „eher schätzen“. Die Wertschätzung<br />

des Berufs liegt damit aber weit<br />

unter jener klassischer Professionen wie<br />

<strong>der</strong> Ärzte (90 Prozent), Professoren (82<br />

Prozent) und selbst <strong>der</strong> Lehrer (80 Prozent).<br />

Von zehn abgefragten Berufen rangiert<br />

<strong>der</strong> Journalismus auf Platz sechs.<br />

Noch stärker manifestiert sich die ger<strong>in</strong>ge<br />

öffentliche Reputation von Journalisten<br />

<strong>in</strong> dieser Zahl: Lediglich 35 Prozent<br />

sagen, dass sie ihnen „eher vertrauen“.<br />

Die Mehrheit von zwei Dritteln <strong>der</strong> Deutschen<br />

tut es also nicht. Beim Vertrauen<br />

fällt <strong>der</strong> Journalismus damit im Vergleich<br />

mit an<strong>der</strong>en Berufen noch weiter zurück.<br />

Selbst den nach Wahlen oft öffentlich gescholtenen<br />

Me<strong>in</strong>ungsforschern br<strong>in</strong>gen<br />

die Menschen mehr Vertrauen entgegen.<br />

Beson<strong>der</strong>s alarmierend ist dabei die Tatsache,<br />

dass die nachwachsende Generation<br />

<strong>der</strong> 18- bis 24-jährigen Deutschen die<br />

Journalisten mit 24 Prozent am wenigsten<br />

vertrauenswürdig f<strong>in</strong>det. Wenig überraschend<br />

liegen auch hier Ärzte (79 Prozent),<br />

Professoren (73 Prozent) und Lehrer<br />

(69 Prozent) an <strong>der</strong> Spitze, noch weniger<br />

überraschend die Politiker am unteren<br />

Ende <strong>der</strong> Vertrauensskala. An<strong>der</strong>s<br />

als die Journalisten können sich die Politiker<br />

nicht e<strong>in</strong>mal mit Wertschätzung<br />

durch die Mehrheit <strong>der</strong> Bevölkerung trösten.<br />

Nur gut je<strong>der</strong> vierte Deutsche schätzt,<br />

was sie tun.<br />

Dies alles gehört zu den Ergebnissen<br />

e<strong>in</strong>er deutschlandweiten telefonischen<br />

Repräsentativbefragung, die 2007/2008<br />

durchgeführt wurde und <strong>der</strong>en Ergebnisse<br />

<strong>in</strong> dem Band Entzauberung e<strong>in</strong>es<br />

Berufs zusammengefasst s<strong>in</strong>d. Vergleiche<br />

mit Trenddaten des Instituts für Demoskopie<br />

zeigen, dass es sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat um<br />

e<strong>in</strong>en schleichenden Vertrauensverlust<br />

des Journalismus handelt. Vergleiche mit<br />

Ergebnissen aus den USA o<strong>der</strong> Großbritannien<br />

machen deutlich, dass dies ke<strong>in</strong><br />

re<strong>in</strong> deutsches Phänomen ist, son<strong>der</strong>n<br />

e<strong>in</strong>es, das <strong>in</strong> gleicher Weise <strong>in</strong> entwickelten<br />

Demokratien auftritt. Was also geht<br />

hier vor sich bei e<strong>in</strong>em Beruf, <strong>der</strong> zu<br />

den Eckpfeilern <strong>der</strong> Demokratie gehört<br />

und den lange Zeit <strong>der</strong> Zauber des Unbestechlichen,<br />

Aufrechten und Glamourösen<br />

umgab?<br />

Wenngleich es um die Reputation von<br />

Journalisten nicht ganz so schlecht be-<br />

Nr. 484 · März 2010<br />

Seite 21


Wolfgang Donsbach/Mathias Rentsch<br />

Schaubild: Wertorientierungen von Journalisten: Wovon sie zu viel und zu wenig haben<br />

stellt ist wie bei den Politikern, so sticht<br />

<strong>der</strong> Journalismus durch die unter allen<br />

abgefragten Berufen größte Diskrepanz<br />

zwischen <strong>der</strong> öffentlichen Wertschätzung<br />

und dem entgegengebrachten Vertrauen<br />

heraus. Diese Kluft ist bereits e<strong>in</strong> erstes<br />

Anzeichen dafür, dass die Erwartungen<br />

<strong>der</strong> Menschen an Journalisten und die<br />

Wahrnehmung ihrer Berufspraxis beson<strong>der</strong>s<br />

weit ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>liegen. Während<br />

Wertschätzung auf die gesellschaftliche<br />

Relevanz abhebt und dort die Vorstellungen<br />

des Publikums darüber e<strong>in</strong>fließen,<br />

wie Journalisten se<strong>in</strong> sollen und<br />

welche Dienstleistungen sie zu erbr<strong>in</strong>gen<br />

haben, orientiert sich das Vertrauen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />

Beruf stärker an <strong>der</strong> tatsächlich wahrgenommenen<br />

Qualität <strong>der</strong> Berufspraxis.<br />

Scharfe Kritik an Journalisten<br />

und Medien<strong>in</strong>halten<br />

Das Verhältnis zwischen den Erwartungen<br />

und den Wahrnehmungen <strong>der</strong> Bürger<br />

haben wir genauer unter die Lupe genommen:<br />

Sowohl h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Eigenschaften<br />

<strong>der</strong> Berufsangehörigen als auch<br />

<strong>der</strong> von ihnen produzierten Nachrichten<br />

fragten wir die Bürger e<strong>in</strong>erseits, was sie<br />

erwarten, und an<strong>der</strong>erseits, wie sie die<br />

Realität sehen. Über den Vergleich von<br />

Erwartungen und Wahrnehmungen können<br />

wir zeigen, wo die Menschen ihre<br />

Erwartungen erfüllt sehen beziehungsweise<br />

Defizite erkennen.<br />

Das Ergebnis: Scharfe Kritik üben die<br />

Deutschen an den Journalisten selbst. Sie<br />

nehmen sie viel rücksichtsloser, <strong>in</strong>toleranter<br />

gegenüber den Me<strong>in</strong>ungen an<strong>der</strong>er<br />

und unsozialer wahr, als sie sie gern<br />

hätten. Aus Sicht <strong>der</strong> Bürger setzen Journalisten<br />

zu stark nur ihre eigenen Bedürfnisse<br />

durch und verfügen über unangemessen<br />

viel Macht und E<strong>in</strong>fluss <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Gesellschaft</strong>. Das Ausmaß des politischen<br />

Engagements von Journalisten ist den<br />

Bürgern gerade recht, zudem f<strong>in</strong>den sie<br />

ihren Anspruch an Journalisten, was Eigenverantwortlichkeit,<br />

Fleiß und Ehrgeiz<br />

Seite 22 Nr. 484 · März 2010


Von <strong>der</strong> Politiker- zur Journalistenverdrossenheit?<br />

sowie Unabhängigkeit betrifft, mehr o<strong>der</strong><br />

weniger <strong>in</strong> gerade richtigem Maße umgesetzt<br />

(siehe Schaubild).<br />

Die Nachrichten<strong>in</strong>halte erfüllen die Erwartungen<br />

<strong>der</strong> Bürger etwas besser, dennoch<br />

sieht sich das Publikum unterversorgt:<br />

Die Bürger kritisieren, dass ihnen<br />

<strong>der</strong> Nachrichtenjournalismus zu wenig<br />

H<strong>in</strong>tergründe, Fakten und konkurrierende<br />

Me<strong>in</strong>ungen anbietet. Gleichzeitig klagen<br />

sie über e<strong>in</strong>e zu starke subjektive<br />

Färbung und Emotionalisierung. Ausreichend<br />

bedient sieht sich das Publikum<br />

mit unterhaltsamen Nachrichten und solchen<br />

Nachrichten<strong>in</strong>halten, die ihnen helfen<br />

zu verstehen, was <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

geschieht.<br />

Insgesamt zeigt <strong>der</strong> Abgleich von Erwartungen<br />

und Wahrnehmungen <strong>der</strong><br />

Bürger: Sie fühlen sich <strong>in</strong> vielerlei H<strong>in</strong>sicht<br />

von Journalisten und dem, was ihnen <strong>in</strong><br />

den Medien geboten wird, enttäuscht.<br />

Was die Bürger <strong>der</strong>weil e<strong>in</strong>for<strong>der</strong>n, ist<br />

nicht die Bewirtschaftung abseitiger journalistischer<br />

Äcker, son<strong>der</strong>n die Bestellung<br />

<strong>der</strong> wichtigsten Fel<strong>der</strong> des Journalismus.<br />

Natürlich muss man bei solchen Antworten<br />

e<strong>in</strong> gewisses Maß sozialer Wünschbarkeit<br />

<strong>in</strong> Rechnung stellen. Die weiteren<br />

Ergebnisse – und auch die nahezu gleichlautenden<br />

aus den USA – sprechen aber<br />

dafür, dass die Nachrichtenmedien <strong>in</strong> den<br />

letzten Jahren e<strong>in</strong>en Teil ihres Kapitals als<br />

vertrauenswürdige Lieferanten seriöser<br />

Nachrichten verspielt haben.<br />

Überschreiten ethischer Grenzen<br />

Neben diesen allgeme<strong>in</strong>enWahrnehmungen<br />

des Journalismus haben wir auch ganz<br />

konkret anhand von anschaulichen Fallbeispielen<br />

erforscht, welche E<strong>in</strong>schätzungen<br />

<strong>der</strong> journalistischen Praxis die Triebfe<strong>der</strong><br />

für den Verlust an Glaubwürdigkeit<br />

s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong>er dieser Bereiche waren die ethischen<br />

Grenzen <strong>der</strong> Berichterstattung. Die<br />

Fallbeispiele stellten typische journalistische<br />

Entscheidungsdilemmata dar, die<br />

so <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis vorkommen können o<strong>der</strong><br />

bereits vorgekommen s<strong>in</strong>d. Auch hier<br />

haben wir danach gefragt, welches Verhalten<br />

die Bürger von Journalisten <strong>in</strong> dieser<br />

Situation erwarten und wie sie die<br />

Medienwirklichkeit wahrnehmen.<br />

Die Bürger mahnen e<strong>in</strong>e distanziertere<br />

und fe<strong>in</strong>fühlige Berichterstattung an. Die<br />

Darstellung persönlichen Leids ist für sie<br />

wenig akzeptabel: Acht von zehn sprechen<br />

sich dagegen aus, <strong>in</strong> den Medien<br />

zivile Kriegsopfer abzubilden. Immerh<strong>in</strong><br />

die Hälfte hält es für nicht angemessen,<br />

getötete Soldaten bildlich darzustellen.<br />

Respekt und Pietät wiegen demnach für<br />

die Bürger schwerer als das öffentliche<br />

Interesse o<strong>der</strong> die Absicht, über e<strong>in</strong>e solche<br />

Darstellung die grausame Kriegswirklichkeit<br />

wi<strong>der</strong>zuspiegeln. Gleichzeitig<br />

beklagen die Menschen, dass die<br />

mediale Wirklichkeit häufig von ihren<br />

Vorstellungen abweicht: 58 Prozent sagen,<br />

sie sähen häufig getötete Zivilisten<br />

<strong>in</strong> den Medien, 51 Prozent s<strong>in</strong>d es im<br />

Falle <strong>der</strong> Soldaten.<br />

E<strong>in</strong>e übergroße Mehrheit <strong>der</strong> Deutschen<br />

ist zudem gegen E<strong>in</strong>griffe <strong>in</strong> die<br />

Privatsphäre, auch wenn es dabei um die<br />

Berichterstattung über prom<strong>in</strong>ente Personen<br />

geht. Acht von zehn empf<strong>in</strong>den<br />

das Nachstellen durch Journalisten h<strong>in</strong>ter<br />

dem Feigenblatt e<strong>in</strong>es verme<strong>in</strong>tlichen<br />

Publikums<strong>in</strong>teresses als nicht h<strong>in</strong>nehmbar.<br />

Neun von zehn halten „Schlüssellochjournalismus“<br />

aber für übliche journalistische<br />

Praxis. Der Paparazzo, <strong>der</strong> se<strong>in</strong>en<br />

Opfern für exklusive Aufnahmen<br />

h<strong>in</strong>ter Büschen auflauert, ist also unbeliebt,<br />

gleichzeitig aber stark prägend für<br />

das Bild, das die Bürger vom Journalismus<br />

<strong>in</strong>sgesamt haben.<br />

Dass das Gros <strong>der</strong> Journalisten mit solchen<br />

Praktiken nichts zu tun hat, ja diese<br />

selbst als amoralisch und unseriös geißeln<br />

mag, tritt <strong>in</strong> <strong>der</strong> öffentlichen Wahrnehmung<br />

<strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergrund. Für die<br />

Grenzüberschreitungen E<strong>in</strong>zelner nimmt<br />

die Öffentlichkeit schnell den gesamten<br />

Berufsstand <strong>in</strong> Haftung.<br />

Nr. 484 · März 2010<br />

Seite 23


Wolfgang Donsbach/Mathias Rentsch<br />

Auch hier werden vor allem Journalisten<br />

<strong>der</strong> Boulevardzeitungen e<strong>in</strong>wenden,<br />

dass ihre Verkaufszahlen e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e<br />

Sprache sprechen. In <strong>der</strong> Tat schwanken<br />

die täglichen Verkaufszahlen von Bild<br />

o<strong>der</strong> Express mit <strong>der</strong> Auffälligkeit von<br />

Schlagzeilen und Fotos – und auffällig<br />

ist, was abweichend ist und/o<strong>der</strong> Reiz-<br />

Reaktions-Schemata beim Leser <strong>in</strong> Gang<br />

setzt: sei es <strong>der</strong> freie Busen o<strong>der</strong> die<br />

verkohlte Leiche. Mittel- und langfristig<br />

aber – und dies zeigen die Leserschaftsstudien<br />

– kratzen diese Praktiken des Sensationalismus<br />

und des Schlüssellochjournalismus<br />

am Markenkern des Mediums.<br />

Mächtiger als Politiker<br />

Wie schon die Zahlen im Schaubild zeigten,<br />

attestiert die Mehrheit <strong>der</strong> Bürger den<br />

Journalisten e<strong>in</strong>en enormen E<strong>in</strong>fluss <strong>in</strong> vielen<br />

Bereichen ihres Lebens: Aus Sicht <strong>der</strong><br />

Deutschen bee<strong>in</strong>flussen die Medien am<br />

stärksten jene Themen, über die sie im Familien-<br />

und Freundeskreis sprechen, acht<br />

von zehn erkennen hierauf e<strong>in</strong>en „großen“<br />

o<strong>der</strong> „etwas“ E<strong>in</strong>fluss <strong>der</strong> Medien. Für immer<br />

noch deutliche Mehrheiten nehmen<br />

die Medien E<strong>in</strong>fluss auf ihr Urteil von<br />

Bundesm<strong>in</strong>istern (64 Prozent), auf ihre<br />

Vorstellungen von dem, was die an<strong>der</strong>en<br />

Menschen denken (60 Prozent), für welche<br />

Partei sie bei Wahlen stimmen (57 Prozent)<br />

und welche Waren sie kaufen (56 Prozent).<br />

Über die Wirkungsmacht von Medien<br />

h<strong>in</strong>aus stand schon immer vor allem das<br />

Verhältnis von Journalisten zum politischen<br />

Prozess und zu Politikern im Zentrum<br />

<strong>der</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung um das<br />

richtige Berufsverständnis. Die traditionelle<br />

Gretchenfrage <strong>der</strong> politischen <strong>Kommunikation</strong>sforschung<br />

lautet: S<strong>in</strong>d Journalisten<br />

nur Mittler o<strong>der</strong> Motor <strong>der</strong> öffentlichen<br />

Me<strong>in</strong>ung? Das Urteil <strong>der</strong> Bürger<br />

ist e<strong>in</strong>deutig; ihrer Me<strong>in</strong>ung nach s<strong>in</strong>d<br />

Journalisten ke<strong>in</strong>e ehrlichen Makler, son<strong>der</strong>n<br />

zu häufig politische Eiferer <strong>in</strong> eigener<br />

Sache. Die Berichterstattung über Politik<br />

wird von fast zwei Dritteln <strong>der</strong> Deutschen<br />

als zu wenig objektiv kritisiert, obwohl<br />

gerade Objektivität von ebenfalls<br />

zwei Dritteln als wesentliches Qualitätskriterium<br />

von Politikberichterstattung erkannt<br />

und deshalb erwartet wird. Außerdem<br />

glauben 65 Prozent, Journalisten<br />

unterdrückten häufig Stellungnahmen<br />

von Experten, die e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Me<strong>in</strong>ung<br />

verträten als sie selbst.<br />

Die Bürger begegnen <strong>der</strong> politischen<br />

Macht von Journalisten mit großem Misstrauen:<br />

55 Prozent <strong>der</strong> Bürger stimmen<br />

<strong>der</strong> Aussage „voll und ganz“ o<strong>der</strong> „eher“<br />

zu, Journalisten seien mächtiger als Politiker.<br />

E<strong>in</strong>e deutliche Mehrheit hält die<br />

„vierte Gewalt“ für mächtiger als die<br />

erste und zweite. Trotz aller Politik- und<br />

Politikerverdrossenheit: Die Dom<strong>in</strong>anz<br />

<strong>der</strong> Medien sche<strong>in</strong>t für die Menschen<br />

ke<strong>in</strong>e Lösung zu se<strong>in</strong>. Gleichzeitig sagen<br />

nämlich mehr als drei von vier Befragten,<br />

die Journalisten für mächtiger als Politiker<br />

halten, sie fänden das nicht gut.<br />

Korruption<br />

durch Wettbewerbsdruck<br />

Auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> wachsenden Kommerzialisierung<br />

<strong>der</strong> Medien liegt e<strong>in</strong>e Ursache für<br />

das schwache öffentliche Ansehen und<br />

Vertrauen <strong>der</strong> Journalisten. Die Bürger<br />

zeichnen das Bild e<strong>in</strong>es Journalismus mit<br />

starken wirtschaftlichen Abhängigkeiten.<br />

Für die Wahrnehmung <strong>der</strong> gesellschaftlichen<br />

Rolle <strong>der</strong> Medien ist es ausgesprochen<br />

bedenklich, dass e<strong>in</strong>e deutliche<br />

Mehrheit Journalisten als käuflich beschreibt:<br />

Rund zwei Drittel <strong>der</strong> Bürger<br />

glauben jeweils daran, dass Journalisten<br />

(<strong>in</strong> unserem Fallbeispiel g<strong>in</strong>g es um e<strong>in</strong>en<br />

Motorjournalisten) sich ihre Recherchen<br />

häufig ohne Bedenken bezahlen lassen<br />

und dass die Interessen von Anzeigenkunden<br />

nicht nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> Anzeigenabteilung<br />

gehört werden, son<strong>der</strong>n letztlich<br />

auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Berichterstattung Berücksichtigung<br />

f<strong>in</strong>den. Dass die Bürger dies richtig<br />

sehen, haben im Übrigen <strong>in</strong>zwischen<br />

mehrere Studien bewiesen.<br />

Seite 24 Nr. 484 · März 2010


Von <strong>der</strong> Politiker- zur Journalistenverdrossenheit?<br />

Diese Praxis ersche<strong>in</strong>t vielen Deutschen<br />

nicht e<strong>in</strong>mal verwerflich: Knapp die<br />

Hälfte <strong>der</strong> Befragten f<strong>in</strong>det nämlich nichts<br />

Anstößiges daran, dass Journalisten und<br />

das, was sie schreiben, käuflich s<strong>in</strong>d. Unter<br />

den jungen Bürgern ist die Akzeptanz<br />

dieser Praktiken, die mit unabhängigem<br />

Journalismus nichts zu tun haben, dabei<br />

beson<strong>der</strong>s groß. Wenn die Unabhängigkeit<br />

als zentrale Kategorie des Journalismus<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em demokratisch verfassten<br />

Land <strong>in</strong>frage gestellt wird, ja nicht e<strong>in</strong>mal<br />

mehr von e<strong>in</strong>er großen Mehrheit erwartet<br />

wird, dann liegt es wirklich im Argen. Der<br />

Befund, dass die jungen Bürger mehrheitlich<br />

käuflichen Journalismus für ke<strong>in</strong>e kritikwürdige<br />

Ausnahmeersche<strong>in</strong>ung, son<strong>der</strong>n<br />

für den natürlichen Normalfall halten,<br />

muss den Alarm auslösen. Denn hier<br />

sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>getreten zu se<strong>in</strong>, was nicht nur<br />

gefährlich, son<strong>der</strong>n auch schwer umzukehren<br />

ist: Die Wahrnehmung <strong>der</strong> journalistischen<br />

Praxis hat bereits den Anspruch<br />

m<strong>in</strong>imiert.<br />

Letztlich geht es im Journalismus immer<br />

um die Frage, ob Medien<strong>in</strong>halte nach<br />

dem Kriterium <strong>der</strong> Attraktivität durch<br />

Unterhaltung o<strong>der</strong> nach dem Kriterium<br />

<strong>der</strong> Nützlichkeit für übergeordnete Ziele<br />

– etwa demokratietheoretischer Natur –<br />

zusammengestellt werden. E<strong>in</strong>e steigende<br />

Personalisierung, mehr Negativismus<br />

und Skandalisierung sowie e<strong>in</strong> höherer<br />

Anteil von soft news statt hard news<br />

s<strong>in</strong>d durch viele kommunikationswissenschaftliche<br />

Studien nachgewiesene Entwicklungen<br />

bei den Medien<strong>in</strong>halten.<br />

Die Menschen distanzieren sich von<br />

allzu viel Boulevard: Die übergroße<br />

Mehrheit <strong>der</strong> Deutschen wünscht sich<br />

e<strong>in</strong>e sachlichere Nachrichtenberichterstattung,<br />

die sich stärker an Fakten orientiert,<br />

Ereignisse und Entwicklungen ausführlich<br />

und objektiv darstellt. Über<br />

e<strong>in</strong>en sogenannten Schlagzeilentest und<br />

die <strong>in</strong>dexierten Antworten auf differenzierte<br />

Fragen zu den gewünschten Nachrichten<strong>in</strong>halten<br />

haben wir die Befragten<br />

verschiedenen Nutzungsgruppen zuordnen<br />

können. Nur je<strong>der</strong> Vierte gehört demnach<br />

zu jenem Teil des Publikums, <strong>der</strong><br />

sich hauptsächlich für seichtere soft news<br />

und e<strong>in</strong>en unterhaltsamen Boulevardjournalismus<br />

<strong>in</strong>teressiert.<br />

Die Frage, ob man sich aus den Medien<br />

heute überhaupt noch gut genug <strong>in</strong>formieren<br />

könne, verne<strong>in</strong>en unter allen Befragten<br />

24 Prozent. Je<strong>der</strong> Vierte ist also<br />

<strong>der</strong> Auffassung, dass die Medien so e<strong>in</strong>seitig<br />

und so lückenhaft <strong>in</strong>formieren, dass<br />

sich <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelne Bürger eben nicht mehr<br />

umfassend über se<strong>in</strong>e Umwelt und Fragen,<br />

die ihn unmittelbar betreffen, <strong>in</strong>formieren<br />

kann.<br />

Nach unseren Daten zeigen sich vor<br />

allem diejenigen von <strong>der</strong> Nachrichtenqualität<br />

enttäuscht, die hohe Erwartungen<br />

an die Medien haben: Während die Bürger,<br />

die e<strong>in</strong>en boulevardesken Nachrichtenjournalismus<br />

bevorzugen, <strong>der</strong> gegenwärtigen<br />

Informationsqualität <strong>der</strong> Medien<br />

eher unkritisch gegenüberstehen,<br />

stehen die Nachrichtenmedien vor allem<br />

bei den anspruchsvolleren (und formal<br />

besser gebildeten) Bürgern – und damit<br />

ihrem Kernpublikum – <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kritik.<br />

