Konzepte für Rostock - Stadtgespräche Rostock
Konzepte für Rostock - Stadtgespräche Rostock
Konzepte für Rostock - Stadtgespräche Rostock
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GEDRUCKTE KÖRPERHALTUNG<br />
AUSGABE NR.<br />
WIE WEITER?<br />
MAGAZIN<br />
FÜR BEWEGUNG,<br />
MOTIVATION UND<br />
DIE NACHHALTIGE<br />
KULTIVIERUNG<br />
DER REGION ROSTOCK<br />
stadtgespraeche- rostock.de<br />
ISSN 0948-8839<br />
ERSCHEINT<br />
QUARTALSWEISE<br />
SEIT SEIT 1994 1994<br />
<strong>Konzepte</strong> <strong>für</strong> <strong>Rostock</strong><br />
Sybille Bachmann über Strategien <strong>für</strong> die Verwaltung der Hansestadt __ /<br />
Simone Briese: Warum <strong>Rostock</strong> eine aufstrebende Großstadt sein kann und wie __ /<br />
Felix Landmann zeigt ungenutzte Potentiale kommunaler Gestaltung auf__ /<br />
Benno Thiel über Public-Private-Partnerships, national und lokal __ /<br />
Lutz Budraß und Peter Köppen setzten die Debatte zum Museumskonzept fort __ /<br />
Christoph Körner fragt: Welche Wahl lässt uns die Krise? __ /<br />
Zwei Generationen oder 100 Jahre über 89/09: Joachim Cotaru & Jens Langer __ /<br />
Jens Langer in memoriam Günter Wirth __ /<br />
Ilja Ehrenburg zum 1.1.1945: Frohes neues Jahr, Moskau! __/<br />
15. JAHRGANG // ///____EINZELHEFTPREIS: 2,50 € ___///// JAHRESABO (4 AUSGABEN): 10,00 €
Schwalben erfreuen den Menschen, fressen Insekten, geben Hoffnung. Und bauen Nester. Gern auch in<br />
der alten Post, wo der Hausmeister nach dem Inhaber-/Betreiberwechsel die Anweisung erhielt, die Nester<br />
zu zerstören. Weniger Dreck. Weniger Reinigung. Weniger Hoffnung.
00.1 __ //// EDITORIAL | INHALT<br />
Liebe Leserinnen<br />
und Leser,<br />
Überlegt man dieser Tage, was <strong>Rostock</strong>, abgesehen<br />
natürlich von der Hansesail ;-), charakterisiert,<br />
fallen einem wohl recht schnell die vielen<br />
ungelösten Fragen und Probleme ein, die<br />
ebenso oft wie unzulänglich unter dem Schlagwort<br />
„Verschuldung“ zusammengefasst werden.<br />
Dieser Zustand hält irgendwie schon seit mehreren<br />
Jahren an, obwohl die Fristsetzungen aus<br />
Schwerin doch bereits 2007 nach Finale klangen.<br />
Eine Beschäftigung mit diesem Thema<br />
mag deshalb auf den ersten Blick altbacken und<br />
uninteressant erscheinen, was davon ablenkt,<br />
dass immer noch nach Lösungen gesucht wird,<br />
die Konzeptcharakter haben und nicht auf Blitzideen und Schnellschüssen basieren.<br />
Das aktuelle Heft enthält mehrere Beiträge, die sich um eine solche<br />
Konzeption bemühen – und erstaunlich konkrete Optionen aufzeigen.<br />
Als ebenso konstruktiv erweist sich ein zweiter Schwerpunkt des Heftes, dessen<br />
Beiträge die bereits im letzten Heft eröffnete Debatte um ein <strong>Rostock</strong>er<br />
Museumskonzept fortführen. Darüber hinaus kommt neben Alma Atemlos<br />
auch Ilja Ehrenburg persönlich zu Wort. Jens Langer und sein Sohn Jochen<br />
Cotaru blicken aus der Sicht zweier Generation noch einmal auf 1989 und das<br />
Wendejahr zurück.<br />
Reichlich Diskussionsstoff also, deshalb von mir nur einmal mehr die Ermunterung,<br />
sich mit Fortsetzung und Widerspruch aktiv zu beteiligen. In diesem<br />
Sinne wünsche ich Ihnen alles Gute <strong>für</strong> 2010 und eine motivierende Lektüre<br />
Ihre Kristina Koebe<br />
Inhalt dieses Heftes<br />
Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1<br />
A. Atemlos: Neuigkeiten aus der Provinz . . . . . . . . 2<br />
In eigener Sache 2.0/Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . 3<br />
Titelthema: Wie weiter? <strong>Konzepte</strong> <strong>für</strong> <strong>Rostock</strong><br />
S. Bachmann: Gegenwart absichern - Zukunft<br />
vorantreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5<br />
S. Briese: <strong>Rostock</strong> - eine aufstrebende<br />
ostdeutsche Großstadt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10<br />
F. Landmann: Eine <strong>Rostock</strong>er<br />
Momentaufnahme am Jahresanfang 2010 . . . . . . 14<br />
B. Thiel: Der Ausverkauf geht weiter . . . . . . . . . . 18<br />
Aktuelle Debatte:<br />
<strong>Rostock</strong> sucht sein Museumskonzept . . . . . . . . . . 21<br />
L. Budraß: „Opa war dabei.“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22<br />
P. Köppen: Die <strong>Rostock</strong>er Museumslandschaft<br />
in den Vorstellungen des Museumskonzeptes . . . 24<br />
Ch. Körner: Welche Wahl lässt uns die Krise? . . 28<br />
Resümee, 20. Jahre danach<br />
J. Cotaru: I. Namen und Tage: 1989 . . . . . . . . . . . 30<br />
J. Langer: II. Zusammenbruch mit Aufbruch<br />
nebst Anschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32<br />
J.Langer: Kultur & Geschichte - Günter Wirth . 35<br />
Ilja Ehrenburg: Frohes neues Jahr, Moskau! . . . . 37<br />
Wenigsten hier gibt’s Stabilität ...<br />
FOTO: TOM MAERCKER
00.2 __ //// GLOSSE | DANKSAGUNG | IMPRESSUM<br />
Neuigkeiten aus der Provinz<br />
liebevoll hinterfragt.<br />
In den vielen Bilanzen der <strong>Rostock</strong>er Kultureinrichtungen<br />
wurde auch im Jahr 2009 von Erfolg zu Erfolg geeilt. Die<br />
Stadt- und Messehallen hatten zum Beispiel 10.000 Besucher<br />
mehr zu verkünden als 2008.<br />
Ich habe mir das ja dieses Jahr auch mal gegönnt. Leider musste<br />
ich feststellen, dass das DDR-Interieur immer mehr verschandelt<br />
wird. So wurden jetzt neue Sitze eingebaut, die härter und<br />
unbequemer sind als die alten. Und im Rang sitzt man so eng<br />
wie bei Ryanair. Aber da<strong>für</strong> sind die Sitze bunt, einige rot, die<br />
meisten blau. So ist das im Westen - nichts hat sich gebessert,<br />
aber es ist bunter. Und richtig bunt wurde es, als ich auf einem<br />
roten Stuhl zu sitzen kam, der mit dem Namen unseres Oberbürgermeisters<br />
versehen war. Es dauerte dann eine ganze Weile,<br />
bis sich geklärt hatte, dass ich nun wirklich 120 Minuten auf<br />
dem Stuhl des Oberbürgermeisters Platz nehmen dürfe. Der<br />
Stuhl sei nämlich vorausschauend von Roland erworben worden,<br />
<strong>für</strong> die demnächst anbrechende Zeit, wenn er wieder auf<br />
die hinteren Plätze verwiesen werde. (Für alle die es genau wissen<br />
wollen: Rang links, Block C, Reihe 5.)<br />
Als die Vorstellung schon fast beginnen sollte, rauschte noch<br />
eine Blondine mit Gefolge auffällig unauffällig in den Saal, die<br />
Stadthallenchefin Frau Burmeister höchstselbst. Dann konnte<br />
es endlich losgehen. In der Pause waren alle Flure angenehm<br />
vom Duft von Halberstädter Würstchen erfüllt. Der hielt sich<br />
danach noch Wochen in der abgegebenen Garderobe. Womit<br />
das Finale eingeläutet ist: Nach der Vorstellung standen wir alle<br />
wie in alten Zeiten an der Garderobe an. Die Männer von der<br />
Security blickten aus sicherer Entfernung auf das Menschengewühl<br />
und schwatzten mit den Putzfrauen, während die Garderobieren<br />
sich die Füße wund liefen. Jeder an seinem Arbeitsplatz<br />
- alles zum Wohle usw. ... Nur Frau Burmeister, die habe<br />
ich in dem Chaos nicht entdecken können.<br />
Den Anfang mit den Erfolgsmeldungen hatte die Kunsthalle<br />
gemacht und 40.000 Besucher vermeldet und somit auch<br />
10.000 mehr als 2008. Und im nächsten Jahr wird alles noch<br />
besser und profilierter. Nachdem in diesem Jahr China today<br />
total Nippon war, will man sich 2010 noch mehr auf den Ostseeraum<br />
konzentrieren. Der Anfang wird gemacht mit „Riga<br />
dröhnt“. Da wird Herr Neumann zur Ausstellungseröffnung<br />
ordentlich seine Horst-Zimmermann-Gedächtnisfrisur schütteln<br />
und über die Konstanz der Subtilität der Ausstellungstitel<br />
referieren.<br />
Als ein weiterer Höhepunkt des Jahres 2010 sind Werke des<br />
Fotografen Paolo Roversi angekündigt. Um der Ostsee näher<br />
zu sein, ist Roversi vor einigen Jahren von Ravenna nach Paris<br />
gezogen. Besonders stolz ist die Kunsthalle, dass es gelungen<br />
ist, einige ca. 50 Jahre alte Strichmännchenzeichnungen aus<br />
dem Warnemünder Sand zu bergen und in einer Sonderschau<br />
zu präsentieren. Mehrere Gutachter haben inzwischen bestätigt,<br />
dass diese Relikte eindeutig Frühwerke von A.R. Penck<br />
seien. Der weilte nämlich als Kind mehrfach in Warnemünde,<br />
so wie alle Sachsen.<br />
Überhaupt geht es ja mit den <strong>Rostock</strong>er Museen und mit dem<br />
Museumskonzept voran. Mit Lenkungs- und Expertengruppen<br />
und allem was dazugehört. Nachdem 2005 eine Expertenkommission<br />
bereits festgestellt hatte, dass man auf dem Traditionsschiff<br />
keine Flugzeuge zeigen solle, wird jetzt eine Kommission<br />
eingesetzt, die wahrscheinlich das Gegenteil beweisen soll.<br />
Denn, so steht es im Konzept, spätestens 2018 sollen Schiffe<br />
und Flugzeuge gezeigt werden. Und weil Flugzeuge schon in<br />
Anklam, Peenemünde, Rechlin und bald auch in Wismar zu sehen<br />
sind, will die SPD von den Experten wissen, was denn das<br />
Alleinstellungsmerkmal des <strong>Rostock</strong>er Technikmuseums sein<br />
könnte. Da können die Experten viele Runden drehen.<br />
Auch ein Gang ins Kulturhistorische Museum lohnt immer.<br />
Bereits seit dem 04.Dezember 2009 wird dort eine kleine Ausstellung<br />
zur Wende mit folgendem Titel gezeigt: „Wir sind das<br />
Volk. Friedliche Revolution in <strong>Rostock</strong> 1989“. Ich hätte einen<br />
besseren Vorschlag <strong>für</strong> die Ausstellung gehabt: „Denn ihr sollt<br />
wissen, dass das Museum noch schläft ...“<br />
Aber das ist ja das noch herauszuarbeitende Alleinstellungsmerkmal<br />
des <strong>Rostock</strong>er Technikmuseums.<br />
Kommen Sie gut durch den musealen Winterschlaf.<br />
Ihre Alma Atemlos ¬
In eigener Sache 2.0<br />
Sie haben es inzwischen bemerkt: bei uns hat sich einiges verändert. Nicht<br />
nur dass wir unsere Ansprüche, Ziele und Hoffnungen („die nachhaltige<br />
Kultivierung der Region <strong>Rostock</strong>“) gelegentlich auf den Prüfstand stellen<br />
würden, manchmal werden wir auch durch äußere Anstöße in Bewegung<br />
versetzt. So z.B. mussten wir durch die Schließung des Copyshops (An dieser<br />
Stelle sei dem Copy-Team noch einmal ausdrücklich <strong>für</strong><br />
die langjährige und entgegenkommende Zusammenarbeit<br />
gedankt, ohne die die „<strong>Stadtgespräche</strong>“ nicht zu<br />
einer der inzwischen ältesten, noch publizierten<br />
Zeitschriften der Region geworden wäre!) über Nacht -<br />
übrigens im Wortsinn - eine neue Druckerei suchen, womit auch alle flankieren-<br />
den Parameter (Farbigkeit, Format, Versand, Lieferung, Konfektionierung inkl. deren Finanzierbarkeit etc.)<br />
zur Disposition standen.<br />
Inzwischen haben wir so manche Entscheidung treffen müssen - einige gewollt,<br />
andere notgedrungen. So werden wir häufig auf die neue „Aufmachung“<br />
angesprochen. Wir haben uns bemüht, trotz innovativer und zeitgerechter<br />
Gestaltung dem Kopier-Look der 80er Jahre auch weiterhin gerecht<br />
zu werden, allerdings wird es immer schwieriger, entsprechende Kopiergeräte<br />
zu finden, die diesem authentisch gerecht werden ...;-)<br />
Spaß beiseite. Die Druckkosten sind/waren nach der Umstellung auf „richtigen“<br />
Digitaldruck eine enorme Herausforderung, die viele unserer Abonnenten<br />
durch eine „solidarische“ Begleichung der Jahresrechnung abgemil -<br />
dert haben. Da<strong>für</strong> ein großes Danke an alle, die es einfach<br />
getan haben (und natürlich auch an die, die es vorhatten). Das hat uns sehr<br />
geholfen und wird die „<strong>Stadtgespräche</strong>“ auch 2010 sichern. Bei weiter steigenden<br />
Abonnentenzahlen werden wir perspektivisch sicher auch (wieder)<br />
FSC-zertifiziertes, klimaneutrales bzw. Recyclingpapier verwenden können.<br />
Ein erfolgreiches und gesundes 2010 wünscht,<br />
Tom Maercker. ¬<br />
Impressum<br />
<strong>Stadtgespräche</strong> Heft 57:<br />
„<strong>Konzepte</strong> <strong>für</strong> <strong>Rostock</strong>”<br />
Ausgabe Dezember 2009<br />
(Redaktionsschluss: 12. Januar 2010)<br />
Herausgeber (NEU)<br />
<strong>Stadtgespräche</strong> e.V. in Zusammenarbeit mit der Bürgerinitiative<br />
<strong>für</strong> eine solidarische Gesellschaft e.V. <strong>Rostock</strong><br />
und der Geschichtswerkstatt <strong>Rostock</strong> e.V.<br />
Redaktion und Abonnement (NEU)<br />
PF 10 40 66<br />
18006 <strong>Rostock</strong><br />
Fax: 03212-1165028 (NEU)<br />
E-Mail: redaktion@stadtgespraeche-rostock.de<br />
Internet: www.stadtgespraeche-rostock.de<br />
Verantwortlich (V.i.S.d.P.):<br />
Tom Maercker<br />
Dr. Kristina Koebe<br />
Redaktion:<br />
Dr. Kristina Koebe<br />
Tom Maercker<br />
Dr. Peter Koeppen<br />
Dr. Jens Langer<br />
Die einzelnen Beiträge sind namentlich gekennzeichnet<br />
und werden von den Autorinnen und Autoren<br />
selbst verantwortet.<br />
Layout: be:deuten.de //Klimagestalter<br />
Mediadaten:<br />
Gründung: 1994<br />
Erscheinung: 15. Jahrgang<br />
ISSN: 0948-8839<br />
Auflage: 200 Exemplare<br />
Erscheinung: quartalsweise<br />
Einzelheftpreis: 2,50 € (Doppelheft: 5,00 €)<br />
Herstellung: KDD<br />
Anzeigenpreise (Kurzfassung)<br />
(ermäßigt / gültig <strong>für</strong> 2010)<br />
3. Umschlagseite (Spalten-Millimeter-Preis): 0,25 €<br />
4. Umschlagseite (nur komplett): 145,00 €<br />
Details auf unserer Website im Internet<br />
Verkaufstellen in <strong>Rostock</strong>:<br />
Unibuchhandlung Thalia, Breite Str. 15-17<br />
Unibuchhandlung Weiland, Kröpeliner Str. 80<br />
die andere Buchhandlung, Wismarsche Str. 6/7<br />
Kröpeliner Tor, Kröpeliner Str.<br />
Sequential Art, Peter-Weiss-Haus, Doberaner Str. 21<br />
Made by Mira, Neue Werderstr. 4-5<br />
Bankverbindung (NEU)<br />
(<strong>für</strong> Abo-Überweisungen und Spenden)<br />
Kto.: 1203967<br />
BLZ: 13090000<br />
bei der <strong>Rostock</strong>er VR-Bank<br />
Abonnement:<br />
Jahresabonnement (4 Ausgaben): 10,00 €<br />
Jahressoliabo (4 Ausgaben): 20,00 €<br />
Einen Aboantrag finden Sie auf S. 12 (bzw. als<br />
PDF-Datei zum Ausdrucken und Ausfüllen auf<br />
unserer Website im Internet).
