Richtig lesen lernen - Schritt für Schritt
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Norbert Sommer-Stumpenhorst<br />
<strong>Richtig</strong> <strong>lesen</strong> <strong>lernen</strong> - <strong>Schritt</strong> <strong>für</strong> <strong>Schritt</strong><br />
Materialien <strong>für</strong> den Leseunterricht und die Leseförderung<br />
Lesen<br />
Leselernprozess<br />
Diese Mappe enthält einen grundlegenden Artikel zum Leselernprozess<br />
Lesen und Verstehen 2<br />
Die unvorstellbare Leistung des Gehirns 2<br />
1. <strong>Schritt</strong>: Einem Schriftzeichen einen Laut zuordnen 3<br />
2. <strong>Schritt</strong>: Laute zusammenziehen - Eine Buchstabenfolge in eine Lautfolge übertragen 4<br />
3. <strong>Schritt</strong>: Silben<strong>lesen</strong> 6<br />
4. <strong>Schritt</strong>: Flüssiges Lesen 7<br />
a) Flüssiges Lesen ist nur still möglich 7<br />
b) Wortbausteine und Sinnerwartung 8<br />
c) Übungen zur Steigerung des Lesetempos 8<br />
5. <strong>Schritt</strong>: Vortragen und Vor<strong>lesen</strong> (Leistungsbewertung) 10<br />
6. <strong>Schritt</strong>: Schnelles Lesen 10<br />
Lesen wird immer differenzierter 12<br />
Alle Rechte an den Materialien vorbehalten.<br />
© Norbert Sommer-Stumpenhorst • Beckum • 2001 - 2004<br />
LE02 13<br />
Die Materialien sind urheberrechtlich geschützt und nur <strong>für</strong> die Benutzung durch den Käufer zugelassen. Jegliche Form der Vervielfältigung<br />
und Übertragung auch einzelner Teile sowie jegliche Form der Weitergabe sind ohne schriftliche Genehmigung des Autors nicht<br />
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Die Materialien wurden in vielen Fördergruppen und Schulen erprobt und immer weiter verbessert. Bei der Bearbeitung der nun vorliegenden<br />
Materialien haben wir uns große Mühe gegeben. Dennoch ist es wohl nicht zu vermeiden, dass trotz aller Sorgfalt gelegentlich<br />
Fehler auftreten. Schreiben Sie uns, wenn Ihnen ein Fehler auffällt oder Sie Verbesserungsvorschläge haben. Wir sind an Ihrer Meinung<br />
und Ihren Erfahrungen stets interessiert. Materialkorrekturen finden Sie in der Rubrik „Neu/Korrekturen“ im Colli-Shop<br />
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Fragen und Anregungen zum Rechtschreibunterricht oder zum Einsatz der Materialien können Sie im Forum der Rechtschreibwerkstatt<br />
(www.forum.rechtschreibwerkstatt.de) stellen.<br />
© Norbert Sommer-Stumpenhorst <strong>Richtig</strong> Lesen <strong>lernen</strong> – <strong>Schritt</strong> <strong>für</strong> <strong>Schritt</strong> LE02 / 1
Lesen und Verstehen<br />
Zu Beginn ein kleines Experiment: Versuchen Sie einmal den folgenden Text zu <strong>lesen</strong>:<br />
Lie�� Om� , lie��� Op� !<br />
Gestern waren wir mit der Klasse auf dem<br />
Bauernhof.<br />
Wi� ha��� Kü�� un� Schw���� ge����� un� Hü��� un�<br />
ein�� Ha��.<br />
Pfe��� wa��� ni��� da. De� Bau�� ha� ge����:<br />
„Pfe��� ha��� wi� ni��� me��,<br />
wei� de� Tr����� je��� all�� ma���.“<br />
1 Lesen ist immer ein hypothesengeleiteter Prozess,<br />
der auf Sinnentnahme ausgerichtet ist. Die<br />
Sinnerwartung steuert, wie viele Informationen<br />
(Schriftzeichen) wir brauchen, um einen Text<br />
flüssig zu <strong>lesen</strong>. Die Lesegeschwindigkeit eines<br />
Menschen hängt davon ab, wie treffsicher seine<br />
Sinnerwartung ist. So ist es möglich, dass wir einen<br />
Text <strong>lesen</strong> können, bei dem wir von jedem<br />
Wort nur die ersten beiden Buchstaben kennen.<br />
Lesen setzt voraus, dass<br />
♦ Schriftzeichen als solche erkannt,<br />
♦ ihnen Laute zugeordnet und<br />
♦ eine Buchstabenfolge in eine analoge Lautfolge<br />
gebracht werden können.<br />
Flüssiges Lesen entwickelt sich,<br />
♦ indem Kinder ein Gespür <strong>für</strong> häufig vorkommende<br />
Buchstabenfolgen entwickeln.<br />
Diese werden dann nicht mehr als Buchstabenfolge<br />
ge<strong>lesen</strong> (er<strong>lesen</strong>) sondern fest<br />
assoziiert<br />
♦ Mit zunehmender Leseerfahrung brauchen<br />
die Kinder immer weniger Buchstabeninformationen,<br />
um ein Wort zu entschlüsseln. Auf<br />
diese Weise entwickelt sich eine Sinnerwartung<br />
<strong>für</strong> das zu <strong>lesen</strong>de Wort.<br />
♦ Diese Kompetenz wird durch häufiges Lesen<br />
zunehmend erweitert und die Sinnerwartung<br />
auf Wortgruppen, Satzteile, Sätze und den<br />
gesamten Text ausgedehnt. Erst dann gelingt<br />
1 Dieses Leseexperiment stammt von RÜDIGER URBANEK. Landesinstitut<br />
<strong>für</strong> Schule und Weiterbildung, Soest.<br />
Liebe Oma, lieber Opa! Gestern waren wir mit der Klasse auf<br />
dem Bauernhof. Wir haben Kühe und Schweine gesehen und<br />
Hühner und einen Hahn. Pferde waren nicht da. Der Bauer hat<br />
gesagt: „Pferde haben wir nicht mehr, weil der Traktor jetzt alles<br />
macht.“<br />
es, auch unbekannte Texte direkt laut vorzutragen.<br />
Für Kinder verläuft dieser Lernprozess in verschiedenen<br />
<strong>Schritt</strong>en (oder Stufungen). Nicht alle<br />
Kinder durchlaufen diesen Lernprozess ohne<br />
Schwierigkeiten. Es gibt einige kritische Stellen<br />
in diesem Lernprozess, an denen Kinder gehäuft<br />
scheitern. Diese Störstellen sind leicht zu erkennen<br />
und meist mit wenig Aufwand und wenigen<br />
Übungen zu beheben.<br />
Die unvorstellbare Leistung des<br />
Gehirns<br />
In den westlichen Kulturen haben wir, anders<br />
als in China, eine buchstabenorientierte Schrift<br />
entwickelt. Hierbei müssen Schriftzeichen in<br />
Laute und eine Zeichenfolge in eine Lautfolge<br />
(ein Wort) übertragen werden. Wenn wir etwas<br />
<strong>lesen</strong>, so werden ganz bestimmte Bereiche in unserem<br />
Gehirn aktiv (siehe nebenstehende Abbildung).<br />
2 Stark vereinfacht verläuft das Lesen in<br />
unserem Gehirn wie folgt 3 :<br />
2 NORMAN GESCHWIND: Die Großhirnrinde. Aus: Gehirn und Nevensystem.<br />
Spektrum der Wissenschaft S. 117, Heidelberg 1983<br />
3 Die subcortikalen Prozesse wurden in der Beschreibung ausgeklam-<br />
© Norbert Sommer-Stumpenhorst <strong>Richtig</strong> Lesen <strong>lernen</strong> – <strong>Schritt</strong> <strong>für</strong> <strong>Schritt</strong> LE02 / 2<br />
mert.