Auch dieser Befund ist deckungsgleich<br />

mit Ergebnissen aus den USA.<br />

Verschwimmende Grenzen,<br />

Verlust an Identität<br />

Die bisher angeführten Zahlen spiegeln<br />

die Wahrnehmung des Journalismus und<br />

<strong>der</strong> Medien durch die Bürger und nicht <strong>in</strong><br />

jedem Fall die objektive Performanz des<br />

Journalismus wi<strong>der</strong>. Dennoch stellt bereits<br />

e<strong>in</strong>e solche Wahrnehmung e<strong>in</strong> Problem<br />

dar, weil sich <strong>der</strong> Beruf offensichtlich<br />

nicht so darstellt, wie es se<strong>in</strong>er Rolle <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Demokratie angemessen wäre. Aber auch<br />

die Bevölkerung hat e<strong>in</strong> normatives Problem:<br />

Ihr fehlt es an e<strong>in</strong>er klaren Vorstellung<br />

davon, was Journalismus eigentlich<br />

ist und was nicht. 63 Prozent <strong>der</strong> Deutschen<br />

zählen Redakteure von Kundenzeitschriften,<br />

mit 53 Prozent noch immer<br />

Nr. 484 · März 2010<br />

Seite 25


Wolfgang Donsbach/Mathias Rentsch<br />

mehr als die Hälfte zählen Pressesprecher<br />

genauso zu den Journalisten wie Kommentatoren<br />

(66 Prozent) o<strong>der</strong> Nachrichtensprecher<br />

(58 Prozent). Die Bürger machen<br />

ke<strong>in</strong>en Unterschied mehr zwischen<br />

Journalismus und Public Relations.<br />

Zudem fehlt <strong>der</strong> Bevölkerung offenbar<br />

das Gespür für e<strong>in</strong>e weitere Unterscheidung:<br />

jener zwischen professionellem<br />

Journalismus und den vielen Angeboten<br />

im Internet, die nicht von Medienredaktionen,<br />

son<strong>der</strong>n zumeist von journalistischen<br />

Laien produziert werden. 28 Prozent<br />

<strong>der</strong> Bürger halten e<strong>in</strong>en Blogger<br />

zweifelsfrei für e<strong>in</strong>en Journalisten.<br />

Selbstverständlich s<strong>in</strong>d unter den Bloggern<br />

auch professionelle Journalisten, sie<br />

bilden aber die Ausnahme, denn <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Regel – das haben etliche Studien gezeigt<br />

– haben Blogger ke<strong>in</strong>en journalistischen<br />

H<strong>in</strong>tergrund und völlig an<strong>der</strong>e <strong>Kommunikation</strong>sabsichten<br />

als ausgebildete Journalisten.<br />

Die Phänomene, die durch die Digitalisierung<br />

und das Internet möglich geworden<br />

s<strong>in</strong>d und häufig unter dem Etikett<br />

„Bürgerjournalismus“ zusammengefasst<br />

werden, s<strong>in</strong>d gewiss journalismusähnlich,<br />

journalismusgleich aber s<strong>in</strong>d sie nicht.<br />

Die Grenzverwischung zwischen professionellem<br />

Journalismus und parajournalistischen<br />

Aktivitäten gilt wie<strong>der</strong>um<br />

beson<strong>der</strong>s für die jungen Bürger: Unter<br />

den 18- bis 24-Jährigen ist sogar die Hälfte<br />

<strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ung, Blogger seien ohne Zweifel<br />

auch Journalisten. Wie diese Altersgruppe<br />

den Journalismus sieht, ist e<strong>in</strong><br />

Seismograf dafür, wie sich die Identität<br />

des professionellen Journalismus zunehmend<br />

verwischt, wie <strong>der</strong> Journalismus<br />

se<strong>in</strong>e Konturen verliert.<br />

Gefahr e<strong>in</strong>er Weimarisierung<br />

<strong>der</strong> öffentlichen <strong>Kommunikation</strong>?<br />

Was bedeutet all dies für Journalismus<br />

und <strong>Gesellschaft</strong>? Genauso wie bei den<br />

Politikern berührt dieser Vertrauensverlust<br />

nicht e<strong>in</strong> re<strong>in</strong> aus berufsständischen<br />

Gründen relevantes Prestige e<strong>in</strong>er bestimmten<br />

Profession, son<strong>der</strong>n das Funktionieren<br />

des Geme<strong>in</strong>wesens. Die Menschen<br />

müssen denjenigen, die <strong>Kommunikation</strong><br />

herstellen sollen, vertrauen –<br />

mangelt es daran, fehlt den <strong>Gesellschaft</strong>smitglie<strong>der</strong>n<br />

die objektive Basis<br />

für ihre subjektive Urteilsbildung, sie<br />

ziehen sich enttäuscht zurück o<strong>der</strong> konzentrieren<br />

sich auf für sie glaubwürdige,<br />

objektiv aber verzerrte <strong>Kommunikation</strong>sangebote<br />

von Akteuren mit Partikular<strong>in</strong>teressen.<br />

Die Weimarer Republik<br />

mit ihren Tausenden ideologisch gebundenen<br />

Zeitungen und Zeitschriften<br />

ist das beste Beispiel dafür, wie e<strong>in</strong>e<br />

<strong>Gesellschaft</strong> kommunikativ zerfällt –<br />

und letztlich auch politisch ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>bricht.<br />

Droht uns heute e<strong>in</strong>e Weimarisierung<br />

<strong>der</strong> öffentlichen <strong>Kommunikation</strong>? Gerade<br />

die Segmentierung und Fragmentierung<br />

von <strong>Kommunikation</strong> verlangt e<strong>in</strong>e<br />

gesellschaftliche Instanz, die prüft, ordnet<br />

und verantwortungsvoll und ohne<br />

dom<strong>in</strong>ante Eigen<strong>in</strong>teressen mit Informationen<br />

umgeht. Dies ist die Aufgabe von<br />

professionellen Journalisten – und hierauf<br />

muss sich <strong>der</strong> gesamte Berufsstand<br />

wie<strong>der</strong> mehr bes<strong>in</strong>nen. Wenn sich Journalismus<br />

unterscheidbar macht von Angeboten,<br />

die wie Journalismus anmuten,<br />

es aber nicht s<strong>in</strong>d, und damit wie<strong>der</strong> se<strong>in</strong>e<br />

Konturen schärft, wenn er also se<strong>in</strong>en<br />

Markenkern wie<strong>der</strong> stärker bedient, dann<br />

hat er e<strong>in</strong>e Chance, sich aus se<strong>in</strong>em <strong>der</strong>zeitigen<br />

Dilemma zu befreien, das er zum<br />

Teil mitverschuldet hat. Aber natürlich<br />

braucht dieser professionelle Journalismus<br />

auf <strong>der</strong> Nachfrageseite auch e<strong>in</strong> Publikum,<br />

das sich an öffentlicher <strong>Kommunikation</strong><br />

beteiligen will. Das ist dann e<strong>in</strong>e<br />

Aufgabe für die politische Bildung.<br />

Seite 26 Nr. 484 · März 2010


Zu den Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />

des Wandels<br />

von Medien, politischer<br />

<strong>Kommunikation</strong> und Kultur<br />

Neue Medienpolitik<br />

für neue Medien<br />

Robert Grünewald<br />

E<strong>in</strong>en tief greifenden Wandel <strong>der</strong> Medienkultur<br />

konnte man im vergangenen<br />

Jahr bei <strong>der</strong> Jahrestagung <strong>der</strong> Deutschen<br />

<strong>Gesellschaft</strong> für Publizistik- und <strong>Kommunikation</strong>swissenschaft<br />

<strong>in</strong> Bremen registrieren.<br />

In den über dreißig Panels g<strong>in</strong>g<br />

es vor allem um das Vordr<strong>in</strong>gen des<br />

Internets <strong>in</strong> den Medienalltag <strong>der</strong> Bürger<br />

und das damit verbundene verän<strong>der</strong>te<br />

Medienverhalten, aber auch die verän<strong>der</strong>te<br />

Basis im Verhältnis von Politik und<br />

Medien wurde ausführlich diskutiert.<br />

Die zunehmende Bedeutung politischer<br />

Öffentlichkeit im Netz und die aufseiten<br />

<strong>der</strong> Politik zu registrierende größere und<br />

ständig wachsende Bedeutungszumessung<br />

für die Medien waren weitere Themen.<br />

Sie werden künftig e<strong>in</strong>e große Rolle<br />

spielen, wenn man danach fragt, wie <strong>der</strong><br />

Wandel <strong>der</strong> Medienkultur die Politik verän<strong>der</strong>t<br />

hat und weiter verän<strong>der</strong>n wird.<br />

Dies zeigt auch die Tatsache, dass die<br />

diesjährige Tagung <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong> noch<br />

e<strong>in</strong>en Schritt weiter geht und fragt, wie<br />

die Medienentwicklungen die <strong>Kommunikation</strong><br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong> verän<strong>der</strong>n.<br />

Die bei Weitem gravierendste Verän<strong>der</strong>ung<br />

ist allerd<strong>in</strong>gs bereits dar<strong>in</strong> zu<br />

sehen, dass sich das Internet als Informationsmedium<br />

durchgesetzt hat, wenn<br />

auch nennenswert zunächst nur <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

jüngeren Generation. Nach <strong>der</strong> Allensbacher<br />

Computer- und Technikanalyse<br />

2004 bis 2009 hat sich <strong>in</strong> den letzten fünf<br />

Jahren <strong>in</strong> <strong>der</strong> Altersgruppe <strong>der</strong> 20- bis 40-<br />

Jährigen <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong>er von zwanzig auf<br />

über vierzig Prozent verdoppelt, die angaben,<br />

das Internet als wichtigstes Infor-<br />

mationsmedium zu nutzen. Zwar rangiert<br />

das Fernsehen mit 71 Prozent immer noch<br />

an erster Stelle, aber zum<strong>in</strong>dest die Zeitungen<br />

landen mit 39 Prozent bereits<br />

h<strong>in</strong>ter dem Informationsbezug aus dem<br />

Netz. Allerd<strong>in</strong>gs muss man dabei berücksichtigen,<br />

dass auch im Internet Zeitung<br />

gelesen wird und Rundfunkempfang<br />

möglich ist. Dennoch wird so e<strong>in</strong> Mediennutzungswandel<br />

angezeigt, <strong>der</strong> sich <strong>in</strong><br />

s<strong>in</strong>kenden Auflagenzahlen <strong>der</strong> Zeitungen<br />

und zurück gehenden E<strong>in</strong>schaltquoten bei<br />

Hörfunk und Fernsehen nie<strong>der</strong>schlägt. Es<br />

wäre vermessen zu ignorieren, dass diese<br />

Entwicklung nicht auch Folgen für Demokratie,<br />

politische Kultur und Partizipation<br />

<strong>in</strong> unserem Geme<strong>in</strong>wesen hat. Zu<br />

analysieren ist vor allem, ob <strong>der</strong> Wandel<br />

<strong>der</strong> Medienkultur nicht auch mit e<strong>in</strong>em<br />

Wertewandel e<strong>in</strong>hergeht, wor<strong>in</strong> dieser<br />

Wertewandel besteht und welche Konsequenzen<br />

sich daraus für die gesellschaftliche<br />

<strong>Kommunikation</strong> ergeben. Nicht zuletzt<br />

muss danach gefragt werden, ob nicht<br />

auch die Politik gefor<strong>der</strong>t ist, den sich daraus<br />

ergebenden Handlungsbedarf zu<br />

identifizieren und gegebenenfalls zu reagieren.<br />

Wie jede Medien<strong>in</strong>novation bisher<br />

geht auch <strong>der</strong> kommunikative Durchbruch<br />

des Internets mit Sorgen e<strong>in</strong>her, die<br />

man zusammenfassend als Furcht vor e<strong>in</strong>em<br />

gesellschaftlichen Werteverfall charakterisieren<br />

kann. Allerd<strong>in</strong>gs lehrt <strong>der</strong><br />

Blick <strong>in</strong> die Geschichte <strong>der</strong> Medien<strong>in</strong>novationen,<br />

dass diese Befürchtungen immer<br />

auch politische und ethische Instanzen<br />

auf den Plan gerufen haben, die<br />

Nr. 484 · März 2010<br />

Seite 27


Robert Grünewald<br />

e<strong>in</strong>er solchen Entwicklung des Werteverfalls<br />

entgegengewirkt haben. Auch unser<br />

Rechtssystem ist e<strong>in</strong>e solche Instanz, die<br />

letztlich ethisch fundiert ist. Dies deshalb,<br />

weil sie auf e<strong>in</strong>er Verfassung beruht, die<br />

wie<strong>der</strong>um von ethischen Voraussetzungen<br />

lebt, die sie selbst nicht geschaffen<br />

hat. Daher ist durchaus auch das Rechtssystem<br />

durch den von vielen befürchteten<br />

Werteverfall herausgefor<strong>der</strong>t. Im Falle<br />

<strong>der</strong> Medien geht es dabei um die Medienregulierung,<br />

die schon e<strong>in</strong>e Reihe von<br />

wertebezogenen Schutzzäunen errichtet<br />

hat, wie etwa <strong>der</strong> Blick auf die umfassende<br />

Regulierung beim Jugendmedienschutz<br />

zeigt. Doch wo zeigen sich überhaupt<br />

die behaupteten gravierenden<br />

Än<strong>der</strong>ungen und Verschiebungen, und<br />

ist tatsächlich überall und an je<strong>der</strong> Stelle<br />

medienpolitischer Handlungsbedarf festzustellen?<br />

Mediengesetzgebung<br />

auch für das Internet<br />

Zunächst muss e<strong>in</strong>geräumt werden,<br />

dass die Politik bislang nur e<strong>in</strong>en sehr<br />

begrenzten Reaktions- und Handlungsspielraum<br />

hat, da das Internet sich <strong>der</strong> politischen<br />

Medienregulierung durch den<br />

Gesetzgeber – <strong>in</strong> Deutschland die Bundeslän<strong>der</strong><br />

– weitgehend entzieht, da es<br />

als nichtl<strong>in</strong>eares Medium nicht als publizistisch<br />

relevant betrachtet wird. Allenfalls<br />

dem Bund stehen zum Beispiel<br />

im Informations- und <strong>Kommunikation</strong>sdienstegesetz<br />

(IuKDG) begrenzte Regulierungsmöglichkeiten<br />

zur Verfügung.<br />

Damit stellt sich die Frage, ob es nicht an<br />

<strong>der</strong> Zeit ist, auch medienpolitisch umzudenken<br />

und zum<strong>in</strong>dest bei den neuen<br />

Medien dem Bund e<strong>in</strong> Mitwirkungsrecht<br />

bei <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> medienrechtlichen Regulierung<br />

e<strong>in</strong>zuräumen und die Mediengesetzgebung<br />

von den klassischen Medien<br />

auf das Internet auszudehnen. Die<br />

Europäische Union betrachtet die Medien<br />

<strong>in</strong>sgesamt längst als e<strong>in</strong>heitliche „Regulierungsmasse“,<br />

wie <strong>der</strong> Blick auf die<br />

jüngst <strong>in</strong> Kraft getretene Richtl<strong>in</strong>ie für audiovisuelle<br />

Medien zeigt. Den Mitgliedslän<strong>der</strong>n<br />

werden allerd<strong>in</strong>gs eigene Regulierungen<br />

im Detail zugestanden. Es wäre<br />

wünschenswert, dass <strong>der</strong> zugestandene<br />

Handlungsspielraum <strong>in</strong> Deutschland<br />

entsprechend genutzt wird. Dies wäre <strong>in</strong>sofern<br />

angemessen, als sich mit dem diagnostizierten<br />

Medienwandel auch <strong>der</strong><br />

politische <strong>Kommunikation</strong>srahmen verän<strong>der</strong>t<br />

hat. Dafür gibt es e<strong>in</strong>e Reihe von<br />

Indizien.<br />

Alle<strong>in</strong> mit Blick auf das <strong>in</strong>tramediäre<br />

Konkurrenzverhältnis <strong>der</strong> Medien untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

hat es <strong>in</strong> <strong>der</strong> jüngsten Vergangenheit<br />

gravierende Verschiebungen gegeben.<br />

Es ist nicht zu übersehen, dass<br />

klassische Tageszeitungen immer mehr<br />

<strong>der</strong> Konkurrenz durch web-basierte Medien<br />

ausgesetzt s<strong>in</strong>d, wie Beispiele nicht<br />

nur <strong>in</strong> Deutschland, son<strong>der</strong>n auch im<br />

Ausland zeigen. So sieht sich die renommierte<br />

Wash<strong>in</strong>gton Post e<strong>in</strong>em zunehmenden<br />

Konkurrenzdruck durch e<strong>in</strong><br />

Internetportal ausgesetzt, das durch ehemalige<br />

Redakteure <strong>der</strong> Zeitung gegründet<br />

wurde und durch mehrmals<br />

wöchentlich ersche<strong>in</strong>ende Pr<strong>in</strong>tausgaben<br />

mit Anzeigen und Werbung ergänzt<br />

wird. Das neue Medium hat sich zur Aufgabe<br />

gemacht, den Wash<strong>in</strong>gtoner Regierungsalltag<br />

bis <strong>in</strong> die letzten Ecken auszuleuchten,<br />

und trifft damit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hauptstadt<br />

den Nerv <strong>der</strong> Leser, vor allem <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> politischen Klasse. Vor allem aber zeigen<br />

sich immer mehr Interessengruppen,<br />

die mit Anzeigenkampagnen E<strong>in</strong>fluss auf<br />

die politische Elite <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton nehmen<br />

wollen, was dem neuen Medium e<strong>in</strong>en<br />

ungeahnten Wettbewerbsvorteil verschafft.<br />

Das Beispiel zeigt, dass man von<br />

<strong>der</strong> klassischen Aufteilung nach Mediengattungen<br />

nicht mehr ausgehen kann.<br />

Dies sollte und muss auch Folgen für die<br />

Medienregulierung haben. Denn es kann<br />

nicht se<strong>in</strong>, dass Mediengesetze nur für die<br />

gedruckte Form bestimmter Medien<strong>in</strong>halte<br />

gelten, die Internetausgabe dagegen<br />

Seite 28 Nr. 484 · März 2010


Neue Medienpolitik für neue Medien<br />

von <strong>der</strong> Gesetzgebung unberührt bleibt.<br />

Dies würde web-basierten Medien <strong>in</strong><br />

Deutschland e<strong>in</strong>en beträchtlichen Wettbewerbsvorteil<br />

verschaffen, wenn sie den<br />

Restriktionen <strong>der</strong> klassischen Medienregulierung<br />

nicht unterlägen.<br />

Schon haben die unterschiedlichen Regulierungstiefen<br />

zwischen neuen und<br />

klassischen Medien auch <strong>in</strong> Deutschland<br />

bereits zu tiefen Verwerfungen geführt,<br />

die dauerhaft nicht h<strong>in</strong>genommen werden<br />

können, weil sie den politischen<br />

<strong>Kommunikation</strong>srahmen nachhaltig beschädigen.<br />

Konflikte weichen <strong>in</strong>s Netz aus<br />

So kann hierzulande zunehmend e<strong>in</strong> Ausweichen<br />

publizistischer Inhalte <strong>in</strong>s Netz<br />

dort registriert werden, wo Journalisten<br />

Gesetzgebung, Regulierung und vor allem<br />

Sanktionen durch den publizistischen<br />

Arbeitgeber umgehen wollen. Auf <strong>der</strong><br />

Internetseite „Wir <strong>in</strong> NRW“ etwa schreiben<br />

Journalisten kritische Texte über die<br />

Politik <strong>in</strong> Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalen, dies allerd<strong>in</strong>gs<br />

jeweils unter e<strong>in</strong>em Pseudonym,<br />

das die wahre Identität des Autors verdeckt.<br />

Es handelt sich dabei um Redakteure<br />

angesehener Tageszeitungen und<br />

des Rundfunks. Sie weichen mit ihren<br />

Texten <strong>in</strong> das Internet aus, weil sie diese <strong>in</strong><br />

ihrer Zeitung o<strong>der</strong> Rundfunkberichterstattung<br />

offensichtlich nicht publizieren<br />

können. Letztendlich gehen sie damit publizistischen<br />

und politischen Konflikten<br />

aus dem Weg, auf die aber e<strong>in</strong>e mo<strong>der</strong>ne<br />

<strong>Gesellschaft</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Demokratie nicht verzichten<br />

kann, wenn sie sich weiterentwickeln<br />

will. Auch die Medienpolitik kann<br />

dies nicht unberührt lassen, denn mit <strong>der</strong><br />

Publikation im Netz entzieht sich die<br />

Berichterstattung jeglicher medienrechtlicher<br />

Relevanz. Gegendarstellungen können<br />

zum Beispiel nicht verlangt werden,<br />

und auch sonst gelten medienrechtliche<br />

Vorschriften nur <strong>in</strong> sehr e<strong>in</strong>geschränktem<br />

Maße. Von <strong>der</strong> Umgehung des Medienrechts<br />

bis zur nachhaltigen Beschädigung<br />

journalistischer Berufsnormen dürfte <strong>der</strong><br />

Weg allerd<strong>in</strong>gs nicht mehr weit se<strong>in</strong>. Ob<br />

dieser Wandel <strong>der</strong> Medien- und Journalismuskultur<br />

allerd<strong>in</strong>gs noch konstitutiv<br />

für e<strong>in</strong> demokratisches Geme<strong>in</strong>wesen ist,<br />

bleibt dah<strong>in</strong>gestellt.<br />

Gleichförmigkeit<br />

<strong>der</strong> Informationsbeschaffung<br />

E<strong>in</strong> weiteres Indiz für e<strong>in</strong>en tief greifenden<br />

Wandel <strong>der</strong> Journalismuskultur<br />

durch den E<strong>in</strong>fluss des Web ist die zunehmende<br />

Konsonanz <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ungen.<br />

Während früher die journalistische Recherche<br />

noch vergleichsweise mühsam<br />

war, zum<strong>in</strong>dest zeitaufwendig und mit<br />

<strong>der</strong> Überw<strong>in</strong>dung von Zutrittsbarrieren<br />

verbunden, genügt heute <strong>der</strong> Klick <strong>in</strong>s<br />

Netz, um sich alle aktuellen und relevanten<br />

Informationen zu beschaffen. Parteien<br />

und Fraktionen etwa veröffentlichen ihre<br />

Positionen zu bestimmten politischen<br />

Fragen auf ihren Webseiten, und am<br />

nächsten Tag kann man diese nochmals <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Presse <strong>in</strong> verkürzter Form nachlesen.<br />