WIE WEITER?<br />
TITELTHEMA: KONZEPTE FÜR ROSTOCK<br />
FOTO: TOM MAERCKER
00.5 __ //// TITELTHEMA<br />
Gegenwart absichern -<br />
Zukunft vorantreiben<br />
Strategien <strong>für</strong> die Verwaltung der<br />
Hansestadt <strong>Rostock</strong><br />
Thesen zu den Denkanstößen<br />
DR. SYBILLE BACHMANN______//5.10.2009<br />
Die Hansestadt <strong>Rostock</strong> verfügt über viele innovative Ansätze<br />
und sollte ihre Zukunft selbstbewusst in die strategische Hand<br />
nehmen. Kommunalpolitik sollte helfen Grundrichtungen aufzuzeigen<br />
und Diskussionsplattformen herzustellen. Zufriedenheit<br />
mit einer Stadt erwächst aus der gebotenen Lebensqualität,<br />
Begeisterung aus Perspektiven und Beteiligung.<br />
Krise als Chance zu neuem Herangehen<br />
Kommunen stecken bundesweit in einer Finanzkrise, die sie<br />
überwiegend nicht selbst verursacht haben. Die Verschuldung<br />
entstand 2001-2005 in wirtschaftlich schwierigen Zeiten, die<br />
Aufschwungjahre 2006-2008 brachten positive Haushaltssalden.<br />
Diese Entwicklung erfolgte unabhängig von kommunalen<br />
politischen Verhältnissen. Für die Jahre 2009/10 brechen erneut<br />
Steuereinnahmen infolge von Wirtschaftskrise und Steuersenkungen<br />
weg, auch steigen erneut von Kommunen zu zahlende<br />
Sozialausgaben. Weder Negativ- noch Positivsalden sind<br />
den jeweiligen Bürgermeistern zuzuschreiben. Da Bund und<br />
Länder erhebliche Mitverantwortung <strong>für</strong> die dauerhafte Überschuldung<br />
tragen, stehen sie auch in der Mitverantwortung <strong>für</strong><br />
die Lösung der Finanzkrise der Gemeinden. Kommunen und<br />
Länder mit ihren Aufsichten sollten sich daher als Partner auf<br />
der Suche nach Lösungen verstehen. Entschuldung muss dabei<br />
bedachte Investition in die Zukunft sein, nicht kaputt Sparen.<br />
Ein integriertes Gesamtkonzept <strong>für</strong> die Stadtverwaltung müsste<br />
folgende Ebenen umfassen:<br />
- Zukunftskonzept mit Positionierung und Vision (Marktorientierung)<br />
- Ressourcen, Strukturen und Prozesse (Ressourcenorientierung)<br />
- Unternehmenskultur (Kulturorientierung).<br />
Hieraus leitet sich das Modell Konzept – Struktur – Kultur +<br />
Umsetzung ab.<br />
Erfolgsfaktor Konzept<br />
Eine strategische Entscheidung bezüglich einer Vision <strong>für</strong> die<br />
Stadtverwaltung <strong>Rostock</strong> ist erforderlich. Sie sollte in Übereinstimmung<br />
mit der Entwicklung des Landes und der Hansestadt<br />
stehen. Die Komponenten sind miteinander zu integrieren, damit<br />
Landes- und Stadtvision Realität werden und die Stadtverwaltung<br />
ausreichend Ressourcen erhält. Eine Vision <strong>für</strong> das<br />
Land M-V unter Berücksichtigung bestehender Potenziale<br />
könnte aus vier Komponenten bestehen: Tourismus-, Gesundheits-,<br />
Kultur- und Innovationsland. Die Visionselemente hängen<br />
dabei eng miteinander zusammen. Eine Stadt, die sich als<br />
kreativer Motor einer Zukunft ermöglichenden Regiopole versteht,<br />
benötigt eine Verwaltung mit entsprechender Vision,<br />
Mission, Strategie und Kultur. Als mögliche Vision wird „Partner<br />
<strong>für</strong> alle“, als mögliche Mission „Innovativer Problemlöser“<br />
vorgeschlagen.
00.6 __ //// TITELTHEMA<br />
Erfolgsfaktor Struktur und Prozess<br />
Auf der Basis einer Vision und Mission müssten die strategischen<br />
Ziele <strong>für</strong> die gesamte Stadtverwaltung festgelegt werden.<br />
Daraus ableitbar wären die Zielvorgaben <strong>für</strong> die einzelnen Senatsbereiche<br />
und daraus wieder die der Ämter. Die zahlreichen<br />
Änderungen des Organigramms der Stadtverwaltung und damit<br />
der Organisation in den letzten Jahren belegen, dass Verwaltung<br />
entgegen ihrer Aufgaben überwiegend politisch verstanden<br />
wird, strukturiert nach Einflussmöglichkeiten und<br />
(teilweise) persönlichen Vorlieben anstelle von Prozessabläufen.<br />
Mängel in der Organisation führten zu struktureller Verantwortungslosigkeit<br />
des Einzelnen durch Vielzuständigkeiten,<br />
zum Kampf um Ressourcen, zu Redundanzen, Kompetenzgerangel,<br />
höherem Bedarf an Führungskräften, hohem Kommunikationsaufwand<br />
und gegenseitigem Ausspielen von Mitarbeitern.<br />
Aufgrund vielfältiger Beziehungen und wechselseitiger Abhängigkeiten<br />
sollte eine Umgestaltung der Aufbau- und Ablauforganisation<br />
der Stadtverwaltung synchron erfolgen, unter Zuhilfenahme<br />
der Musterorganisation der KGSt (Kommunalen<br />
Gemeinschaftsstelle). Die Organisationsstruktur muss frei von<br />
Interessen- und Machterwägungen erfolgen.<br />
Anpassung von Managementsystemen<br />
Es bedarf zuallererst der Aufnahme der Dienstleistungsorientierung<br />
als zentralem Wert in die Organisationsphilosophie der<br />
Stadtverwaltung sowie deren konsequenter Umsetzung.<br />
Grundgedanke muss sein: Unterstützung statt Reglementierung.<br />
Dies kann nur durch eine Vorbildfunktion der Führungskräfte,<br />
eine flache Organisationsstruktur, Teamstrukturen sowie<br />
ein hohes Maß an Delegation erfolgen. Neben der Anpassung<br />
von Strukturen in Sinne einer Beziehungsorientierung<br />
muss eine Anpassung der Managementsysteme erfolgen (Personalmanagement,<br />
Qualitätsmanagement, Zins- und Schuldenmanagement<br />
etc.*)<br />
Erfolgsfaktor Kultur<br />
Die Stadtverwaltung <strong>Rostock</strong> ist der Hierarchie-Kultur zuzuordnen.<br />
Derartige Unternehmenskulturen weisen die niedrigste<br />
Beziehungs- und Kundenorientierung auf. Eine allmähliche<br />
Veränderung ist dringend anzuraten. Als Zielkultur wird eine<br />
Kultur vorgeschlagen, die folgende Kennzeichen hat:<br />
- Kunden- und Anspruchsgruppenorientierung (Wertschätzung,<br />
Zusammenarbeit)<br />
- Mitarbeiterorientierung (Wertschätzung; Offenheit, Klarheit,<br />
Vertrauen in der Kommunikation; Teamarbeit; situativer,<br />
meist kooperativer Führungsstil)<br />
- Unternehmensorientierung (Identifikation; loyales, konfliktbereites,<br />
solidarisches, engagiertes Verhalten)<br />
- Ergebnisorientierung (Kosten-, Qualitäts-, Leistungsorientierung)<br />
- Flexibilitätsorientierung (Wandlungsbereitschaft, Anpassung<br />
von Strukturen und Prozessen)<br />
- Wettbewerbsorientierung (Suche nach besseren Lösungen;<br />
Annahme von Herausforderungen)<br />
- Innovationsorientierung (Offenheit <strong>für</strong> Neues; Kreativität;<br />
Dynamik; Erschließen neuer Ressourcen).<br />
Eine solche Kultur würde nicht nur intern wichtige Potentiale<br />
erschließen, sondern die Stadtverwaltung auch nach außen fit<br />
<strong>für</strong> die Zukunft machen.<br />
Erforderlich ist ebenso die Umsetzung eines Leitbildes der<br />
Stadtverwaltung als Selbstverpflichtung. Das im April 2005<br />
von der Verfasserin als Entwurf übergebene Leitbild ist bis heute<br />
nicht wirksam geworden. Die Leitsätze sind: Wir sind <strong>für</strong><br />
die Bürger da. Wir sind offen <strong>für</strong> Veränderung. Wir sind transparent.<br />
Wir denken wirtschaftlich. Wir sind leistungsorientiert.<br />
Wir sind einander Partner. Wir fördern Selbständigkeit.<br />
Wir arbeiten mit der Bürgervertretung gemeinsam. Wir setzen<br />
die Verwaltungsreform konsequent um.<br />
Auch die Stadtverwaltung hat eine Corporate Social Responsibility<br />
(CSR), soziale Verantwortung, die sich daran misst, in<br />
welchem Maße sie zu wirtschaftlichem Wohlstand, Umweltqualität<br />
und Sozialkapital beiträgt. Die ökonomische Dimension<br />
zielt dabei auf langfristige Erträge aus den vorhandenen<br />
Ressourcen, die ökologische Dimension auf den schonenden<br />
Umgang mit diesen Ressourcen und der Natur allgemein und<br />
die soziale Dimension auf die Verteilungsgerechtigkeit, d. h. eine<br />
intra- und intergenerative Gerechtigkeit. Sowohl bei der<br />
Personalentwicklung als auch bei der Neueinstellung von Mitarbeiter/innen<br />
sollte die Stadtverwaltung auf das ehrenamtliche<br />
Engagement von Bewerber/innen Wert legen. Gleiches gilt<br />
<strong>für</strong> Bewerber/innen, die durch die Erziehung von Kindern<br />
oder Pflege von Angehörigen Familienlasten getragen haben.<br />
Haushaltssicherung<br />
*Eine ausführliche Beschreibungen dieser Reorganisation jedes einzelnen Managementsystems finden Sie<br />
in der kompletten Fassung des Papiers unter www.stadtgespraeche-rostock.de<br />
Die Sicherung des Haushaltes der Stadtverwaltung <strong>Rostock</strong> ist<br />
nur möglich im Dreiklang von<br />
Erledigung der Hausaufgaben, Verhinderung der Selbstaufgabe<br />
und Neuem Politikansatz. Kern der Erledigung der Hausaufgaben<br />
ist die Erlangung einer nachhaltigen Haushaltsführung,<br />
durch die eine Neuverschuldung verhindert und Altschulden<br />
langfristig abgebaut werden. Als Mittel dienen eine frühzeitige<br />
Reaktion auf den demografischen Wandel, die Modernisierung<br />
der Verwaltung und die Konsolidierungspolitik. Von entscheidender<br />
Bedeutung ist die Durchführung einer umfassenden<br />
Aufgabenkritik, ausgerichtet am Ergebnis <strong>für</strong> die Gesellschaft<br />
bzw. den Bürger. Der Grundsatz muss lauten: Intelligent managen<br />
statt mit der Rasenmähermethode sparen.