1. Die Schriftzeichen, die wir mit<br />
dem Auge wahrnehmen, werden<br />
von den visuellen Zentren im<br />
Gehirn (primäres Sehzentrum) als<br />
Buchstaben erkannt und<br />
2. direkt an das „Lesezentrum“<br />
weitergeleitet. Dort werden sie in<br />
Laute übertragen (decodiert). Nur<br />
die so aufbereiteten<br />
Informationen können<br />
3. vom sensorischen Sprachzentrum<br />
(Wernicke-Areal)<br />
weiterverarbeitet werden. Hier<br />
wird die sprachlich übersetzte<br />
Mitteilung verstanden. Soll das<br />
ge<strong>lesen</strong>e Wort ausgesprochen<br />
werden, so müssen die<br />
Sprachinformationen vom sensorischen<br />
4. an das motorische Sprachzentrum (Broca-<br />
Areal) weitergeleitet werden. Hier wird ein<br />
Artikulierungsprogramm erstellt, das<br />
5. im motorischen Rindenfeld die Sprechwerkzeuge<br />
(Artikulationsorgane: Lippen, Zunge,<br />
Stimmbänder) aktiviert.<br />
Diese Prozesse finden in der Regel nur in<br />
der linken Gehirnhälfte statt, die sich auf<br />
die sequentielle Verarbeitung von Informationen<br />
spezialisiert hat. An der Erfassung<br />
der Bedeutung des Ge<strong>lesen</strong>en sind jedoch<br />
beide Gehirnhälften beteiligt.<br />
6. Dabei erfasst die rechte Gehirnhälfte (über<br />
die Sprechmelodie und den Rhythmus) die<br />
emotionale Bedeutung des Gesagten oder des<br />
Ge<strong>lesen</strong>en.<br />
Dieser höchst komplexe Prozess läuft in unserem<br />
Gehirn in unvorstellbar hoher Geschwindigkeit<br />
ab. Wenn Kinder in die Schule kommen, dann ist<br />
ihr Gehirn schon weit entwickelt und in der Regel<br />
gut vorbereitet auf die neuen Lernfelder:<br />
♦ Die Kinder können hören, d. h. Wörter verstehen<br />
(Bedeutungen zuordnen)<br />
♦ und sprechen, also ein gedachtes Wort in eine<br />
Lautfolge übertragen.<br />
♦ Sie können Laute zu einem Wort verbinden<br />
und<br />
♦ ihre Sprechwerkzeuge so steuern, dass verstehbare<br />
Wörter und Sätze entstehen.<br />
Kinder sind also durchaus in der Lage, eine<br />
Lautfolge zu sprechen (also Einzellaute zu einem<br />
Wort zusammenzufügen). Das eigentlich Neue,<br />
was sie im Anfangsunterricht <strong>lernen</strong>, ist die Ausrichtung<br />
der Aufmerksamkeit auf die Einzellaute<br />
denen nun verschiedene Schriftzeichen zugeordnet<br />
werden sollen. Nicht das Zusammenschleifen,<br />
sondern die Isolierung der Laute ist zunächst das<br />
eigentliche Problem. Erst wenn Kinder diese<br />
Hürde überwunden haben stellt sich hieraus die<br />
Anforderung, eine Buchstabenfolge in eine adäquate<br />
Lautfolge zu übertragen.<br />
Kinder wissen um die Bedeutung von Wörtern.<br />
Sie gehen also immer mit einer Sinnerwartung<br />
an Wörter heran. Wenn Kinder beginnen, einzelne<br />
Buchstaben mit Einzellauten zu assoziieren<br />
und diese Laute zusammenschleifen, wird ihre<br />
Aufmerksamkeit auf diese Technik ausgerichtet.<br />
Daher ist es von Vorteil, wenn Kinder diese<br />
Klippe des Zusammenschleifens von Lauten möglichst<br />
unproblematisch und möglichst schnell<br />
überwinden (siehe unten: 2. <strong>Schritt</strong>).<br />
Das gedehnt gesprochene (durch Lautsynthese<br />
gebildete) Wort ähnelt in seinem Klang oft nur<br />
entfernt dem normal gesprochenen Wort. Hier<br />
wird eine Assoziationsleistung in umgekehrter<br />
Richtung erwartet: Von der Lautsynthese zum<br />
Sprachklang des Wortes. Auch hier spielt die<br />
Sinnerwartung eine zentrale Rolle. Ohne diese<br />
Sinnerwartung könnten die Kinder zwar eine<br />
Technik (Lautsynthese) er<strong>lernen</strong>, das Er<strong>lesen</strong>e<br />
aber nicht verstehen. Es ist daher wichtig, die<br />
beim Er<strong>lesen</strong> gedehnt gesprochenen Wörter vom<br />
Kind anschließend immer noch einmal richtig<br />
sprechen zu lassen.<br />
1. <strong>Schritt</strong>:<br />
Einem Schriftzeichen einen Laut zuordnen<br />
In der Dekodierung der Schriftzeichen, in der<br />
Laut-Buchstaben-Zuordnung, liegt <strong>für</strong> viele Kinder<br />
eine erste Hürde. Die deutsche Sprache besteht<br />
aus ca. 250 verschiedenen Lauten (ohne<br />
Dialektformen und ohne individuelle Sprachun-<br />
© Norbert Sommer-Stumpenhorst <strong>Richtig</strong> Lesen <strong>lernen</strong> – <strong>Schritt</strong> <strong>für</strong> <strong>Schritt</strong> LE02 / 3
terschiede). Diese vielen Laute werden durch nur<br />
30 verschiedene Buchstaben abgebildet. Kinder<br />
müssen daher zunächst ein Zuordnungssystem<br />
entwickeln. Übungen zum Heraushören von Lauten<br />
im Wort und Laut-Buchstaben-<br />
Zuordnungsübungen helfen den Kindern, diese<br />
Hürde zu meistern. 4<br />
Entwicklungsgeschichtlich hat das Lesezentrum<br />
erst seit ca. 6000 Jahren die Funktion der Kodierung<br />
und Dekodierung von Buchstaben übernommen.<br />
Wissenschaftler vermuten, dass dieses<br />
Zentrum früher (bevor die Menschen schreiben<br />
lernten) <strong>für</strong> andere visuelle „Pars-pro-toto“-<br />
Erkennungen 5 zuständig war, beispielsweise dem<br />
Spuren<strong>lesen</strong>. Die günstige Lage dieses Zentrums<br />
(zwischen visuellem Zentrum und Sprachzentrum)<br />
hat später wohl dazu geführt, dass dieser<br />
Gehirnbereich die Funktion der Laut-<br />
Buchstaben-Zuordnung übernommen hat. Dass<br />
diese Funktionsübernahme phylogentisch recht<br />
neu ist, ist von besonderer Bedeutung <strong>für</strong> das<br />
Lesen <strong>lernen</strong>. Der Leselernprozess ist kein „natürlicher“<br />
Reifungs- und Entwicklungsprozess<br />
(wie Motorik und Sprache), sondern eine zu <strong>lernen</strong>de<br />
Kulturtechnik. Die Laut-Buchstaben-<br />
Zuordnung bedarf auf den unterschiedlichsten<br />
Ebenen ständiger Wiederholung und Festigung<br />
und zwar über die gesamte Grundschulzeit hinweg.<br />
Ohne diese grundlegende Kompetenz können<br />
Kinder Wörter nur ganzheitlich als Symbole erfassen.<br />
Dies ist jedoch noch kein Lesen. Das<br />
Merken von „Wortbildern“ und Symbolen findet<br />
nicht im „Lesezentrum“ (siehe Abbildung S. 2)<br />
statt, sondern in der gegenüberliegenden Gehirnhälfte.<br />
Diese ist <strong>für</strong> die simultane (ganzheitliche)<br />
Verarbeitung von Informationen zuständig<br />
und nicht in der Lage, Zeichen- und Lautfolgen<br />
zu analysieren.<br />
Wenn die sequentielle Verarbeitung von Informationen<br />
noch nicht voll entwickelt<br />
ist, kompensieren Kinder dies, indem<br />
sie ein inneres „Wortbildlexikon“ aufbauen.<br />
Gerade im Anfang des Leselernprozesses<br />
ergeben sich bei einigen<br />
Kindern hieraus besondere Schwierigkeiten.<br />
6 Zunächst gelingt es ihnen auf<br />
4 Siehe hierzu:<br />
N. SOMMER-STUMPENHORST: fazit – Freie Arbeit mit<br />
dem Zirkeltraining. Baustein Laute; Warendorf 1993.<br />
N. SOMMER-STUMPENHORST: Laute heraushören – Laute<br />
zusammenfügen; Warendorf 1997.<br />
N. SOMMER-STUMPENHORST: Lautkartei, Anlautfolie<br />
und Anlautbingo, Warendorf 1998.<br />
N. SOMMER-STUMPENHORST und R. URBANEK: Lese-<br />
Schreib-Lernkiste; Berlin 1993.<br />
5 siehe N. BIRBAUMER und R. F. SCHMIDT: Biologische<br />
Psychologie, Berlin-Heidelberg 1990, Seite 403 f.<br />
6 Die insgesamt langsamere Entwicklung der Spezialisierung<br />
einer Gehirnhälfte auf die sequentielle Verarbeitung<br />
beim männlichen Gehirn könnte auch eine Bedingung<br />
diese Weise, Wörter und ganze Texte zu <strong>lesen</strong><br />
oder besser gesagt auswendig aufzusagen.<br />
Auf dieser falschen Fährte verharren Kinder<br />
dann gelegentlich bis in die zweite Klasse hinein.<br />
Erst wenn die Lesetexte länger und in der Klasse<br />