Dieser Verteilmechanismus beför<strong>der</strong>t geradezu<br />

e<strong>in</strong>e Gleichförmigkeit <strong>der</strong> Informationsbeschaffung<br />

und damit <strong>der</strong> journalistischen<br />

Arbeitsweisen. Wenn aber<br />

Arbeitstechniken und Auswahlregeln <strong>der</strong><br />

Journalisten übere<strong>in</strong>stimmen, kommt<br />

e<strong>in</strong>e Konsonanz <strong>der</strong> Berichterstattung zustande,<br />

die auf das Publikum wie e<strong>in</strong>e<br />

Bestätigung wirkt (Elisabeth Noelle-<br />

Neumann, Die Schweigespirale). Weil alle<br />

es so machen, verbreitert sich <strong>der</strong> journalistische<br />

Ma<strong>in</strong>stream auch me<strong>in</strong>ungsmäßig:<br />

Alle Medien s<strong>in</strong>d heute für etwas,<br />

um wenig später fast ohne Ausnahme gegen<br />

die gleiche Sache zu se<strong>in</strong>. Zu beobachten<br />

war dies zuletzt beim sogenannten<br />

Konjunkturpaket, das <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en ersten<br />

beiden Teilen zunächst fast e<strong>in</strong>hellige Zustimmung<br />

fand, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em dritten Teil,<br />

dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz,<br />

dagegen fast unisono abgelehnt wurde.<br />

Auf die Spitze getrieben wird die Gleichförmigkeit<br />

<strong>der</strong> Medienkritik dabei durch<br />

Nr. 484 · März 2010<br />

Seite 29


Robert Grünewald<br />

die Konzentration auf e<strong>in</strong>e steuerrechtliche<br />

Marg<strong>in</strong>alie, nämlich die Absenkung<br />

des Mehrwertsteuersatzes für Hotelübernachtungen.<br />

Das Netz erleichtert zweifellos<br />

die journalistische Informationsbeschaffung<br />

und Recherche; weil es aber<br />

alle mit demselben beliefert, ebnet es <strong>in</strong>dividuelle<br />

Positionierung und Me<strong>in</strong>ungsvielfalt<br />

im Journalismus e<strong>in</strong>.<br />

„Subjektive Mediatisierung“<br />

<strong>der</strong> Politik<br />

Die Wucht konsonanter politischer Stimmungswechsel<br />

ist es auch, die e<strong>in</strong>en Kulturwandel<br />

<strong>der</strong> politischen <strong>Kommunikation</strong><br />

anzeigt. Unter dieser Überschrift berichteten<br />

die Düsseldorfer Medienwissenschaftler<br />

Gerhard Vowe und Marco<br />

Dohle <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Studie, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Befragung<br />

von politischen Akteuren zugrunde liegt,<br />

dass bei Politikern mittlerweile e<strong>in</strong>e<br />

grundlegend verän<strong>der</strong>te Sichtweise <strong>der</strong><br />

Medien vorherrsche. Den Medien werde<br />

von <strong>der</strong> Politik deutlich mehr Macht zugeordnet<br />

als früher. Vor allem aber werde<br />

den Medien neuerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong> deutlich größerer<br />

politischer E<strong>in</strong>fluss zugeschrieben<br />

als den Bürgern – mit wachsen<strong>der</strong> Tendenz.<br />

Die Orientierung <strong>der</strong> Politik an <strong>der</strong><br />

Medienlogik – so muss man h<strong>in</strong>zufügen –<br />

wird durch das Internet geför<strong>der</strong>t, weil<br />

dort die Berichterstattung sozusagen<br />

schon vorgeprägt ist und e<strong>in</strong>en beschleunigten<br />

Journalismus ermöglicht. Das Internet<br />

diktiert sozusagen Takt und Tempo<br />

<strong>der</strong> Medien und <strong>der</strong> politischen <strong>Kommunikation</strong>.<br />

Während die Politik früher<br />

auf e<strong>in</strong>e Tagesschau-Meldung reagiert<br />

hat, so reagiert sie heute auf die Meldung<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Internet-Veröffentlichung,<br />

so dass die Reaktion bereits <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tagesschau<br />

präsentiert werden kann. Diese<br />

Anpassung an die Medienlogik nennen<br />

Vowe und Dohle „subjektive Mediatisierung“<br />

<strong>der</strong> Politik. Damit soll offensichtlich<br />

angedeutet werden soll, dass die Anpassungsleistung<br />

von <strong>der</strong> Politik ausgeht,<br />

weil sie mit <strong>der</strong> subjektiven Wahrnehmung<br />

<strong>der</strong> Politiker korrespondiert. Je höher<br />

aber <strong>der</strong> E<strong>in</strong>fluss <strong>der</strong> Medien e<strong>in</strong>geschätzt<br />

wird, so die beiden Medienforscher,<br />

desto negativer wird er auch<br />

beurteilt. Man muss ke<strong>in</strong> hellsichtiger<br />

Prophet se<strong>in</strong>, um zu dem Ergebnis zu<br />

kommen, dass bei weiterer Beschleunigung<br />

dieses Prozesses das Verhältnis von<br />

Medien und Politik möglicherweise irreparablen<br />

Schaden erleiden wird. Auch<br />

hier zeichnet sich schon jetzt medienpolitischer<br />

Handlungsbedarf ab, auch wenn<br />

zunächst weitere wissenschaftliche Analyse<br />

vonnöten ist.<br />

Die Piratenpartei<br />

E<strong>in</strong>en mit Händen greifbaren <strong>in</strong>ternet-basierten<br />

Wandel <strong>der</strong> politischen <strong>Kommunikation</strong><br />

konnte man auch bei <strong>der</strong> letzten<br />

Bundestagswahl registrieren. Mit zwei<br />

Prozent <strong>der</strong> Zweitstimmen auf Anhieb errang<br />

e<strong>in</strong>e Partei e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>drucksvolles Ergebnis,<br />

die sich erst drei Jahre zuvor gegründet<br />

hatte – aus Mitglie<strong>der</strong>n, die sich<br />

im Netz kennengelernt hatten. Auch <strong>der</strong><br />

Bundestagswahlkampf <strong>der</strong> „Piratenpartei“<br />

fand fast ausschließlich im Netz statt.<br />

In e<strong>in</strong>em Hamburger Stadtteil kam die<br />

Partei schließlich auf über zehn Prozent<br />

<strong>der</strong> Wählerstimmen. Nun s<strong>in</strong>d Parteitage<br />

über das Virtuelle h<strong>in</strong>aus avisiert, jedoch<br />

f<strong>in</strong>det die <strong>Kommunikation</strong> zwischen Partei<br />

und Anhängern weiterh<strong>in</strong> fast ausschließlich<br />

im Netz statt. In den Internet-<br />

Debatten werden ebenfalls die Beiträge<br />

von Nichtmitglie<strong>der</strong>n berücksichtigt. Der<br />

Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte<br />

besche<strong>in</strong>igt den „Piraten“ daher e<strong>in</strong> hohes<br />

Maß an <strong>in</strong>nerparteilicher Demokratie,<br />

mit dem diese den etablierten Parteien e<strong>in</strong><br />

großes Stück voraus seien. Dass mittlerweile<br />

nicht nur das Gründungsthema <strong>der</strong><br />

Partei, die Netzpolitik, diskutiert wird,<br />

son<strong>der</strong>n auch Debatten über Sozial- o<strong>der</strong><br />

Außenpolitik geführt werden und diese<br />

Themen <strong>in</strong> e<strong>in</strong> noch zu beschließendes<br />

Parteiprogramm aufgenommen werden<br />

sollen, dokumentieren den Fortschritt <strong>der</strong><br />

Seite 30 Nr. 484 · März 2010


Neue Medienpolitik für neue Medien<br />

„Internet-Partei“ auf dem Weg zu e<strong>in</strong>em<br />

etablierteren Status <strong>der</strong> Parteiwerdung.<br />

Die Mitglie<strong>der</strong>zahl, die nach eigenen Angaben<br />

mittlerweile die 10 000er-Marke<br />

überschritten hat, ist e<strong>in</strong> weiterer Beleg<br />

dafür. Allerd<strong>in</strong>gs dürfte zum<strong>in</strong>dest auf<br />

mittlere Sicht die Netzpolitik, wie weiland<br />

bei den Grünen die Umweltpolitik,<br />

die Hauptantriebsfe<strong>der</strong> bleiben, womit<br />

die „Piratenpartei“ trotz aller Fortschritte<br />

über den Status e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>-Themen-Partei<br />

nicht h<strong>in</strong>auskäme. Ihr Thema, die Netzpolitik<br />

und hier neben dem Datenschutz<br />

vor allem die Abschaffung des Urheberrechts,<br />

birgt allerd<strong>in</strong>gs gesellschaftsverän<strong>der</strong>nden<br />

Sprengstoff. Ihre For<strong>der</strong>ungen,<br />

würden sie heute umgesetzt, bedeuteten<br />

das Ende <strong>der</strong> Arbeit von Verlagen,<br />

Autoren und Künstlern. Und niemand<br />

zweifelt daran, dass die größte „Volkspartei<br />

im Internet“ (Handelsblatt) ihre<br />

For<strong>der</strong>ungen auch wahr machen würde,<br />

wenn sich politische Mehrheiten dafür<br />

f<strong>in</strong>den ließen.<br />

Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> politischen Kultur<br />

Dass die Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

vom Netz ausgeht, sche<strong>in</strong>t unbestritten.<br />

Sie ist jedoch nur die e<strong>in</strong>e Seite <strong>der</strong> Medaille.<br />

„Um politisch aktiv zu se<strong>in</strong>, dafür<br />

muss sich heute niemand mehr aus se<strong>in</strong>em<br />

Haus bewegen.“ Der Politikwissenschaftler<br />

Christoph Bieber deutet damit<br />

e<strong>in</strong>e Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> politischen Kultur<br />

an, die mit <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong>sverän<strong>der</strong>ung<br />

e<strong>in</strong>hergeht. <strong>Politische</strong> Kultur wird immer<br />

noch verstanden als die Orientierung<br />

politischen Handelns an Me<strong>in</strong>ungen, E<strong>in</strong>stellungen<br />

und Werten von Menschen,<br />

die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Summe die Bevölkerung e<strong>in</strong>er<br />

<strong>Gesellschaft</strong> beziehungsweise e<strong>in</strong>es Staates<br />

bilden. Dazu gehört auch die politische<br />

Sozialisation <strong>in</strong> <strong>der</strong> Familie, <strong>in</strong> Schulen,<br />

Parteien, Peergroups und Medien sowie<br />

Demokratiezufriedenheit, politische<br />

Beteiligung und das Vertrauen <strong>in</strong> die politischen<br />

Institutionen. Wenn nun wichtige<br />

Kulturationsprozesse wie politische<br />

Sozialisation und Partizipation e<strong>in</strong>er ganzen<br />

Generation o<strong>der</strong> <strong>digitalen</strong> Klasse sich<br />

weitgehend nur noch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Teilbereich<br />

wie dem Internet vollziehen und<br />

sich dort konzentrieren, so bedeutet dies<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat e<strong>in</strong>en gravierenden Wandel <strong>der</strong><br />

politischen Kultur: Sozialisationsorte wie<br />

Familie, Schulen und Vere<strong>in</strong>e verlieren<br />

damit an Bedeutung. Allerd<strong>in</strong>gs: <strong>Politische</strong><br />

Partizipation wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> Summe<br />

nicht ger<strong>in</strong>ger, sie än<strong>der</strong>t sich nur und<br />

verän<strong>der</strong>t dabei die Politik. Dar<strong>in</strong> besteht<br />

e<strong>in</strong>e latente Gefahr auch für die politische<br />

<strong>Kommunikation</strong>, dass sie ihre Adressaten<br />

zu verlieren droht, wenn sie auf diese<br />

Verän<strong>der</strong>ung durch Verän<strong>der</strong>ung ihrer<br />

selbst nicht reagiert. Da aber auch die Medienlogiken<br />

von <strong>der</strong> politischen <strong>Kommunikation</strong><br />

e<strong>in</strong>kalkuliert werden und somit<br />

Bestandteil <strong>der</strong> politischen Kultur s<strong>in</strong>d,<br />

bietet <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ungsprozess neben<br />

den e<strong>in</strong>gangs erwähnten Risiken e<strong>in</strong>es beschleunigten<br />

Journalismus auch große<br />

Chancen für die politische Kultur. Denn<br />

als nicht l<strong>in</strong>eares Medium bietet das Netz<br />

dem Nutzer die Chance zur Vertiefung<br />

von Information und Wissen – an<strong>der</strong>s als<br />

das flüchtige Medium Fernsehen, das politische<br />

Inhalte nur selektiv und verkürzt<br />

vermittelt. Dies anzuerkennen bedeutet<br />

aber auch, dass die Politik das Internet<br />

nicht mehr nur als Verteilnetz sieht, son<strong>der</strong>n<br />

auch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er publizistischen Bedeutung<br />

begreift und <strong>in</strong> die Medienregulierung<br />

mit e<strong>in</strong>bezieht. Die zunehmende<br />

Konvergenz von klassischen Medien und<br />

Netzmedien und <strong>der</strong> fortschreitende Medienwandel<br />

wird dies über kurz o<strong>der</strong><br />

lang ohneh<strong>in</strong> erfor<strong>der</strong>lich machen. H<strong>in</strong>zu<br />

kommt <strong>der</strong> politische E<strong>in</strong>fluss <strong>der</strong> Netzöffentlichkeit,<br />

die zurzeit noch als Parallelphänomen<br />

auftritt, im Zuge <strong>der</strong> technischen<br />

Medienkonvergenz aber über kurz<br />

o<strong>der</strong> lang mit <strong>der</strong> klassischen Medienöffentlichkeit<br />

emulgieren und von dieser<br />

nicht mehr zu trennen se<strong>in</strong> wird.<br />

Darauf setzen <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie auch die<br />

Fernsehanstalten, bei denen vor allem die<br />

Nr. 484 · März 2010<br />

Seite 31


Robert Grünewald<br />

öffentlich-rechtlichen diese Entwicklung<br />

für sich nutzen, <strong>in</strong>dem ihnen nichts an<strong>der</strong>es<br />

e<strong>in</strong>fällt als die Expansion <strong>in</strong>s Netz<br />

und das Vordr<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> neue technische<br />

Empfangswelten wie iPhone und Mobilfunk,<br />

die für den Rundfunkempfang<br />

eigentlich nicht entwickelt wurden.<br />

Auch wenn dies mit dem EU-Recht und<br />

dem Rundfunkstaatsvertrag vere<strong>in</strong>bar<br />

se<strong>in</strong> mag, so zeigt sich hier doch e<strong>in</strong> gewisser<br />

medienpolitischer Überprüfungsbedarf,<br />

denn den Medienwandel machen<br />

sich mit ARD und ZDF gerade diejenigen<br />

zunutze, die ihn sich aufgrund ihrer Gebührenalimentierung<br />

leisten können. Der<br />

Medienwandel darf jedoch nicht dazu<br />

führen, dass er am Ende e<strong>in</strong>e Zweiklassengesellschaft<br />

unter den Anbietern begünstigt.<br />

Wie weit <strong>der</strong> Prozess <strong>der</strong> Rundfunkausbreitung<br />

<strong>in</strong>s Netz bereits fortgeschritten<br />

ist, darauf macht e<strong>in</strong>e Studie<br />

<strong>der</strong> Medienwissenschaftler<strong>in</strong> Joan Krist<strong>in</strong><br />

Bleicher aufmerksam. Sie spricht von<br />

e<strong>in</strong>er zunehmenden Hybridisierung <strong>der</strong><br />

Rundfunkangebote im Netz und belegt<br />

dies vor allem mit <strong>der</strong> Ablösung <strong>der</strong><br />

klassischen Programmmodelle durch Navigationsmodelle<br />

im Internetfernsehen.<br />

Dabei kommt es <strong>in</strong> steigendem Maße zu<br />

nutzergeneriertenProgramm<strong>in</strong>halten,sodass<br />

sich mit herkömmlichen Unterscheidungskriterien<br />

gar nicht mehr bestimmen<br />

lässt, ob es sich noch um Rundfunk<br />

(Broad-) o<strong>der</strong> E<strong>in</strong>zelme<strong>in</strong>ung (Microcast<strong>in</strong>g)<br />

handelt. So gerät <strong>der</strong> Rundfunk <strong>in</strong>sgesamt<br />

<strong>in</strong> den Grenzbereich se<strong>in</strong>er demokratischen<br />

Legitimation, denn e<strong>in</strong> Je<strong>der</strong>mannrecht<br />

zur Programmveranstaltung<br />

ist <strong>in</strong> den geltenden Mediengesetzen ausdrücklich<br />

ausgeschlossen. Möglich ist<br />

dies bislang nur, weil es sich um e<strong>in</strong> Phänomen<br />

handelt, das <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em unregulierten,<br />

weil dem Rundfunk nicht zugerechneten<br />

Bereich auftritt.<br />

Verantwortung zur Regulierung<br />

Allerd<strong>in</strong>gs ist es vor allem die oben skizzierte<br />

Abwan<strong>der</strong>ung des Journalismus<br />

aus dem regulierten <strong>in</strong> den unregulierten<br />

Bereich, die deutlich macht: Die Medienpolitik<br />

darf sich nicht ihrer Verantwortung<br />

zur Regulierung entziehen. Der<br />

Bundes<strong>in</strong>nenm<strong>in</strong>ister hat versichert, <strong>der</strong><br />

Staat garantiere auch die Freiheit des<br />

Internets. Nicht nur, weil er dies auch<br />

als Verfassungsm<strong>in</strong>ister gesagt hat, son<strong>der</strong>n<br />

weil es sich um e<strong>in</strong>e Garantie handelt,<br />

die <strong>der</strong>jenigen des Artikel 5 des<br />

Grundgesetzes gleich kommt, ist es notwendig,<br />

den damit verbundenen Gesetzgebungsvorbehalt<br />

mit Leben zu erfüllen.<br />

Die Schutzgarantie <strong>der</strong> Verfassung für<br />

Presse, Hörfunk und Fernsehen sollte<br />

auf das Internet ausgeweitet werden –<br />

bei allen politischen und kompetenzrechtlichen<br />

Konsequenzen, die e<strong>in</strong> solches<br />

Unterfangen auslösen würde. Die<br />

CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat beschlossen,<br />

e<strong>in</strong>e Enquete-Kommission zu<br />

beantragen, die aufzeigen soll, wie Internet<br />

und Digitalisierung das gesellschaftliche<br />

Leben verän<strong>der</strong>n und welche politischen<br />

Konsequenzen daraus zu ziehen<br />

s<strong>in</strong>d. In <strong>der</strong> Begründung heißt es, dass<br />

es sich beim Internet nicht mehr nur um<br />

e<strong>in</strong>e technische Plattform handelt, son<strong>der</strong>n<br />

wie bei den klassischen Medien um<br />

e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>tegralen Bestandteil des Lebens<br />

<strong>der</strong> Menschen. Der Untersuchungsauftrag<br />

zielt unter an<strong>der</strong>em auf Erkenntnisse<br />

zur Medienverantwortung, zur<br />

Medien- und Me<strong>in</strong>ungsvielfalt, zu Wettbewerb<br />

und Marktsituation, Jugendschutz<br />

sowie Persönlichkeitsschutz und<br />

weitere Regelungsbereiche, wie sie aus<br />

<strong>der</strong> bisheri-gen Mediengesetzgebung bekannt<br />

s<strong>in</strong>d. Bis zur Umsetzung <strong>der</strong> Erkenntnisse<br />

von Enquete-Kommissionen<br />

ist es erfahrungsgemäß zwar meist e<strong>in</strong><br />

weiter Weg, aber dennoch handelt es<br />

sich um e<strong>in</strong>en wichtigen Schritt <strong>in</strong> die<br />

richtige Richtung, um für den Medienwandel<br />

den notwendigen medienpolitischen<br />

Ordnungsrahmen zu schaffen und<br />

e<strong>in</strong>e neue Phase <strong>der</strong> Medienpolitik e<strong>in</strong>zuläuten.<br />

Seite 32 Nr. 484 · März 2010


Hoffnungen,<br />

Erwartungen,<br />

Befürchtungen<br />

– e<strong>in</strong>e Bilanz<br />

Der medienpolitische Urknall<br />

Jürgen Wilke<br />

Der Begriff, ja das Bild vom Urknall, mit<br />

dem vor e<strong>in</strong>em Vierteljahrhun<strong>der</strong>t <strong>der</strong><br />

Start des dualen Systems im Rundfunk<br />

gekennzeichnet wurde, ist 1987 durch<br />

e<strong>in</strong> Buch von zwei se<strong>in</strong>erzeit am Ludwigshafener<br />

Kabelpilotprojekt Beteiligten<br />

<strong>in</strong> Umlauf gebracht worden (Stephan<br />

Ory/Ra<strong>in</strong>er Sura: Der Urknall im Medienlabor.<br />

Das Kabelpilotprojekt Ludwigshafen,<br />

Berl<strong>in</strong> 1987). Es handelt sich um e<strong>in</strong>e Anleihe<br />

bei <strong>der</strong> physikalischen Kosmologie.<br />

Doch ist die Inanspruchnahme dieses Begriffs<br />

<strong>in</strong> unserem Zusammenhang ziemlich<br />

irreführend, zum<strong>in</strong>dest wenn man<br />

damit die Plötzlichkeit e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>tretenden<br />

Ereignisses me<strong>in</strong>t. Am Anfang des medialen<br />

Universums befand man sich ohneh<strong>in</strong><br />

auch nicht mehr.<br />

Von Plötzlichkeit konnte bei <strong>der</strong> E<strong>in</strong>führung<br />

des privaten Rundfunks <strong>in</strong><br />

Deutschland jedenfalls ke<strong>in</strong>e Rede se<strong>in</strong>.<br />

Sieht man von den ersten Initiativen schon<br />

<strong>in</strong> den 1950er-Jahren ab, die notwendigerweise<br />

an den technischen und rechtlichen<br />

Umständen damals scheitern mussten,<br />

zog sich die Etablierung des Privatfunks<br />

mehr als e<strong>in</strong> Jahrzehnt h<strong>in</strong>, lässt man die<br />