Bei der Verhinderung der Selbstaufgabe geht es um das politische<br />
Handeln der Stadt nach außen, z.B. durch die Unterstützung<br />
bundesweiter Initiativen wie Reform der Gemeindefinanzierung,<br />
Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und Änderung<br />
von Steuermodellen. Zu einer externen Handlungsstrategie<br />
zählt auch der Umgang mit Landtag, Landesregierung und<br />
Kommunalaufsicht M-V. Dialog statt Konfrontation sollte das<br />
Leitmotiv sein. Politisches Handeln nach außen sollte ebenso<br />
die entwicklungs- und verwaltungspolitische sowie administrative<br />
Zusammenarbeit im interkommunalen Bereich beinhalten.<br />
Gerade im administrativen Bereich gibt es hier viel Nachholbedarf.<br />
Zukunft der Stadt? - Stadt der Zukunft!<br />
Die Stärken/Schwäche sowie Chancen/Risiken der Stadtverwaltung <strong>Rostock</strong> (SWOT)* sind u. a.:<br />
INTERNE<br />
FAKTOREN<br />
STÄRKEN<br />
- Fachkräftequalität<br />
- Engagement der Mitarbeiter<br />
- Vielseitigkeit<br />
- Steuerungsfähigkeit von Prozessen<br />
SCHWÄCHEN<br />
EXTERNE<br />
FAKTOREN<br />
-Überalterung<br />
-Misstrauenskultur<br />
- öffentliche Wahrnehmung<br />
-Bürokratie<br />
- unflexible Strukturen<br />
- schwache Vertriebsstruktur<br />
- uneinheitliches Handeln<br />
- Verantwortungsabgabe durch Vielzuständigkeit<br />
- fehlende Darstellung sozialer Verantwortung<br />
CHANCEN<br />
- Einbindung in Stadt/Region<br />
- überregionale Verankerung<br />
- politische Verankerung<br />
- Auslandskooperationen<br />
-Image<br />
Nutzen von Möglichkeiten durch Einsatz<br />
von Stärken<br />
- Verstärkung der Kooperationen mit<br />
Unternehmen, Universität und<br />
dem Umland bis hin zur Teilung von<br />
Aufgaben<br />
- Einbindung in bundesdeutsche Netzwerke,<br />
mit Schwerpunkt Nord- und<br />
Ostdeutschland<br />
- Einbindung <strong>Rostock</strong>er Landtagsund<br />
Bundestags abgeordneter sowie<br />
EU-Abgeordneter aus M-V<br />
- Ausbau der Auslandskooperationen<br />
- Vernetzung von Initiativen<br />
- Förderung des Ehrenamtes<br />
Eliminieren von Schwächen zur Nutzung<br />
von Chancen<br />
- Einstellungskorridor <strong>für</strong> junge Fachkräfte<br />
- Verabschiedung und Umsetzung eines<br />
Leitbildes<br />
- Entwicklung des Selbstverständnisses<br />
als Dienstleister <strong>für</strong> die Bürger<br />
- Abflachung von Hierarchien<br />
- Übertragung von Verantwortung<br />
und Budget auf jeweils Zuständige<br />
- Aufbau integratives Kommunikationsmanagement<br />
Der Neue Politikansatz besteht in dem Gedanken, dass die Sicherung<br />
des Haushaltes der Stadtverwaltung zuallererst strategische<br />
Entscheidungen in Bezug auf eine Vision <strong>für</strong> die Hansestadt<br />
<strong>Rostock</strong> verlangt. Auf Basis dieses Zukunftsbildes sind<br />
konkrete Ziele und Wege zur Erreichung festzulegen, mit entsprechenden<br />
finanziellen Prognosen bzw. Kennzahlen. Der<br />
entscheidende Faktor ist dabei der Wandel der Kultur.<br />
RISIKEN<br />
-Kaputt-Sparen<br />
- Verbürokratisierung<br />
- Überregulierung<br />
Einsatz von Stärken zur Entschärfung<br />
von Bedrohungen<br />
- Abschluss mehrjähriger Zielvereinbarungen<br />
mit dem Land M-V<br />
- Durchführung von politischen<br />
Stammtischen mit dem Landtag<br />
(„Politisch essen“)<br />
Abbau von Schwächen zur Reduzierung<br />
von Risiken<br />
- Verstärkung der Wahrnehmbarkeit<br />
vorhandener Kompetenzen und<br />
übernommener sozialer Verantwortung<br />
* Bei dieser Art der Analyse werden die internen Stärken und Schwächen sowie die externen Chancen und Risiken miteinander<br />
in Beziehung gesetzt. Daraus sind geeignete Strategien bzw. Maßnahmen/Aufgaben abzuleiten (siehe Anlage).
0.8 __ //// TITELTHEMA<br />
Vorschläge zu einzelnen kommunalen Unternehmen/Beteiligungen der Hansestadt <strong>Rostock</strong>:<br />
Unternehmen<br />
<strong>Rostock</strong>er Straßenbahn AG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />
Stadtwerke <strong>Rostock</strong> AG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />
Stadtentsorgung <strong>Rostock</strong> GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />
Flughafen <strong>Rostock</strong> – Laage – Güstrow GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />
<strong>Rostock</strong>er Versorgungs- und Verkehrsholding GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />
Kommunale Objektbewirtschaftung und -entwicklung (Eigenbetrieb) . . . .<br />
WIRO Wohnungsgesellschaft mbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />
<strong>Rostock</strong>er Gesellschaft <strong>für</strong> Stadtentwicklung mbH. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />
Hafen-Entwicklungsgesellschaft <strong>Rostock</strong> mbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />
Fracht- und Fischereihafen GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />
<strong>Rostock</strong> Business GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />
Technologiepark Warnemünde GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />
IGA <strong>Rostock</strong> 2003 gGmbH<br />
<strong>Rostock</strong>er Messe- und Stadthallen GmbH<br />
Großmarkt <strong>Rostock</strong> GmbH<br />
Tourismuszentrale <strong>Rostock</strong> & Warnemünde (Eigenbetrieb)<br />
}<br />
Theater gGmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />
Zoologischer Garten <strong>Rostock</strong> gGmbH. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />
Klinikum Südstadt (Eigenbetrieb) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />
Bemerkung/Vorschlag<br />
Erneuerung des Beherrschungs- und Gewinnabführvertrages<br />
mit der RVV zum 01.01.2011<br />
Verstärkung interkommunaler Kooperationen<br />
Verstärkung interkommunaler Kooperationen; Prüfung des<br />
Anteilszukaufs (Rekommunalisierung)<br />
verstärkte finanzielle Einbindung des Landes bzw. weiterer<br />
Regionen (de facto Landesflughafen)<br />
Steigerung der Ausschüttungen an die Hansestadt <strong>Rostock</strong>;<br />
Anpassung des Holdingportfolios (beteiligte Unternehmen)<br />
Übernahme des kompletten Immobilienportfolios sowie Prüfung<br />
der Übernahme des kompletten entsprechenden Dienstleistungsmanagements<br />
Konzentration auf das Kerngeschäft; Veräußerung von Nebengeschäften;<br />
Verkauf von bis zu 5.000 Wohnungen in Einzelpaketen<br />
an Genossenschaften oder Wohnungsunternehmen<br />
(nicht Fonds); Kauf interessanter Wohnungen zur Portfolioverbesserung<br />
Auflösung durch Überführung der Aufgaben in die WIRO<br />
GmbH oder den Eigenbetrieb KOE<br />
weiterer Ausbau der Infrastruktur<br />
Ausbau der positiven Entwicklung im Umschlagsbereich,<br />
evtl. Ausweitung auf Überseehafen; Übertragung der Infrastruktur<br />
an HERO<br />
weitere Stärkung von Handlungsspielräumen<br />
verstärkte Nutzung als Standort <strong>für</strong> start up- Unternehmen;<br />
Verringerung der Dauernutzung<br />
Zusammenfassung in einer Veranstaltungs-Holding, einschließlich<br />
Hanse Sail Büro und Warnemünder Woche; Qualitätssteigerung,<br />
Zielvereinbarung(en); Zuschussreduzierung<br />
keine Fusion mit Schweriner Theater, aber interkommunale<br />
Zusammenarbeit; mittelfristige Zielvereinbarung; Einnahmeverbesserung;<br />
ggf. Bildung einer Kultur- und Bildungsholding<br />
(mit Volkshochschule, Konservatorium, Museen und<br />
Zoo)<br />
Bildung einer Anstalt Öffentlichen Rechts auf Basis eines geänderten<br />
Landesgesetzes (Herbst) sowie verstärkte Kooperation<br />
mit dem Universitätsklinikum; Ausbau der positiven<br />
Wirtschaftsergebnisse (Gewinnabführung) ¬
FOTO: TOM MAERCKER
0.10 __ //// TITELTHEMA<br />
<strong>Rostock</strong> - eine auf-<br />
strebendeostdeut- sche Großstadt?<br />
SIMONE BRIESE<br />
<strong>Rostock</strong> in Zukunft<br />
<strong>Rostock</strong> gehört, neben Potsdam, Erfurt und Jena, laut einer<br />
Studie der Bertelsmannstiftung zu den 6 aufstrebenden ostdeutschen<br />
Großstädten. Die Studie vergleicht Wirtschaftskraft,<br />
Bevölkerungswachstum und Innovationspotential der<br />
Großstädte. Sie bescheinigt den betrachteten Städten dynamischen<br />
wirtschaftlichen Strukturwandel mit hohem Wachstumspotential,<br />
unterdurchschnittliche künftige Alterungsprozesse<br />
sowie einen Trendwechsel von Schrumpfung zu künftigem<br />
Bevölkerungswachstum. Das gilt auch <strong>für</strong> <strong>Rostock</strong>, auch<br />
wenn unsere Stadt in der 6-er Reihe als schwächster Kandidat<br />
eingestuft wird und ihr bis 2020 zunächst noch weitere Bevölkerungsverluste<br />
prognostiziert werden.<br />
Für eine entsprechende Entwicklung <strong>Rostock</strong>s empfiehlt die<br />
Studie die Förderung regionaler Branchenschwerpunkte. Die<br />
zukunftsfähigen Bereiche der Stadtentwicklung seien die der<br />
Bildung und Kultur, Gesundheit und Tourismus sowie der Innovationsindustrie<br />
(moderne Wirtschaftszweige, wie regenerative<br />
Energien, mittlere maritime Wirtschaft, Gesundheitstechnik)<br />
– hier muss im Stadtzusammenhang weiter investiert und<br />
entwickelt werden. Für den bedarfsgerechten Stadtumbau bedeutet<br />
dies, besonderes Augenmerk zu legen auf: Bildung, Kinder-<br />
und Familienfreundlichkeit, demografiesensible Infrastruktur<br />
und eine zukunftsfähige Seniorenpolitik, damit einerseits<br />
die jungen Familien und jungen Erwachsen als Arbeitskräfte<br />
<strong>für</strong> die wissensbasierten produzierenden Zukunftsbranchen<br />
in <strong>Rostock</strong> gehalten werden können und anderseits auch<br />
der demografischen Entwicklung der Bevölkerung Rechnung<br />
getragen wird.<br />
<strong>Rostock</strong> heute<br />
Von der positiven Entwicklungsprognose zurück zum gegenwärtigen<br />
Haushaltsalltag: Die Stadt ist trotz der guten Zu-<br />
kunftsaussichten derzeit hoch verschuldet, von innenministeriellen<br />
Erlassen und Verboten geplagt und bewegt sich am Rande<br />
der Handlungsunfähigkeit. Damit ist <strong>Rostock</strong> kein schwarzes<br />
Schaf sondern in illustrer Gesellschaft, denn den meisten<br />
deutschen Kommunen geht es schlecht: Die Ausgaben, vor allem<br />
im Jugend- und Sozialbereich, steigen, die Einnahmen aus<br />
Gewerbesteuern und dem FAG sinken.<br />
Der deutsche Städtetag hat den Bund bereits aufgefordert, sich<br />
im ersten Schritt mit höheren Beträgen an den Sozialausgaben,<br />
vor allem den Unterkunftskosten <strong>für</strong> die Langzeitarbeitslosen,<br />
zu beteiligen. Er fordert ebenfalls zusätzliche Finanzhilfen des<br />
Bundes beim Ausbau der Kinderbetreuung in den Kommunen.<br />
Dies muss kombiniert werden mit einer erneuten Diskussion<br />
der Ausstattung <strong>Rostock</strong>s als einziger Großstadt des Landes<br />
Mecklenburg-Vorpommern, die als Oberzentrum und Regiopole<br />
viele Leistungen <strong>für</strong> die umliegenden Gemeinden im Land<br />
vorhält und in der Abwanderungs- und Überalterungstendenzen<br />
anders als im Rest des Landes aufgehalten werden können.<br />
<strong>Rostock</strong> ist die Wachstumsinsel im Land und daher muss mit<br />
dem Land darüber geredet werden, diese Insel zu stärken, um<br />
das Umland attraktiv zu halten und damit auch dort sozialdemografischen<br />
Negativtendenzen entgegenzuwirken.<br />
Trotzdem muss, neben dem Ruf nach mehr Einnahmen aus<br />
Bund und Landesausgleich, an der Konsolidierung des Haushaltes<br />
gearbeitet werden und zwar mit einem Konzept, dass die<br />
Stadt trotz Haushaltskonsolidierung entwickelt. Die Bertelsmannstiftung<br />
nennt das in ihren Handlungsanweisungen <strong>für</strong><br />
die Kommunen „Stärken stärken“. Folgt man diesen Empfehlungen<br />
bedeutet das: Trotz Sparzwang sollte in den Bildungsund<br />
Kulturstandort <strong>Rostock</strong>, in Kindergärtenplätze und Entwicklungsstandorte<br />
<strong>für</strong> die innovative Industriezweige investiert<br />
werden.