nicht mehr vorge<strong>lesen</strong> und dadurch gemerkt<br />
werden können, versagen diese rezitativen ganzheitlichen<br />
Fähigkeiten. Zu diesem Zeitpunkt ist<br />
aber der Buchstabenlernprozess in der Klasse<br />
weitgehend abgeschlossen. Übungen zur Laut-<br />
Buchstaben-Zuordnung finden nicht mehr statt.<br />
Ohne differenzierte Übungen entwickeln sich<br />
dann recht schnell Leseschwierigkeiten. Kinder,<br />
die Einzellaute im Wort nicht sicher (d. h. automatisiert)<br />
heraus hören können, brauchen daher<br />
verstärkte Übungen auf der Laut-Buchstaben-<br />
Ebene (siehe hierzu Fußnote 4).<br />
Den Aufbau eines inneren Wortbildlexikons und<br />
die damit verbundenen späteren Leseschwierigkeiten<br />
können bei einem fibelorientierten Lehrgang<br />
leicht vermieden werden, wenn die Kinder<br />
möglichst viele verschiedene Wörter zu <strong>lesen</strong> bekommen,<br />
die aus den bis dahin bekannten Buchstaben<br />
zusammengesetzt sind. 7<br />
2. <strong>Schritt</strong>:<br />
Laute zusammenziehen - Eine Buchstabenfolge<br />
in eine Lautfolge übertragen<br />
Das Zusammenziehen von Lauten ist die eigentliche<br />
„kritische Stelle“ im Leselernprozess. Wie<br />
sich diese Kompetenz entwickelt ist auch unter<br />
Wissenschaftlern noch weitgehend unbekannt.<br />
Das besondere Problem besteht darin, dass bestimmte<br />
Laute gar nicht verbunden werden können<br />
(siehe nebenstehende Abbildung 8 ).<br />
Es ist nicht möglich, Plosiva mit anderen Lauten<br />
da<strong>für</strong> sein, dass Leseschwierigkeiten bei Jungen häufiger<br />
anzutreffen sind als bei Mädchen. Für Interessierte: B.<br />
KOLB und I. WHISHOW: Fundamentals of human neuropsychology,<br />
New York 1995 und SP. SPRINGER und G.<br />
DEUTSCH: Left brain, right brain, New.York 1993<br />
7 Ein nützliches Hilfsmittel, um neue, über die Fibelangebote<br />
hinausgehende Wörter zu erstellen, bietet das<br />
Programm „Colli GWS-Tool“ (Norbert Sommer-<br />
Stumpenhorst: Colli-Vertrieb, Warendorf 1984-1997).<br />
Dies ist ein Hilfsprogramm, das aus einem (erweiterbaren)<br />
Wortschatz Wörter nach verschiedenen Kriterien<br />
heraussuchen kann. Eine der vielfältigen Möglichkeiten<br />
besteht darin, beliebig viele Buchstaben vorzugeben<br />
(z.B. alle bis zu diesem Zeitpunkt eingeführten Buchstaben).<br />
Das Programm sucht dann all jene Wörter heraus,<br />
die aus diesen Buchstaben zusammengesetzt sind und<br />
keine weiteren Buchstaben enthalten.<br />
8 FRED WARNKE: Der Takt des Gehirns, Freiburg 1995,<br />
Seite 19<br />
© Norbert Sommer-Stumpenhorst <strong>Richtig</strong> Lesen <strong>lernen</strong> – <strong>Schritt</strong> <strong>für</strong> <strong>Schritt</strong> LE02 / 4
zu verbinden. Als Plosivlaute bezeichnen wir jene<br />
Laute, die keinen eigenen Klang erzeugen wie<br />
beispielsweise , , , und , sowie<br />
Laute, die am Anfang hart gesprochen werden,<br />
wie beispielsweise , . Ein Plosiv wird<br />
durch zwei Phasen gebildet: Einen Verschluss<br />
und dessen Lösung mit einem Plosivgeräusch<br />
(daher auch Verschlusslaut oder Sprenglaut). In<br />
bestimmten phonetischen Umfeldern kann der<br />
eine oder andere Teil fehlen 9 . Dieser „Verschluss“<br />
bedingt die kurze Pause vor dem Laut.<br />
Daher können Plosiva nie mit dem vorhergehenden<br />
Laut verbunden werden.<br />
In der Abbildung können Sie erkennen, dass<br />
beim Sprechen vor und nach dem Plosivlaut <br />
eine Sprechlücke von jeweils 100 Millisekunden<br />
entsteht. Wir nehmen diese Lücke nicht mehr<br />
wahr, weil unser Gehirn diese Lücke als verbunden<br />
interpretiert. Für Kinder ist dies jedoch ganz<br />
anders. Im Leselernprozess versuchen sie, Laute<br />
miteinander zu verbinden, die gar nicht miteinander<br />
verbunden werden können. Sie suchen<br />
nach einer Lösung <strong>für</strong> ein Problem, das nicht zu<br />
lösen ist.<br />
Das ist der Hintergrund <strong>für</strong> viele Leseschwierigkeiten,<br />
die insbesondere bei fibelorientierten<br />
Lehrgängen auftreten. Bei den meisten Fibeln<br />
werden beispielsweise die Buchstaben „t“ und „k“<br />
schon sehr früh eingeführt, da sie <strong>für</strong> das Lesen<br />
„sinnvoller Texte“ gebraucht werden. Und genau<br />
hierdurch entsteht das Problem. Die Kinder sollen<br />
Wörter mit Plosivlauten „er<strong>lesen</strong>“, also Laut<br />
<strong>für</strong> Laut „zusammenschleifen“. Das ist jedoch gar<br />
nicht möglich. Gerade weil Fibeln sehr früh<br />
schon nicht verbindbare Laute einführen, erweisen<br />
sie sich <strong>für</strong> den Leselernprozess als ein Lese-<br />
Lern-Verhinderungs-Instrument.<br />
Hier hat REICHEN recht, wenn er fordert, diese<br />
fibelorientierten Leseübungen besser zu unterlassen,<br />
als Kinder systematisch auf falsche Fährten<br />
zu locken. Lautsynthese ist keine zu er<strong>lernen</strong>de<br />
Technik, sondern ein Denkgerüst. Das<br />
Gehirn muss Laute, die nicht zu verbinden sind,<br />
als verbunden interpretieren. Darin besteht der<br />
Trick der Lautsynthese. Und hier stimme ich<br />
REICHEN nicht zu. Dies ist durchaus zu üben –<br />
und zwar in recht kurzer Zeit.<br />
Kinder können, wenn sie in die Schule kommen,<br />
sprechen. Sie sind also in der Lage, Lautfolgen<br />
zu bilden also Laute miteinander zu verbinden.<br />
Diese Aufgabe erledigt das sensorische Sprachzentrum<br />
(siehe hierzu die Abb. auf Seite 2). Diese<br />
bestehende Kompetenz muss nun erweitert werden.<br />
Dabei entsteht beim Lesen ein Problem. Das<br />
„Lesezentrum“ (gyrus angularis) überträgt<br />
Schriftzeichen in Laute, liefert dem sensorischen<br />
Sprachzentrum also Einzellaute, aus dem nun<br />
ein Wort geformt werden muss. Das Gehirn muss<br />
nun <strong>lernen</strong>, dass nicht nur Wörter aus einer fes-<br />
9 nach W. BARRY, Logox, Bochum 1997<br />
ten Lautfolge bestehen (Ausgangspunkt ist hier<br />
die Wortbedeutung), sondern auch einzelne Laute<br />
(Ausgangspunkt sind hier aneinander gereihte<br />
Schriftzeichen) zu diesem Klangergebnis geführt<br />
werden können.<br />
Am leichtesten gelingt dies, wenn wir die Kinder<br />
zunächst Wörter <strong>lesen</strong> lassen, die aus Vokalen<br />
und Dauerkonsonanten (also selbst klingenden<br />
Konsonanten) zusammengesetzt sind. Diese Laute<br />
können fließende Übergänge bilden, da der<br />
Klang des Lautes (Vokale und Dauerkonsonanten)<br />
angehalten werden kann. An solchen Wörtern<br />
kann das Kind (sein Gehirn) <strong>lernen</strong>, dass<br />
der Übergang von einem Laut zum nächsten<br />
beim Lesen zum gleichen Ergebnis führt wie<br />
beim Sprechen.<br />
Die Aufgabe, die wir den Kindern stellen ist folgende:<br />
� Wir decken das Wort bis auf die ersten beiden<br />
Buchstaben mit dem Lesepfeil ab. Das<br />
Kind spricht die dazugehörenden Laute (Beispiel:<br />
Bei dem Wort „<strong>lesen</strong>“ decken wir nur<br />
„le“ auf.<br />
l e s e n<br />
� Das Kind spricht die dazugehörenden Laute<br />
( ) und hält den Klang des letzten<br />
Lautes an, bis der nächste Buchstabe ()<br />
aufgedeckt wird. Nun spricht es den nächsten<br />
Laut.<br />
� Wichtig ist, dass das Kind den Lesepfeil<br />
selbst führt. So unterstützt die fließende Bewegung<br />
der Hand auch den fließenden Übergang<br />
von Laut zu Laut.<br />
� Nachdem das Kind Laut <strong>für</strong> Laut ein Wort<br />
er<strong>lesen</strong> hat sollte es anschließend immer das<br />
Wort noch einmal als ganzes (in normaler<br />
Sprache) wiederholen. Nur so werden dem<br />