Rechnung mit <strong>der</strong> E<strong>in</strong>setzung <strong>der</strong> Kommission<br />

für den Ausbau des technischen<br />

<strong>Kommunikation</strong>ssystems (KtK) im Jahre<br />

1973 beg<strong>in</strong>nen. Der Weg zum sogenannten<br />

„Urknall“ war langwierig, bed<strong>in</strong>gt<br />

vor allem durch den medienpolitischen<br />

Grundsatzstreit zwischen den Unionsparteien<br />

und <strong>der</strong> SPD. Nicht nur die E<strong>in</strong>richtung<br />

<strong>der</strong> Kabelpilotprojekte war strittig.<br />

Zumal um ihre Ausgestaltung und F<strong>in</strong>anzierung<br />

gab es Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen.<br />

Die Etablierung des privaten Rundfunks<br />

war von politischen Absichten bestimmt<br />

und wurde mit Befürchtungen<br />

begleitet. Leitend war die Absicht, das<br />

Monopol <strong>der</strong> öffentlich-rechtlichen Anstalten<br />

aufzuheben, vor allem das Fernsehen<br />

zu „entautorisieren“ und durch<br />

Konkurrenz den Menschen mehr Auswahl<br />

und Freiheit zu ermöglichen. Befürchtet<br />

wurden von den Gegnern negative<br />

Konsequenzen für Individuen und<br />

<strong>Gesellschaft</strong>. Man sprach beispielsweise<br />

von Reizüberflutung, drohen<strong>der</strong> Abhängigkeit,<br />

Programmverflachung und von<br />

Geschäft statt Geme<strong>in</strong>wohl. Dabei wurde<br />

unterstellt, dass die öffentlich-rechtliche<br />

Organisationsform per se das Geme<strong>in</strong>wohl<br />

verwirkliche.<br />

Welche Folgen, so ist heute nach<br />

fünfundzwanzig Jahren zu fragen, hatte<br />

die E<strong>in</strong>führung des privaten Rundfunks<br />

<strong>in</strong> Deutschland? Die Antworten darauf<br />

werden im Folgenden ohne Anspruch auf<br />

Vollständigkeit <strong>in</strong> neun Punkten zusammengefasst:<br />

Drastische Erhöhung<br />

<strong>der</strong> Sen<strong>der</strong> und Programme<br />

1. Die Zahl <strong>der</strong> Sen<strong>der</strong> und <strong>der</strong> Programmangebote<br />

<strong>in</strong> Hörfunk und Fernsehen<br />

hat sich drastisch erhöht. 1984 gab<br />

es <strong>in</strong> Deutschland dreizehn öffentlichrechtliche<br />

Rundfunksen<strong>der</strong>, die sieben<br />

Fernsehprogramme (ARD, ZDF, fünf<br />

Dritte) und 31 Radioprogramme ausstrahlten.<br />

2007 gab es fünfzehn öffentlichrechtliche<br />

und 354 privat-kommerzielle<br />

Fernsehprogramme sowie 56 öffentlich-<br />

Nr. 484 · März 2010<br />

Seite 33


Jürgen Wilke<br />

rechtliche und 228 private Radioprogramme.<br />

Diese Vermehrung hat sich <strong>in</strong><br />

mehreren Wellen vollzogen, sprunghaft<br />

erst recht <strong>in</strong> den letzten Jahren, bed<strong>in</strong>gt<br />

durch die Digitalisierung. Anfang <strong>der</strong><br />

Achtzigerjahre waren es nur Kabel und<br />

Satelliten gewesen, die die Enge des terrestrischen<br />

Frequenzspektrums erweiterten.<br />

Inzwischen s<strong>in</strong>d neue Technologien<br />

h<strong>in</strong>zugetreten, die die Übertragungskapazitäten<br />

nochmals enorm potenziert<br />

haben, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e das Internet. Freilich<br />

geht damit e<strong>in</strong>e Fragmentierung <strong>der</strong> Sen<strong>der</strong>landschaft<br />

e<strong>in</strong>her, die den Handlungsund<br />

Ref<strong>in</strong>anzierungsspielraum für die<br />

e<strong>in</strong>zelnen Anbieter immer stärker partialisiert.<br />

Verän<strong>der</strong>te Reichweiten und<br />

Marktanteile<br />

2. Verän<strong>der</strong>t haben sich <strong>der</strong> Radio- und<br />

Fernsehempfang. Nach anfänglicher Stabilität<br />

hat sich die tägliche Reichweite des<br />

Fernsehens erhöht. 1982 hatte das Fernsehen<br />

im Jahresdurchschnitt bei <strong>der</strong> Bevölkerung<br />

e<strong>in</strong>e Reichweite pro Tag von<br />

72 Prozent, 2005 waren es 79 Prozent. In<br />

ger<strong>in</strong>gerem Umfang stieg die Hörfunk-<br />

Reichweite von 76 Prozent auf 84 Prozent.<br />

Im Jahr 1984 verteilten sich die Marktanteile<br />

<strong>der</strong> Sehdauer im Wochendurchschnitt<br />

wie folgt: ARD 46 Prozent, ZDF 44<br />

Prozent, Dritte Programme zehn Prozent.<br />

Im Jahre 2007 hatte das Erste im Jahresdurchschnitt<br />

e<strong>in</strong>en Marktanteil von 13,4<br />

Prozent, das ZDF von 12,8 Prozent, die Dritten<br />

zusammengenommen von 13,3 Prozent,<br />

RTL von 12,5 Prozent, Sat.1 von 9,5<br />

Prozent und ProSieben von 6,5 Prozent. Dabei<br />

beruht <strong>der</strong> Vorsprung <strong>der</strong> Öffentlich-<br />

Rechtlichen <strong>in</strong> den letzten Jahren vor allem<br />

auf Sportübertragungen. Sie alle<strong>in</strong> können<br />

bisher dafür die gestiegenen Kosten für die<br />

Übertragungsrechte aufbr<strong>in</strong>gen.<br />

Erhöhter Konsum<br />

3. Erhöht haben sich <strong>der</strong> Radio- und<br />

Fernsehkonsum. 1983/1984 betrug im<br />

Durchschnitt die Hördauer <strong>der</strong> Gesamtbevölkerung<br />

pro Tag 159 M<strong>in</strong>uten, die<br />

tägliche Sehdauer 119 M<strong>in</strong>uten, 2007 waren<br />

es beim Radio 186 M<strong>in</strong>uten und beim<br />

Fernsehen 208 M<strong>in</strong>uten. Die Erhöhung<br />

beträgt beim Fernsehen etwas weniger als<br />

die Hälfte, beim Radio e<strong>in</strong> Sechstel. Das<br />

ist zwar <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e beim Fernsehen e<strong>in</strong><br />

nicht ger<strong>in</strong>ger Anstieg, dürfte aber noch<br />

ke<strong>in</strong>eswegs jene Abhängigkeit bedeuten,<br />

die vor <strong>der</strong> E<strong>in</strong>führung des Privatfunks<br />

befürchtet wurde. Zudem ist die Fernsehnutzungsdauer<br />

leicht rückläufig: Von<br />

2004 bis 2006 lag sie schon bei 210 bis<br />

212 M<strong>in</strong>uten, was durch die beson<strong>der</strong>en<br />

Sportereignisse dieser Jahre bed<strong>in</strong>gt gewesen<br />

se<strong>in</strong> dürfte. Als „Bremse“ wirkt zudem<br />

die zunehmende Internetnutzung.<br />

Da man <strong>in</strong>zwischen auch im Internet<br />

fernsehen kann, wird die Messung <strong>der</strong><br />

Reichweite immer komplizierter.<br />

Bemerkenswerte „Kanaltreue“<br />

4. Die Rundfunknutzung hat sich diversifiziert.<br />

Das gilt <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e für das<br />

Fernsehen. Im dualen System werden <strong>in</strong><br />

den Haushalten selbstverständlich mehr<br />

Programme genutzt, als dies im öffentlich-rechtlichen<br />

Monopol möglich war.<br />

An<strong>der</strong>erseits hat sich gezeigt, dass die<br />

persönliche Auswahl aus den Programmen<br />

limitiert bleibt. Natürlich hängt<br />

das von <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen Verfügbarkeit<br />

ab. Man misst das mit dem sogenannten<br />

Kanalrepertoire (auch relevant set genannt),<br />

das heißt <strong>der</strong> Anzahl <strong>der</strong> vom E<strong>in</strong>zelnen<br />

genutzten Programme. Tatsächlich<br />

begnügen sich knapp zwei Drittel <strong>der</strong><br />

Fernsehzuschauer mit drei Programmen.<br />

Mehr als neunzig Prozent <strong>der</strong> gesamten<br />

Fernsehnutzung entfallen auf nicht mehr<br />

als zehn Sen<strong>der</strong>. Die befürchtete Fragmentierung<br />

des Publikums ist jedenfalls<br />

nicht e<strong>in</strong>getreten. Denn bei vielen Zuschauern<br />

lässt sich auch e<strong>in</strong>e bemerkenswerte<br />

„Kanaltreue“ feststellen. Immerh<strong>in</strong><br />

gibt es e<strong>in</strong>e deutliche Spaltung zwischen<br />

<strong>der</strong> älteren Bevölkerung, die die öffent-<br />

Seite 34 Nr. 484 · März 2010


Der medienpolitische Urknall<br />

Am 30. April 1986 hatte <strong>der</strong> bundesweit erste private UKW-Hörfunksen<strong>der</strong> „Radio 4“<br />

se<strong>in</strong>en Sendebetrieb aufgenommen. Hier beim Sendebeg<strong>in</strong>n um 18.30 Uhr <strong>in</strong> Ludwigshafen<br />

Bernhard Vogel, damaliger M<strong>in</strong>isterpräsident von Rhe<strong>in</strong>land-Pfalz,<br />

Dieter Maurer, Mo<strong>der</strong>ator des Sen<strong>der</strong>s, und Klaus Ulbert, Fallschirmspr<strong>in</strong>ger (v.l.n.r.).<br />

© picture-alliance/dpa, Foto: Christ<strong>in</strong>e Pfund<br />

lich-rechtlichen Programme bevorzugt,<br />

und den jüngeren Menschen, die mehr<br />

die privaten Sen<strong>der</strong> e<strong>in</strong>schalten. Bei den<br />

Jüngeren haben daher auch die Privaten<br />

den höheren Marktanteil.<br />

Ökonomische Effekte<br />

5. Von <strong>der</strong> E<strong>in</strong>führung des Privatfunks<br />

wurden auch ökonomische Effekte erwartet.<br />

An zwei Indikatoren soll dies belegt<br />

werden. Der Privatfunk, von Pay-<br />

TV abgesehen, muss sich ausschließlich<br />

durch Werbee<strong>in</strong>nahmen f<strong>in</strong>anzieren. Tatsächlich<br />

ist <strong>der</strong> Werbemarkt <strong>in</strong> Deutschland<br />

<strong>in</strong> den letzten fünfundzwanzig<br />

Jahren enorm gewachsen, vor allem im<br />

Bereich <strong>der</strong> Fernsehwerbung. Die Gesamtwerbeaufwendungen<br />

<strong>in</strong> Deutschland<br />

wuchsen, gerechnet <strong>in</strong> Euro, von<br />

7,65 Milliarden 1984 auf 20,35 Milliarden<br />

2006. Den Löwenanteil an <strong>der</strong> Steigerung<br />

machte die Fernsehwerbung aus. Sie<br />

erhöhte sich von 680 Millionen Euro 1984<br />

auf 4,1 Milliarden 2006. Die Hörfunkwerbung<br />

wuchs (<strong>in</strong> ger<strong>in</strong>gerem Umfang) von<br />

268 Millionen Euro auf 680 Millionen<br />

Euro. Der Anteil <strong>der</strong> Fernsehwerbung<br />

an den gesamten jährlichen Werbeaufwendungen<br />

<strong>in</strong> Deutschland verdoppelte<br />

sich. Allerd<strong>in</strong>gs hatte auch das Fernsehen<br />

unter <strong>der</strong> Werbekrise Anfang des Jahrtausends<br />

zu leiden (2002 sank <strong>der</strong> genannte<br />

Anteil um 11,5 Prozent), und dies<br />

wird auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> gegenwärtigen F<strong>in</strong>anzkrise<br />

nicht an<strong>der</strong>s se<strong>in</strong>.<br />

Effekte auf dem Arbeitsmarkt<br />

6. E<strong>in</strong> weiterer ökonomischer Indikator<br />

können die Arbeitsmarkteffekte se<strong>in</strong>. Wie<br />

viele neue Beschäftigungsmöglichkeiten<br />

und Stellen die E<strong>in</strong>führung des privaten<br />

Rundfunks nach sich zog, lässt sich kaum<br />

präzise beziffern. Die Zahl <strong>der</strong> fest angestellten<br />

und sonstigen Mitarbeiter im privaten<br />

Fernsehen stieg sozusagen von null<br />

bis 1996 auf über 8900. Von 1998 bis 2001<br />

kam es zu e<strong>in</strong>em weiteren kräftigen Beschäftigtenaufbau.<br />

Danach g<strong>in</strong>g die Zahl<br />

Nr. 484 · März 2010<br />

Seite 35


Jürgen Wilke<br />

<strong>der</strong> Beschäftigten im Rahmen von Maßnahmen<br />

<strong>der</strong> Kostene<strong>in</strong>sparung zurück.<br />

Seitdem setzte wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Phase langsamen<br />

Anstiegs e<strong>in</strong>. 2006 betrug die Gesamtzahl<br />

<strong>der</strong> Beschäftigten im privaten<br />

Fernsehen 16 500, davon 9400 Beschäftigte<br />

ohneTeleshopp<strong>in</strong>g-Kanäle.2001hatte<br />

<strong>der</strong>en Zahl 12 500 betragen, was e<strong>in</strong>en<br />

Höhepunkt darstellte. Im privaten Hörfunk<br />

wurden 1996 7400 Beschäftigte gezählt.<br />

Hier gab es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folgezeit weniger<br />

Ausschläge. 2006 waren es noch 6700.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs geben diese Zahlen ke<strong>in</strong>e h<strong>in</strong>reichende<br />

Vorstellung von den Arbeitsmarkteffekten,<br />

weil beispielsweise die<br />

Arbeitsplätze, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fernsehproduktionswirtschaft<br />

und an<strong>der</strong>weitig mittelbar<br />

mit dem Privatfunk verbunden s<strong>in</strong>d,<br />

nicht e<strong>in</strong>berechnet s<strong>in</strong>d. Die Personalstärke<br />

<strong>der</strong> öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten<br />

ist mit 52 000 noch weit<br />

größer.<br />

Folgen für die Programmgestaltung<br />

7. Das Aufkommen des Privatfunks<br />

hatte erhebliche Folgen für die Programme.<br />

Im Hörfunk bildeten sich bestimmte<br />

Programmformate heraus (Formatradios),<br />

die durch ihre „Musikfarben“<br />

auf die jeweilige werberelevante<br />

Zielgruppe ausgerichtet s<strong>in</strong>d. Im Fernsehen<br />

entstanden e<strong>in</strong>erseits Vollprogramme,<br />

außerdem aber auch Spartenprogramme<br />

(für Nachrichten, Sport,<br />

Videoclips). Die Vollprogramme entwickelten,<br />

um Zuschauer zu gew<strong>in</strong>nen, e<strong>in</strong>e<br />

ganze Reihe neuer Sendeformen mit Boulevard-Charakter.<br />

Dazu gehören diverse<br />

Shows, Talk-Sendungen, Gew<strong>in</strong>nspiele,<br />

Vorabendserien, Reality-TV und so weiter.<br />

Mit nicht wenigen dieser Sendungen<br />

erregten die privaten Sen<strong>der</strong> Anstoß wie<br />

jüngst wie<strong>der</strong> RTL mit <strong>der</strong> Serie „Erwachsen<br />

auf Probe“. Die öffentliche Aufmerksamkeit<br />

kam ihnen im Grunde zupass.<br />

Bemängelt wird das Fehlen seriöser Information.<br />

Sie gibt es zwar auch, aber<br />

meist <strong>in</strong> den „Fensterprogrammen“, die<br />

den privaten Sen<strong>der</strong>n zur „Vielfaltsicherung“<br />

auferlegt s<strong>in</strong>d.<br />

8. Der Privatfunk hat nicht nur eigene<br />

Programmformate hervorgebracht, son<strong>der</strong>n<br />

auch Auswirkungen gehabt auf<br />

die öffentlich-rechtlichen Programme. Erfolgreiche<br />

Sendeformen <strong>der</strong> Privaten s<strong>in</strong>d<br />

von ARD und ZDF übernommen o<strong>der</strong><br />

zum<strong>in</strong>dest adaptiert worden. Solche Anpassung<br />

wird seit Jahren unter dem Stichwort<br />

„Konvergenz“ diskutiert. Während<br />

ARD und ZDF dies unter H<strong>in</strong>weis auf<br />

ihre nach wie vor hohen Informationsanteile<br />

bestreiten, s<strong>in</strong>d doch Tendenzen<br />

<strong>der</strong> Angleichung nicht zu übersehen.<br />

„Entautorisierung“ des Fernsehens?<br />

9. Schwer messbar ist, <strong>in</strong>wieweit die beabsichtigte<br />

„Entautorisierung“ des Fernsehens<br />

e<strong>in</strong>getreten ist. Das Fernsehen<br />

würden, wie Erhebungen zeigen, heute<br />

zum<strong>in</strong>dest nicht weniger Leute vermissen<br />

als noch Mitte <strong>der</strong> Achtzigerjahre,<br />

wohl aber das Radio. Allerd<strong>in</strong>gs dürfte<br />

die B<strong>in</strong>dung eher noch stärker über die<br />

Unterhaltung laufen. Zuschauer e<strong>in</strong>gebüßt<br />

haben jedenfalls auch die Nachrichtensendungen<br />

von ARD und ZDF, die<br />

gleichwohl immer noch stärker genutzt<br />

werden als die <strong>der</strong> privaten Anbieter.<br />

Größer s<strong>in</strong>d die Verluste bei den politischen<br />

Magaz<strong>in</strong>en.<br />

Enttäuschte<br />

Hoffnung <strong>der</strong> Zeitungsverleger<br />

In e<strong>in</strong>em Vierteljahrhun<strong>der</strong>t privaten<br />

Rundfunks haben sich durchaus nicht alle<br />

Erwartungen erfüllt. Dies gilt vor allem<br />

für die Erwartungen <strong>der</strong> Zeitungsverleger,<br />

die lange Zeit auf die Zulassung privaten<br />

Rundfunks gedrängt hatten und<br />

dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Chance für e<strong>in</strong> zusätzliches<br />

Geschäftsfeld erblickten, <strong>in</strong> dem sie ihre<br />

Unternehmen auch bei abnehmen<strong>der</strong><br />

Auflagenentwicklung würden sichern<br />

können.<br />

In <strong>der</strong> Gründungsphase des privaten<br />

Rundfunks waren die Zeitungsverleger<br />

Seite 36 Nr. 484 · März 2010


Der medienpolitische Urknall<br />

durchaus präsent. 167 Zeitungsverleger<br />

waren an <strong>der</strong> PKS, <strong>der</strong> Programmgesellschaft<br />

für Kabel- und Satellitenrundfunk,<br />

beteiligt, aus <strong>der</strong> Sat.1 hervorg<strong>in</strong>g. Wegen<br />

<strong>der</strong> großen Verluste <strong>in</strong> den ersten Jahren<br />

zogen sich die Zeitungsverleger und auch<br />

die Zeitschriftenhäuser Burda und Bauer<br />

aus diesem Sen<strong>der</strong> zurück. Im Grunde<br />

gibt es Anteilseigner aus <strong>der</strong> Presse heute<br />

nur noch im privaten Hörfunk. Der Versuch<br />

<strong>der</strong> Übernahme <strong>der</strong> ProSiebenSat.1.<br />

Media AG durch den Spr<strong>in</strong>ger Verlag<br />

scheiterte bekanntlich vor drei Jahren am<br />

deutschen Kartellrecht beziehungsweise<br />

an dessen restriktiver Auslegung. Wozu<br />

das geführt hat und mit welchen Folgen –<br />

e<strong>in</strong>er Übernahme durch die F<strong>in</strong>anz<strong>in</strong>vestoren<br />

Permira/KKR –, ist bekannt. Der<br />

Sen<strong>der</strong> ist hoch verschuldet, muss Programmkosten<br />

e<strong>in</strong>sparen. Vor diesem<br />

H<strong>in</strong>tergrund s<strong>in</strong>d auch die E<strong>in</strong>wände <strong>der</strong><br />

Zeitungs- und Zeitschriftenverleger gegen<br />

e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> ihren Augen extensive Erlaubnis<br />

von Internetaktivitäten für ARD und<br />

ZDF im jüngsten Rundfunkän<strong>der</strong>ungsstaatsvertrag<br />

zu verstehen.<br />

Medienpolitische Konvergenzen<br />

Der private Rundfunk ist <strong>in</strong> Deutschland<br />

vor e<strong>in</strong>em Vierteljahrhun<strong>der</strong>t gegen<br />

große Wi<strong>der</strong>stände durchgesetzt worden.<br />

Diese Wi<strong>der</strong>stände haben sich <strong>in</strong>zwischen<br />

weitgehend gelegt, was nicht heißt,<br />

dass es ke<strong>in</strong>e Kritik gäbe und auch ke<strong>in</strong>e<br />

Probleme für se<strong>in</strong>e wirtschaftliche Entwicklung.<br />

Ähnlich wie man von e<strong>in</strong>er<br />

Konvergenz zwischen den öffentlichrechtlichen<br />

und den privaten Rundfunkprogrammen<br />

spricht, kann man vielleicht<br />

von e<strong>in</strong>er medienpolitischen Konvergenz<br />

zwischen den großen Parteien sprechen.<br />

Die Unionsparteien, die sich im Wesentlichen<br />

die Durchsetzung des Privatfunks<br />

zuschreiben können, brauchen dies<br />

angesichts <strong>der</strong> erzielten Effekte nicht zu<br />

bedauern, werden aber <strong>in</strong> an<strong>der</strong>er H<strong>in</strong>sicht<br />

enttäuscht se<strong>in</strong>. Die publizistische<br />

Vielfalt ist, so wie man sich das vorstellte,<br />

wohl nicht e<strong>in</strong>getreten, und auch diverse<br />

Programmformate werden <strong>in</strong> wertkonservativen<br />

Kreisen nicht auf Gegenliebe<br />

stoßen. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite hat sich die<br />

SPD mit dem privaten Rundfunk nicht<br />

nur abgefunden, son<strong>der</strong>n anerkennt se<strong>in</strong>en<br />

Beitrag zur Medienlandschaft, ja<br />

sieht <strong>in</strong> <strong>der</strong>en Weiterentwicklung e<strong>in</strong>e<br />

genu<strong>in</strong>e Gestaltungsaufgabe. Dabei hat<br />

man die Vorbehalte gewiss nicht allesamt<br />

aufgegeben, welche die kommerziellen<br />

Rundfunkanbieter als nicht chancengerecht<br />

empf<strong>in</strong>den und die öffentlichrechtlichen<br />

Anstalten stärken. Dennoch<br />

gibt es auch aufseiten <strong>der</strong> SPD ernsthafte<br />

Bemühungen um e<strong>in</strong> gedeihliches Nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> beiden Säulen des deutschen<br />

Rundfunksystems.<br />

Wie sehr sich die Situation geän<strong>der</strong>t<br />

hat, mag man an folgen<strong>der</strong> Episode ersehen:<br />

Im Februar 2009 ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ma<strong>in</strong>zer<br />

Staatskanzlei <strong>der</strong> Leiter <strong>der</strong> Rundfunkabteilung,<br />

Dieter Dewitz, <strong>in</strong> den Ruhestand<br />

getreten. Er gehörte schon mit zu<br />

den Beamten, die unter M<strong>in</strong>isterpräsident<br />

Bernhard Vogel und Staatssekretär Schreckenberger<br />

Anfang <strong>der</strong> 1980er-Jahre die<br />

gesetzlichen Grundlagen für den Privatfunk<br />

<strong>in</strong> Rhe<strong>in</strong>land-Pfalz legten. Dewitz<br />

ist aus Anlass se<strong>in</strong>es Ausscheidens e<strong>in</strong>e<br />

Festschrift gewidmet worden, an <strong>der</strong><br />

„Mannschaftskameraden und Gegenspieler“<br />

mitgeschrieben haben, darunter auch<br />

M<strong>in</strong>isterpräsident Kurt Beck und Mart<strong>in</strong><br />

Stadelmaier, <strong>der</strong> Leiter <strong>der</strong> Staatskanzlei<br />

und Koord<strong>in</strong>ator <strong>der</strong> Rundfunkpolitik <strong>der</strong><br />