Wo also sparen?<br />
In 2008 und durch den Nachtragshaushalt auch in 2009 konnte<br />
der Haushalt unterjährig ausgeglichen werden (mit einem<br />
ganz minimalen Überschuss), was vor allem der positiven konjunkturellen<br />
Situation zuzuschreiben war. Ausgabenseitige<br />
Konsolidierung entstand ausschließlich konzeptionslos, durch<br />
willkürliches Einsparen in haushaltsloser Zeit und durch Haushaltssperren.<br />
Eine Reduzierung der Personalstärke auf die geforderte<br />
Größe erfolgte durch altersbedingtes Ausscheiden und<br />
Nichtwiederbesetzen der Stellen, egal ob dort notwendig die<br />
Arbeit erledigt werden muss oder nicht.<br />
Eine Konsolidierung der laufenden Kosten des städtischen<br />
Haushaltes bleibt die strategische Herausforderung der nächsten<br />
Zukunft. Und das meint nicht das nochmalige pauschale<br />
Streichen in Haushaltstellen, in denen schon nichts mehr zu<br />
holen ist – ebenso wenig wie das willkürliche Einsparen über<br />
Haushaltsperren oder Abweisen von Ausgaben in haushaltloser<br />
Zeit. Im Folgenden vielleicht einige Überlegungen, die sicher<br />
auch schon gedacht worden sind von Anderen, aber trotzdem<br />
nicht an Aktualität verlieren:<br />
Haustarifvertrag<br />
Der solidarische Ansatz, statt möglicher Kündigung überzähligen<br />
Stadtverwaltungspersonals einen Haustarifvertrag abzuschließen,<br />
ist vom Oberbürgermeister als beendet erklärt worden<br />
– obwohl es sich hier um den einzigen gesamtkonzeptionellen<br />
Ansatz, die einzige strukturelle Maßnahme aller bisherigen<br />
Hasikoplanungen handelte.<br />
Derzeit nehmen Personal- und Sozialkosten ca.60% der laufenden<br />
Kosten des gesamten städtischen Haushaltes ein. Im Nachtragshaushalt<br />
mussten <strong>für</strong> 2009 6 Mio € mehr an Personalkosten<br />
eingestellt werden, die sämtliche Mehreinnahmen aus Gewerbesteuern<br />
auffraßen. Die steigenden Personalkosten werden<br />
das strukturelle Defizit im jährlichen Haushalt essentiell anwachsen<br />
lassen. Das Konzept des Hoffens auf zusätzliche Einnahmen,<br />
die dies kompensieren können, wird sich in den nächsten<br />
Jahren so nicht fortsetzen lassen.<br />
Ein Absenken der Personalkosten durch einen Haustarifvertrag<br />
ist aus meiner Sicht alternativlos und kann nicht aufgegeben<br />
werden. Die Hasikoplanungen des letzten Jahres sahen schon<br />
ein Absenken der Personalkosten der Stadtverwaltung durch<br />
den Abschluss eines Haustarifvertrages vor. Auch wenn die Anzahl<br />
der Beschäftigten in der Stadtverwaltung bereits wesentlich<br />
gesunken ist, wird die Hansestadt allein in 2010 ca. 8 Mio<br />
€ mehr an Personalkosten aufbringen müssen als im alten<br />
Haushaltsicherungskonzept geplant war. Gibt es jetzt also neue<br />
Tarifverhandlungen und Ausnahmeregelungen, muss erneut<br />
über einen Haustarifvertrag verhandelt werden. Und selbst<br />
wenn dies nicht zu Einsparungen in Höhe von 8 Mio € führt -<br />
auch 1,5-3 Mio € wären ja schon hilfreich.<br />
Regionale Clusterpolitik und Oberzentrumsfunktion<br />
Die Zahl der Langzeitarbeitslosen wird auf Grund der wirtschaftlichen<br />
Lage in der nächsten Zeit steigen. Auch weil me-<br />
tropole Zentren in Krisenphasen eine Anziehungskraft auf viele<br />
Menschen ausüben, die sich dort bessere Zukunftschancen<br />
erhoffen als auf dem flachen Land. Hier muss vor allem politisch<br />
in Richtung Land und auch Bund agiert werden, denn<br />
diese Auffangfunktion von Oberzentren ist sozialgeografisch<br />
wichtig und bedarf der Unterstützung.<br />
Mindestens ebenso wichtig: Wir brauchen ein Umsteuern in<br />
der Politik zwischen <strong>Rostock</strong> und dem Land M-V, müssen wegkommen<br />
von der Erlass- und Widerspruchspolitik hin zu einer<br />
gemeinsamen Entwicklungsstrategie, die <strong>Rostock</strong> als Wachstumsmotor<br />
fördert, der langfristig Impulse auf ganz M-V ausstrahlt<br />
und somit auch großflächig Abwanderungs- und Überalterungsprozesse<br />
aufhalten kann. Im Umgang mit dem direkten<br />
Umland benötigen wir eine Stadt-Umland-Partnerschaft<br />
mit fairer Lastenverteilung und regionalem Flächenmanagement<br />
und einer Strategie der zukünftigen Zusammenarbeit.<br />
Hier gibt es bereits vielversprechende Ansätze.<br />
Die Ausgaben im Jugend- und Kulturbereich, die in den nächsten<br />
Jahren ebenfalls weiter steigen werden, werden vom Umland<br />
mitgenutzt und sollten deshalb auch von diesem mitfinanziert<br />
werden. Modelle wie der Zweckverband der VHS sind<br />
da sinnvoll und weisen den richtigen Weg, weil durch regionale<br />
Vernetzung Synergien sowohl im Publikums- als auch im Personalbereich<br />
erreicht werden.<br />
Vermögensaktivierung<br />
Die oft geforderte Aktivierung städtischen Vermögens brächte<br />
kurzfristig eine Entlastung des Haushaltes durch den Wegfall<br />
der Zinslast <strong>für</strong> die angehäuften Schulden. Nur wenn nicht<br />
vorher oder zumindest gleichzeitig das jährliche strukturelle<br />
Defizit abgebaut wird, summieren sich die Schulden in kürzester<br />
Zeit wieder auf. Für dieses werden dann wieder Zinsen fällig,<br />
mit dem Unterschied nunmehr noch geringere Haushaltseinnahmen,<br />
weil die an die Stadt abgeführten Erlöse aus den<br />
verkauften Unternehmen oder Produkten fehlen. Gleichzeitig<br />
steigen die Ausgaben im Jugend- und Sozialbereich sowie die<br />
Personalkosten auch weiterhin an.<br />
Folglich bedarf es einer ehrlichen und konstruktiven Abwägung<br />
einer möglichen Teilaktivierung des Vermögens der Hansestadt,<br />
die dann gut überlegt und vorbereitet und zu einem<br />
marktwirtschaftlich günstigen Zeitpunkt erfolgen sollte.<br />
Wichtig dabei ist, Aktivierung nicht ausschließlich als Verkauf<br />
zu begreifen.<br />
Derzeit ist <strong>für</strong> Verkäufe definitiv kein guter Zeitpunkt, daher<br />
ist dieses Argument kurzfristig unsinnig. Wenn sich aber beispielsweise<br />
die Lage auf dem Wohnungsmarkt stabilisiert hat,<br />
sollte darüber nochmals geredet werden. Allerdings setzt das<br />
auch eine realistische Aussage über die erzielbaren Erlöse voraus<br />
und einen anderen politischen Umgang miteinander. Der<br />
Oberbürgermeister hat im Fortschreibungsentwurf des Hasiko<br />
einen Persilschein <strong>für</strong> jedwede möglichen Verkäufe von Vermögen<br />
gefordert und die Bürgerschaft hat diesen Absatz ersatzlos
0.12 __ //// TITELTHEMA | ABOSCHEIN<br />
gestrichen, woraufhin der Oberbürgermeister in Widerspruch<br />
zum Beschluss des Hasikos gegangen ist. So wird das nicht<br />
funktionieren. Eine gemeinsame ehrliche Diskussion ohne Populismus<br />
und Drohungen wäre die Voraussetzung. Und die<br />
Konsolidierung der laufenden Kosten kann es nicht ersetzen.<br />
Diese Diskussion muss im ersten Schritt ergebnisoffen sein Ergibt<br />
die Abwägung eine Entscheidung gegen Vermögensveräußerung,<br />
ist dies bei einem konstruktiv und ehrlich geführtem<br />
Prozess auch als Argumentationshilfe gegenüber diesbezüglichen<br />
Forderungen des Innenministeriums nutzbar.<br />
Steuern<br />
Um die Einnahmen zu verbessern, wird man das Thema Steuern<br />
betrachten müssen. In Krisenzeiten ist es sinnvoll, die Steuern<br />
nicht zu senken und ggf. über einen solidarischen Beitrag<br />
der gesamten Bevölkerung zu der Verbesserung der Einnahmensituation<br />
nachzudenken. Auch die Kommunen müssen das<br />
diskutieren. Die von B90/Die Grünen vorgeschlagene Erhöhung<br />
des Hebesatzes <strong>für</strong> die Grundsteuer hat Auswirkung auf<br />
die Mieten, allerdings in wirklich vertretbarem Maße (bei einer<br />
70qm-Wohnung sind das ca. 10€ pro Jahr). Eine Diskussion<br />
wie sich das auf die steuerlichen Belastungen <strong>für</strong> die Gewerbetreibenden<br />
auswirkt, sollte ehrlich und zielorientiert geführt<br />
werden, um diesen Vorschlag wenigstens ernsthaft zu prüfen.<br />
Fazit<br />
Haustarifvertrag, Abwägung einer Teilaktivierung städtischen<br />
Vermögens und Steuererhöhungen – es handelt sich sämtlich<br />
um unangenehme Entscheidungen. Dennoch müssen diese in<br />
Abonnement<br />
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einem offenen konstruktiven und ergebnisorientierten Prozess<br />
geprüft werden, der sie als konzeptionelle Ansätze <strong>für</strong> eine<br />
nachhaltige Konsolidierung des laufenden Haushaltes in der<br />
Kombination mit Altschuldenabbau begreift.<br />
Dazu bedarf es einer sehr guten Moderation zwischen den Beteiligten<br />
und einer starken Motivation der Mitwirkenden. Vor<br />
diesem Hintergrund wird das derzeitige Fehlen einer Führungskultur<br />
in <strong>Rostock</strong> ein Problem, stattdessen dominieren<br />
Alleingänge und Komplettblockade. Wir benötigen dringend<br />
eine andere Kultur des Umgangs miteinander, wenn wir nicht<br />
riskieren wollen, dass die Leistungsstrukturen der Stadt aufgeben<br />
und sich auflösen und die schöne Zukunftsvision sich in<br />
eine wundersame Illusion aus vergangener Zeit verwandelt.<br />
Gleichzeitig muss sich <strong>Rostock</strong> im Land besser aufstellen und<br />
die direkte Zusammenarbeit mit dem Umland noch aktiver gestalten,<br />
um seiner Funktion als Regiopole gerecht zu werden.<br />
Regiopole bedeutet auch, politisch und entwicklungsstrategisch<br />
Impulsgeber und Moderator zu sein. Daran muss gearbeitet<br />
werden, um durch das Wachstum einer aufstrebenden<br />
Großstadt und ihrer Umgebung die Region zu entwickeln. Die<br />
regionale Clusterpolitik wird dabei von wesentlicher Bedeutung<br />
sein. Ziel muss sein, das aufgezeigte Entwicklungspotential<br />
der Hansestadt <strong>Rostock</strong> zu erhalten, möglichst auszubauen<br />
und auf das Umland auszustrahlen. ¬<br />
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FOTO: TOM MAERCKER
0.14 __ //// TITELTHEMA<br />
Eine <strong>Rostock</strong>er Momentaufnahme<br />
am Jahres -<br />
anfang 2010<br />
Grundlagen kommunaler Gestaltung<br />
FELIX LANDMANN<br />
Kommunales Engagement besteht, kurz gesagt, vor allem darin,<br />
dass sich die Einwohnerinnen und Einwohner einer Kommune<br />
in deren Entwicklung und Gestaltung einbringen. Ausgeschlossen<br />
ist dabei der Eigennutz, der in vielerlei Spielarten<br />
daher kommen kann - Letzteres zu beleuchten wäre sicherlich<br />
ein lohnendes Thema, soll aber hier nicht vertieft werden. Hier<br />
soll vielmehr kurz und knapp auf einige, nicht abschließende<br />
Notwendigkeiten eingegangen werden, die die Erschließung<br />
kommunaler Gestaltungsräume ausmachen.<br />
Abstrakt ist es ja jedem klar, dass fachlichen Ressourcen und<br />
geordnete Finanzen Grundvoraussetzungen <strong>für</strong> die Umsetzung<br />
sinnhafter Entscheidungen sind, gleichgültig in welchem Lebensbereich,<br />
gleichgültig auf welcher Ebene. Will also eine Gemeindevertreterin<br />
oder ein Gemeindevertreter erkennen, wo<br />
sich Handlungsspielräume erschließen und wie diese ausgefüllt<br />
werden könnten, so sind zwei wesentliche Aspekte zu betrachten:<br />