ge<strong>lesen</strong>en Wort auch Bedeutungen beigeordnet,<br />
das Lesen also immer zugleich auch auf<br />
die Sinnentnahme gelenkt. Wird dieser wichtige<br />
<strong>Schritt</strong> übergangen, perfektionieren die<br />
Kinder häufig nur eine Lesetechnik und <strong>lesen</strong><br />
später, ohne zu wissen, was sie gerade<br />
ge<strong>lesen</strong> haben.<br />
Anhand der verbindbaren Laute lernt das Gehirn<br />
des Kindes, was es beim Lesen tun soll. Damit<br />
wird es in die Lage versetzt, auch bei anderen<br />
(nicht verbindbaren Lauten) so zu tun, als ob sie<br />
verbunden wären. Und genau darin besteht die<br />
Kunst der Lautsynthese.<br />
Ich habe einen Wortschatz von ca. 15000 Wörtern<br />
nach solchen Wörtern durchsucht, die nur<br />
aus Vokalen, Diphthongen und Dauerkonsonanten<br />
bestehen. Lediglich 250 brauchbare Wörter<br />
(Grundformen) blieben hierbei übrig und nur<br />
© Norbert Sommer-Stumpenhorst <strong>Richtig</strong> Lesen <strong>lernen</strong> – <strong>Schritt</strong> <strong>für</strong> <strong>Schritt</strong> LE02 / 5
und hundert können wir zum Gebrauchswortschatz<br />
eines Grundschulkindes zählen 10 . Die Lesewörter<br />
enthalten drei verschiedene Wörtergruppen,<br />
mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden:<br />
1. Einfache Laut-Buchstaben-Folgen (Dauerkonsonanten,<br />
Vokale)<br />
l e s e n<br />
Esel, Faser, <strong>lesen</strong>, lila, Lineal, Lisa, losen,<br />
Löwe, malen, Mama, Melone, Möwe,<br />
Name, Nase, Ofen, Oma, Rasen, rosa,<br />
Rose, Rosine, rufen, Salami, Sofa, Ufer,<br />
Wal, Ware<br />
2. Diphthonge (au, ei, eu)<br />
M ei s e<br />
Ameise, Eiche, eilen, Eimer, Eisen, Eule,<br />
Fach, faul, fein, Fisch, lachen, laufen,<br />
Laune, Laus, Leine, leise, Loch, Maurer,<br />
Maus, Meise, neun, raufen, Raum, reich,<br />
Reifen, reisen<br />
3. Laute, die durch Buchstabenfolgen abgebildet<br />
werden (ch, sch) und Konsonantenfolgen<br />
W ä sch e<br />
Schaf, Schale, Schere, schön, Schule, Seife,<br />
Seil, suchen, Wäsche, weich, weinen,<br />
Woche, Amsel, einsam, fern, Film, flach,<br />
Fleisch, Fluch, fluchen, Flur, frech, frisch,<br />
Frisur, Frosch, fünf, Insel, lächeln, Lärm,<br />
<strong>lernen</strong>, Linse, Masern, Mauer, Mensch,<br />
Milch, normal, scharf, Schilf, Schirm,<br />
Schlaf, schlau, schmal, Schnur, Schrei,<br />
schwer, warm, werfen, Wolf, Würfel,<br />
Wurm, Wurst, Zeit<br />
Üben Kinder mit diesem Wortmaterial das Zusammenschleifen<br />
von Lauten, so gelingt ihnen<br />
dies oftmals schon nach wenigen Übungsstunden.<br />
Der geringe Zeitaufwand, der <strong>für</strong> die Lautsynthese<br />
hierbei verwendet wird, lässt es vertretbar<br />
erscheinen, <strong>für</strong> begrenzte Zeit einigen<br />
Kindern ein isoliertes Training anzubieten. Nicht<br />
alles lässt sich immer nur aus dem Zusammenhang<br />
heraus <strong>lernen</strong>. Zumindest geht einiges mit<br />
gezielten Übungen schneller und leichter.<br />
10 N. SOMMER-STUMPENHORST: Laute heraushören, Laute<br />
zusammenfügen, Warendorf 2. Aufl. 1997<br />
Es hat sich als vorteilhaft erwiesen, diese Lesewörter<br />
auf Pappe zu kopieren und in Wörterkarten<br />
zu zerschneiden 11 . Auf diese Weise können<br />
die gleichen Wörter immer wieder in anderen<br />
Folgen ge<strong>lesen</strong> werden. Die Kinder haben dann<br />
nicht die Möglichkeit, sich anhand der Stellung<br />
des Wortes (z. B. oben links auf der Seite) das<br />
Wort zu merken, also „Wortbilder“ zu reproduzieren.<br />
Diese Übung kann auch am Computer<br />
durchgeführt werden. Der Computer deckt das<br />
Wort lautweise auf (per Tastendruck oder automatisch)<br />
und ersetzt damit den Lesepfeil. 12<br />
Durch die Veränderung der Darbietungsgeschwindigkeit<br />
und die Überleitung zur wortweisen<br />
kurzzeitigen Darbietung kann, dann das Lesetempo<br />
kontinuierlich verbessert werden.<br />
Erst wenn Kindern mit Schwierigkeiten beim Er<strong>lernen</strong><br />
der Lautsynthese das flüssige Lesen von<br />
Wörtern mit Vokalen und Dauerkonsonanten gelingt,<br />
können ihnen auch andere Wörter angeboten<br />
werden.<br />
3. <strong>Schritt</strong>: Silben<strong>lesen</strong><br />
Ein hilfreicher Übergang vom Er<strong>lesen</strong> von Wörtern<br />
zum flüssigen Lesen stellt das in Sprechsilben<br />
gegliederte Lesen dar (syllabierendes Lesen).<br />
Sprachlich lassen sich längere Wörter in Sprechsilben<br />
unterteilen. Diese Unterteilung erleichtert<br />
den Kindern das Erfassen unbekannter Wörter.<br />
Indem den Kindern Lesetexte vorgegeben werden,<br />
die auch optisch diese Sprechsilben kenntlich<br />
machen (siehe nebenstehendes Beispiel 13 ,)<br />
wird die Entwicklung zum flüssigen Lesen erleichtert.<br />
Auch hier benutzen die Kinder wieder den Lesepfeil.<br />
Diesmal führen sie ihn jedoch nicht von<br />
Buchstabe zu Buchstabe, sondern decken jeweils<br />
eine Silbe oder einsilbige Wörter auf. Später<br />
können die Kinder auch das ganze Wort aufdecken<br />
und sich nur an den kleinen Lücken (Markierungen)<br />
im Text als Hinweise <strong>für</strong> eine Sprechsilbe<br />
orientieren. Dabei ist darauf zu achten,<br />
dass jene Wörter, die nicht „flüssig“ ge<strong>lesen</strong> werden,<br />
anschließend noch einmal sprachlich richtig<br />
wiederholt werden.<br />
Wenn Kinder mit großen Leseschwierigkeiten<br />
(aus Klasse 3 bis 6) diese Texte bearbeiten ist es<br />
günstig, vor dem Training einen Lesetest mit den<br />
Kindern durchzuführen und diesen Test auf<br />
Tonband aufzunehmen. Nach den Leseübungen<br />
mit in Silben gegliederten Texten wird erneut eine<br />
Tonbandaufnahme angefertigt. Auf diese Weise<br />
können die Kinder (und die Eltern bzw. Leh-<br />
11 Eine Lesekartei mit lauttreuen Wörtern ist zu beziehen<br />
über Colli-Vertrieb, Warendorf (KA 02L1).<br />
12 N. SOMMER-STUMPENHORST: Colli-<br />
Modellwortschatztraining, Warendorf 1984-1997<br />
13 N. SOMMER-STUMPENHORST: Materialien zur Lese-<br />
und Rechtschreibförderung, Warendorf 1998<br />
© Norbert Sommer-Stumpenhorst <strong>Richtig</strong> Lesen <strong>lernen</strong> – <strong>Schritt</strong> <strong>für</strong> <strong>Schritt</strong> LE02 / 6
erInnen) den Lernfortschritt hören und somit<br />
auch ihr Üben als ertragreich verbuchen. Nur<br />
wenn das Kind sein Arbeiten als erfolgreich erlebt,<br />
wird es eine Übungsmotivation aufbauen<br />
können.<br />
Hoch in den Ber | gen<br />
ist ein klei | nes Dorf.<br />
Immer wieder sollte überprüft werden, ob das<br />
Kind sinnentnehmend ge<strong>lesen</strong> hat. Hierzu dienen<br />
die Fragen zum Text, die unter jedem Lesetext<br />
aufgeführt sind. Die Fragen sind als Anregungen<br />
<strong>für</strong> weiterführende Gespräche gedacht.<br />
Gelingt dem Kind das flüssige Lesen, so kann auf<br />
die Silbeneinteilung der Wörter verzichtet werden.<br />
Im nächsten <strong>Schritt</strong> kommt es darauf an,<br />
die Leseflüssigkeit (Lesegeschwindigkeit) zu erhöhen.<br />
4. <strong>Schritt</strong>: Flüssiges Lesen<br />
TL 1 - Nr. 1<br />
Nur we | ni | ge Men | schen le | ben dort.<br />
Sie hal | ten Scha | fe,<br />
Kü | he und ei | ni | ge Rin | der.<br />
Die Ern | te auf dem kar | gen Bo | den<br />
reicht ge | ra | de<br />
<strong>für</strong> den ei | ge | nen Be | darf.<br />
Die Men | schen ar | bei | ten hart<br />
und sind be | schei | den.<br />
Nur sel | ten<br />
stei | gen sie ins Tal hi | nun | ter,<br />
um not | wen | di | ge Din | ge<br />
ein | zu | kau | fen.<br />
Fragen zum Text:<br />