Bundeslän<strong>der</strong>. Diese Festschrift trägt den<br />

schönen Titel „Das Wun<strong>der</strong> von Ma<strong>in</strong>z“:<br />

(Matthias Knothe/Klaus-Peter Potthast<br />

[Hrsg.]: Das Wun<strong>der</strong> von Ma<strong>in</strong>z – Rundfunk<br />

als gestaltete Freiheit. Festschrift für<br />

Hans-Dieter Dewitz, Baden-Baden 2009).<br />

Das ist e<strong>in</strong>e erstaunliche Formulierung<br />

nach mehr als fünfundzwanzig Jahren<br />

und könnte implizieren, auch Bernhard<br />

Vogel als „Wun<strong>der</strong>täter“ anzusehen.<br />

Nr. 484 · März 2010<br />

Seite 37


Das Festhalten am Bestehenden<br />

gefährdet den dr<strong>in</strong>gend<br />

notwendigen Zukunftsdiskurs<br />

Wie das Internet die<br />

Massenmedien verän<strong>der</strong>t<br />

Arne Klempert<br />

Den privaten Fernsehsen<strong>der</strong>n s<strong>in</strong>d die<br />

Onl<strong>in</strong>e-Aktivitäten <strong>der</strong> Öffentlich-Rechtlichen<br />

e<strong>in</strong> Dorn im Auge. Für die Zeitungsverleger<br />

ist <strong>der</strong> Suchmasch<strong>in</strong>enkonzern<br />

Google <strong>der</strong> Bösewicht. Und die<br />

Musik<strong>in</strong>dustrie sieht sich gleich von e<strong>in</strong>er<br />

ganzen „Generation Download“ <strong>in</strong> ihrer<br />

Existenz bedroht. Ke<strong>in</strong>e Frage: In den<br />

vergangenen Jahren ist e<strong>in</strong>iges durche<strong>in</strong>an<strong>der</strong>geraten<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Medienwelt. Entsprechend<br />

verunsichert s<strong>in</strong>d die etablierten<br />

Akteure. Mit Recht. Denn wir erleben<br />

<strong>der</strong>zeit e<strong>in</strong>en Medienumbruch, <strong>der</strong> es von<br />

se<strong>in</strong>er Bedeutung her mit <strong>der</strong> Etablierung<br />

des Buchdrucks mit beweglichen Lettern<br />

aufnehmen kann.<br />

Durch Gutenbergs Erf<strong>in</strong>dung und die<br />

damit möglich gewordene e<strong>in</strong>fache Reproduktion<br />

von Wissen wurde die Voraussetzung<br />

für Massenkommunikation<br />

überhaupt erst geschaffen. Seither hat<br />

sich zwar technisch vieles verän<strong>der</strong>t, aber<br />

e<strong>in</strong>e wesentliche Geme<strong>in</strong>samkeit haben<br />

alle Massenmedien: Die Verbreitungskanäle<br />

s<strong>in</strong>d begrenzt. Es braucht jemanden,<br />

<strong>der</strong> über das nötige Fachwissen und<br />

die Ressourcen verfügt, um Inhalte massenhaft<br />

verbreiten zu können, und es<br />

muss e<strong>in</strong>e Auswahl getroffen werden,<br />

weil auch <strong>der</strong> Platz begrenzt ist.<br />

Heute kann über das Internet je<strong>der</strong>mann<br />

ohne beson<strong>der</strong>e technische Fähigkeiten<br />

und völlig ohne Investitionen zum<br />

Sen<strong>der</strong> werden und mit se<strong>in</strong>en Inhalten<br />

Massen erreichen. Das br<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>ige<br />

grundlegende Verän<strong>der</strong>ungen mit sich,<br />

<strong>der</strong>en Auswirkungen <strong>in</strong> manchen Bereichen<br />

schon heute dramatisch s<strong>in</strong>d – nicht<br />

nur für diejenigen, die bisher mit und<br />

über die Massenmedien ihren Lebensunterhalt<br />

verdient haben, son<strong>der</strong>n für die<br />

gesamte <strong>Gesellschaft</strong>.<br />

Geschichte des Internets<br />

Um diesen Verän<strong>der</strong>ungen auf den<br />

Grund zu gehen, ist e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Rückblick<br />

<strong>in</strong> die jüngere Geschichte des Internets<br />

hilfreich. Als Ende <strong>der</strong> 1990er-Jahre AOL<br />

alle deutschen Haushalte mit CD-ROMs<br />

für den e<strong>in</strong>fachen Internetzugang überschüttete,<br />

schien die Welt noch <strong>in</strong> Ordnung.<br />

Das Internet war e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong> weiteres<br />

Massenmedium. Das Geschäftsmodell<br />

von AOL war typisch für die damalige<br />

massenmediale Denkweise: Nutzer<br />

sollten Internetzugang, Inhalte und<br />

weitere Angebote aus e<strong>in</strong>er Hand bekommen<br />

– quasi als Rundum-glücklich-Paket.<br />

Sie sollten Mitglied e<strong>in</strong>er exklusiven Onl<strong>in</strong>e-Geme<strong>in</strong>schaft<br />

werden. Alle Informations-<br />

und <strong>Kommunikation</strong>sbedürfnisse<br />

sollten an e<strong>in</strong>er Stelle befriedigt werden –<br />

ganz so, wie man das von klassischen<br />

Massenmedien her kannte. Der Abonnent<br />

als treuer Kunde. Das hat im Netz nicht<br />

funktioniert. Denn dieser Ansatz lässt e<strong>in</strong>en<br />

entscheidenden Unterschied zwischen<br />

dem Internet und Massenmedien<br />

außer acht: Die technische Infrastruktur<br />

ist ke<strong>in</strong> limitieren<strong>der</strong> Faktor mehr. Je<strong>der</strong>mann<br />

kann das Internet zur Verbreitung<br />

von Inhalten nutzen.<br />

Weblogs: Vernetzte Publikation<br />

Im Folgenden soll anhand von drei Beispielen<br />

dargestellt werden, wie sehr sich<br />

Nr. 484 · März 2010<br />

Seite 39


Arne Klempert<br />

dies auf die Zukunft <strong>der</strong> Massenmedien<br />

auswirkt.<br />

Anfang <strong>der</strong> 2000er-Jahre wurden Weblogs<br />

populär. Mit dem Begriff – abgeleitet<br />

aus „World Wide Web“ und „Logbuch“<br />

– werden öffentlich im Internet geführte<br />

Journale o<strong>der</strong> Tagebücher bezeichnet.<br />

Mit Weblogs wurde es zum K<strong>in</strong><strong>der</strong>spiel,<br />

im Internet zu publizieren. Anfangs<br />

musste dafür noch e<strong>in</strong>e Software <strong>in</strong>stalliert<br />

werden, später wurde es noch e<strong>in</strong>facher:<br />

Mitteilungsbedürftige Internetnutzer<br />

müssen sich seither nur bei e<strong>in</strong>em <strong>der</strong><br />

zahlreichen kostenlosen Weblog-Dienste<br />

anmelden und können sofort damit beg<strong>in</strong>nen,<br />

ihre E<strong>in</strong>drücke und Erfahrungen<br />

mit an<strong>der</strong>en Internetnutzern zu teilen.<br />

Von den Medien wurden diese „Internettagebücher“<br />

lange belächelt, unter an<strong>der</strong>em<br />

weil sich viele von ihnen nicht den<br />

ganz großen Themen widmen. Die meisten<br />

Blogs s<strong>in</strong>d stark persönlich geprägt,<br />

und die Autoren suchen ihre Themen<br />

nicht nach ihrer Relevanz für e<strong>in</strong> großes<br />

Publikum, son<strong>der</strong>n nach ihren persönlichen<br />

Interessen aus. Manche Weblogs<br />

richten sich sogar nur an den engeren<br />

Bekanntenkreis des jeweiligen Autors.<br />

Für die Vertreter klassischer Medien war<br />

und ist das alles schwer nachvollziehbar.<br />

Sie vergleichen solche neuartigen Publikations-<br />

und <strong>Kommunikation</strong>sformen<br />

allzu oft mit dem eigenen Produkt. Und<br />

wenn Zeitungsmacher Weblogs mit den<br />

Maßstäben <strong>der</strong> eigenen Arbeit vergleichen,<br />

dann kommen sie schnell zum<br />

Schluss, dass Weblogs natürlich ke<strong>in</strong>e<br />

besseren Zeitungen s<strong>in</strong>d.<br />

Doch diesen Anspruch haben Blogger<br />

auch gar nicht. Wohl ke<strong>in</strong> Weblog erhebt<br />

für sich den Anspruch, e<strong>in</strong> umfassendes<br />

Bild des Weltgeschehens abbilden zu<br />

wollen. Stattdessen liefern viele Weblog-<br />

Autoren lieber Debattenbeiträge zu Themen,<br />

die sie <strong>in</strong>teressieren. Debatten, die<br />

sich oft über mehrere Weblogs h<strong>in</strong>weg<br />

erstrecken und auf diese Weise auch<br />

Reichweiten erzielen, die es mit <strong>der</strong> e<strong>in</strong><br />

o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Zeitung aufnehmen können.<br />

E<strong>in</strong> wesentlicher Faktor für den Erfolg<br />

<strong>der</strong> Weblogs ist <strong>der</strong>en gegenseitige Verl<strong>in</strong>kung<br />

und das dadurch entstehende<br />

Netz. Dieses Ökosystem aus Inhalten und<br />

Autoren – oft als „Blogosphäre“ bezeichnet<br />

– ist für Außenstehende nur schwer<br />

zu durchschauen. Zu vielfältig s<strong>in</strong>d die<br />

Verknüpfungen, und zu sehr überlagern<br />

sie sich, abhängig vom jeweiligen Thema.<br />

Doch nicht nur untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> s<strong>in</strong>d Weblogs<br />

mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> vernetzt – die Blogosphäre<br />

ist ke<strong>in</strong> geschlossenes System.<br />

Vielmehr nimmt sie gern und oft auch Bezug<br />

auf Inhalte von Massenmedien –<br />

greift <strong>der</strong>en Themen auf und diskutiert<br />

diese weiter.<br />

Wikipedia:<br />

Die Weisheit des Kollektivs<br />

Im Jahr 2001 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er stillen Ecke des<br />

Internets als Experiment gestartet, gehört<br />

die Onl<strong>in</strong>e-Enzyklopädie Wikipedia<br />

mittlerweile zu den zehn am häufigsten<br />

aufgerufenen Websites <strong>der</strong> Welt und gilt<br />

als umfangreichste Wissenssammlung<br />

<strong>der</strong> Menschheitsgeschichte. Alle<strong>in</strong> die<br />

deutschsprachige Ausgabe umfasst über<br />

e<strong>in</strong>e Million Artikel, die alle<strong>in</strong> von Freiwilligen<br />

verfasst und gepflegt werden –<br />

ganz ohne e<strong>in</strong>e zentrale Kontroll<strong>in</strong>stanz.<br />

An<strong>der</strong>s als bei Weblogs stehen hier nicht<br />

die Vielfalt von Me<strong>in</strong>ungen und Autoren<br />

und die Debatte im Vor<strong>der</strong>grund, son<strong>der</strong>n<br />

die Zusammenarbeit an geme<strong>in</strong>samen,<br />

möglichst ausgewogenen Artikeln.<br />

Den Vertretern des massenmedialen<br />

Zeitalters war auch dieses Pr<strong>in</strong>zip zunächst<br />

sehr suspekt. Sie fanden schlechte<br />

Beiträge, sie fanden es merkwürdig, dass<br />

bedeutende Dichter gleichberechtigt neben<br />

Figuren aus dem Star-Wars-Universum<br />

stehen. Und verlassen wollten sie<br />

sich auf e<strong>in</strong> von Amateuren verfasstes<br />

Werk ohne zentral gesteuerte Qualitätskontrolle<br />

sowieso nicht. Mit dem Brockhaus<br />

– so e<strong>in</strong>e weit verbreitete Me<strong>in</strong>ung –<br />

Seite 40 Nr. 484 · März 2010


Wie das Internet die Massenmedien verän<strong>der</strong>t<br />

könne die Wikipedia e<strong>in</strong>fach nicht mithalten.<br />

Ihr fehlten die Verlässlichkeit, die<br />

richtige Gewichtung <strong>der</strong> Themen und<br />

natürlich die Haptik. Wie schon bei den<br />

Weblogs wurden auch hier wie<strong>der</strong> Äpfel<br />

mit Birnen verglichen.<br />

Ähnlich wie für die Blogosphäre ist<br />

auch für die Wikipedia die Vernetzung<br />

zwischen den Beteiligten und ihren Beiträgen<br />

e<strong>in</strong> entscheiden<strong>der</strong> Faktor für das<br />

Funktionieren des Systems. Ohne diese<br />

Verknüpfungen – auch heute lässt sich<br />

noch feststellen, welcher Benutzer im Jahr<br />

2001 den Artikel über die Nordsee angelegt<br />

hat und diesen mit den Worten begann<br />

„Die Nordsee ist e<strong>in</strong> Mehr [sic!], …“<br />

– würden die Selbstheilungsmechanismen<br />

<strong>der</strong> Wikipedia nicht funktionieren.<br />

Doch nicht nur <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Wikipedia<br />

spielt Vernetzung e<strong>in</strong>e entscheidende<br />

Rolle. Ihre kritische Masse an Mitarbeitern<br />

und Inhalten konnte die Wikipedia<br />

vor allem deshalb erreichen, weil viele<br />

Blogger auf die Wikipedia verwiesen<br />

haben. Statt Fachbegriffe o<strong>der</strong> H<strong>in</strong>tergründe<br />

selbst zu erläutern, setzen sie häufig<br />

e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong>en L<strong>in</strong>k zum entsprechenden<br />

Wikipedia-Artikel. Durch diese Aufmerksamkeit<br />

wurde <strong>der</strong> Anreiz zur Verbesserung<br />

des Artikels gesetzt, <strong>der</strong> fortan<br />

noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zog.<br />

E<strong>in</strong> sich selbst verstärken<strong>der</strong> Effekt.<br />

Und wie die Blogosphäre nimmt auch<br />

die Wikipedia gern Bezug auf klassische<br />

Massenmedien – ja sie ist geradezu<br />

darauf angewiesen, dass es außerhalb<br />

<strong>der</strong> Wikipedia publizierte Informationen<br />

gibt, die e<strong>in</strong>e geordnete Qualitätskontrolle<br />

durchlaufen haben. An<strong>der</strong>s könnten<br />

die vielen freiwilligen Helfer die Richtigkeit<br />

e<strong>in</strong>zelner Aussagen nicht mit h<strong>in</strong>reichen<strong>der</strong><br />

Sicherheit überprüfen.<br />

Twitter: Zwischen<br />

Publikation und Konversation<br />

Erst im letzten Jahr wurde <strong>in</strong> Gestalt von<br />

Twitter das sogenannte Microblogg<strong>in</strong>g<br />

populär. Ähnlich wie bei Weblogs kann<br />

hier je<strong>der</strong>mann se<strong>in</strong>e Gedanken mitteilen.<br />

An<strong>der</strong>s als <strong>in</strong> Weblogs üblich passiert<br />

dies aber nicht <strong>in</strong> Form von längeren Artikeln<br />

e<strong>in</strong>ige Male im Monat, son<strong>der</strong>n<br />

mehrmals täglich – mit e<strong>in</strong>er maximalen<br />

Länge von 140 Zeichen. Diese Kurznachrichten<br />

können von an<strong>der</strong>en Nutzern des<br />

Dienstes verfolgt werden.<br />

Von se<strong>in</strong>en Erf<strong>in</strong><strong>der</strong>n war Twitter<br />

ursprünglich dafür gedacht, den eigenen<br />

Freundeskreis darüber auf dem Laufenden<br />

zu halten, was man gerade tut („What<br />

are you do<strong>in</strong>g right now?“ stand bis vor<br />

Kurzem über dem E<strong>in</strong>gabefeld für neue<br />

Beiträge). Doch die Nutzer haben die vergleichsweise<br />

e<strong>in</strong>fache Technik zunehmend<br />

auch für an<strong>der</strong>e D<strong>in</strong>ge genutzt. E<strong>in</strong>en<br />

erheblichen Teil <strong>der</strong> <strong>Kommunikation</strong><br />

machen heute H<strong>in</strong>weise auf <strong>in</strong>teressante<br />

Beiträge <strong>in</strong> Blogs o<strong>der</strong> klassischen Medien<br />

aus – oft <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit kurzen Kommentaren<br />

dazu.<br />

Twitter ist wie e<strong>in</strong> Gespräch über das,<br />

was die Teilnehmer gerade <strong>in</strong>teressiert.<br />

Es ist <strong>in</strong> Echtzeit erfolgende und für<br />

je<strong>der</strong>mann sichtbare Mundpropaganda.<br />

Gelegentlich wird dabei auch wirklich<br />

Neues publiziert – wenn zum Beispiel<br />

wie Anfang 2009 e<strong>in</strong> Twitter-Nutzer Augenzeuge<br />

bei <strong>der</strong> Notlandung e<strong>in</strong>es Flugzeugs<br />

auf dem Hudson River wird. Solche<br />

Erlebnisse wurden auch früher schon<br />

im Bekanntenkreis weitererzählt, nur<br />

eben erst nach Stunden o<strong>der</strong> gar Tagen<br />

und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel auch immer nur E<strong>in</strong>zelnen.<br />

Heute erreichen solche Mitteilungen<br />

praktisch ohne Zeitverzögerung alle Bekannten,<br />

die gerade onl<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>d. Diese<br />

wie<strong>der</strong>um können es sogleich an ihren<br />

Bekanntenkreis weiterleiten. Innerhalb<br />

weniger M<strong>in</strong>uten können solche Informationen<br />

e<strong>in</strong>mal rund um den Erdball gelangen.<br />

Und auch beim Beispiel Twitter erliegen<br />

e<strong>in</strong>ige Medienmacher dem Reflex,<br />

solche Phänomene mit den Maßstäben ihrer<br />

eigenen Arbeit zu vergleichen: „Twitter<br />

ist doch nicht verlässlich“, heißt es da,<br />

Nr. 484 · März 2010<br />

Seite 41


Arne Klempert<br />

o<strong>der</strong> es wird beklagt, dass es doch niemanden<br />

<strong>in</strong>teressiere, dass e<strong>in</strong> Bekannter<br />

gerade U-Bahn fahre. Dennoch werden<br />

solche Mitteilungen <strong>in</strong>teressiert verfolgt –<br />

zu Hun<strong>der</strong>ttausenden. Allerd<strong>in</strong>gs nicht<br />

von e<strong>in</strong>er breiten Öffentlichkeit, son<strong>der</strong>n<br />

im Rahmen von vielen unterschiedlichen,<br />

mehr o<strong>der</strong> weniger privaten Öffentlichkeiten.<br />

Obwohl die Nachrichten auf<br />

Twitter technisch gesehen öffentlich s<strong>in</strong>d<br />

und grundsätzlich von je<strong>der</strong>mann gelesen<br />

und weiterverbreitet werden können,<br />

richten sie sich nicht an e<strong>in</strong> breites Publikum.<br />

Sie s<strong>in</strong>d gedacht für e<strong>in</strong>en Kreis von<br />

Menschen, <strong>der</strong> sich grundsätzlich für die<br />

Mitteilungen e<strong>in</strong>er Person <strong>in</strong>teressiert.<br />

Das können e<strong>in</strong>e Handvoll Freunde se<strong>in</strong>,<br />

e<strong>in</strong> paar Tausend wie bei Krist<strong>in</strong>a Köhler<br />

(http://twitter.com/krist<strong>in</strong>akoehler)<br />

o<strong>der</strong> gar Millionen wie bei Britney Spears<br />

(http://twitter.com/britneyspears). Die<br />

Grenzen zwischen Publikation und Konversation<br />

können hier bis zur Unkenntlichkeit<br />

verschwimmen. Solche Phänomene<br />

s<strong>in</strong>d mit den bekannten Maßstäben<br />

e<strong>in</strong>fach nicht erfassbar.<br />

Im Netz s<strong>in</strong>d die Nutzer <strong>der</strong> Filter<br />

Das Internet ist ke<strong>in</strong> Massenmedium –<br />

zum<strong>in</strong>dest nicht im klassischen S<strong>in</strong>ne. Es<br />

ist heute vielmehr e<strong>in</strong> Raum für digitale<br />

Gespräche, an denen je<strong>der</strong>mann teilnehmen<br />

kann – und zwar unabhängig von<br />

Zeit und Raum. E<strong>in</strong>e klare Ordnung gibt<br />

es dabei nicht: Bei e<strong>in</strong>er schier unbegrenzten<br />

Zahl von Gesprächsteilnehmern<br />

und <strong>der</strong> Möglichkeit, sowohl zeitgleich<br />

als auch zeitversetzt mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu<br />

kommunizieren, bleibt es jedem selbst<br />

überlassen, sich Ordnung <strong>in</strong> dieses Chaos<br />

zu br<strong>in</strong>gen. Die Aufgabe des Filterns –<br />

bisher von den Kontrolleuren <strong>der</strong> massenmedialen<br />

Verbreitungskanäle wahrgenommen<br />

– liegt plötzlich beim Rezipienten.<br />

Die Onl<strong>in</strong>e-Aktivitäten <strong>der</strong> Massenmedien<br />

berücksichtigen diese Entwicklung<br />

bisher noch wenig bis gar nicht.<br />

Fast alle Inhalte, die von ihnen onl<strong>in</strong>e<br />

angeboten werden, s<strong>in</strong>d Zweitverwertungen,<br />

die ursprünglich für die l<strong>in</strong>eare<br />

Verbreitung produziert wurden, und<br />

wi<strong>der</strong>setzen sich allzu oft e<strong>in</strong>er Vernetzung.<br />

Inhalte können nicht direkt<br />

verl<strong>in</strong>kt werden, das Fehlen von öffentlich<br />

zugänglichen Meta-Daten bei Video-<br />

o<strong>der</strong> Audio<strong>in</strong>halten macht die Suche<br />

nach relevanten Informationen fast<br />

unmöglich, o<strong>der</strong> die Inhalte verschw<strong>in</strong>den<br />

e<strong>in</strong>fach nach e<strong>in</strong>er Woche – e<strong>in</strong>e<br />

für die digitale <strong>Gesellschaft</strong> unsägliche<br />

Konsequenz aus dem Rundfunkstaatsvertrag.<br />

Mit <strong>der</strong> Abschottung ihrer Inhalte<br />

schaden sich die klassischen Medien<br />

letztlich selbst. Denn dies wird auf Dauer<br />

dazu führen, dass die Inhalte nicht mehr<br />

wahrgenommen werden. Schw<strong>in</strong>dende<br />

Auflagen und e<strong>in</strong> Rückgang des Fernsehkonsums<br />

gehen mit e<strong>in</strong>er zunehmenden<br />

Internetnutzung e<strong>in</strong>her und führen dazu,<br />

dass immer mehr Menschen ihre Informationen<br />

aus dem Netz beziehen. Die<br />

Aufmerksamkeit richten sie dabei immer<br />

seltener an bekannten Marken aus. Man<br />

besucht nicht mehr se<strong>in</strong>e Zeitung, um zu<br />

sehen, was es Neues gibt. Stattdessen<br />

werden Internetnutzer immer öfter über<br />

Freunde und Bekannte auf Neuigkeiten<br />

h<strong>in</strong>gewiesen.<br />

Verlorener Kampf gegen das Netz<br />

Während die Zeitungsverlage noch auf<br />

dem Kreuzzug gegen den verme<strong>in</strong>tlichen<br />

Parasiten Google s<strong>in</strong>d, <strong>der</strong> mit se<strong>in</strong>em<br />