1. Wo sind Zukunfts- und Entwicklungspotentiale auszumachen?<br />
2. Wie steht es um die Möglichkeiten der Zielerreichung?<br />
Über die Beantwortung der ersten Frage sind wir uns in <strong>Rostock</strong><br />
recht schnell einig: Wir wollen die Stärken unserer Stadt<br />
stärken. Wir wollen die Regiopole im Nordosten zwischen den<br />
Metropolen Hamburg, Berlin und Kopenhagen entwickeln.<br />
Wir wollen damit auch unser Bundesland stärken. Und so weiter.<br />
– Und wir sind uns über die zu stärkenden Stärken gleichermaßen<br />
sicher: Unsere Zukunftspotentiale liegen in den Bereichen<br />
Familienfreundlichkeit, Bildung, Kultur, Gesundheit,<br />
Tourismus, Regenerative Energien, Maritime Wirtschaft, usw.<br />
Nur mit der Stärkung dieser Zukunftspotentiale kann <strong>Rostock</strong><br />
sein zukünftiges Standortprofil schärfen. Und zur Unterset-<br />
zung dieses Prozesses kann die Kommune erheblich beitragen.<br />
Eine Vielzahl von Initiativen und Projekte im sogenannten vorpolitischen<br />
Raum in unserer Stadt belegt dies. Eine stärkere<br />
Vernetzung mit dem politischen Raum der Stadt würde diese<br />
Stärken weiter stärken.<br />
Die Beantwortung der zweiten Frage, wie die definierten Zukunftspotentiale<br />
der Stadt mit einer Vielzahl von Einzelschritten<br />
und -maßnahmen zu untersetzen wären, muss natürlich mit<br />
der Analyse der finanziellen und sonstigen Ressourcen beginnen,<br />
die zur Zielerreichung notwendig sind. Nur wenn die<br />
Analyse stimmt, kann die Ableitung richtig werden. (Und das<br />
ist in der Tat eine wahrhaftige Aufgabe, was unsere Kommunalpolitiker<br />
da leisten!) Also betrachten wir als Erstes einmal die<br />
Einnahme- und Ausgabesituation der letzten Jahre:<br />
Haushaltsjahr Ausgaben 1) Einnahmen 1) Defizit/Überschuss 1)<br />
Plan 2005 458,4 364,2 - 94,2<br />
2005 2) 445,7 400,0 - 45,7<br />
Plan 2006 448,9 378,7 - 70,2<br />
2006 2) 443,6 412,0 - 31,6<br />
2007 2) 447,3 443,2 - 5,1<br />
2008 2) 453,6 463,3 + 9,7<br />
2009 3) 461,9 464,4 + 2,5<br />
2010 4) 465,9 456,5 - 9,4<br />
1) Angaben in Mio. €<br />
2) Angaben nach Jahresrechnung<br />
3) Voraussichtliches Ist auf Grundlage des Nachtragshaushaltes<br />
4) Planungsstand Dezember 2009<br />
Sieht gar nicht so schlimm aus, könnte man meinen, wäre da<br />
nicht ein unschöner Schuldenstand, der sich aus zwei Positionen<br />
zusammensetzt: Zum einen Investitionsschulden von sage<br />
und schreibe fast 198 Mio. € zum 31.12.2009, die den Haus-
halt in 2009 mit etwa 8,5 Mio. € Zinsen und ca. 5 Mio. € Tilgung<br />
belastet haben.<br />
Zum anderen kumulierte Defizite in Höhe von etwa 208 Mio.<br />
€ zum 31.12.2009 aus den Verwaltungshaushalten der Jahre, in<br />
denen unsere Stadt mehr Geld ausgegeben als eingenommen<br />
hat. Diese so genannten Altfehlbeträge haben in 2009 den<br />
Haushalt mit etwa 4 Mio. € Zinsen belastet.*<br />
Addiert man die sich aus dem gesamten Schuldenstand der<br />
Stadt ergebenden Zahlungsverpflichtungen, ergibt sich als<br />
jährliche Belastung des Haushaltes – einschließlich der 5 Mio.<br />
€ Tilgung - die stattliche Summe von immerhin 17,5 Mio. €,<br />
die den Haushalt unserer Stadt in 2009 belastet haben. Ohne<br />
Frage wäre es schön, diese Belastung nicht zu haben. Der Haushalt<br />
des Jahres 2009 hätte dann nicht nur 2,5 Mio. € Überschuss<br />
gehabt, sondern sogar satte 20 Mio. €. Was hätte man<br />
damit nicht alles machen können! Und deshalb scheint sich<br />
auch die Vermögensveräußerung – sofern solches Vermögen<br />
vorhanden und liquidierbar ist - zur Schuldentilgung anzubieten.<br />
Wie viel aber tatsächlich gewonnen wäre, verdeutlichen<br />
spätestens die Planungszahlen aus der Aufstellung des Haushaltes<br />
2010. Denn zurückgehenden Einnahmen stehen steigende<br />
Ausgaben gegenüber.<br />
Außerdem sieht die Lebenswirklichkeit – wie immer – anders<br />
aus. Bezieht man nämlich die Struktur der städtischen Verschuldung<br />
in die Betrachtung mit ein, so ist natürlich die Vertragssituation<br />
der jeweiligen Kreditverträge zu betrachten. Die<br />
Investitionskredite sind zwar als solche ausgesprochen günstig<br />
finanziert (Dank der Zinsmanager in der Kämmerei), aber als<br />
Annuitätendarlehen könnten diese gar nicht ohne Entrichtung<br />
so genannter Vorfälligkeitsentschädigungen an die darlehensgebende<br />
Bank zu einem beliebigen Zeitpunkt zurückgezahlt<br />
werden. Das heißt: Selbst, wenn die Stadt flüssig genug und eine<br />
Rückzahlung von den Stadtvertretern gewollt wäre, wäre es<br />
nicht möglich diese Kredite auf einen Schlag ohne erheblichen<br />
zusätzlichen Aufwand <strong>für</strong> die Stadt zu tilgen.<br />
Dagegen ist die Ablösung der sogenannten Altfehlbeträge -<br />
das waren die etwa 208 Mio. € - recht einfach, da diese nur sehr<br />
kurzfristig finanziert sind. Aber das würde im Augenblick nur<br />
4 Mio. € jährlich einsparen. Damit kann man dann schon nicht<br />
mehr so viel machen. Andererseits: Die Verzinsung dieser Altfehlbeträge<br />
kann ja auch teurer werden, nämlich dann, wenn<br />
die Zinsen <strong>für</strong> solche kurzfristigen Kredite wieder steigen.<br />
Was also tun? – Die Aufsicht über die Stadt - und das ist immerhin<br />
das Innenministerium des unseres Bundeslandes –<br />
verlangt von der Stadt nicht nur den jährlichen Haushaltsausgleich<br />
(was selbstverständlich ist und nicht mehr bedeutet,<br />
als dass die Stadt eben nicht mehr ausgeben als einnehmen<br />
darf ) sondern auch, die Altfehlbeträge in Höhe von<br />
208 Mio. € möglichst schnell abzubauen: 22 Mio. € jedes<br />
Jahr ist das Ziel.<br />
Folglich gibt es zwei Aufgaben:<br />
* Von der Verwaltung war zu erfahren, dass die Zahlen des Jahres 2009 natürlich unter dem Vorbehalt<br />
der Jahresrechnung 2009 stehen, die erst im Laufe des 1. Quartals des neuen Jahres erstellt wird.<br />
Nicht mehr Geld ausgeben als eingenommen wird. Und:<br />
Schulden tilgen - natürlich die Altfehlbeträge, denn die sind ja<br />
haushaltsrechtlich das Problem. Und beides heißt, wenn man<br />
auf die zurückgehendes Einnahmen schaut: SPAREN, SPA-<br />
REN und nochmals SPAREN. Oder/und: Einnahmen erhöhen.<br />
Welche greifbaren Lösungsansätze bietet also die finanzielle<br />
Situation, um der Politik kurz- und mittelfristig entsprechende<br />
Spielräume zu erschließen, um die Stadt zu fördern?<br />
Das Hauptproblem der städtischen Finanzen liegt, so hört man<br />
immer wieder aus dem Rathaus, im so genannten Einzelplan 4,<br />
dem Haushalt <strong>für</strong> Soziales und Jugend, und in den Personalkosten.<br />
Allein zwischen 2005 und 2009 sind die Kosten im Bereich<br />
Soziales und Jugend um 29,9 Mio. € gestiegen sind (von<br />
182,2 Mio. € auf 212,1 Mio. €). Hier lässt sich jedenfalls keine<br />
kurzfristige Einsparung erreichen, da die Leistungen der Kommune<br />
sich fast vollständig auf gesetzlich legitimierte Individualansprüche<br />
beschränken.<br />
Was bleibt, ist auf jeden Fall die „normale“ Konsolidierung,<br />
die zu den Standardmaßnahmen einer Haushaltsentlastung gehört:<br />
Weniger Personal, weniger Büros, weniger Gebäude, weniger<br />
…, weniger …, Verwaltung effizienter strukturieren usw.<br />
Das setzt aber auch ein weiteres Umdenken und noch den einen<br />
oder anderen Einschnitt in der Verwaltung voraus, die dabei<br />
jedoch in ihrer Funktionsfähigkeit als Dienstleister nicht<br />
beeinträchtigt werden soll. Auch hier muss ein Haushaltssicherungskonzept<br />
ansetzen, welches Maßnahmen <strong>für</strong> einen Haushaltsausgleich<br />
einschließlich der Tilgung der Altfehlbeträge im<br />
Konsolidierungszeitraum zu benennen hat.<br />
Und was ist mit den Personalkosten? Die haben sich zwischen<br />
2005 und 2009 um 3,3 Mio. € reduziert. Und das ist vor allem<br />
der Tatsache zu verdanken, dass sich die Zahl der zu finanzierenden<br />
Stellen zwischen 2005 und 2009 von etwa 2.970 auf<br />
knapp unter 2.600 reduziert hat - dass die Ersparnis nicht größer<br />
ausfiel, ist den Tarifabschlüssen zu verdanken.<br />
Stellt sich die Frage, ob sich die Personalkosten mittels eines<br />
bezirklichen Tarifs, bei dem eine reduzierte Arbeitszeit zu entsprechend<br />
geringeren Gehaltszahlungen führt, kurzfristig reduzieren<br />
lassen. Angesichts des Stellenabbaus der Vorjahre und<br />
des Durchschnittsalters der Beschäftigten der Stadtverwaltung<br />
eine echte Herausforderung. Die vom altersbedingten Ausscheiden<br />
Beschäftigter besonders betroffene Sozialverwaltung<br />
weiß von der damit einhergehenden Arbeitsverdichtung ein<br />
Lied zu singen.<br />
Nur ein schwacher Trost bleibt insofern die Forderung des<br />
Landesrechnungshofes, der im Jahr 2005 eine Reduzierung der<br />
Stellen von 2.970 auf unter 2.000 (einschließlich der Beschäftigten<br />
des Volkstheaters) empfohlen hatte. Der strategische
0.16 __ //// TITELTHEMA<br />
Ansatz, die Personalkosten durch Tarifverhandlungen zu senken<br />
und so einen Erhalt von Beschäftigung zu erreichen, brachte<br />
bisher keinen Erfolg und ist zudem auch ordnungspolitisch<br />
nicht unumstritten.<br />
Stellt sich also auch die Frage, ob nicht Einnahmeerhöhungen<br />
angezeigt sind, mit denen der Ausgleich des Haushaltes erreicht<br />
und die politischen Spielräume erschlossen werden können.<br />
Solche könnten natürlich höhere Erträge der städtischen<br />
Beteiligungen sein, aber auch Erhöhungen von Gewerbeoder<br />
Grundsteuer. Im Vergleich zu anderen Städten ist zumindest<br />
im Bereich der Grundsteuer das Potential noch nicht ausgeschöpft.<br />
Und mittelfristig müsste auch die Funktion der<br />
Stadt <strong>für</strong> das Land höher dotiert werden, wie dies mit einem<br />
<strong>für</strong> die Zentren auskömmlichen Finanzausgleichsgesetz erreicht<br />
würde.<br />
Insofern verkürzt hier allein die Betrachtung der städtischen Finanzen<br />
die „Fehlersuche“ in unzulässiger Weise, denn schließlich<br />
haben die von Land und Bund gesetzten Rahmenbedingungen<br />
erhebliche Bedeutung <strong>für</strong> eine Kommune und damit<br />
auch <strong>für</strong> <strong>Rostock</strong>. Da sich aber die Kommune am Ende der finanzwirtschaftlichen,<br />
öffentlichen Nahrungskette befindet, ist<br />
hier eine kurzfristige Änderung unrealistisch. Sicher ist, dass<br />
das was die Stadt auch im Interesse von Region und Land<br />
schultert, noch anerkennungsfähiger ist. Und dies hat nicht<br />
nur eine finanzielle und wirtschaftliche, sondern auch eine gesellschaftliche<br />
und politische und kulturelle Dimension. Nur<br />
andeutungsweise provoziert dabei die Frage: „Was wären Region<br />
und Land, wenn nicht <strong>Rostock</strong> ….!?“ Viele Beispiele wären<br />
schnell genannt.<br />
Befasst sich die Politik aber mit der Frage der Erhöhung der<br />
Einnahmen aus den städtischen Beteiligungen, wird recht<br />
schnell deutlich, dass die Natur der Unternehmungen auch hier<br />