Wo ist das Dorf?<br />
Wie leben die Menschen dort?<br />
Silben: 86 Wörter: 50 Zeichen: 257<br />
BF einsilbig = 25; zweisilbig = 16; mehrsilbig = 9; Plosiva = 24<br />
a) Flüssiges Lesen ist nur still möglich<br />
Wenn Kinder beginnen, Wörter zu er<strong>lesen</strong>, so<br />
sprechen sie dabei meist laut mit. Sie brauchen<br />
die akustische Rückmeldung, um die <strong>Richtig</strong>keit<br />
ihres Lesens zu erfahren. Mit zunehmender<br />
Kompetenz geben sie in der Regel das laute Mitsprechen<br />
beim Lesen von selbst auf. Das hat seine<br />
guten Gründe: Flüssiges Lesen ist nur still<br />
möglich. Es gibt verschiedene Argumente, wa-<br />
rum Leseübungen immer nur still (leise) erfolgen<br />
sollten.<br />
1. Die Steuerung der Artikulationsorgane ist<br />
ein sehr komplexer und zeitaufwendiger Prozess,<br />
der das Gehirn in viel stärkerem Maße<br />
belastet als das stille Lesen. Dies ist am Aktivitätsverteilungsmuster<br />
deutlich zu erkennen<br />
(siehe die folgende Abbildung). Die Computeraufnahme<br />
der Versuchsperson, dessen<br />
Gehirn in der linken Abbildung gezeigt wird,<br />
liest still, während auf der rechten Seite eine<br />
Aufnahme einer laut <strong>lesen</strong>den Versuchsperson<br />
zu sehen ist. Die Zentren, die mit der<br />
Steuerung der Artikulationsorgane beschäftigt<br />
sind und das „Lesezentrum“ (Laut-<br />
Buchstaben-Zuordnung) benötigen beim lauten<br />
Lesen viel mehr Energie als beim stillen<br />
Lesen. Deutlich zu erkennen ist, dass dies zu<br />
Lasten der Sinnentnahme (frontaler Bereich)<br />
geht. Beide Aufnahmen stammen von erwachsenen<br />
Versuchspersonen, die gut <strong>lesen</strong><br />
können, die Lesetechnik also schon automatisiert<br />
haben. Es ist leicht einzusehen, dass<br />
das kindliche Gehirn mit der Doppelbelastung<br />
(laut <strong>lesen</strong> und Sinnentnahme) weitgehend<br />
überfordert ist. 14<br />
14 N. A. LASSEN, D. H. INGVAR, E. SKINHØJ.: Hirnfunktion und Hirndurchblutung.<br />
Aus: Gehirn und Nevensystem. Spektrum der Wissenschaft<br />
S. 141, Heidelberg 1983 Die Farbaufnahmen des Originals wurden<br />
in Graustufen umgewandelt und die Ruhemuster (im Original blau)<br />
entfernt.<br />
© Norbert Sommer-Stumpenhorst <strong>Richtig</strong> Lesen <strong>lernen</strong> – <strong>Schritt</strong> <strong>für</strong> <strong>Schritt</strong> LE02 / 7
Steuerung der Artikulationsorgane<br />
Den Effekt auf die Sinnentnahme können Sie<br />
selbst schnell nachprüfen. Lassen Sie einen<br />
Bekannten einmal etwas still <strong>lesen</strong> und fragen<br />
Sie ihn anschließend nach dem Inhalt.<br />
Nun lassen Sie ihn einen anderen Text laut<br />
<strong>lesen</strong>. Er wird sich an wesentlich weniger Details<br />
des Ge<strong>lesen</strong>en erinnern.<br />
2. Die Motorik ist, im Vergleich zu anderen<br />
neuronalen Prozessen außerordentlich langsam.<br />
Wenn also die Artikulationsorgane beim<br />
Lesen mit bewegt werden müssen, so verläuft<br />
der Leseprozess viel langsamer. Dies ist im<br />
übrigen der Trick der „Schnellleser“. Je besser<br />
es gelingt, die Artikulation (das Mitsprechen)<br />
beim Lesen auszuschalten, desto<br />
schneller können wir <strong>lesen</strong>.<br />
3. Das stille Lesen ist darüber hinaus besonders<br />
<strong>für</strong> Kinder mit Leseschwierigkeiten wichtig.<br />
Lassen Sie Kinder mit Leseschwierigkeiten<br />
laut <strong>lesen</strong>, so wirkt das Hören des eigenen<br />
„Gestotters“ negativ zurück. Sie bekommen<br />
immer wieder „vor Ohren gehalten“, dass sie<br />
etwas nicht können. Dies baut <strong>Schritt</strong> <strong>für</strong><br />
<strong>Schritt</strong> jegliche Lesemotivation ab.<br />
Lassen Sie daher Kinder nur dann etwas laut <strong>lesen</strong><br />
(siehe Vortragen), wenn sie den Text kennen<br />
und Lesen können. Vor allen Dingen: Lassen Sie<br />
niemals Kinder mit Leseschwierigkeiten laut <strong>lesen</strong><br />
und schon gar nicht in der Klasse laut vor<strong>lesen</strong>.<br />
Dies führt nur zur Entmutigung und festigt<br />
die Stigmatisierung.<br />
Unsere Augen und unser Geist arbeiten um ein<br />
Vielfaches schneller als unsere Sprechwerkzeuge<br />
(Stimmbänder, Zunge, Lippen). Solange wir beim<br />
Lesen mitsprechen, bestimmen die langsamen<br />
Sprechwerkzeuge das Lesetempo. Durch stilles<br />
Lesen wird die Lesegeschwindigkeit erhöht. Leseübungen<br />
sind daher immer auch „Stilleübungen“.<br />
Lesezentrum<br />
M<br />
b) Wortbausteine und Sinnerwartung<br />
Lesen ist auf Sinnentnahme ausgerichtet. Die<br />
kleinsten bedeutungstragenden Einheiten sind<br />
die Wörter und nicht die Buchstaben. Flüssiges<br />
Lesen wird dadurch erreicht, dass die Wörter als<br />
Ganzes erfasst und nicht buchstabenweise erschlossen<br />
werden. Indem wir viel <strong>lesen</strong>, bilden<br />
wir implizite „Wortbildmuster“. Zunächst sind es<br />
wahrscheinliche (häufig vorkommende) Buchstabenfolgen,<br />
später ganze Wörter. Dabei steuert die<br />
Sinnerwartung das Lesen. Das Wort<br />
„B au������“ , schnell ge<strong>lesen</strong>, kann Verschiedenes<br />
bedeuten. Wenn im Text von Kühen und<br />
Schweinen die Rede ist, werden wir es sofort als<br />
„Bauernhof“ identifizieren. Kommen im Text<br />
Bagger und Kräne vor, so „<strong>lesen</strong>“ wir „Baustelle“.<br />
Es sind also nicht die „Wortbildmuster“ allein,<br />
sondern die Sinnerwartung, die den Mustern eine<br />
Bedeutung verleiht. Andererseits: Um „Bauernhof“<br />
oder „Baustelle“ zu erkennen, müssen<br />
wir diese Wörter kennen, schon einmal ge<strong>lesen</strong><br />
haben.<br />
c) Übungen zur Steigerung des Lesetempos<br />
Wenn wir ein Gespür <strong>für</strong> wahrscheinliche Buchstabenfolgen<br />
haben und bekannte Wortbilder<br />
wiedererkennen, können wir Texte schneller <strong>lesen</strong><br />
und zugleich besser verstehen (mehr behalten).<br />
Vier Übungen haben sich zur Steigerung<br />
der Lesegeschwindigkeit bewährt:<br />
1. Wiedererkennen häufig vorkommender<br />
Buchstabenfolgen<br />
Den Kindern wird die Aufgabe gestellt, häufig<br />
vorkommende Buchstabenfolgen oder kleine<br />
Wörter in einem Text in einer bestimmten<br />
Zeit herauszufinden. Sie zählen die Wörter,<br />
indem sie auf einem Blatt eine Strichliste<br />
führen oder Spielsteine von einer Schachtel in<br />
eine andere legen.<br />
© Norbert Sommer-Stumpenhorst <strong>Richtig</strong> Lesen <strong>lernen</strong> – <strong>Schritt</strong> <strong>für</strong> <strong>Schritt</strong> LE02 / 8
Diese Übung lässt sich auch gut als Partnerarbeit<br />
durchführen. Beide Kinder bekommen<br />
einen Text ( zwei verschiedene Texte) und<br />
vereinbaren ein Wort und eine Zeit. Beispiel:<br />
Wir suchen das Wort „und“ und stellen die<br />
Stoppuhr auf 1 Minute (30 Sekunden). Nun<br />
beginnen wir mit der Suche. Nach Ablauf der<br />
Zeit markieren Sie, wie weit sie den Text bearbeitet<br />
haben. Die Texte werden ausgetauscht<br />
und nun vom Partner in Ruhe kontrolliert.<br />
Wie oft wurde das Wort gefunden,<br />
wie oft übersehen?<br />
Diese Übung kann man textspezifisch mit<br />
ganz prägnanten Wörtern des Textes machen<br />
(Haus, Auto, Peter, Christina usw.) oder auch<br />
allgemein mit Funktionswörtern. Hier eine<br />
Liste häufig vorkommender kurzer Wörter: 15<br />
als, am, an, auch, auf, aus, bei, bin, bis,<br />
bist, da, dann, darf, das, dein, dem, den,<br />
der, die, du, durch, ein, eine, einen, er, es,<br />
euch, euer, fragt, <strong>für</strong>, haben, hat, hinter,<br />