Dienst Google News <strong>in</strong>formationssuchende<br />

Nutzer auf passende Artikel<br />

klassischer Medien h<strong>in</strong>weist, spielt dieser<br />

gar nicht mehr die zentrale Rolle.<br />

Facebook ist gerade dabei, die Nummer<br />

e<strong>in</strong>s zu werden, wenn es um L<strong>in</strong>ks auf<br />

Medien<strong>in</strong>halte geht. Im Gegensatz zu<br />

Google s<strong>in</strong>d es aber hier ke<strong>in</strong>e Algorithmen,<br />

son<strong>der</strong>n die Nutzer des Dienstes,<br />

die über die Relevanz von Inhalten entscheiden.<br />

Seite 42 Nr. 484 · März 2010


Wie das Internet die Massenmedien verän<strong>der</strong>t<br />

Insofern greift auch die aktuelle Kampagne<br />

<strong>der</strong> Zeitungsverlage, die sich e<strong>in</strong>e<br />

Beteiligung an den Umsätzen von Google<br />

erträumen, weil <strong>der</strong> Suchmasch<strong>in</strong>en-<br />

Gigant sich angeblich auf ihre Kosten<br />

bereichert, deutlich zu kurz. Denn es ist<br />

nicht Google, son<strong>der</strong>n das Netz <strong>in</strong>sgesamt,<br />

das die Rolle <strong>der</strong> Massenmedien <strong>in</strong>frage<br />

stellt. Und e<strong>in</strong>en Kampf gegen das<br />

Netz können die Verlage nicht gew<strong>in</strong>nen.<br />

Notwendiger Diskurs<br />

wird verschlafen<br />

E<strong>in</strong>e Antwort auf die für Massenmedien<br />

existenzielle Frage nach ihrer Geschäftsgrundlage<br />

ist das freilich nicht. Es zeichnet<br />

sich noch ke<strong>in</strong>e Perspektive ab, wie <strong>in</strong><br />

Zukunft die Produktion von hochwertigen<br />

journalistischen Inhalten f<strong>in</strong>anziert<br />

werden kann. Denn so überzeugt man<br />

zum Beispiel von dem Projekt Wikipedia<br />

se<strong>in</strong> kann, so bedauerlich ist es doch, dass<br />

e<strong>in</strong>e wichtige traditionelle Informationsquelle,<br />

<strong>der</strong> Brockhaus, kürzlich praktisch<br />

abgewickelt werden musste.<br />

Sicher wird das Netz nicht alle Massenmedien<br />

verschw<strong>in</strong>den lassen, aber zum<strong>in</strong>dest<br />

bei den Tageszeitungen steht<br />

noch e<strong>in</strong>e sehr schmerzhafte Konzentration<br />

aus. Ob die Überlebenden dieses Prozesses<br />

noch ausreichend Kraft haben werden,<br />

um ihre gesellschaftlich wichtige<br />

Funktion auszufüllen, vermag niemand<br />

vorherzusagen. Aber <strong>in</strong> Gefahr ist ihre<br />

stabilisierende Funktion <strong>in</strong> Bezug auf den<br />

gesellschaftlichen Diskurs <strong>in</strong> jedem Fall.<br />

Den dr<strong>in</strong>gend notwendigen gesellschaftlichen<br />

Diskurs über die Zukunft <strong>der</strong><br />

Medien <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>digitalen</strong> <strong>Gesellschaft</strong> verschlafen<br />

viele Massenmedien aber gerade<br />

– weil wichtige Akteure unter dem Deckmantel<br />

ihrer gesellschaftlich wichtigen<br />

Funktion damit beschäftigt s<strong>in</strong>d, ihren<br />

Fortbestand <strong>in</strong> möglichst unverän<strong>der</strong>ter<br />

Form für möglichst lange Zeit zu sichern.<br />

Denn e<strong>in</strong>e Fortsetzung <strong>der</strong> bisherigen Arbeitsweise<br />

ist nicht kompatibel mit e<strong>in</strong>er<br />

<strong>digitalen</strong> <strong>Gesellschaft</strong>. Zu grundlegend<br />

hat das Internet die Spielregeln verän<strong>der</strong>t.<br />

Im April beschäftigt sich die <strong>Politische</strong> Me<strong>in</strong>ung <strong>in</strong> ihrem Schwerpunkt mit <strong>der</strong><br />

Deutschen E<strong>in</strong>heit und Integration Europas –<br />

Helmut Kohl zum 80. Geburtstag<br />

Es schreiben unter an<strong>der</strong>en<br />

Michail Gorbatschow, Henn<strong>in</strong>g Köhler, Michael Stürmer<br />

und Horst Teltschik.<br />

Nr. 484 · März 2010<br />

Seite 43


<strong>Politische</strong> <strong>Kommunikation</strong><br />

<strong>in</strong> Zeiten des Web 2.0<br />

Im Netz <strong>der</strong> Parteien?<br />

Ralf Güldenzopf/Stefan Hennewig<br />

Die Parteien und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die Volksparteien<br />

haben es schwer. Nicht nur die<br />

immer schwächer werdende Wählerb<strong>in</strong>dung,<br />

son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong>schwund<br />

geht an ihre Substanz. Fast<br />

schon zu e<strong>in</strong>em klagenden Vorwurf werden<br />

die Rufe, die vor dem Ende <strong>der</strong> Volksparteien<br />

warnen. Häufig wird gefragt,<br />

ob das Erfolgsmodell <strong>der</strong> deutschen Parteiengeschichte,<br />

Garant für politische Stabilität,<br />

am Ende sei. Sicher können gesellschaftliche<br />

Prozesse für die wachsende<br />

Distanz zwischen Bürger und Partei verantwortlich<br />

gemacht werden – vom Wertewandel<br />

bis zur Schwächung sozialer<br />

Milieus durch die zunehmende Individualisierung.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs hat das Modell <strong>der</strong><br />

Volksparteien nicht nur auf <strong>der</strong> Nachfrageseite<br />

e<strong>in</strong> Problem. Immer wie<strong>der</strong> wird<br />

auch Kritik an die Parteien selbst gerichtet:<br />

zu starr und unflexibel, zu hierarchisch<br />

und zu eng, zu ähnlich und zu abgehoben.<br />

E<strong>in</strong>e Vielzahl von Betroffenen und Beobachtern<br />

ist <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ung, dass gerade<br />

das Internet den Parteien helfen kann, mit<br />

den Bürgern <strong>in</strong> Kontakt o<strong>der</strong> gar Dialog<br />

zu kommen. Die Utopie <strong>der</strong> grenzenlosen,<br />

gleichberechtigten, direkten und<br />

<strong>in</strong>teraktiven politischen Partizipation<br />

sche<strong>in</strong>t durch das Internet e<strong>in</strong> Stück näher<br />

gerückt zu se<strong>in</strong>. Diesen Ansatz gibt es<br />

schon seit den Anfängen <strong>der</strong> E-Mail- und<br />

Foren-<strong>Kommunikation</strong>. Aktuell wird vor<br />

allem das Web 2.0 als e<strong>in</strong>e Möglichkeit<br />

<strong>der</strong> Demokratisierung und e<strong>in</strong> Raum für<br />

soziale Bewegungen gesehen. Ist das Web<br />

2.0 also e<strong>in</strong>e neue Chance für die deutschen<br />

Volksparteien, mit ihren Mitglie<strong>der</strong>n<br />

und potenziellen Wählern <strong>in</strong> Kontakt<br />

zu kommen, sich zu „konsolidieren“?<br />

O<strong>der</strong> verstärkt die Machtverschiebung<br />

im Internet vom Anbieter zum Nachfrager<br />

die zentrifugalen Kräfte, die drohen,<br />

die Volksparteien zu zerreißen? Macht<br />

nicht gerade das Internet den Schritt<br />

von <strong>der</strong> Volks- und Mitglie<strong>der</strong>partei zur<br />

Kampagnenpartei nötig und möglich?<br />

Es besteht ke<strong>in</strong> Zweifel: Das Internet<br />

hat die politische <strong>Kommunikation</strong> revolutioniert<br />

und wird sie auch zukünftig<br />

noch nachhaltig verän<strong>der</strong>n. Bereits im<br />

Jahr 2004 betonte Joe Trippi: „The revolution<br />

will not be televised.“ Trippi erkannte<br />

als Wahlkampfmanager des demokratischen<br />

Präsidentschaftskandidaten<br />

Howard Dean die Möglichkeit, mithilfe<br />

des Internets Politik von unten<br />

nach oben (bottom-up) zu bee<strong>in</strong>flussen<br />

und zu verän<strong>der</strong>n. Er spürte, dass die<br />

E<strong>in</strong>bahnstraße „Fernsehen“ an Bedeutung<br />

verlieren würde und sich Politik neu<br />

organisieren müsste. Zu Recht wurde<br />

Trippi damals für se<strong>in</strong>en Wahlkampf und<br />

se<strong>in</strong>e Grassroots-Philosophie gefeiert. Als<br />

Trippi zur Revolution anstimmte, war<br />

von Web 2.0 noch nicht die Rede. Facebook<br />

o<strong>der</strong> Youtube gab es noch nicht.<br />

Heute, nur knapp sechs Jahre später, wissen<br />

wir, welchen E<strong>in</strong>fluss das Internet<br />

haben kann.<br />

Das Internet hat ohne Frage die <strong>Gesellschaft</strong><br />

verän<strong>der</strong>t. Der Psychologe Peter<br />

Kruse weist etwa darauf h<strong>in</strong>, dass die<br />

Digital Natives, also die Generation, die<br />

mit dem Internet aufgewachsen ist, wie<br />

Seite 44 Nr. 484 · März 2010


Im Netz <strong>der</strong> Parteien?<br />

Menschen aus e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Kultur s<strong>in</strong>d<br />

und wahrsche<strong>in</strong>lich grundlegend an<strong>der</strong>e<br />

unbewusste Wertepräferenzen ausbilden.<br />

Kruse br<strong>in</strong>gt das auf den Punkt:<br />

„Heimat ist, wo man se<strong>in</strong>e Pubertät<br />

durchlitten hat.“ Und ohne Frage ist dies<br />

für viele <strong>der</strong> unter Dreißigjährigen das<br />

World Wide Web. Die Jugendlichen f<strong>in</strong>den<br />

dort vor allem Raum für Freundschaften,<br />

Unterhaltung und Interaktion.<br />

Selbst „(E-)Sport“ wird bereits seit Jahren<br />

onl<strong>in</strong>e <strong>in</strong> vere<strong>in</strong>sähnlichen Strukturen<br />

betrieben. Als Informationsquelle auch<br />

für <strong>Politische</strong>s ist für diese Generation<br />

das Internet nicht mehr wegzudenken.<br />

Längst ist für die 18- bis 29-Jährigen das<br />

Internet vor dem Fernsehen die wichtigste<br />

Quelle für politische Informationen.<br />

Dies ist auch die Alterskohorte,<br />

die zum Beispiel E-Mails an Politiker<br />

schreibt, anstatt das persönliche Gespräch<br />

zu suchen o<strong>der</strong> Briefe zu senden.<br />

Diese Form <strong>der</strong> E-Mail ist nicht etwa Anzeichen<br />

für Missachtung o<strong>der</strong> ger<strong>in</strong>gen<br />

E<strong>in</strong>satz. Es ist für diese Generation die<br />

Form <strong>der</strong> <strong>Kommunikation</strong> mit dem<br />

Establishment. Auf e<strong>in</strong>em solchen Weg<br />

bewirbt man sich, nimmt mit se<strong>in</strong>en Lehrern<br />

Kontakt auf und wendet sich eben<br />

auch an Politiker.<br />

Untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> hat sich das <strong>Kommunikation</strong>sverhalten<br />

<strong>der</strong> netzaff<strong>in</strong>en 18- bis<br />

29-Jährigen noch weit gravieren<strong>der</strong> verän<strong>der</strong>t.<br />

Dort haben sich die Prämissen <strong>der</strong><br />

Informationssuche verschoben: „Wenn<br />

die Information relevant ist, wird sie mich<br />

f<strong>in</strong>den“, so das Mantra <strong>der</strong> Web-2.0-Nutzer.<br />

An die Stelle langwieriger Recherchen<br />

und Informationssuche treten die<br />

L<strong>in</strong>ks und Empfehlungen <strong>der</strong> eigenen<br />

Netzwerke. Im übertragenen S<strong>in</strong>ne ist <strong>der</strong><br />

Filter somit nicht mehr <strong>der</strong> Zeitungsredakteur<br />

o<strong>der</strong> Fernsehreporter. Vielmehr<br />

verlässt man sich auf Menschen,<br />

die e<strong>in</strong>em ähnlich s<strong>in</strong>d und mit denen<br />

man E<strong>in</strong>stellungen teilt. Den <strong>in</strong>teressanten<br />

politischen Artikel von Spiegel-Onl<strong>in</strong>e<br />

liest man nicht mehr, weil man ihn dort<br />

bei <strong>der</strong> laufenden Suche nach Updates<br />

aufgestöbert hat, son<strong>der</strong>n weil ihn <strong>der</strong><br />

Kontakt aus dem persönlichen Netzwerk<br />

bei Facebook etwa verl<strong>in</strong>kt hat. Der Kontakt<br />

liefert nicht nur den L<strong>in</strong>k, son<strong>der</strong>n<br />

teilt auch gleich se<strong>in</strong>e persönliche Sicht<br />

<strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge dazu mit. Diese wird dann<br />

entwe<strong>der</strong> still zur Kenntnis genommen,<br />

ignoriert o<strong>der</strong> wie<strong>der</strong>um kommentiert.<br />

Auf diese Weise entstehen <strong>Kommunikation</strong><br />

und politischer Diskurs.<br />

Persönliche Öffentlichkeiten<br />

Und die <strong>in</strong> den Netzwerken veröffentlichten<br />

Ansichten haben Gewicht. Schon<br />

seit Jahren weiß man, dass den Me<strong>in</strong>ungen<br />

und Empfehlungen aus dem<br />

Verwandten- und Bekanntenkreis die<br />

höchste Glaubwürdigkeit entgegengebracht<br />

wird. Das gilt onl<strong>in</strong>e wie offl<strong>in</strong>e.<br />

Wie man sich diesen psychologischen<br />

Mechanismus im Web 2.0 erfolgreich zunutze<br />

macht, zeigt e<strong>in</strong> Blick auf die Internetseite<br />

des (Bücher-)Versandanbieters<br />

Amazon. Sehr wichtiger Bestandteil s<strong>in</strong>d<br />

dort die von an<strong>der</strong>en Kunden verfassten<br />

Rezensionen. Hier kann man lesen, was<br />

an<strong>der</strong>e Menschen von dem Buch halten,<br />

für dessen Kauf man sich gerade <strong>in</strong>teressiert.<br />

Alle<strong>in</strong> dieses identische Interesse<br />

br<strong>in</strong>gt den unbekannten Autor näher und<br />

macht die Rezension glaubwürdiger als<br />

e<strong>in</strong> offizieller Werbetext des Verlages.<br />

Wie praktisch, dass Amazon dann auch<br />

noch mitteilt, welche an<strong>der</strong>en Bücher dieser<br />

Mensch gekauft hat, die dann ebenfalls<br />

von Interesse se<strong>in</strong> könnten.<br />

Das eigene Netzwerk bleibt Anker und<br />

Orientierungspunkt für die Suche und<br />

Bewertung von neuen Informationen. Jedoch<br />

f<strong>in</strong>det dieser Prozess verstärkt im<br />

Internet statt. Es entstehen quasi persönliche<br />

Öffentlichkeiten, die zwar bekannten<br />

Mechanismen folgen, diese jedoch variieren<br />

o<strong>der</strong> weiterentwickeln.<br />

Das Web 2.0 erlaubt e<strong>in</strong> Konglomerat<br />

vieler kle<strong>in</strong>er Netzwerke, die nicht ohne<br />

H<strong>in</strong><strong>der</strong>nisse durch Politik erreichbar s<strong>in</strong>d.<br />

Nr. 484 · März 2010<br />

Seite 45


Ralf Güldenzopf/Stefan Hennewig<br />

Es reicht nicht mehr aus, e<strong>in</strong>en Artikel auf<br />

bereits erwähntem Spiegel-Onl<strong>in</strong>e zu haben,<br />

wenn dieser nicht „mundgerecht“ <strong>in</strong><br />

den Netzwerken aufbereitet wird. Erst<br />

dort wird e<strong>in</strong> Thema zum Bestandteil <strong>der</strong><br />

Agenda – und dies meist schon netzwerkspezifisch<br />

<strong>in</strong>terpretiert und kommentiert.<br />

So ist es möglich, dass verschiedene<br />

Netzwerke über dasselbe Thema reden,<br />

dies jedoch vollkommen an<strong>der</strong>s deuten.<br />

Beispielsweise ist <strong>der</strong> Diebstahl e<strong>in</strong>es M<strong>in</strong>ister-Dienstwagens<br />

zunächst e<strong>in</strong> Fakt,<br />

<strong>der</strong> sowohl zu kritischer Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung<br />

als auch zu schamloser Häme taugt.<br />

Viele Web-2.0-Rezipienten bilden sich<br />

ihre Me<strong>in</strong>ung nicht mehr auf Basis <strong>der</strong><br />

orig<strong>in</strong>alen Artikel <strong>in</strong> Medien, son<strong>der</strong>n lassen<br />

die gefilterten und kommentierten<br />

Botschaften <strong>in</strong> ihren Netzwerken auf sich<br />

wirken. E<strong>in</strong>drücke und E<strong>in</strong>stellungen<br />

werden je nachdem verstärkt o<strong>der</strong> geschwächt.<br />

Neue Formen <strong>der</strong> Mitbestimmung<br />

Mit dem Informationsverhalten än<strong>der</strong>t<br />

sich auch die Erwartung an die <strong>Kommunikation</strong><br />

von Politikern. Diese „Kulturrevolution“<br />

kann nicht ohne Folgen<br />

für die Politik se<strong>in</strong>. Der Blick auf die<br />

Erfolgsfaktoren Barack Obamas zeigt,<br />

dass diese auch mit den Bedürfnissen<br />

<strong>der</strong> deutschen Wählerschaft korrespondieren:<br />

Personalisierung, überzeugende<br />

Botschaft, klare politische Alternativen,<br />

Plattformen für direkte Mitsprache und<br />

Diskussion, Raum für Selbstorganisation<br />

und vor allem zeitlich begrenztes Engagement<br />

für e<strong>in</strong> konkretes Projekt. O<strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>s gewendet: Während die Menschen<br />

skeptischer gegenüber Politikern<br />

werden und sich nicht mehr gänzlich auf<br />

e<strong>in</strong>e Partei festlegen wollen, verlangen<br />

sie nach (neuen) Formen <strong>der</strong> Mitsprache<br />

und Mitbestimmung bei politischen Prozessen.<br />

Das Internet bietet die Chance,<br />

dieses Verlangen zu kanalisieren und die<br />

Kräfte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Partei e<strong>in</strong>zub<strong>in</strong>den. Dazu<br />

müssen <strong>in</strong>nerparteiliche Diskurs- und<br />

Entscheidungsprozesse angepasst werden.<br />

Die bereits seit e<strong>in</strong>igen Jahren vorhandenen<br />

<strong>in</strong>ternen Netze <strong>der</strong> Parteien,<br />

teilweise <strong>in</strong>stitutionalisierte Onl<strong>in</strong>e-Beteiligungsstrukturen,<br />

s<strong>in</strong>d da nur e<strong>in</strong><br />

erster Schritt. Gerade <strong>der</strong> Rückgang <strong>der</strong><br />

normativen B<strong>in</strong>dung stellt die Parteien<br />

vor die Herausfor<strong>der</strong>ungen, dass sie immer<br />

wie<strong>der</strong> unter Beweis stellen müssen,<br />

die Ziele, Interessen und Vorstellungen<br />

ihrer Mitglie<strong>der</strong> zu vertreten. Das bedeutet<br />

unter an<strong>der</strong>em auch, dass man<br />

noch stärker nachhören muss, was die<br />

Basis will. Und e<strong>in</strong> Teil <strong>der</strong> Basis will<br />

nicht nur mitgenommen werden. E<strong>in</strong><br />

Teil möchte mitbestimmen.<br />

E<strong>in</strong>e entscheidende Frage ist, <strong>in</strong>wieweit<br />

es Parteien gel<strong>in</strong>gt, sich zu öffnen<br />

und mit <strong>der</strong> Konkurrenz von S<strong>in</strong>gle-Issue-<br />

Kampagnen im Internet umzugehen. Wie<br />

an den Aktienmärkten können die Bürger<br />

mittlerweile auch im politischen Prozess<br />

bei <strong>der</strong> Suche nach „strategischen Partnern“<br />

diversifizieren. Sie können aus e<strong>in</strong>em<br />

breiten Angebot von beispielsweise<br />

Nichtregierungsorganisationen und Bürger<strong>in</strong>itiativen<br />

auswählen. Warum sollte<br />

man heute noch <strong>in</strong> den großen, als<br />

schwerfällig empfundenen Mischkonzern<br />

„Volkspartei“ Zeit und Geld <strong>in</strong>vestieren,<br />

wenn man den größten Profit<br />

mithilfe schnell agieren<strong>der</strong>, hoch spezialisierter<br />

Bewegungen realisieren kann?<br />

Wie die E-Petition beim Bundestag zum<br />

Thema Netzsperren gezeigt hat, kann<br />

mit vergleichsweise niedrigem Aufwand<br />

onl<strong>in</strong>e mehr erreicht werden als <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

langwierigen Sitzung im Ortsverband,<br />

die möglicherweise kaum Platz im Term<strong>in</strong>kalen<strong>der</strong><br />

f<strong>in</strong>det. Etwas technischer<br />

ausgedrückt: Die Partizipationskosten im<br />

Ortsverband e<strong>in</strong>er Partei s<strong>in</strong>d im Zweifel<br />

um e<strong>in</strong> Vielfaches höher als im Internet,<br />

<strong>der</strong> Gew<strong>in</strong>n aber <strong>in</strong> beiden Fällen zunächst<br />

ungewiss. E<strong>in</strong>en Informationsvorsprung<br />

durch Parteimitgliedschaft gibt<br />

es kaum noch. Auch als Diskussionsraum<br />

ist die Verbandssitzung im Stammlokal<br />

Seite 46 Nr. 484 · März 2010


Im Netz <strong>der</strong> Parteien?<br />

nicht mehr notwendig. Nicht gebunden<br />

an Ort und Zeit, sche<strong>in</strong>t das Internet für<br />

viele die günstigere Alternative. Während<br />

die Möglichkeiten <strong>der</strong> Partizipation<br />

über das Internet sicherlich e<strong>in</strong>en Gew<strong>in</strong>n<br />

für die Politik im Allgeme<strong>in</strong>en darstellen,<br />

s<strong>in</strong>d sie per se noch ke<strong>in</strong> Garant für die<br />

Erhöhung <strong>der</strong> Attraktivität von Volksparteien.<br />

Parteien müssen verstehen, dass<br />

nicht alles, was sie <strong>in</strong>s Internet stellen,<br />

euphorisch erwartet wird. Dies gilt auch<br />

und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e für Angebote <strong>der</strong> Partizipation,<br />

die über den e<strong>in</strong>fachen Klick<br />

h<strong>in</strong>ausgehen. Während sich für Onl<strong>in</strong>e-<br />

Petitionen und Abstimmungen, die mit<br />

e<strong>in</strong>em o<strong>der</strong> wenigen Klicks zu bedienen<br />

s<strong>in</strong>d, Hun<strong>der</strong>te bis Tausende von Netznutzern<br />

mobilisieren lassen, ist die Quote<br />

<strong>der</strong> Beteiligung an Diskussionsprozessen<br />

deutlich ger<strong>in</strong>ger. Je höher <strong>der</strong> (Zeit-)<br />

E<strong>in</strong>satz, <strong>der</strong> im politischen Prozess als<br />

Investment gefor<strong>der</strong>t wird, desto ger<strong>in</strong>ger<br />

ist die Anzahl <strong>der</strong> Teilnehmer. Auch<br />

dieser Grundsatz gilt onl<strong>in</strong>e wie offl<strong>in</strong>e.<br />