Grenzen setzt. So wird bei der berechtigten Frage nach der Verzinsung<br />
des eingesetzten Eigenkapitals schnell klar, dass sich<br />
beispielsweise ein Zoo oder ein Theater aufgrund der Rahmenbedingungen<br />
und Konkurrenzsituation nicht mit dem Ziel einer<br />
Gewinnmaximierung betreiben lassen. Hinzu kommt: Vermögensaktivierung<br />
muss nicht Vermögensveräußerung heißen.<br />
Ob allerdings eine Veräußerung oder die Forderung nach<br />
einer angemessenen Verzinsung des eingesetzten Eigenkapitals<br />
die angezeigte Handlungs- und Entscheidungsvariante ist, setzt<br />
eine sorgfältige und vertiefte Betrachtung, Analyse und Abwägung<br />
der Vor- und Nachteile einer Handlungsoption mit anderen<br />
Handlungsoptionen voraus. Und damit wird auch klar,<br />
dass es hier nicht nur um Einsparpotentiale geht, sondern auch<br />
um Kommunikation und eine entsprechende Kommunikationskultur.<br />
Fazit zur Verbesserung der Finanzsituation der Stadt: Eine Reihe<br />
unbequemer Maßnahmen <strong>für</strong> Verwaltung und Politik bedarf<br />
der gründlichen Prüfung. Neben der nach weiteren Einsparmaßnahmen<br />
ist die Frage nach Einnahmeerhöhungen<br />
deutlicher als bisher zu stellen. Denn Haushaltsausgleich und<br />
Tilgung der Fehlbeträge der Vergangenheit werden erst die<br />
Grundlagen <strong>für</strong> die weitere Entwicklung der Stadt schaffen.<br />
Auch wenn Kommunalpolitik jede Aufgabe und Ausgabe unter<br />
den Maßgabe „Nutzt meine Entscheidung der Zukunft?<br />
Stärkt meine Entscheidung meine Stadt?“ betrachten wollte,<br />
wird dies nicht immer gelingen, da Entscheidungen in einem<br />
demokratischen Wettstreit unter weitgehend extern gesetzten<br />
Rahmenbedingungen fallen und sich somit nicht immer die<br />
sachlich beste Lösung, sondern eher ein mehrheitsfähiges Ergebnis<br />
durchsetzt. Je besser dies aber ist, um so „weiter“ wird es<br />
die Kommune bringen. Das beste Ergebnis wird nicht durch eine<br />
mathematische Gleichung ermittelt, sondern durch eine<br />
prognostische Betrachtung, die später dann auch wieder ganz<br />
anders bewertet werden kann. Nachher ist man eben klüger,<br />
wie schon der Volksmund weiß. ¬
FOTO: TOM MAERCKER
0.18 __ //// TITELTHEMA<br />
Der Ausverkauf<br />
geht weiter<br />
Jagdzeit – <strong>für</strong> PPP-Berater<br />
BENNO THIEL<br />
Nun ist es endlich soweit! Nach diesem Wahlausgang kann nun<br />
endlich die ersehnte Jagd auf kommunales Eigentum eröffnet<br />
werden. Die Abkürzung PPP steht <strong>für</strong> Publik Private Partnership<br />
- zu deutsch ÖPP (Öffentliche Private Partnerschaft). Damit<br />
wird eine Kooperation bezeichnet, in der private Investoren<br />
den Investitionsbedarf im öffentlichen Bereich decken. Das<br />
Engagement erstreckt sich vom Betreibermodell bis zum Bauen,<br />
Betreiben und Übertragen.<br />
Nachdem die öffentlichen Hände Banken und Versicherungen<br />
mit Milliarden Steuermitteln geflutet haben, über mehrere Jahre<br />
durch eine verfehlte neoliberale Wirtschaftspolitik und mittels<br />
Dumpinglöhnen die Binnenwirtschaft heruntergewirtschaftet<br />
wurde, sind die kommunalen Kassen leer. Im Ergebnis<br />
entstehen Zwangsminderungen auf der Ausgabenseite <strong>für</strong> öffentliche<br />
Investitionen und im Sozialbereich. Die Steuerentlastung<br />
<strong>für</strong> Unternehmen von rund 240 Milliarden in den letzten<br />
Jahren hat die Staatsschulden nach oben getrieben, anstatt<br />
Impulse <strong>für</strong> die Binnenwirtschaft zu setzen. Ein weiterer verhängnisvoller<br />
Irrtum.<br />
Zusätzlich treten nun vermehrt die Wirkungen der Wirtschafts-<br />
und Finanzkrise zu Tage und lassen im Zusammenhang<br />
mit der noch schnell erlassenen Schuldenbremse den<br />
Handlungsspielraum der Kommunen gen Null sinken. Die zu<br />
erwartenden Steuermindereinnahmen werden die kurz- und<br />
mittelfristigen Finanzpläne der Kommunen zu Makulatur werden<br />
lassen. In einigen Städten sind die Einnahmen um 50% gesunken.<br />
Seriöse Schätzungen, also nicht von Regierungsseite<br />
oder bezahlten Schönrednern, erwarten <strong>für</strong> 2009 ein Minus<br />
von 45 Mrd. Euro, <strong>für</strong> 2010 minus 85 Mrd. Euro. Nun treten<br />
die „Retter“ auf den Plan und lassen wie durch Wunderhand<br />
die Finanzprobleme der Kommunen sich in Luft auflösen.<br />
Ermöglicht wird das durch ein Gesetz, welches im Schweinsgalopp<br />
durch den Bundestag und Bundesrat gewunken wurde.<br />
Das „Gesetz über Öffentlich-Rechtliche Partnerschaften“, in<br />
Kraft seit dem 1.September 2005. Nicht nur das Tempo war<br />
verblüffend, sondern auch die Art wie das Gesetz zustande gekommen<br />
ist. Bislang wurden die Gesetze von Ministerialbeamten<br />
formuliert, von Experten und Parlamentariern überarbeitet.<br />
Diesmal ist das Gesetz von der amerikanischen Anwaltssozietät<br />
Hogan & Hartson Raue ausgearbeitet worden, dann von<br />
Ministerialen und Privatjuristen in Gesetzform gegossen. Diese<br />
Vorgehensweise wird Mode, entzieht sich der öffentlichen<br />
Kontrolle, die Gesetzeswerke werden nur noch von Spezialisten<br />
verstanden, eben jenen, die diese Vertragswerke entworfen<br />
haben. Somit ist es nicht verwunderlich, wenn die Mitglieder<br />
einer Bürgerschaft oftmals nicht wissen, worüber sie eigentlich<br />
abstimmen, da die notwendige Sachkenntnis fehlt, es auch gar<br />
nicht erwartet werden kann, dass diese vorhanden ist. Fragen<br />
Sie nie ihren Abgeordneten, denn der wird Ihnen auch nur sagen,<br />
dass er nicht verstanden, was er gerade beschlossen hat,<br />
aber das Gerücht umgehe, dass es einen in der Fraktion gebe,<br />
der einen kenne, der wüsste, wen man fragen kann. Beispiel:<br />
Der Vertrag zu Toll Collect (Mautgebühr) umfasst 17.000 Seiten.<br />
Zudem wird der Inhalt dieser Verträge mit Hinweis auf das<br />
Geschäftsgeheimnis geheim gehalten, so dass diese auch nicht<br />
von anderer Stelle begutachtet werden können - bei einer Laufzeit<br />
von teilweise 20 oder 30 Jahren. Pikanterweise werden die<br />
Verträge von den Anwaltsagenturen formuliert, die dann anschließend<br />
die Privatisierer beraten, sie schreiben also praktisch<br />
ihre Verträge selbst.<br />
Objekt der Begierde sind insbesondere öffentliche Einrichtungen<br />
der Daseins<strong>für</strong>sorge, die teilweise jahrzehntelang mit Steuermittel<br />
in einem hervorragenden Zustand gebracht wurden,
eine ständige sichere Einnahmequelle darstellen und nun möglichst<br />
günstig eingekauft, man kann auch sagen verscherbelt<br />
werden sollen. Energieversorgungsunternehmen, Wasser, Abwasser,<br />
Müllentsorgung, Schulen, Parkhäuser, Krankenhäuser<br />
bis hin zu Gefängnissen stehen auf der Wunschliste. Auch am<br />
Privatisierungsvorgang selbst lässt sich hervorragend verdienen:<br />
Rechtsanwälte, Gutachter, Wirtschaftsprüfer, Beratungsunternehmen<br />
und ehemalige oder noch tätige Politiker, die<br />
nicht selten dann im Aufsichtsrat der von ihnen privatisierten<br />
Unternehmen landen.<br />
So ist es nicht verwunderlich, dass sich im illustren Bereich der<br />
Privatisierung Politiker aller Bundestagsparteien, außer<br />
LINKSPARTEI, einträchtig zusammenfinden. So ist zum Beispiel<br />
Rainer Brüderle, FDP, neuer Wirtschaftsminister, <strong>für</strong> den<br />
ehemaligen SPD-Minister Rudolf Scharping in dessen RSBK<br />
GmbH tätig, Friedrich Merz <strong>für</strong> den Hedgefonds TCI, Wolfgang<br />
Clement <strong>für</strong> die Citigroup, Dussmann und diverse weitere,<br />
Kanzleramtsminister a. D. Bury und Jürgen Schrempp <strong>für</strong><br />
Lehman Brothers und viele mehr.<br />
Politische Leistung heute, Entgelt später. Dabei dreht sich die<br />
Tür immer schneller. So erhielt Ex- Kanzler Kohl erst Jahre später<br />
von Kirch 600.000 Mark jährlich <strong>für</strong> mehrere Jahre als Berater<br />
<strong>für</strong> die Wegbereitung des privaten Fernsehens. Bei den<br />
Herren Riester, Clement, Schröder, Joschka Fischer und Rürup<br />
ging es wesentlich schneller. Clement landete beispielsweise bei<br />
einer Zeitarbeitsfirma, nachdem er jahrelang die Dumpinglöhne<br />
vorbereitet hatte, Rürup verkauft jetzt als Vertreter mit Professorentitel<br />
bei AWD die Rente, die er selbst erfunden hat.<br />
Beispiele endlos.<br />
So erfolgt auch immer wieder mit schöner Regelmäßigkeit die<br />
Forderung nach einem Verkauf von WIRO-Wohnungen. Und<br />
das selbst bei einem stagnierenden bzw. sinkenden Preisniveau,<br />
woran auch die Schönrederei von Maklern nichts ändert: Die<br />
Statistiken sprechen <strong>für</strong> sich! Der durch Wohnungsverkäufe<br />
kurzfristig erzielte Liquiditätsgewinn kommt die Kommunen<br />
teuer zu stehen, denn die dann erfolgten Mieterhöhungen müssen<br />
von der Solidargemeinschaft aller Steuerzahler aufgefangen<br />
werden.<br />
Grundgedanke eines kommunalen Wohnungsbestandes war,<br />
der Bevölkerung preisgünstigen Wohnraum anzubieten und<br />
marktregulierend auf die Mietpreisgestaltung wirken zu können.<br />
Dass einige kommunale Wohnungsunternehmen zwischenzeitlich<br />
als Preistreiber wirken, zeigt allerdings, wie weit<br />
wir auch hier von diesem Grundgedanken entfernt sind und<br />
dass auch die Tätigkeit der Aufsichtsratsmitglieder nicht wirklich<br />
funktioniert.<br />
Wir stehen am Anfang einer gigantischen Verramschung gemeinnütziger<br />
Wohneinheiten an internationale Fonds und dubiose<br />
Kapitalanlagegesellschaften. Annington, Cerberus,<br />
Blackstone, Fortress und Lone Star kaufen massenweise deutsche<br />
Wohnungspakete. Wenn ausländische Investoren Mietwohnungen<br />
aufkaufen, haben sie Renditeerwartungen im zwei-<br />
stelligen Bereich (Ackermann mit seinen 25% lässt grüßen).<br />
Diese Erwartungen sind in der Immobilienwirtschaft normal<br />
nicht realisierbar. Es gibt nur zwei Optionen: Senkung der<br />
Ausgaben, also Verzicht auf Modernisierung und Instandsetzung<br />
oder Erhöhung des Cashflows, also Mieterhöhungen. Da<br />
nach dem Auslaufen der Kurzarbeiterbezüge viele Mieter ihre<br />
Wohnungen ohnehin nicht mehr bezahlen werden können, ein<br />
absurder Gedanke, wieder muss dann der Steuerzahler einspringen.<br />
Ein Zurückfahren der Ausgaben <strong>für</strong> Modernisierung<br />
und Instandsetzung zu Gunsten einer entsprechenden Rendite<br />
bedeutet, dass unsere Städte bald wieder so aussehen wie vor<br />
der Wende.<br />
Unser ehemaliger Finanzminister wollte den Finanzplatz<br />
Deutschland durch Produktinnovationen wie REITs stärken.<br />
Dass daraus nur ein Spielkasino wurde, haben zwischenzeitlich<br />
viele leidvoll erfahren müssen. REITs (Real Estate Investment<br />
Trusts) sind börsennotierte Immobiliengesellschaften, die keine<br />
Körperschaftsteuer zahlen, unter der Bedingung, dass sie ihren<br />
Gewinn zu mindestens 90 Prozent an die Aktionäre ausschütten.<br />
Dass die Mieter durch den Renditedruck der Anleger<br />
(Aktionäre) mit steigenden Mieten, Umwandlungen in Eigentumswohnungen<br />