ich, ihr, im, in, ist, ja, kann, kein, los, mein,<br />
meine, mich, mir, mit, muss, nein, nicht,<br />
nun, nur, oder, oft, ruft, sagt, sein, sie, sind,<br />
so, soll, um, und, uns, unser, unten, von,<br />
vor, wann, war, was, wenn, wer, wie, will,<br />
wir, wo, zu<br />
Trainiert wird mit dieser Übung das schnelle<br />
Erfassen häufig vorkommender Wörter.<br />
2. Wie geht das Wort weiter?<br />
Auch <strong>für</strong> diese Übung bietet sich Partnerarbeit<br />
an. Die Kinder nehmen Wörterkarten aus<br />
ihrer Lernkartei. Abwechselnd zeigen sie sich<br />
eine Wörterkarte. Mit dem Lesepfeil decken<br />
sie nur die ersten beiden Buchstaben auf. Der<br />
Partner muss raten, um welches Wort es sich<br />
handelt. Für mögliche Wortnennungen wer-<br />
den wieder Spielsteine umsortiert oder eine<br />
Strichliste geführt. Dann wird der nächste<br />
Buchstabe aufgedeckt und wieder mögliche<br />
Wörter gesucht. Dies geht so lange weiter, bis<br />
das richtige Wort genannt wird. Danach wird<br />
gewechselt. 16<br />
Beispiel:<br />
Kartoffel<br />
15 Diese Wörterliste wurde entnommen aus: N. SOMMER-<br />
STUMPENHORST und R. URBANEK: Lese-Schreib-<br />
Lernkiste, Übung 7A, Blitzkartentraining; Berlin 1993<br />
16 Mit dem Programm Colli-Modellwortschatztraining<br />
kann diese Übung auch am Computer durchgeführt werden<br />
(siehe Fußnote 10)<br />
„Ka“ wird aufgedeckt. Die Kinder nennen:<br />
„Kasten, Kabel, Kamin, Kamille Kabine, Kapitän,<br />
Kanone“.<br />
Nun wird „Kar“ aufgedeckt: „Karneval,<br />
Karre, Karussell, Karton“<br />
Es folgt „Kart“: „Karton, Kartoffel“<br />
Das richtige Wort wurde genannt. Das Wort<br />
wird ganz aufgedeckt.<br />
Durch diese Übung wird die Sinnerwartung<br />
auf der Wortebene trainiert. Die Kinder <strong>lernen</strong><br />
dabei implizit, dass man oft nur wenige<br />
Buchstaben braucht, um ein Wort erkennen<br />
zu können. Zugleich findet durch diese Übung<br />
eine Umorientierung im Lesen statt. Die Kinder<br />
merken, dass sie nicht unbedingt das ganze<br />
Wort buchstabenweise zu er<strong>lesen</strong> brauchen,<br />
sondern es reicht, wenn sie „wissen“ was<br />
da steht.<br />
Von einigen Autoren wird dieses „Wörter raten“<br />
auch schon mit Leseanfängern gemacht,<br />
noch bevor die Lautsynthese beherrscht wird.<br />
Ich selbst habe hiermit keine guten Erfahrungen<br />
machen können. Das Raten erschwerte<br />
bei einigen Kindern die Bildung der Lautsynthese<br />
ganz beträchtlich. Auch bildeten einige<br />
Kinder die implizite Hypothese, Lesen<br />
sei vornehmlich das Erraten von Wörtern.<br />
Aus diesen Erfahrungen heraus verwende ich<br />
die Übung „Wörter raten“ nur noch bei Kindern,<br />
die das Zusammenschleifen von Lauten<br />
(siehe 2. <strong>Schritt</strong>) sicher beherrschen.<br />
3. Blitzleseübungen<br />
Zum schnellen Erfassen ganzer Wörter sind<br />
„Blitzleseübungen“ besonders gut geeignet.<br />
Mit einer Karteikarte werden die Wörter einer<br />
Wörterliste abgedeckt. Die Karteikarte<br />
wird so zwischen die Finger genommen, dass<br />
sie durch kurzes Zusammendrücken ein Wort<br />
frei geben. 17 Gut geeignet hier<strong>für</strong> sind laminierte<br />
DIN A7 Karteikarten.<br />
17 Die Abbildung ist aus: N. SOMMER-STUMPENHORST:<br />
Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten: vorbeugen und<br />
überwinden, Seite 107, Frankfurt 1991<br />
© Norbert Sommer-Stumpenhorst <strong>Richtig</strong> Lesen <strong>lernen</strong> – <strong>Schritt</strong> <strong>für</strong> <strong>Schritt</strong> LE02 / 9
Zunächst sollten einsilbige Wörter ge<strong>lesen</strong><br />
werden. Mit der Zeit kann die Wortlänge immer<br />
weiter gesteigert werden. 18 19<br />
Wenn wir etwas <strong>lesen</strong>, dann fließen unsere<br />
Augen nicht gleichförmig über den Text, sondern<br />
springen: Zunächst von Buchstabe zu<br />
Buchstabe, später von Wort zu Wort. Mit zunehmender<br />
Übung werden dann ganze Satzteile<br />
oder Zeilen mit einem Blick erfasst. Je<br />
weniger Stopps unsere Augen beim Lesen benötigen,<br />
desto höher ist die Lesegeschwindigkeit.<br />
Mit dem Blitz<strong>lesen</strong> wird die Blickspanne<br />
kontinuierlich erweitert und damit die Lesegeschwindigkeit<br />
gesteigert.<br />
4. Wie geht der Satz weiter?<br />
Diese Übung ist ähnlich der Übung 2. Allerdings<br />
ist die Aufmerksamkeit nicht auf ein<br />
einzelnes Wort ausgerichtet, sondern auf einen<br />
Satz oder einen ganzen Text. Auch diese<br />
Übung ist gut als Partnerübung durchzuführen.<br />
Mit dem Lesepfeil wird ein Satz (unbekannter<br />
Text) bis auf die ersten drei Wörter<br />
abgedeckt. Gemeinsam überlegen die Kinder<br />
nun, wie das nächste Wort heißen könnte.<br />
Dann wird das nächste Wort aufgedeckt und<br />
mit den gefundenen Wörtern verglichen. Für<br />
18 Auch diese Übung kann mit dem Programm Colli-<br />
Modellwortschatztraining simuliert werden. Hier ist es<br />
möglich, die Wörter in extrem kurzer Zeit (1/50 Sekunde)<br />
auf dem Bildschirm aufblitzen zu lassen. Das buchstabenweise<br />
Er<strong>lesen</strong> des Wortes wird somit systematisch<br />
verhindert.<br />
19 Kopiervorlagen mit Wörterlisten <strong>für</strong> Blitzleseübungen<br />
sind zu beziehen über Colli-Vertrieb, Warendorf 1998.<br />
Diese Wörterlisten enthalten Wörter des Wortschatzes<br />
von Naumann nach Wortlänge sortiert.<br />
jedes „richtige“ Wort wird wieder ein Spielstein<br />
umsortiert oder ein Strich in der Strichliste<br />
gemacht.<br />
5. <strong>Schritt</strong>: Vortragen und Vor<strong>lesen</strong><br />
(Leistungsbewertung)<br />
Vor<strong>lesen</strong> (laut <strong>lesen</strong>) ist zugleich vortragen. Und<br />
das ist etwas anderes als <strong>lesen</strong>. Vor<strong>lesen</strong> setzt<br />
Lesen können voraus und ist keine Methode <strong>für</strong><br />
Kinder, die <strong>lesen</strong> <strong>lernen</strong>. Vor<strong>lesen</strong> braucht zudem<br />
Zuhörer und Zuhörer kann nur jemand sein, der<br />
den Text nicht kennt. Kurz und knapp: Lassen<br />
Sie Kinder nur etwas laut vor<strong>lesen</strong>, wenn die anderen<br />
den Text nicht kennen und wirklich zuhören.<br />
Die stupiden „Reihum-Vorlese-Übungen“<br />
sind zu nichts nutze und helfen den Kindern, die<br />
Lesen <strong>lernen</strong> sollen, nichts!<br />
Vor<strong>lesen</strong> ist auch kein brauchbares Instrument<br />
zur Messung der Lesekompetenz. Lesekompetenz<br />
drückt sich darin aus, in welcher Zeit ein Text<br />
ge<strong>lesen</strong> und wie differenziert der Inhalt erfasst<br />
wird. Wenn Sie eine Aussage über die Lesekompetenz<br />
(um beispielsweise eine Note geben zu<br />
können) eines Kindes machen sollen, dann lassen<br />
sie das Kind still einen unbekannten Text <strong>lesen</strong>.<br />
Messen Sie die Lesezeit. Stellen Sie inhaltliche<br />
Fragen zum Text. Danach können Sie den Text<br />
noch einmal laut <strong>lesen</strong> lassen. Sie verfügen jetzt<br />
über drei Anhaltspunkte, die sie von mehreren<br />
Kindern miteinander vergleichen können: Lesegeschwindigkeit,<br />
Sinnentnahme, Vor<strong>lesen</strong>. Hieraus<br />
lässt sich eine Bewertung des Lesens treffender<br />
ableiten als aus Prüfungen in lautem Vor<strong>lesen</strong>.<br />
6. <strong>Schritt</strong>: Schnelles Lesen<br />
Schade, dass der Leselernprozess in der Grundschule<br />
in der Regel beendet wird und nicht weitergeführt<br />
wird. Wie schon oben ausgeführt wurde,<br />
ist die effektivste Sinnentnahme erst dann<br />