Nahezu alle Parteien s<strong>in</strong>d daher auf <strong>der</strong><br />

Suche danach, wie sie attraktive und<br />

passende Angebote für möglichst viele<br />

Bürger schaffen können.<br />

Permanent Organiz<strong>in</strong>g<br />

Das Web 2.0 bietet neben den Möglichkeiten<br />

<strong>der</strong> Information zahlreiche Ansätze<br />

zur Organisation. Das Permanent<br />

Campaign<strong>in</strong>g kann und muss gerade im<br />

Zeitalter des Internets zu e<strong>in</strong>em Permanent<br />

Organiz<strong>in</strong>g werden. Die Wahlkämpfe<br />

<strong>in</strong> den USA haben gezeigt, dass die Organisation<br />

und Mobilisierung eigener Unterstützer<br />

wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> den Vor<strong>der</strong>grund<br />

rücken. Im übertragenen S<strong>in</strong>ne bewegt<br />

man sich wie<strong>der</strong> zurück zu den Wurzeln<br />

politischer Organisation. Will e<strong>in</strong>e Partei<br />

schlagkräftig se<strong>in</strong>, muss sie ihren Fokus<br />

über die klassischen Medien h<strong>in</strong>ausbewegen.<br />

Multiplikatoren – onl<strong>in</strong>e und<br />

offl<strong>in</strong>e – werden als vertrauenswürdige<br />

Quellen politischer Informationen immer<br />

wichtiger. Gerade vor dem H<strong>in</strong>tergrund<br />

des schw<strong>in</strong>denden Vertrauens <strong>in</strong> Medien.<br />

Das Web 2.0 schafft hier die Möglichkeit,<br />

wie<strong>der</strong> relevante Größenordnungen zu<br />

erreichen. Der Aufwand für politische<br />

Hausbesuche im Wahlkampf ist deutlich<br />

größer als <strong>der</strong> für e<strong>in</strong>en Twitter-Beitrag<br />

o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Facebook-Nachricht. In beiden<br />

Fällen kann man aber die persönliche<br />

Sicht <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge an<strong>der</strong>en Menschen nahebr<strong>in</strong>gen<br />

und für die eigene politische Ansicht<br />

werben. In Zeiten, <strong>in</strong> denen sich tendenziell<br />

weniger Menschen f<strong>in</strong>den, die<br />

sich auf dem Wochenmarkt an den Informationsstand<br />

stellen, erlaubt das Web 2.0<br />

damit quasi den Rückschritt zur basisorientierten<br />

Parteiarbeit.<br />

Bei allem Rummel um das Internet und<br />

die Möglichkeiten für die Parteien muss<br />

man aber nüchtern feststellen, dass das<br />

politische Web 2.0 erst am Anfang steht .<br />

Es bleiben noch viele Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />

zu bewältigen. So ist die Frage nach Verdichtung<br />

und Steuerung von Diskussionen,<br />

Beiträgen und H<strong>in</strong>weisen im Internet<br />

ganz zentral, wenn man über die<br />

Möglichkeiten <strong>der</strong> E-Partizipation diskutiert.<br />

Hierbei geht es nicht um die<br />

Steuerung durch Parteien, son<strong>der</strong>n des<br />

reibungslosen Diskurses <strong>der</strong> Aktivisten.<br />

Während viele das Ideal <strong>der</strong> Polis vor<br />

Augen haben, muss man danach fragen,<br />

was passieren würde, wenn sich 63 Millionen<br />

Wähler am Onl<strong>in</strong>e-Diskurs mit<br />

Stellungnahmen et cetera beteiligen würden.<br />

An<strong>der</strong>erseits stellt sich die Frage:<br />

Was passiert, wenn „wenige“ Zehntausende<br />

gut ausgebildete und mit dem<br />

Internet vertraute junge Menschen die<br />

Agenda e<strong>in</strong>er ganzen Nation bestimmen?<br />

Gibt es so etwas wie die Schweigespirale<br />

2.0? Bislang ist die politische Partizipation<br />

im Internet e<strong>in</strong>e „Spielfläche“, die<br />

überwiegend beherrscht wird von jungen,<br />

formal überdurchschnittlich gebildeten<br />

Menschen; überwiegend Männern.<br />

Es ist nicht nur die Politik, die lernen<br />

muss, mit den neuen Instrumenten des<br />

Web 2.0 umzugehen. Auch die breite<br />

Nr. 484 · März 2010<br />

Seite 47


Ralf Güldenzopf/Stefan Hennewig<br />

Masse <strong>der</strong> Nutzer – Bürger und Wähler –<br />

wird sich erst langsam <strong>der</strong> (politischen)<br />

Informations- und E<strong>in</strong>flussmöglichkeiten<br />

bewusst. Aber auch hier hat Obama e<strong>in</strong>en<br />

entscheidenden Beitrag geleistet. Nicht<br />

nur beim Spenden wurden Bürgern verschiedene<br />

Facetten <strong>der</strong> Partizipation verdeutlicht.<br />

Unterschied zu den USA<br />

Allerd<strong>in</strong>gs stimmt <strong>der</strong> E<strong>in</strong>wand, dass die<br />

kont<strong>in</strong>uierliche Parteiarbeit <strong>in</strong> Deutschland<br />

nur schwer mit den Wahlkampfmasch<strong>in</strong>en<br />

<strong>in</strong> den USA zu vergleichen ist,<br />

die je nach Bedarf alle vier Jahre angeschmissen<br />

werden. Es wäre jedoch e<strong>in</strong><br />

Fehler, die Entwicklungen mit dem kritischen<br />

Blick auf e<strong>in</strong>e drohende „Amerikanisierung“<br />

e<strong>in</strong>fach abzulehnen. Genauso<br />

falsch wäre es, mit Copy and Paste („ausschneiden<br />

und e<strong>in</strong>fügen“) die US-Vorgaben<br />

zu übernehmen. Es muss auf Verhalten,<br />

Interessen und Werte im Internet<br />

e<strong>in</strong>gegangen werden, um auch die Philosophie<br />

des Internets sowie <strong>der</strong>en län<strong>der</strong>spezifische<br />

Unterschiede zu verstehen.<br />

Dass dabei das e<strong>in</strong> o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e auch<br />

mal schiefgeht, versteht sich von selbst.<br />

Diesen Raum des Experimentierens aufseiten<br />

<strong>der</strong> Politik und Bevölkerung müssen<br />

auch die Medien e<strong>in</strong>räumen.<br />

Noch zu häufig wurden etwa die deutschen<br />

Bundestagskampagnen mit Obama<br />

verglichen – e<strong>in</strong> Vergleich, <strong>der</strong> aus vielerlei<br />

Gründen h<strong>in</strong>ken muss. Es ist nicht<br />

e<strong>in</strong>mal so sehr die große Differenz <strong>in</strong> den<br />

Budgets. Vielmehr herrscht <strong>in</strong> den USA<br />

e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Kultur <strong>der</strong> politischen Beteiligung.<br />

Dort ist es üblich, sich als Anhänger<br />

e<strong>in</strong>er politischen Richtung offensiv und<br />

öffentlich zu bekennen. Die sprichwörtlichen<br />

Yard Signs heißen deshalb so, weil<br />

<strong>in</strong> jedem guten US-Vorgarten e<strong>in</strong> entsprechendes<br />

Schild steht, das den Besitzer als<br />

Anhänger von Demokraten o<strong>der</strong> Republikanern<br />

auszeichnet. Diese „Kultur des<br />

politischen Bekenntnisses“ f<strong>in</strong>det onl<strong>in</strong>e<br />

ihre Entsprechung <strong>in</strong> Unterstützerzahlen,<br />

Netzwerkgröße und Erfolgen des Fundrais<strong>in</strong>g.<br />

Die Situation <strong>in</strong> Deutschland<br />

ersche<strong>in</strong>t wie das exakte Gegenmodell.<br />

Onl<strong>in</strong>e wie offl<strong>in</strong>e.<br />

H<strong>in</strong>zu mag kommen, dass die US-<br />

Bevölkerung im Umgang mit Technologien<br />

grundsätzlich <strong>in</strong>novativer und mutiger<br />

ist. Das gilt auch für das Internet.<br />

Sicher hat auch Deutschland se<strong>in</strong>e Digital<br />

Natives, aber <strong>in</strong> <strong>der</strong> Masse s<strong>in</strong>d sie noch<br />

nicht mit dem Potenzial <strong>der</strong> USA vergleichbar.<br />

Auch die Netzwerke müssen<br />

sich hierzulande noch weiter verdichten.<br />

Es ist heute unbestritten: Das Internet<br />

gehört zum Standard<strong>in</strong>strument <strong>der</strong> politischen<br />

<strong>Kommunikation</strong>. Es trägt maßgeblich<br />

zum Erfolg o<strong>der</strong> Misserfolg e<strong>in</strong>er<br />

Kampagne bei und kann e<strong>in</strong> entscheiden<strong>der</strong><br />

Pfeiler für die Organisation von Politik<br />

und Partei se<strong>in</strong>. Es gibt vielen Engagierten<br />

und Interessierten neue Möglichkeiten,<br />

sich <strong>in</strong> den politischen Prozess<br />

e<strong>in</strong>zubr<strong>in</strong>gen. Die deutschen (Volks-)Parteien<br />

müssen Antworten auf die gesellschaftlichen,<br />

aber auch technologischen<br />

Herausfor<strong>der</strong>ungen f<strong>in</strong>den, wollen sie<br />

nicht zwischen aktiven S<strong>in</strong>gle-Issue-Netzwerken<br />

zerrieben werden. Dies wird nur<br />

gel<strong>in</strong>gen, wenn man sich auf das Medium<br />

e<strong>in</strong>lässt und se<strong>in</strong>e Nutzer ernst nimmt –<br />

ohne dabei aber zu verkennen, dass das<br />

Internet für breite Teile <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

noch nicht zur Selbstverständlichkeit<br />

geworden ist. Erst recht gilt dies für<br />

die Möglichkeiten <strong>der</strong> politischen Partizipation.<br />

Das sollte man im H<strong>in</strong>terkopf<br />

behalten, wenn man über die neue<br />

„Wun<strong>der</strong>waffe“ spricht. Auch Obama hat<br />

nie vergessen, dass das Internet nur e<strong>in</strong><br />

Vehikel ist, am Ende Menschen mit Menschen<br />

kommunizieren müssen. Diesen<br />

Dialog zu ermöglichen ist e<strong>in</strong> klassisches<br />

Ziel <strong>der</strong> Parteien. Das Internet kann dabei<br />

helfen.<br />

Seite 48 Nr. 484 · März 2010


Zwischen Neuausrichtung<br />

und Kont<strong>in</strong>uität<br />

Das Engagement<br />

deutscher Parteien im Netz<br />

Hagen Albers<br />

Die mediale Berichterstattung über die<br />

Onl<strong>in</strong>ekampagnen deutscher Parteien ist<br />

vorerst verstummt. Das Superwahljahr<br />

2009 ist vorbei, und die neue Regierung ist<br />

mehr als e<strong>in</strong>hun<strong>der</strong>t Tage im Amt. Dennoch<br />

o<strong>der</strong> gerade deshalb stellen sich nun<br />

zwei Fragen: Was haben die Parteien aus<br />

dem Onl<strong>in</strong>ewahlkampf gelernt? Und welche<br />

Ziele verfolgen sie jetzt, da die nächste<br />

Bundestagswahl <strong>in</strong> weiter Ferne liegt?<br />

Weiterh<strong>in</strong> existent ist <strong>der</strong> gesetzliche<br />

Regelungsbedarf im Zusammenhang mit<br />

„Neuen Medien“ o<strong>der</strong> dem „Recht auf<br />

<strong>in</strong>formationelle Selbstbestimmung“. Neben<br />

<strong>der</strong> postelektoralen strategischen<br />

Ausrichtung deutscher Parteien im Geflecht<br />

mo<strong>der</strong>ner <strong>Kommunikation</strong>smöglichkeiten<br />

stellt sich daher die Frage: Wie<br />

ist es bestimmt um den Stellenwert netzpolitischer<br />

Themen <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit<br />

<strong>der</strong> Wahrung des Persönlichkeitsrechts?<br />

Beide Aspekte – Onl<strong>in</strong>ekampagne und<br />

Netzpolitik – s<strong>in</strong>d unmittelbar mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

verwoben und lassen sich dennoch<br />

getrennt betrachten.<br />

Im Mittelpunkt des Wandels <strong>der</strong> Onl<strong>in</strong>ekampagnen<br />

deutscher Parteien standen<br />

technologische Innovationen. Sie<br />

bildeten die große Herausfor<strong>der</strong>ung im<br />

Onl<strong>in</strong>ewahlkampf 2009 – und tun es <strong>in</strong><br />

Teilen bis heute. Denn obwohl die großen<br />

deutschen Parteien ihre Webauftritte<br />

zunehmend professionalisieren, fand<br />

gelungene <strong>in</strong>teraktive Massenmobilisierung<br />

über das Internet nur bed<strong>in</strong>gt statt.<br />

Trügerische Erwartungen weckte die erfolgreiche<br />

Obama-Kampagne nicht nur <strong>in</strong><br />

den Medien, son<strong>der</strong>n auch unter den<br />

deutschen Parteien. Die unreflektierte<br />

Gegenüberstellung <strong>der</strong> Präsidentschaftskampagne<br />

<strong>der</strong> USA im Jahr 2008 und <strong>der</strong><br />

Wahl zum Deutschen Bundestag 2009 ist<br />

wie <strong>der</strong> Vergleich von Äpfeln mit Birnen.<br />

Derartig schwammige Analogien führen<br />

<strong>in</strong> die Irre und bieten kaum ernst zu<br />

nehmende Anhaltspunkte für Parteistrategen.<br />

Unterschiede <strong>der</strong> Medien-, Wahlund<br />

Parteiensysteme werden oftmals<br />

ebenso ausgeblendet wie Abweichungen<br />

bei Spendenbereitschaft, Parteienf<strong>in</strong>anzierung,<br />

<strong>der</strong> Internetnutzung o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Bevölkerungsgröße.<br />

Dennoch besteht Optimierungsbedarf<br />

bei den Onl<strong>in</strong>estrategien<br />

hiesiger Parteien. Wenige Monate nach<br />

den Wahlen im eigenen Land bietet sich<br />

den politischen Akteuren nun die Möglichkeit,<br />

aus Vergangenem die Lehren zu<br />

ziehen. Bereits die bevorstehende Landtagswahl<br />

<strong>in</strong> Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalen im Mai<br />

2010 wird diesen Lernprozess wi<strong>der</strong>spiegeln.<br />

Jetzt ist <strong>der</strong> richtige Zeitpunkt für<br />

die Parteien, ihre Informationsarchitekturen<br />

langfristig auszurichten und auf<br />

Basis <strong>der</strong> Erfahrungen vergangener Kampagnen<br />

und aus <strong>der</strong> Symbiose von traditionellen<br />

Web<strong>in</strong>strumenten und neuen<br />

Web-2.0-Kanälen e<strong>in</strong>e ganzheitliche Informations<strong>in</strong>frastruktur<br />

zu kreieren.<br />

Gegen Ende des letzten Jahres wurden<br />

Daten erhoben, die darauf schließen<br />

lassen, dass genau dies gegenwärtig<br />

passiert. E<strong>in</strong> Vergleich <strong>der</strong> Nutzung von<br />

Social-Media-Profilen zwischen <strong>der</strong> sechzehnten<br />

und siebzehnten Wahlperiode<br />

belegt, dass die Abgeordneten des Deutschen<br />

Bundestages gegenwärtig stärker<br />

Nr. 484 · März 2010<br />

Seite 49


Hagen Albers<br />

als zuvor auf Twitter, Facebook und<br />

Me<strong>in</strong>VZ setzen. Erhoben von den Betreibern<br />

<strong>der</strong> Plattform „Wahl.de“, suggerieren<br />

diese Daten, dass Politiker ihr Mediennutzungsverhalten<br />

den gesellschaftlichen<br />

Trends anpassen. Auch besteht<br />

Grund zu <strong>der</strong> Annahme, dass tendenziell<br />

zunehmend solche Politiker e<strong>in</strong> Mandat<br />

erkämpfen, die sogenannte „Soziale Medien“<br />

<strong>in</strong> ihre <strong>Kommunikation</strong>saktivitäten<br />

e<strong>in</strong>b<strong>in</strong>den. Die erhobenen Daten beantworten<br />

jedoch nicht die Frage, ob die<br />

berücksichtigten Profile und Kanäle noch<br />

immer aktiv genutzt werden. Möglicherweise<br />

fand ihre Nutzung mit dem Wahljahr<br />

2009 e<strong>in</strong> Ende.<br />

In dieser womöglichen Entwicklung<br />

liegt e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> großen Gefahren beim Umgang<br />

mit den neuen <strong>Kommunikation</strong>smöglichkeiten<br />

des Netzes. Sicherlich bedeutet<br />

das Ende e<strong>in</strong>es Wahlkampfs auch<br />

immer die Abnahme <strong>der</strong> Intensität kommunikativer<br />

Handlungen zwischen Bürgern<br />

und politischen Akteuren. Jedoch<br />

untergräbt die Politik ihre Glaubwürdigkeit<br />

bei den Bürgern, wenn YouTube-Kanäle<br />

brachliegen und Me<strong>in</strong>VZ- und Facebook-Profile<br />

nicht länger gepflegt werden.<br />

Erkennbar ist gegenwärtig, dass die<br />

Parteien sche<strong>in</strong>bar Probleme haben,<br />

sämtliche während des Wahlkampfs geschaffenen<br />

Kanäle weiterh<strong>in</strong> zu bedienen.<br />

Anlass zur Sorge gibt gegenwärtig <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

das Netzwerk „Me<strong>in</strong>VZ“. Hier<br />

bef<strong>in</strong>den sich Profile deutscher Spitzenpolitiker,<br />

die zuletzt unmittelbar nach <strong>der</strong><br />

Wahl gepflegt wurden. Auch e<strong>in</strong>ige Aufrufe<br />

zur Wahl s<strong>in</strong>d nach wie vor prom<strong>in</strong>ent<br />

platziert o<strong>der</strong> <strong>in</strong> Form von Videobotschaften<br />

abrufbar.<br />

Schlimmstenfalls bef<strong>in</strong>den sich noch<br />

immer zahlreiche unbeantwortete Anfragen<br />

von <strong>in</strong>teressierten jungen Wählern <strong>in</strong><br />

den sozialen Netzwerken. Doch wie wollen<br />

die Parteien und Politiker mittels dieser<br />

Medien zu Wahlkampfzeiten glaubhaft<br />

kommunizieren, wenn gegenwärtig<br />

Fragen und Kommentare ignoriert werden?<br />

Reduzierte Aktivitäten nach dem<br />

Kampf um Wählerstimmen s<strong>in</strong>d verständlich.<br />

Doch neue Kanäle e<strong>in</strong>zurichten<br />

und im Wahlkampf emsig den Kontakt zu<br />

möglichst vielen Personen aufzubauen,<br />

um diese für die Stimmabgabe zu mobilisieren,<br />

und dieselben Personen letztlich<br />

zu ignorieren ersche<strong>in</strong>t als e<strong>in</strong>e Herabwürdigung<br />

von Teilen <strong>der</strong> Wählerschaft.<br />

Wer <strong>der</strong>artig mit se<strong>in</strong>en Stimmgebern<br />

verfährt, darf sich auch über <strong>der</strong>en Abwendung<br />

von <strong>der</strong> Partei o<strong>der</strong> von Politik<br />

<strong>in</strong>sgesamt nicht wun<strong>der</strong>n.<br />

Strategische Ausrichtung<br />

Zwischen den Wahlkämpfen ist Zeit für<br />

e<strong>in</strong>e konsequente und gegebenenfalls<br />

neue strategische Ausrichtung. Das bedeutet<br />

auch, sich im Zweifelsfall gegen<br />

die e<strong>in</strong> o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Onl<strong>in</strong>epräsenz zu entscheiden.<br />

Nicht je<strong>der</strong> Politiker muss überall<br />

im Netz vertreten se<strong>in</strong>. Maßstab ist<br />

stattdessen, dass e<strong>in</strong> politischer Akteur<br />

den ihm im Web 2.0 abverlangten <strong>Kommunikation</strong>saufwand<br />

bewältigen kann.<br />

Wurde e<strong>in</strong> Kanal erst bespielt und haben<br />

sich dort Unterstützer gesammelt, gestaltet<br />

sich <strong>der</strong> Rückzug umso problematischer.<br />

Die deutschen Parteien haben<br />

sich sche<strong>in</strong>bar während des Wahlkampfs<br />

rückl<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Welt gestürzt, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sie<br />

sich nun nicht mehr zurechtf<strong>in</strong>den. Zur<br />

Schadensbegrenzung könnten die politischen<br />

Akteure offen und transparent darlegen,<br />

bei welchem <strong>der</strong> <strong>Kommunikation</strong>smedien<br />

auch <strong>der</strong> wichtige Rückkanal<br />

vom Bürger zum Politiker zur Verfügung<br />

steht. Transparenz und Authentizität lassen<br />

sich auch dadurch schaffen, auf bestimmte<br />

Onl<strong>in</strong>e<strong>in</strong>strumente zu verzichten<br />

und dies an an<strong>der</strong>er Stelle im Netz zu<br />

begründen. Besser, als die Nutzer e<strong>in</strong>er<br />

bestimmten Plattform nicht länger zu beachten,<br />

ist <strong>der</strong> H<strong>in</strong>weis auf Erreichbarkeit<br />

an an<strong>der</strong>er Stelle im Web. Über die e<strong>in</strong>malige<br />

E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung von RSS-Feeds (Really<br />

Simple Syndication, e<strong>in</strong>e Technologie zum<br />

Abonnement von Webseiten-Inhalten)<br />

Seite 50 Nr. 484 · März 2010


Das Engagement deutscher Parteien im Netz<br />

auf ansonsten brachliegenden Profilen<br />

ließe sich zudem e<strong>in</strong> gewisser Grad<br />

an Aktualität gewährleisten. Zweifellos<br />

könnten Politiker auf sämtlichen Social-<br />

Web-Kanälen als Sen<strong>der</strong> <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung<br />

treten. Möglichkeiten zur automatisierten<br />

Syndizierung, <strong>der</strong> parallelen Bespielung<br />

mehrerer Präsenzen durch e<strong>in</strong>maliges<br />

Handeln, existieren zur Genüge. Doch<br />

<strong>in</strong> ähnlichem Maßstab auch Nachrichten<br />

zu empfangen und den kommunikativ<br />

hochwertigen, wechselseitigen und <strong>in</strong>dividuellen<br />

Austausch zwischen Bürger<br />

und Politiker an je<strong>der</strong> Stelle im Netz zu<br />

garantieren ist weitaus schwieriger und<br />

ungleich aufwendiger.<br />

Hilfreich bei <strong>der</strong> Entscheidung für<br />

o<strong>der</strong> gegen e<strong>in</strong> soziales Medium können<br />

auch technische Eigenschaften se<strong>in</strong>.<br />

Wer nicht <strong>in</strong> großem Maßstab o<strong>der</strong> <strong>in</strong><br />

beson<strong>der</strong>s kreativer Manier Videostatements<br />

im Netz verbreiten will, braucht<br />

ke<strong>in</strong>en eigenen YouTube-Kanal. Wer<br />

berufliche und private Bil<strong>der</strong> bei Facebook<br />

und StudiVZ e<strong>in</strong>stellt, sollte sich<br />

nicht genötigt sehen, e<strong>in</strong> Konto bei <strong>der</strong><br />

„Foto-Shar<strong>in</strong>g-Plattform“ Flickr e<strong>in</strong>zurichten.<br />