zu rechnen haben, ist durch viele Beispiele im<br />
Ausland belegt.<br />
Zurzeit stehen etwa zehn REITs in den Startlöchern und hoffen,<br />
die bis Ende 2009 geltenden Steuerbegünstigungen <strong>für</strong><br />
Unternehmen, die ihre Gebäude an einen REIT verkaufen, zu<br />
verlängern. Das alte Gesetz (Exit-Tax) sah vor, dass Gewinne<br />
aus dem Verkauf betrieblicher Immobilien nur zur Hälfte besteuert<br />
werden.<br />
Beispiel Südstadtklinikum<br />
Ebenso wird die Forderung nach einem Verkauf des Südstadtklinikums<br />
laut. Unverständlich, denn man kann ohne weiteren<br />
Aufwand die Liste der gescheiterten Privatisierungen im Krankenhausbereich<br />
einsehen. Das geht vom Megaflop der Hamburger<br />
Krankenhäuser (an den Klinikbetreiber Asklepios AG<br />
sind bisher aus dem Stadtsäckel 108,4 Mio. Euro geflossen, im<br />
Gegenzug hat Asklepios bisher lediglich 19,2 Mio. des Kaufpreises<br />
von 318,6 Mio. Euro überwiesen. Der damalige CDU-<br />
Finanzsenator Wolfgang Peiner hatte den Deal mit Asklepios<br />
eingefädelt) bis zum Abhörskandal beim Klinikkonzern Asklepios<br />
(die Vorstandstelefone waren verwanzt).<br />
Bei der Uni-Klinik Gießen-Marburg ging die Privatisierung zu<br />
Lasten der Patienten und des Personals. So wurden Stellen abgebaut<br />
und über 100 sind noch nicht wieder besetzt, Ärzte<br />
kündigten und sind im Ausland tätig, Hausärzte weigern sich,<br />
Patienten dort einzuweisen. Für die Betreiber allerdings ein<br />
Geschäft, bei 21 Milliarden Euro wurde ein Gewinn von 123<br />
Millionen Euro ausgewiesen. Zu Lasten der Patienten.<br />
Der Vorstand und Aufsichtsrat der Rhön-Klinikum AG hat beschlossen,<br />
die wegen der sinkenden Steuereinnahmen erwartete<br />
finanzielle Enge der Kommunalen Körperschaften <strong>für</strong> eine Of-
0.20 __ //// TITELTHEMA | DEBATTE<br />
fensive zu nutzen. Die Eigner der privaten Betreiber sind zugleich<br />
die Profiteure der systematisch betriebenen Verarmung<br />
der öffentlichen Hände. Nach Ansicht der Investoren werden<br />
ihnen in den nächsten Jahren Krankenhäuser wie im Schlaraffenland<br />
zufliegen. Nachdem die Privatisierer in der neuen Bundesregierung<br />
an den entscheidenden Stellen sitzen, die ausgestellten<br />
Checks <strong>für</strong> die Parteispenden nun eingelöst werden<br />
müssen, stehen die Chancen augenscheinlich nicht schlecht.<br />
Zudem unsere Kanzlerin mit ihrem Vizekanzler Westerwelle<br />
einen ausgewiesenen Finanzlobbyisten zur Seite hat (Westerwelle<br />
war noch bis zum 1.10.2009 im Beirat der TellSell Consulting<br />
tätig, die besonders bei PPP- Projekten berät, außerdem<br />
bei der ARAG und der Hamburg-Mannheimer). So wurden<br />
während der Rezession 2002/2003 fast 20 Kliniken an die<br />
Rhön-Klinikum AG übertragen. Es ist zu erwarten, dass die<br />
Unternehmen demnächst aggressive Kampagnen starten werden,<br />
weil sie an die aktuelle Gunst der Stunde glauben. Dabei<br />
wird üblicherweise auch nicht vor einer Korrumpierung von<br />
Kommunalpolitikern halt gemacht werden.<br />
Der Energiemarkt ist ein Paradebeispiel <strong>für</strong> die Privatisierung<br />
von Daseinsvorsorge, vermachtete Strukturen und den Missbrauch<br />
von Marktmacht. Extraprofite durch die Monopolsituation,<br />
illegale Preisabsprachen und Manipulationen der Strombörse<br />
führen zu überteuerte Preisen. Manche Gasversorger haben<br />
zum 1. August 2008 ihre Preise wieder über 20% erhöht.<br />
Eine Folge der steigenden Nachfrage nach Energie und der begrenzten<br />
Kapazitäten – sagen die Konzerne. Doch nicht nur<br />
die Einkaufspreise, auch die Gewinne der Konzerne steigen stetig.<br />
E.on vermeldete <strong>für</strong> 2007 eine Steigerung des Konzerngewinns<br />
um 27 Prozent auf 7,7 Milliarden Euro. RWE steigerte<br />
sein Betriebsergebnis 2007 um 15 Prozent auf 6,5 Milliarden<br />
Euro.<br />
Beispiel Wasserwerke Berlin<br />
Nachdem die CDU und die SPD 49,9 Prozent an die Beteiligungsgesellschaft<br />
BB-AG verkauft haben, stiegen die Wasserpreise<br />
steil nach oben. Von 2000 bis 2005 haben sich die Wasserpreise<br />
um 20,7 Prozent erhöht, im Bundesdurchschnitt nur<br />
um acht Prozent.<br />
In Berlin haben alle ÖPP-Projekte und Großprivatisierungen<br />
der Bevölkerung nur geschadet:<br />
Verkauf der Bewag an Southern Energie (USA), Verkauf der<br />
Gasag an Gaz de France, die Bankgesellschaft Berlin, das Modell<br />
Teilprivatisierung der Wasserbetriebe, und die Konzerne<br />
Vivendi und RWE. Es ist zweifellos <strong>für</strong> viele Politiker verlokkend,<br />
mit teilweiser Haushaltskonsolidierung zu glänzen, dem<br />
Erfolg der Privatisierung. Die Folgen hat allerdings der Steuerzahler<br />
und Mieter viele Jahre lang zu tragen, die Verantwortlichen<br />
stehen dann allerdings nicht mehr zur Wahl oder sind<br />
zum Privatisierer gewechselt.<br />
Ein kommunales Unternehmen in einer schlechten Marktsituation<br />
zu einem schlechten Preis zu verkaufen, sollte gründlich<br />
hinterfragt werden (insbesondere: wer ist beteiligt, wer verdient<br />
daran?). Die Verträge müssen öffentlich gemacht werden,<br />
nicht wie bisher in Hinterzimmerrunden ausgekungelt werden.<br />
Die Privatisierer scheinen zu verdrängen, dass eine Vermögensbilanz<br />
zwei Seiten hat. Wenn man auf der einen Seite Schulden<br />
abbaut, verringert sich auf der anderen Seite das Vermögen. Es<br />
ist also keine Leistung, durch Vermögensabbau Schulden zu<br />
verringern. Einige Kommunen werden versucht sein anzubeißen,<br />
wenn die Bürger nicht entsprechend Widerstand leisten.<br />
Allerdings ist irgendwann das Tafelsilber weg, dann geht es ans<br />
Eingemachte. Dann ist das Ende der Fahnenstange erreicht. ¬
Die aktuelle „<strong>Stadtgespräche</strong>“-Dabatte:<br />
<strong>Rostock</strong> sucht sein<br />
Museumskonzept<br />
Im vergangenen Heft haben wir einen ersten Beitrag zu diesem<br />
Thema veröffentlicht. Inzwischen ist es fast schon wieder ein<br />
Vierteljahr her, dass die Bürgerschaft der Hansestadt <strong>Rostock</strong><br />
am 4. 11. 2009 nach längerer Diskussion zwei Beschlüsse zur<br />
weiteren Entwicklung der <strong>Rostock</strong>er Museen verabschiedete:<br />
Beschluss Nr. 2009/AN/0584:<br />
„Der Oberbürgermeister wird beauftragt, ausgehend von den<br />
Anlagen zur Beschlussvorlage Nr. 2009/BV/0444 (Museumskonzept<br />
<strong>für</strong> die Hansestadt <strong>Rostock</strong>) einen breiten Diskussionsprozess<br />
unter Moderation und Verantwortung des Kulturausschusses<br />
in Zusammenarbeit mit der Senatorin <strong>für</strong> Jugend<br />
und Soziales, Gesundheit, Schule und Sport, Kultur zu organisieren.<br />
Dabei sind Vertreter/innen der Kulturvereine und -institutionen<br />
der Hansestadt <strong>Rostock</strong> angemessen zu beteiligen.<br />
Die als Ergebnis dieses Diskussionsprozesses erforderlichen Ergänzungen,<br />
Veränderungen und Vertiefungen des Museumskonzeptes<br />
sind durch die Verwaltung auszuarbeiten. Der Bürgerschaft<br />
ist das überarbeitete Museumskonzept bis zu ihrer<br />
Sitzung im März 2010 zum Beschluss vorzulegen.“<br />
Beschluss Nr. 2009/AN/0579:<br />
„Der Oberbürgermeister wird beauftragt, im Einvernehmen<br />
mit dem Kulturausschuss eine Expertenkommission einzusetzen,<br />
die aufzeigt, welches Alleinstellungsmerkmal ein Technikmuseum<br />
in <strong>Rostock</strong> im Vergleich zu anderen norddeutschen<br />
technikorientierten Museen haben muss. Die Expertenkommission<br />
soll unter Einbeziehung und auf Basis bereits vorhandener<br />
Analysen eine zukunftsweisende, verbindliche und auch<br />
kostenmäßig überschaubare Konzeption erarbeiten und Vorschläge<br />
<strong>für</strong> den bestmöglichen Standort unterbreiten. Diese<br />
Konzeption ist der Bürgerschaft in ihrer Sitzung am<br />
17.03.2010 vorzulegen.“ (Vgl. dazu den entsprechenden Sitzungsbericht<br />
im Bürgerinformationssystem der HRO <strong>Rostock</strong>)<br />
Eine Museumskonzeption gehörte schon lange zu den bisher<br />
unerledigten Hausaufgaben der Stadt, nun lag sie Entwurf vor:<br />
Museumslandschaft <strong>Rostock</strong>, Integriertes Entwicklungskon-<br />
zept bis 2018, Zusammenfassung sowie Konzept zur Personalentwicklung<br />
2009 (ebd., unter „Textrecherche“).<br />
Im März 2010 soll diese Konzeption durch die Bürgerschaft<br />
beschlossen werden. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird dies<br />
nicht geschehen – statt dessen sollten wir froh sein, wenn sich<br />
2010 eine breite, auf konkrete Ergebnisse orientierte Diskussion<br />
entwickelt, die zu einem tatsächlich tragfähigen Konzept<br />
führt.<br />
Denn in der Tat gibt es ein lebhaftes Interesse vieler <strong>Rostock</strong>erinnen<br />
und <strong>Rostock</strong>er, mitzudenken und mitzureden bei der<br />
Gestaltung der <strong>Rostock</strong>er Museumslandschaft und damit eines<br />
Teils der eigenen Vergangenheit. Die vielen Gedanken der agilen<br />
und tatkräftigen maritimen Vereine, der Fördervereine, der<br />
freien Kulturszene und vieler Einzelpersonen sollten einfließen<br />
in das Konzept. Das verlangt allerdings nicht nur mehr Zeit<br />
der Verantwortlichen, sondern auch Geduld, Toleranz , das<br />
Aushalten anderer, gar konträrer, selbst unsachlich vorgetragener<br />
und allein der Selbstdarstellung dienender Meinungen, die<br />
Vermittlung sachlicher und konkreter Informationen, aber<br />
auch der Mut zum endlichen Beschluss, eben all das, was Demokratie<br />
ausmacht und entweder zu üppig oder nicht gerade<br />
prächtig in <strong>Rostock</strong> ausgeprägt ist.<br />
Mit den Beiträgen dieses Heftes möchten die <strong>Stadtgespräche</strong><br />
mithelfen, das Gespräch in Gang zu bringen.<br />
Es geht im Wesentlichen um zwei große Schwerpunkte.<br />
1. Wie soll die Museumslandschaft <strong>Rostock</strong>s insgesamt in der<br />
Zukunft aussehen und sich entwickeln?<br />
2. Welchen Inhalt kann ein evtl. neu einzurichtendes Technikmuseum<br />
und welches Alleinstellungsmerkmal sollte es<br />
besitzen, wo soll es Platz finden? ¬
0.22 __ //// TITELTHEMA | DEBATTE<br />
„Opa war dabei.“<br />
Einige Bemerkungen zur Auseinandersetzung über<br />
das Museumskonzept der Hansestadt <strong>Rostock</strong><br />
LUTZ BUDRAß<br />
Es ist gar nicht lange her. Im Juni 2004 berief der Oberbürgermeister<br />
der Hansestadt <strong>Rostock</strong> eine Expertenkommission, die<br />
unter dem Titel „Technik und Verantwortung“ Empfehlungen<br />
formulieren sollte, „in welcher Weise die Industrie- und Technikgeschichte,<br />
vor allem hinsichtlich der Flugzeugindustrie<br />
und der Person Ernst Heinkel zur Zeit des Nationalsozialismus<br />
aufgearbeitet und präsentiert werden kann.“ Die Kommission<br />
kam zu drei Arbeitssitzungen in <strong>Rostock</strong> zusammen, ihre Mitglieder<br />
referierten zu den eigenen Themenbereichen und hörten<br />
etliche weitere Vorträge von Sachverständigen aus der Stadt<br />