gegeben, wenn wir anhand möglichst weniger Informationen<br />
und ohne Beteiligung der Artikulationsorgane<br />
einen Text erfassen können. Dies<br />
muss jedoch systematisch trainiert werden und<br />
ergibt sich nicht von selbst. Auch „Vielleser“<br />
bringen es hier nur zu recht unvollkommenen<br />
Techniken.<br />
Im Leselernprozess werden verschiedene Techniken<br />
eingeübt, die <strong>für</strong> das Lesen<strong>lernen</strong> einen<br />
Sinn machen, später aber das schnelle Erfassen<br />
eines Textes behindern. Es sind vor allem sechs<br />
Bedingungen, die das Schnell<strong>lesen</strong> erschweren: 20<br />
20 Nach ERNST OTT: Optimales Lesen, Stuttgart 1970<br />
Nach wie vor ist dieses Buch ein Standardprogramm<br />
<strong>für</strong> jeden, der „Schneller <strong>lesen</strong> – mehr behalten“ will.<br />
Allerdings setzen wir heute in der schulischen Förderung<br />
einige Akzente anders als ERNST OTT. Eine Zu-<br />
© Norbert Sommer-Stumpenhorst <strong>Richtig</strong> Lesen <strong>lernen</strong> – <strong>Schritt</strong> <strong>für</strong> <strong>Schritt</strong> LE02 / 10
1. Buchstabieren<br />
Die erste Technik des Lesens, die Kinder <strong>lernen</strong>,<br />
ist das buchstabenweise Erschließen eines<br />
Wortes (Wörter er<strong>lesen</strong>, siehe 1. <strong>Schritt</strong>).<br />
Dieser <strong>Schritt</strong> ist notwendig, um ein Denkgerüst<br />
aufzubauen, wie Einzelbuchstaben in eine<br />
verbundene Lautfolge übertragen werden<br />
können.<br />
Wie sie an der Leseaufgabe im 1. Kapitel sehen<br />
konnten brauchen wir nicht alle Buchstaben<br />
eines Wortes, um den Sinn zu erfassen.<br />
„Bau...lle“ kann nur „Baustelle“ heißen<br />
und „ .utte..ag“ nur Muttertag. Je mehr<br />
ein Kind in der Lage ist, sinnerwartend zu <strong>lesen</strong>,<br />
desto weniger Buchstaben eines Wortes<br />
braucht es, um den Sinn des Wortes treffend<br />
zu erfassen.<br />
Natürlich kann es bei schnellem Lesen zu<br />
„Verlesungen“ kommen. Dies ist insbesondere<br />
bei kurzen Wörtern der Fall. Ob der Wortanfang<br />
„ Om “ „Omi“ oder „Oma“ heißt ist <strong>für</strong><br />
das Verständnis des Textes völlig unerheblich.<br />
Es kommt beim schnellen Lesen zwar zu<br />
„Verlesungen“, allerdings sind es selten sinnentstellende<br />
Verlesungen.<br />
2. Vokalisieren<br />
Für das flüssige Lesen ist das (laute oder leise)<br />
Mitsprechen ein besonderes Handicap<br />
(siehe <strong>Schritt</strong> 4). Unser Denken ist viel<br />
schneller als die langsame motorische Bewegung<br />
der Sprechwerkzeuge. Und auch unsere<br />
Augen können in einem Bruchteil einer Sekunde<br />
viel mehr erfassen als wir in der zehnfachen<br />
Zeit beschreiben könnten.<br />
Experiment:<br />
Probieren Sie es selbst aus. Gehen Sie<br />
spazieren. Schließen Sie die Augen. Drehen<br />
Sie sich um. Nun öffnen Sie <strong>für</strong> den<br />
Bruchteil einer Sekunde die Augen. Beschreiben<br />
Sie, was sie gesehen haben. –<br />
Sie werden mehrere Minuten brauchen,<br />
um alle Eindrücke dieses kurzen Augenblicks<br />
in Worte zu fassen.<br />
Solange wir innerlich mitsprechen, ist kein<br />
schnelles Lesen möglich. Dies zu trainieren ist<br />
mit das Schwierigste im Leselernprozess.<br />
3. Langsames Lesen<br />
Noch einmal: unser Geist ist schneller als unser<br />
Sprechen. Wir <strong>lesen</strong> so schnell, wie wir<br />
(laut oder stumm) unsere Sprechwerkzeuge<br />
bewegen können. Bei diesem langsamen Tempo<br />
ist unser Gehirn jedoch nicht ausgelastet –<br />
sammenstellung brauchbarer Übungen <strong>für</strong> leistungsstarke<br />
Kinder in der Grundschule und <strong>für</strong> weiterführende<br />
Schulen wird demnächst in dieser Materialreihe<br />
erscheinen.<br />
es langweilt sich. Und was macht es? Weil es<br />
gelangweilt ist, beschäftigt es sich mit anderen<br />
Dingen. Wir schweifen mit den Gedanken<br />
ab. Die Konsequenz: Wir bekommen nicht<br />
mehr genau mit, was wir <strong>lesen</strong>.<br />
Beobachtung:<br />
Stellen Sie sich vor, Sie würden einen<br />
spannenden Film ansehen. Doch dieser<br />
Film läuft nicht in normaler Geschwindigkeit,<br />
sondern im Zeitlupentempo.<br />
Können Sie da noch bei der Sache bleiben?<br />
Wenn unser Gehirn unterfordert ist,<br />
schalten wir ab. Beim Fernsehapparat<br />
gelegentlich auch um.<br />
Langsames Lesen führt zur Langeweile. Unser<br />
Gehirn beschäftigt sich mit anderen Dingen.<br />
Die Aufmerksamkeit und Konzentration<br />
geht verloren. Die Beibehaltung der Konzentration<br />
(und damit Sinnentnahme) ist um so<br />
schwieriger, je langsamer wir <strong>lesen</strong>. Wenn wir<br />
uns beim Lesen konzentrieren wollen, so<br />
müssen wir die Lesegeschwindigkeit steigern!<br />
4. Zurückspringen<br />
Beim langsamen Lesen schweifen wir mit den<br />
Gedanken ab, weil unser Gehirn beschäftigt<br />
sein will. Irgendwann merken wir, dass wir<br />
zwar <strong>lesen</strong>, aber gar nichts aufnehmen. Also<br />
gehen wir an die Stelle zurück, an die wir uns<br />
noch erinnern können. Damit geht viel Zeit<br />
verloren. Schnelleres Lesen schafft hier Abhilfe.<br />
Das ist am Anfang, wenn wir beginnen<br />
schnell Lesen zu <strong>lernen</strong>, ein Problem. Wenn<br />
ich merke, dass die Aufmerksamkeit verloren<br />
geht und meine Gedanken abschweifen, zwinge<br />
ich mich zu schnellerem Lesen. In dieser<br />
Phase des Leselernprozesses hat ausnahmsweise<br />
einmal das Lesetempo Vorrang vor der<br />
Sinnentnahme. Nur nicht Zurückspringen!<br />
Diese schlechte Angewohnheit muss zunächst<br />
abgebaut werden. Dann führt das schnelle<br />
Lesen ganz schnell wieder zu einer hohen<br />
Konzentration und damit zu verstärkter<br />
Sinnentnahme.<br />
5. Hilfsmittel<br />
Beim buchstabenweisen Lesen und beim Silben<strong>lesen</strong><br />
benutzen wir den Lesepfeil. Manche<br />
Kinder benutzen einen Finger, ein Lineal oder<br />
einen Stift, um sich im Text zu orientieren,<br />
die Wörter zu verfolgen oder die Zeile nicht<br />
aus den Augen zu verlieren. Die Benutzung<br />
solcher Hilfsmittel ist am Anfang des Leselernprozesses<br />
ganz nützlich. Für das schnelle<br />
Lesen sind sie jedoch recht hinderlich. Unsere<br />
Augen arbeiten unvergleichlich schneller als<br />
unsere Hand. Sie können viel mehr erfassen,<br />
als der Lesepfeil „freigibt“. Bei konzentriertem<br />
schnellem Lesen ist unser Auge sehr wohl<br />
in der Lage, von Wort zu Wort, von Satzteil zu<br />
© Norbert Sommer-Stumpenhorst <strong>Richtig</strong> Lesen <strong>lernen</strong> – <strong>Schritt</strong> <strong>für</strong> <strong>Schritt</strong> LE02 / 11
Satzteil, von Zeile zu Zeile zu springen, ohne<br />
die Orientierung zu verlieren. Natürlich bedarf<br />
dies einer gewissen Übung. Aber dann<br />
geht das Lesen um ein Vielfaches schneller<br />
als mit den Hilfsmitteln.<br />
6. Wort <strong>für</strong> Wort <strong>lesen</strong><br />
Wir <strong>lesen</strong> einen Text meist, indem wir mit den<br />
Augen von Wort zu Wort springen. Dabei verengen<br />
wir unser Blickfeld ganz unnötig und<br />
strengen zudem unsere Augen zu sehr an. Das<br />
langsame Lesen führt daher zu schnellen Ermüdungserscheinungen<br />
unserer Augen. Dabei<br />
ist diese Einschränkung recht unnütz.<br />
Sinnentnehmendes Lesen ist immer hypothesengeleitet.<br />
Wir bilden im Lesen eine Sinnerwartung.<br />
Diese Sinnerwartung macht es möglich,<br />
dass wir nur wenige Buchstaben benötigen,<br />
um ein Wort zu erfassen. Sinnerwartung<br />