Wenn nicht vorgesehen ist, den<br />

eigenen Arbeitsalltag im Web auszubreiten<br />

o<strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em thematischen Rahmen<br />

auf neue Entwicklungen aufmerksam<br />

zu machen, welchen Zweck erfüllt<br />

dann e<strong>in</strong> aufwendig, weil im täglichen<br />

Rhythmus zu bespielendes Profil bei<br />

dem Mikroblogg<strong>in</strong>g-Dienst Twitter? Wie<br />

so oft bedeutet weniger hier also mehr.<br />

Der Verzicht auf e<strong>in</strong>en <strong>Kommunikation</strong>skanal<br />

stärkt gegebenenfalls e<strong>in</strong>en<br />

an<strong>der</strong>en. Die Aufgabe <strong>der</strong> Top-down-<br />

<strong>Kommunikation</strong> über das e<strong>in</strong>e Medium<br />

führt möglicherweise zu mehr Authentizität<br />

<strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> beibehaltenen Kanäle,<br />

denn hier kann umfassen<strong>der</strong> und<br />

<strong>in</strong>tensiver mit den Bürgern kommuniziert<br />

werden.<br />

Aktuell gibt es im Gegensatz zum<br />

Superwahljahr ke<strong>in</strong>e wirklich neuen, tief<br />

greifenden Verän<strong>der</strong>ungen im Web, auf<br />

die reagiert werden muss. Umso wichtiger<br />

ist es, dass politische Akteure endlich<br />

ihren Umgang mit den bestehenden Instrumenten<br />

optimieren. Insbeson<strong>der</strong>e die<br />

kürzlich neu formierten Bundestagsfraktionen<br />

könnten ihre Onl<strong>in</strong>eaktivitäten<br />

koord<strong>in</strong>ieren, geme<strong>in</strong>same <strong>Kommunikation</strong>sziele<br />

def<strong>in</strong>ieren und umsetzen.<br />

Die möglichst präzise Abstimmung und<br />

Streuung von Botschaften im Netz ersche<strong>in</strong>t<br />

mit Blick auf die Me<strong>in</strong>ungsführerschaft<br />

ebenso erstrebenswert wie Experimente,<br />

etwa <strong>in</strong> Form von exklusiver<br />

Vorabverbreitung von Inhalten <strong>in</strong> Web-<br />

Communitys.<br />

Auch die <strong>in</strong>haltliche und gestalterische<br />

Bespielung <strong>der</strong> vorhandenen Kanäle<br />

sollte überdacht werden. Denn bei Betrachtung<br />

<strong>der</strong> Aktivitäten <strong>der</strong> Parteien<br />

auf YouTube offenbart sich, dass sie<br />

sche<strong>in</strong>bar kaum aus den Bundestagswahlen<br />

gelernt haben. Noch immer präsentieren<br />

sie ermüdend und pastoral wirkende<br />

Stellungnahmen des politischen Spitzenpersonals.<br />

Erfolglose Formate werden<br />

fortgeführt. So können auch die Betrachtungszahlen<br />

nicht überraschen. Abgesehen<br />

von wenigen Ausnahmen, kommen<br />

die Filme auf den YouTube-Kanälen<br />

deutscher Parteien auf mehrere Hun<strong>der</strong>t<br />

bis wenige Tausend Klicks pro Video. Dabei<br />

gab es während des Wahlkampfs auch<br />

Erfolgsgeschichten, die heute Grundlage<br />

zur Orientierung böten. Statt an reichweitenstarke<br />

Beiträge o<strong>der</strong> Animationen<br />

anzuknüpfen, sche<strong>in</strong>en die Verantwortlichen<br />

dem Motto „Quantität vor Qualität“<br />

zu folgen. Kohärente Konzepte zur<br />

<strong>Kommunikation</strong> mit den Bürgern über<br />

Onl<strong>in</strong>evideoportale s<strong>in</strong>d offensichtlich<br />

bei ke<strong>in</strong>er Partei vorhanden. Dabei hatte<br />

e<strong>in</strong>e Forsa-Umfrage bereits 2009 belegt:<br />

Der größte Teil <strong>der</strong> politisch <strong>in</strong>teressierten<br />

Internetnutzer <strong>in</strong> Deutschland bezieht<br />

Informationen von Webseiten <strong>der</strong> klassischen<br />

Medien. Auf Basis solcher Fakten<br />

könnten die Verantwortlichen Ziele def<strong>in</strong>ieren.<br />

Alternativ ließen sich Botschaften<br />

Nr. 484 · März 2010<br />

Seite 51


Hagen Albers<br />

parteipolitisch stärker nach <strong>in</strong>nen an die<br />

eigenen Mitglie<strong>der</strong> richten.<br />

E<strong>in</strong>e neue Netzpolitik?<br />

Neben <strong>der</strong> strategischen Ausrichtung<br />

verfügbarer Instrumente und Kanäle s<strong>in</strong>d<br />

Parteien und Politiker vor allem <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Sache gefor<strong>der</strong>t: Die Netzgeme<strong>in</strong>schaft<br />

hat im letzten Jahr ihre Ansprüche an das<br />

Internet und dessen rechtliche Regelung<br />

verdeutlicht. Aufgrund von Unkenntnis<br />

<strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> politischen Reihen wurde<br />

entgegen den Standpunkten mehrerer<br />

10 000 Onl<strong>in</strong>eaktivisten das Gesetz zur<br />

Verh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung zum Zugang von k<strong>in</strong><strong>der</strong>pornografischen<br />

Seiten im Internet verabschiedet,<br />

obwohl anerkannte Datenschützer<br />

ihren Protest äußerten. Mittlerweile<br />

hat sich die schwarz-gelbe Koalition<br />

von <strong>der</strong> Umsetzung des Gesetzes<br />

<strong>in</strong> ursprünglichem S<strong>in</strong>ne verabschiedet.<br />

Zwar hat Bundespräsident Köhler das<br />

„Zugangserschwerungsgesetz“am17. Februar<br />

2010 unterzeichnet. Die Bundesregierung<br />

machte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Schreiben an das<br />

Präsidialamt jedoch deutlich, dass sie<br />

ke<strong>in</strong>erlei Gebrauch von Netzsperren machen<br />

werde. Anstelle <strong>der</strong> Sperrungen<br />

solle die Polizei versuchen, Internetseiten<br />

mit entsprechenden Inhalten zu löschen.<br />

Die SPD revidierte gegen Ende des Jahres<br />

2009 ihre Auffassung zur Sperrung<br />

von Seiten im Internet. Während sie die<br />

Initiative <strong>der</strong> damaligen Familienm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong><br />

von <strong>der</strong> Leyen noch im April mittrug,<br />

wi<strong>der</strong>rief sie diese Entscheidung im vergangenen<br />

Dezember. Als Ersatz für den<br />

SPD-Onl<strong>in</strong>ebeirat, <strong>der</strong> sich nach <strong>der</strong> Missachtung<br />

se<strong>in</strong>er Empfehlung zum Abstimmungsverhalten<br />

<strong>in</strong> Sachen Netzsperren<br />

aufgelöst hatte, solle <strong>in</strong> Kürze e<strong>in</strong> neues<br />

netzpolitisches Gremium geschaffen werden.<br />

Der „Gesprächskreis Netzpolitik“<br />

hat zum Ziel, die Partei bei <strong>der</strong> F<strong>in</strong>dung<br />

neuer netzpolitischer Standpunkte zu<br />

unterstützen. Björn Böhn<strong>in</strong>g, Sprecher<br />

<strong>der</strong> Parteil<strong>in</strong>ken, hob <strong>in</strong> diesem Zusammenhang<br />

hervor, die SPD habe <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Vergangenheit die Logik des Internets<br />

nicht begriffen. Die Rolle des Gesprächskreises<br />

wurde vorerst vage skizziert.<br />

Auch die personelle Besetzung betreffend,<br />

fiel, abgesehen von Sascha Lobo,<br />

bisher ke<strong>in</strong> Name. Jedoch kündigten<br />

sche<strong>in</strong>bar alle Mitglie<strong>der</strong> des ehemaligen<br />

Onl<strong>in</strong>ebeirats ihren Willen zum Mitwirken<br />

an.<br />

Auch die Union zieht aus Vergangenem<br />

die Lehren. Zu Beg<strong>in</strong>n des Jahres<br />

kündigte die CDU/CSU-Fraktion die<br />

Schaffung e<strong>in</strong>erEnquete-Kommission mit<br />

dem Titel „Internet und digitale <strong>Gesellschaft</strong>“<br />

an. Sie soll fraktionsübergreifend<br />

aus Abgeordneten des Bundestags<br />

hervorgehen. Der Chef des Vorstands<br />

<strong>der</strong> Unionsfraktion, Volker Kau<strong>der</strong>, beabsichtigt,<br />

<strong>der</strong> Frage nachzugehen, wie<br />

die Digitalisierung und das Internet das<br />

gesellschaftliche Zusammenleben verän<strong>der</strong>t<br />

haben und welche Konsequenzen<br />

sich daraus ergeben. Bestehen soll die<br />

Kommission aus fünf Abgeordneten <strong>der</strong><br />

Unionsfraktion, drei <strong>der</strong> SPD und jeweils<br />

zwei Delegierten <strong>der</strong> FDP und <strong>der</strong> L<strong>in</strong>kspartei.<br />

Die Grünen werden mit e<strong>in</strong>em<br />

Delegierten vertreten se<strong>in</strong>. Dieser Vorstoß<br />

verdeutlicht, dass die netzpolitischen<br />

Debatten des vergangenen Jahres<br />

nicht spurlos an den großen deutschen<br />

Parteien vorübergegangen s<strong>in</strong>d. Zwar erfolgt<br />

die ernsthafte Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung<br />

<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e mit Themen wie Netzsperren,<br />

geistigem Eigentum, Digital Divide<br />

und dem Recht auf <strong>in</strong>formationelle<br />

Selbstbestimmung etwa um e<strong>in</strong> Jahr verspätet,<br />

dennoch ist gutzuheißen, dass die<br />

Politik sich dieser Themen endlich annimmt.<br />

2009 waren <strong>in</strong> Deutschland so viele<br />

Personen onl<strong>in</strong>e wie nie zuvor. Zugleich<br />

stieg laut <strong>der</strong> aktuellen ARD/ZDF-Onl<strong>in</strong>estudie<br />

die Verweildauer im Web auf<br />

durchschnittlich 136 M<strong>in</strong>uten pro Tag.<br />

Der Trend <strong>der</strong> vergangenen Jahre hält<br />

folglich an. Die kontroverse Debatte um<br />

dasZugangserschwerungsgesetz und das<br />

Seite 52 Nr. 484 · März 2010


Das Engagement deutscher Parteien im Netz<br />

Erstarken <strong>der</strong> Piratenpartei dürften nicht<br />

zuletzt dazu geführt haben, dass sich alle<br />

etablierten Parteien verstärkt netzpolitischen<br />

Themen widmen. Die Frage, ob es<br />

sich bei <strong>der</strong> Piratenpartei um die temporäre<br />

Organisation politischer Onl<strong>in</strong>eaktivisten<br />

o<strong>der</strong> um e<strong>in</strong>e zunehmend etablierte<br />

politische Kraft handelt, kann zum<br />

gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht mit<br />

Sicherheit beantwortet werden.<br />

Im Rahmen <strong>der</strong> Debatte um die E<strong>in</strong>führung<br />

von Netzsperren konnten die<br />

Piraten ihre Mitglie<strong>der</strong>zahl signifikant<br />

steigern. Seither wächst die Partei nur<br />

langsam. Aktuell, so ist auf <strong>der</strong> Website<br />

<strong>der</strong> Piraten zu lesen, liegt die Zahl bei etwas<br />

unter 12 000 Mitglie<strong>der</strong>n. Diese Entwicklung<br />

sowie <strong>der</strong> Gew<strong>in</strong>n von bundesweit<br />

zwei Prozent <strong>der</strong> Wählerstimmen<br />

können als Signal dafür gewertet werden,<br />

dass die Piraten e<strong>in</strong>en festen Stamm von<br />

Unterstützern aggregieren konnten. In<br />

ihrem Kernkompetenzbereich schärft die<br />

Partei <strong>der</strong>weil ihr Profil. So demonstrierten<br />

Piraten mit spontanen Aktionen gegen<br />

Nacktscanner auf deutschen Flughäfen<br />

und werben für e<strong>in</strong>e Onl<strong>in</strong>epetition<br />

mit dem Ziel, die E<strong>in</strong>führung <strong>der</strong> Geräte<br />

zu verbieten. Zugleich engagieren sie sich<br />

gegen das am 1. Januar 2010 <strong>in</strong> Kraft getretene<br />

Gesetz zur Erhebung von elektronischen<br />

Entgeltnachweisen (ELENA).<br />

Auch hier organisieren sie Kundgebungen<br />

und Informationsaktionen, unterstützen<br />

laufende Onl<strong>in</strong>epetitionen und<br />

positionieren sich, bevor an<strong>der</strong>e Parteien<br />

<strong>in</strong> Stellung gehen. Der Vorteil <strong>der</strong> Piraten<br />

gegenüber den etablierten Parteien ist<br />

neben ihrer noch weitestgehend monothematischen<br />

Ausrichtung die Glaubwürdigkeit<br />

beim Engagement für ihre<br />

Ziele. Die großen Parteien sche<strong>in</strong>en mit<br />

ihren jüngsten Initiativen e<strong>in</strong> Stück weit<br />

auf e<strong>in</strong>e gesellschaftliche Debatte zu reagieren,<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> den Piraten viel Aufmerksamkeit<br />

geschenkt wird. Jedoch haben die<br />

CDU, CSU, SPD und auch die Grünen<br />

durch ihr Abstimmungsverhalten und ihr<br />

schwerfälliges Reagieren auf das Thema<br />

Netzsperren <strong>in</strong>sgesamt e<strong>in</strong>en Teil des<br />

ihnen entgegengebrachten Vertrauens<br />

verspielt. Bündnis 90/Die Grünen und<br />

die FDP dürfen sich <strong>in</strong> Zukunft noch am<br />

ehesten Chancen ausrechnen, erfolgreich<br />

um die politisch <strong>in</strong>teressierte und onl<strong>in</strong>eaff<strong>in</strong>e<br />

junge Wählerschaft – die Wählerklientel<br />

<strong>der</strong> Piraten – zu werben. Datenschutz<br />

und Bürgerrechten räumten beide<br />

Parteien bereits vor dem Erstarken <strong>der</strong><br />

Piratenpartei e<strong>in</strong>en hohen Stellenwert<br />

e<strong>in</strong>.<br />

Mit dem Wandel des Internets zum<br />

„Social Web“ entwickeln sich neue Ansprüche<br />

an die Politik. Völlig ohne Social-<br />

Media-Instrumente sollte <strong>in</strong> Zukunft ke<strong>in</strong><br />

Abgeordneter dastehen. Und das gilt<br />

nicht nur für Zeiten des Wahlkampfs.<br />

Homepage und E-Mail alle<strong>in</strong> wirken <strong>in</strong><br />

Zukunft bei <strong>der</strong> wichtigen <strong>Kommunikation</strong><br />

zwischen Politik und Bürgern nicht<br />

mo<strong>der</strong>n genug. Umso wichtiger ist die<br />

strategische Entscheidung, welche Kanäle<br />

aktiv genutzt werden. Die Zeit des<br />

Ausprobierens sollte zum Ende kommen.<br />

Die Bürger sollten unter gleichbleibenden<br />

Bed<strong>in</strong>gungen im Web adäquate <strong>Kommunikation</strong>skanäle<br />

angeboten bekommen.<br />

Wie stark das Internet bei den bevorstehenden<br />

Wahlen auf Landtags- und Bundestagsebene<br />

den Wahlausgang bee<strong>in</strong>flussen<br />

wird, hängt von zwei D<strong>in</strong>gen ab: zum<br />

e<strong>in</strong>en davon, ob es den politischen Akteuren<br />

gel<strong>in</strong>gen wird, ihre <strong>Kommunikation</strong>sstrategien<br />

erwartungsgetreu und überzeugend<br />

auszurichten. Missl<strong>in</strong>gt dies, so werden<br />

auch <strong>in</strong> Zukunft die Stimmen <strong>der</strong><br />

Presse laut, die sich die Obama-Kampagne<br />

nach Deutschland wünschen. Zum an<strong>der</strong>en<br />

ist entscheidend, welchen Weg die Politik<br />

e<strong>in</strong>schlägt, wenn es um die Regulierung<br />

des Internets und <strong>der</strong> Neuen Medien<br />

geht. Gel<strong>in</strong>gt es nicht, zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>en<br />

Teil <strong>der</strong> politisch aktiven Onl<strong>in</strong>er zu überzeugen,<br />

mag das bestehende Fünf-Parteien-System<br />

langfristig um e<strong>in</strong>en weiteren<br />

Akteur ergänzt werden.<br />

Nr. 484 · März 2010<br />

Seite 53


AUTOREN<br />

Hagen Albers, geboren 1982 <strong>in</strong> Osnabrück, ist<br />

Berater und Projektentwickler <strong>der</strong> Internetagentur<br />

„Ressourcenmangel“.<br />

Günter Buchstab, geboren 1944 <strong>in</strong> Lauchheim,<br />

leitete bis März 2009 die Hauptabteilung<br />

Wissenschaftliche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische<br />

Politik <strong>der</strong> Konrad-Adenauer-Stiftung.<br />

Wolfgang Donsbach, geboren 1949 <strong>in</strong> Bad<br />

Kreuznach, leitet das Institut für <strong>Kommunikation</strong>swissenschaft<br />

<strong>der</strong> Technischen Universität<br />

Dresden und war Präsident <strong>der</strong> „International<br />

Communication Association“ (ICA)<br />

sowie <strong>der</strong> „World Association for Public<br />

Op<strong>in</strong>ion Research“ (WAPOR).<br />

Ernst Elitz, geboren 1941 <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, war von<br />

1994 bis 2009 Gründungs<strong>in</strong>tendant des<br />

Deutschlandradios. Er lehrt an <strong>der</strong> Freien Universität<br />

Berl<strong>in</strong> Kultur- und Medienmanagement.<br />

Gernot Facius, geboren 1942 <strong>in</strong> Karlsbad, war<br />

Stellvertreten<strong>der</strong> Chefredakteur <strong>der</strong> Tageszeitung<br />

„Die Welt“. Er lebt als freier Journalist<br />

bei Bonn.<br />

Hans-Joachim Föller, geboren 1958 <strong>in</strong><br />

Schlüchtern (Hessen), war nach dem Volontariat<br />

<strong>in</strong> den 1990er-Jahren als Redakteur <strong>in</strong><br />

Thür<strong>in</strong>gen tätig und arbeitet seitdem als freier<br />

Journalist, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e zum Thema Aufarbeitung<br />

<strong>der</strong> SED-Diktatur.<br />

Manfred Funke, geboren 1939 <strong>in</strong> Reckl<strong>in</strong>ghausen,<br />

ist emeritierter Professor für <strong>Politische</strong><br />

Wissenschaft an <strong>der</strong> Rhe<strong>in</strong>ischen Friedrich-Wilhelms-Universität<br />

Bonn.<br />

Robert Grünewald, geboren 1955 <strong>in</strong> Hösbach,<br />

ist Referent für <strong>Politische</strong> <strong>Kommunikation</strong> <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Hauptabteilung <strong>Politische</strong> Bildung <strong>der</strong><br />

Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.<br />

Ralf Güldenzopf, geboren 1977 <strong>in</strong> Nordhausen,<br />

ist Leiter <strong>der</strong> Abteilung <strong>Politische</strong><br />

<strong>Kommunikation</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hauptabteilung <strong>Politische</strong><br />

Bildung <strong>der</strong> Konrad-Adenauer-Stiftung<br />

e. V.<br />

Stefan Hennewig, geboren 1973 <strong>in</strong> Haltern,<br />

ist Leiter des Internen Managements <strong>der</strong><br />

CDU-Bundesgeschäftsstelle und promovierte<br />

über die politische Regulierung des Internet<br />

<strong>in</strong> Deutschland.<br />

Arne Klempert, geboren 1972 <strong>in</strong> Frankfurt am<br />

Ma<strong>in</strong>, ist Leiter des Geschäftsfeldes Digitale<br />

<strong>Kommunikation</strong> des Instituts für Organisationskommunikation<br />

(IFOK GmbH), Bensheim.<br />

Brigitta Kögler, geboren 1944 <strong>in</strong> Chemnitz,<br />

Rechtsanwält<strong>in</strong> und Mitglied <strong>der</strong> Konrad-<br />

Adenauer-Stiftung e. V., gehörte als Abgeordnete<br />

<strong>der</strong> Volkskammer an. Sie ist stellvertretende<br />

Vorsitzende des Vere<strong>in</strong>s von Mitglie<strong>der</strong>n<br />

<strong>der</strong> ehemaligen Volkskammerfraktion<br />

CDU/DA.<br />

Gisbert Kuhn, geboren 1941 <strong>in</strong> Falkenau/<br />

Egerland, war unter an<strong>der</strong>em Korrespondent<br />

<strong>der</strong> „Augsburger Allgeme<strong>in</strong>en Zeitung“ <strong>in</strong><br />

Bonn und Brüssel. Er arbeitet heute als freier<br />

Journalist <strong>in</strong> Bonn.<br />

Norbert Lammert, geboren 1948 <strong>in</strong> Bochum,<br />

Sozialwissenschaftler, war von 1998 bis 2002<br />

kultur- und medienpolitischer Sprecher <strong>der</strong><br />

CDU/CSU-Bundestagsfraktion und ist seit<br />

Oktober 2005 Präsident des Deutschen Bundestages.<br />

Bernt von zur Mühlen, geboren 1947 <strong>in</strong><br />

Rheden/Hannover, Journalist, Publizist und<br />

Berater, ist Geschäftsführen<strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong>er<br />

des Consultant- und Research-Unternehmens<br />

moreUneed GmbH mit den Schwerpunkten<br />

Medien und Bildung <strong>in</strong> Mondorf-Les-Ba<strong>in</strong>s/<br />

Luxemburg.<br />

Mathias Rentsch, geboren 1981 <strong>in</strong> Bautzen,<br />

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut<br />

für <strong>Kommunikation</strong>swissenschaft <strong>der</strong> Technischen<br />

Universität Dresden.<br />

Britta Rottbeck, geboren 1982 <strong>in</strong> Dorsten, ist<br />

Graduiertenstipendiat<strong>in</strong> <strong>der</strong> Konrad-Adenauer-Stiftung<br />

und promoviert zum Thema<br />

„Die Onl<strong>in</strong>e-Strategien <strong>der</strong> CDU und <strong>der</strong> SPD<br />

im Bundestagswahlkampf 2009“.<br />

Jürgen Wilke, geboren 1943 <strong>in</strong> Goldap, ist<br />

Professor am Institut für Publizistik <strong>der</strong><br />

Johannes-Gutenberg-Universität Ma<strong>in</strong>z.<br />

Manfred Wilke, geboren 1941 <strong>in</strong> Kassel, Soziologe,<br />

Zeithistoriker und Publizist, war bis<br />

2006 Professor für Soziologie an <strong>der</strong> Fachhochschule<br />

für Wirtschaft <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> und e<strong>in</strong>er<br />

<strong>der</strong> beiden Leiter des Forschungsverbundes<br />

SED-Staat an <strong>der</strong> Freien Universität Berl<strong>in</strong>, zu<br />

dessen Mitbegrün<strong>der</strong>n er zählt.<br />

Seite 80 Nr. 484 · März 2010

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