wird jedoch nicht vom einzelnen Wort her gebildet,<br />
sondern vom Kontext. Wenn es also gelingt,<br />
nicht nur ein Wort, sondern zugleich<br />
das Umfeld (sinnvolle Wortgruppe, Satzteil)<br />
wahrzunehmen, kann sich viel schneller eine<br />
Sinnerwartung bilden.<br />
Schnelles Lesen bedeutet, dass wir die Blickspanne<br />
voll ausnutzen und immer weiter trainieren,<br />
diese zu erweitern. Mit einiger Übung<br />
ist es zu erreichen, vier bis sechs Wörter<br />
gleichzeitig wahrzunehmen. Das steigert automatisch<br />
die Lesegeschwindigkeit um das<br />
vier- bis sechsfache. Erfahrene „Schnellleser“<br />
können dann eine Zeile von der Länge einer<br />
Zeitungsspalte mit einem Blick erfassen und<br />
die Zeitung „von oben nach unten“ <strong>lesen</strong>. Die<br />
Schnellleseprofis schaffen noch mehr. Die<br />
Steigerung der Lesegeschwindigkeit durch<br />
solch eine Vorgehensweise ist beträchtlich.<br />
7. Subvokalisieren<br />
Allerdings gelingt dieser letzte <strong>Schritt</strong> zur<br />
Steigerung der Lesegeschwindigkeit nur,<br />
wenn das innere Mitsprechen aufgegeben<br />
wird. Doch selbst wenn sich unsere Lippen<br />
beim Lesen nicht mehr bewegen, so wird doch<br />
das Ge<strong>lesen</strong>e nach wie vor in Sprache übersetzt.<br />
Dies ist <strong>für</strong> die Sinnerfassung umständlich<br />
und viel zu langsam. „Begriffen haben wir<br />
einen Text nur dann, wenn wir uns das Ge<strong>lesen</strong>e<br />
vorstellen können.“ 21 Lernen heißt, neues<br />
Wissen mit Bekanntem in Beziehung zu<br />
bringen, zu verknüpfen. Beim Lesen müssen<br />
solche Assoziationen entstehen: Bilder, Gedanken,<br />
Gefühle, Vorstellungen. Diese lassen<br />
sich aber nur sehr umständlich und unvollkommen<br />
versprachlichen. Die höchste Stufe<br />
des Lesens ist es, sprachlos zu <strong>lesen</strong>, das Ge<strong>lesen</strong>e<br />
direkt in Vorstellungen und Bilder zu<br />
erfassen (zu übertragen). Die Steigerung der<br />
Lesegeschwindigkeit, die durch die Ausschal-<br />
21 ERNST OTT: a. a. O.<br />
tung des inneren Sprechens entsteht, ist enorm.<br />
Die richtigen Profis <strong>lesen</strong> einen Text<br />
Seite <strong>für</strong> Seite und wissen am Ende des Buches<br />
unendlich viel mehr als ein langsam Lesender.<br />
Lesen wird immer differenzierter<br />
Die Lesegewohnheiten haben sich in den letzten<br />
hundert Jahren mehrfach gravierend geändert.<br />
Es ist nicht mehr nur allein das Buch oder die<br />
Zeitung, sondern zunehmend der Computer und<br />
das Internet, <strong>für</strong> das wir das Lesen brauchen.<br />
Dabei werden ganz andere Lesehaltungen und<br />
Lesetechniken benötigt.<br />
1. Lesen schöner Bücher<br />
Hier kommt es vor allem auf Lesegemütlichkeit<br />
an. Es wird eine Atmosphäre geschaffen,<br />
die zu dem schönen Buch passt, die es ermöglicht,<br />
sich auf die Geschichte einzulassen und<br />
in der Fantasie die Bilder der Geschichte<br />
entwickeln zu lassen.<br />
Durch das Fernsehen haben Kinder heute viel<br />
weniger Erfahrung darin, eigene Bilderwelten<br />
beim Lesen entstehen zu lassen. Gemütliche<br />
Leseecken, Ruheübungen vor dem Lesen und<br />
Bilder malen nach dem Lesen schaffen hier<br />
Erfahrungs- und Gestaltungsräume, die Kinder<br />
brauchen, um sich auf schöne Bücher einzulassen.<br />
Inhaltsabfragen, Nacherzählungen<br />
und Berichte über das ge<strong>lesen</strong>e Buch verhindern<br />
oftmals, dass Kinder sind auf Bücher<br />
einlassen. Hilfreicher ist es, die Kinder schildern<br />
zu lassen, was ihnen an dem Buch gefallen<br />
hat, eine Art „Werbeseite“ zu schreiben,<br />
um anderen Kindern das Buch „schmackhaft“<br />
zu machen.<br />
2. Informationsaufnahme<br />
Wir leben in einer Informationsgesellschaft,<br />
in der die Rechtschreibung durch den Einsatz<br />
der Computer immer unwichtiger wird. Zwar<br />
gibt es heute schon „sprechende Computer“,<br />
die Geschriebenes vor<strong>lesen</strong> können 22 . Zur raschen<br />
Informationsaufnahme sind solche Vorleseprogramme<br />
jedoch ungeeignet, da die<br />
Sprache viel zu langsam ist.<br />
So wird die Wissensaufnahme durch Lesen,<br />
gerade durch die Technisierung, immer wichtiger.<br />
Die schnelle Informationsaufnahme gewinnt<br />
durch den stetig steigenden Wissensumsatz<br />
immer mehr an Bedeutung. Der größte<br />
Teil allen Wissens 23 (85 %) wird über das<br />
22 Preiswerte Softwarelösungen mit erstaunlichem Leistungsvermögen<br />
sind heute schon unter 100 DM zu bekommen;<br />
z. B. LOGOX von GDATA-Software, Bochum<br />
1997.<br />
23 W. D. BAKER: Reading Skills, Enlewood Cliffs 1953.<br />
Zitiert nach ERNST OTT: s.o.<br />
© Norbert Sommer-Stumpenhorst <strong>Richtig</strong> Lesen <strong>lernen</strong> – <strong>Schritt</strong> <strong>für</strong> <strong>Schritt</strong> LE02 / 12
Lesen aufgenommen. Und das hat sich in den<br />
letzten 50 Jahren kaum verändert. Der Unterschied<br />
zu früher ist, dass wir heute viel<br />
mehr Wissen aufnehmen müssen, um ertragreich<br />
studieren zu können und um die vielfältigen<br />
Veränderungen in der Berufswelt nachvollziehen<br />
zu können.<br />
Schnell <strong>lesen</strong> können und in kurzer Zeit viel<br />
von dem Ge<strong>lesen</strong>en behalten und verarbeiten<br />
ist heute wichtiger denn je. Das flüssige Lesen<br />
der Kinder am Ende der Grundschule reicht<br />
heute nicht mehr aus. Es muss daher in den<br />
weiterführenden Schulen systematisch weiterentwickelt<br />
und trainiert werden.<br />
3. Informationen suchen<br />
Früher war Wissen Macht. Viel zu wissen<br />
wurde gleichgesetzt mit Intelligenz. Das ist<br />
heute anders. Das Wissen von einer Sache<br />
verändert sich so schnell dass selbst die Experten<br />
eines Fachgebietes dies nur selten überblicken.<br />
Der Wissenszuwachs geht in so<br />
rasantem Tempo voran, dass die Spezialgebiete<br />
der Wissenschaft immer enger werden<br />
müssen, um noch etwas überschauen zu können.<br />
Demzufolge kommt es heute mehr den je darauf<br />
an, Informationen zu selektieren, sie gezielt<br />
auf eine Fragestellung hin zu durchsuchen.<br />
Vor allem die Arbeit im Internet verlangt<br />
vom Leser einen hohen Grad an schneller<br />
Auffassungsgabe, um die „Spreu vom Weizen“<br />
zu trennen.<br />
Hierauf müssen Kinder vorbereitet werden.<br />
Sie müssen <strong>lernen</strong>, in Texten das Wesentliche<br />
zu erfassen, gezielt nach „Reizwörtern“ zu suchen<br />
und mehrere solcher „Reizwörter“ zugleich<br />
im Kopf zu behalten. Dies verlangt eine<br />
ganz andere Art des Lesens. Und auch dies<br />
muss in der Schule vermittelt werden.<br />
Das Lesen zu lehren ist nicht allein Aufgabe der<br />
Grundschule. Viel zu oft ist <strong>für</strong> die Schule der<br />
Leselernprozess mit der Lautsynthese abgeschlossen.<br />
Danach geht man davon aus, dass sich<br />
alles “wie von selbst” dadurch ergibt, dass Kinder<br />
viel <strong>lesen</strong>.<br />
Wir müssen in der Schule ein durchgängiges Lesekonzept<br />
von Klasse 1 bis Klasse 10 entwickeln,<br />
dass den verschiedenen Ansprüchen, die an das<br />
Lesen gestellt werden, gerecht wird.<br />
Das Lesen muss zu einem<br />
� gezielten Suchen nach Informationen,<br />
� einem Schnell-<strong>lesen</strong>-können und<br />
� zu einer genussvollen Freizeitbeschäftigung<br />
weiterentwickelt werden.<br />
© Norbert Sommer-Stumpenhorst <strong>Richtig</strong> Lesen <strong>lernen</strong> – <strong>Schritt</strong> <strong>für</strong> <strong>Schritt</strong> LE02 / 13