und von außerhalb. Am 3. Mai 2005 lagen die Empfehlungen<br />
vor.<br />
Heute, rund viereinhalb Jahre später, gibt es ein Museumskonzept<br />
<strong>für</strong> die Hansestadt <strong>Rostock</strong>. In den Erläuterungen dazu<br />
heißt es, bei der Diskussion über die Weiterentwicklung des<br />
Schifffahrts- und Schiffbaumuseums zu einem Museum <strong>für</strong><br />
(maritime) Technik sollen die Empfehlungen der Expertenkommission<br />
„Technik und Verantwortung“ an die Hansestadt<br />
<strong>Rostock</strong> „einbezogen“ werden. Was auch immer das bedeutet:<br />
Das Konzept <strong>für</strong> das Museum <strong>für</strong> (maritime) Technik, aber<br />
auch <strong>für</strong> die Darstellung des 20. Jahrhunderts in den Museen<br />
der Stadt sähe anders aus, wären die Empfehlungen der Kommission<br />
dort eingeflossen. In jedem Fall hätten Sie die Frage<br />
aufgeworfen, ob eine weitere Expertenkommission berufen<br />
werden sollte, wie auf einen Antrag der Bürgerschaftsfraktion<br />
der SPD hin am 4. November beschlossen. Sie soll darüber befinden,<br />
was das „Alleinstellungsmerkmal“ eines <strong>Rostock</strong>er Museums<br />
<strong>für</strong> (maritime) Technik im Vergleich zu anderen technikorientierten<br />
Museen in Norddeutschland ist, <strong>für</strong> welchen<br />
Standort und welchen Zweck ein solches Museum zu konzipieren<br />
sei. Genau zu diesen Fragen hatte die Kommission von<br />
2004/05 schon ziemlich gut begründete Voten abgegeben.<br />
Aber der Reihe nach. Sicher, die Kommission von 2004/05<br />
widmete sich in erster Linie Ernst Heinkel und seinem Flugzeugwerk.<br />
Die Ausstellung des Förderkreises Luft- und Raumfahrt<br />
2002 hatte aber in <strong>Rostock</strong> eine <strong>für</strong> die Bundesrepublik<br />
beispiellose Diskussion über die Bedeutung der nationalsoziali-<br />
stischen Rüstungskonjunktur <strong>für</strong> eine Stadt entfacht. Allein<br />
deswegen waren sich alle Mitglieder der Kommission einig,<br />
dass es um mehr ging als einen schwäbischen Flugzeugbauer. In<br />
Frage stand das Selbstverständnis der Stadt im 20. Jahrhundert.<br />
Es ging um das „Alleinstellungsmerkmal“ <strong>Rostock</strong>s – darum,<br />
wie diese Stadt, die tiefer als die meisten anderen in Deutschland<br />
von den industriegeschichtlichen Zäsuren des Jahrhunderts<br />
geprägt wurde, ihre Zeitgeschichte <strong>für</strong> ihre Bürger, aber<br />
auch <strong>für</strong> Besucher darstellen könne.<br />
Deshalb haben die Empfehlungen auch, grob gesehen, zwei<br />
Teile. Einen ersten, in dem der Industrialisierungsschub durch<br />
die Rüstung deutlich gemacht wird – mit einem Ausblick auf<br />
die Folgen in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg – und einen<br />
zweiten, in dem Modelle <strong>für</strong> die museale Präsentation entwikkelt<br />
werden.<br />
Um es noch einmal kurz zusammenzufassen: Der Aufbau einer<br />
kriegsfähigen Flugzeugindustrie war das größte industrielle<br />
Projekt des Dritten Reiches. Drei Viertel der Investitionen <strong>für</strong><br />
dieses Projekt flossen in den Teil Deutschlands, der 1945 zur<br />
sowjetischen Besatzungszone wurde. Und der durch dieses Projekt<br />
ausgelöste Wandel bildete sich nirgendwo so deutlich ab<br />
wie in <strong>Rostock</strong> und Warnemünde. Allein deshalb stand aber<br />
diese Stadt 1945 mehr als alle anderen vor der Frage, wie mit<br />
den Hinterlassenschaften dieses Projekts umgegangen werden<br />
sollte. Zumal durch die Verheerungen des Krieges plötzlich<br />
noch einmal 2 Millionen Menschen mehr in Mecklenburg und<br />
Vorpommern waren – Vertriebene und Umsiedler, ohne Heim,<br />
ohne Arbeit und Habe.<br />
Neptun- und Warnowwerft, Fischkombinat, Seerederei und<br />
Überseehafen waren nicht einfach da<strong>für</strong> gedacht, einen Ersatz<br />
<strong>für</strong> Heinkel und Arado zu bieten. Durch sie setzte sich die Erfahrung<br />
der dreißiger Jahre fort: <strong>Rostock</strong> und Warnemünde<br />
waren abermals Zentren eines durch Industrialisierung ausgelösten<br />
Wandels, der in keinem anderen Teil Deutschlands eine<br />
Entsprechung findet. Das Wachstum der Stadt auf 100.000<br />
Einwohner (1935) und später 250.000 (1987) spiegelt ihn nur
lass, doch zeigt es mindestens dies: Die Geschichte der überwiegenden<br />
Mehrheit der Menschen, die heute in <strong>Rostock</strong> und<br />
Warnemünde leben, liegt in diesem Industrialisierungsschub,<br />
der sich in dem halben Jahrhundert zwischen 1930 und 1980<br />
entfaltete.<br />
Niemand, der an der Sache interessiert ist, wird die nationalsozialistische<br />
Rüstung und den Aufbau des Sozialismus in der<br />
DDR in einen Topf werfen. Genauso falsch wäre es aber, die<br />
Geschichte des Nationalsozialismus auf Gedenkstätten zu beschränken:<br />
„Opa war dabei, Opa war fasziniert, Opa war ein<br />
toller Techniker und bis heute ist er die Seele der Familie“ - dies<br />
sei die <strong>Rostock</strong>er Erfahrung, sagte Matthias Pfüller von den<br />
Politischen Memorialen auf der zweiten Sitzung der Expertenkommission,<br />
die es zu erfassen gelte. Auf sie muss sich die historische<br />
Selbstdarstellung der Stadt – Alleinstellungsmerkmal<br />
hin, „Edutainment“ her – konzentrieren, denn ohne diese Erfahrung<br />
ist diese Stadt nicht zu verstehen, weder von den<br />
Nachgeborenen noch von ihren Besuchern.<br />
Geschichte leitet sich ab von Geschehen, aber auch von<br />
Schichten. Die Schichten des zwanzigsten Jahrhunderts legten<br />
sich in <strong>Rostock</strong> von der Heinkelmauer entlang der Unterwarnow<br />
bis hin nach Warnemünde übereinander, wo die „sozialistische<br />
Seewirtschaft“ an die Stelle der „faschistischen Rüstungsindustrie“<br />
trat. Das ist der historische Ort der <strong>Rostock</strong>er<br />
Zeitgeschichte. Die Empfehlungen der Kommission von<br />
2004/05 zur musealen Präsentation konzentrieren sich daher<br />
auf das „Band der Erinnerung“.<br />
Dieses Band, das in die Kulturmeile entlang der Warnow zu integrieren<br />
ist [die <strong>Stadtgespräche</strong> berichteten – Anm. d. Red.],<br />
soll durch gesicherte Überreste der verschiedenen Schichten<br />
des <strong>Rostock</strong>er 20. Jahrhunderts – angefangen bei der so genannten<br />
Heinkelmauer - markiert werden, und dabei vor allem<br />
dem Zweck dienen, die historische Auseinandersetzung in die<br />
Öffentlichkeit zu tragen. Denn die breite und intensive öffentliche<br />
Diskussion, die ihre Ursache darin hatte, dass die Spuren<br />
der älteren Schicht fast restlos getilgt wurden, ist Teil der Geschichte<br />
selbst. Industriearchäologische Präsentation im Verbund<br />
mit erläuternden Tafeln im öffentlichen Raum sowie eine<br />
Open-Air-Ausstellung auf dem Gelände der Neptunwerft seien<br />
ein Ansatz, dauerhaft eine Gelegenheit zum Gespräch über die<br />
Erfahrung der Stadt im 20. Jahrhundert zu bieten. Alles dies<br />
könne eine vertiefende Darstellung, schlossen die Empfehlungen<br />
der Kommission, aber nur ergänzen, nicht ersetzen. Langfristiges<br />
Ziel müsse eine überregional attraktive Dauerausstellung<br />
zur industriegeprägten Zeitgeschichte <strong>Rostock</strong>s sein, <strong>für</strong><br />
die entweder Gebäude am historischen Ort selbst – der Hochbunker<br />
auf dem Gelände der Neptunwerft oder die Heinkel-<br />
Lehrwerkstatt der in Marienehe – oder das Museumsgebäude<br />
in der August-Bebel-Straße in Frage kämen.<br />
Soweit die Empfehlungen. Was hat sich seit 2005 getan, und<br />
vor allem, wie ist das jetzige Museumskonzept im Licht dieser<br />
Empfehlungen zu bewerten? Die <strong>Rostock</strong>er Zeitgeschichte in<br />
die Öffentlichkeit zu tragen, hat in der Aufstellung der Tafeln<br />
am Thomas-Müntzer-Platz immerhin einen Anfang genommen.<br />
Allerdings ist die Sicherung der Überreste – vor allem in<br />
der Frage, welcher Rang der Heinkelmauer zukommen soll –<br />
und das Vorhaben des „Bandes der Erinnerung“ sonst nicht viel<br />
weiter vorangekommen.<br />
Das Museumskonzept freilich ignoriert die Findungen der<br />
Kommission und erst recht die Besonderheiten der <strong>Rostock</strong>er<br />
Geschichte des 20. Jahrhunderts überhaupt. Die Frage nach<br />
dem Alleinstellungsmerkmal eines <strong>Rostock</strong>er Technikmuseums<br />
lässt sich schon allein mit einem Zitat aus dem Protokoll der<br />
Sitzung der Kommission vom 10.9.2004 beantworten: „Herr<br />
Prof. Morsch fragt anschließend nach, inwieweit das Schiffbaumuseum<br />
auch andere Technikbereiche, z. B. den Flugzeugbau ,<br />
aufnehmen könne […] Herr Dr. Danker-Carstensen führt aus,<br />
dass weder auf dem Traditionsschiff noch in dem geplanten<br />
Museumsneubau <strong>für</strong> weitere Technikbereiche Kapazitäten vorhanden<br />
seien. […] Herr Dr. Budraß fragt, was den besonderen<br />
Charakter des Schiffbaumuseums ausmache. Herr Dr. Danker-<br />
Carstensen führt aus, dass die Schiffbaugeschichte den inhaltlichen<br />
Schwerpunkt des Schiffbaumuseums darstelle und dass<br />
dieser Schwerpunkt das Alleinstellungsmerkmal gegenüber anderen<br />
technikhistorischen Museen sei.“ Was, ist zu fragen, kann<br />
eine Expertenkommission herausfinden, um diese eindeutige<br />
Stellungnahme des Museumsdirektors aus dem Jahr 2004 zu<br />
widerlegen?<br />
Das Museumskonzept – auch und gerade die Idee, dem Schifffahrts-<br />
und Schiffbaumuseum <strong>Rostock</strong> nun doch auch aufzutrage,<br />
„<strong>Rostock</strong> als Standort der Flugzeugindustrie in der 1.<br />
Hälfte des 20. Jh.“ zu präsentieren – krankt jedoch daran, dass<br />
überhaupt eine Teilung zwischen technik- und zeithistorischer<br />
Ausstellung vorgenommen wird. Technikgeschichte als Teildisziplin<br />
der Geschichtswissenschaften wird seit mindestens dreißig<br />
Jahren von der Grundüberlegung bestimmt, dass sie die<br />
Prägung von Gesellschaft durch Technik darzustellen hat – was<br />
sich am <strong>Rostock</strong>er Beispiel <strong>für</strong> das 20. Jahrhundert besser darstellen<br />
liesse als irgendwo sonst. Die Auffassung, sie erschöpfe<br />
sich in der Lehrschau von technischen „Meisterwerken“, ist<br />
hoffnungslos antiquiert. Genau dieser Weg wird aber mit diesem<br />
inspirationslosen Konzept beschritten. Denn Zeitgeschichte<br />
<strong>Rostock</strong>s soll in der August-Bebel-Straße gezeigt werden<br />
- jedoch nicht als Schwerpunkt, sondern als kleinerer Ausschnitt<br />
aus der 800jährigen <strong>Rostock</strong>er Stadtgeschichte insgesamt,<br />
zumal entlang der Zäsuren der allgemeinen politischen<br />
Geschichte: 1918-1933-1945-1989.<br />
Allein diese banale chronologische Teilung zeigt, dass die Verfasser<br />
des Konzepts nicht verstanden haben, worin das geschilderte<br />
„Alleinstellungsmerkmal“ der <strong>Rostock</strong>er industriegeprägten<br />
Zeitgeschichte besteht. Erst recht nicht die leidenschaftliche<br />
Bewegung, die <strong>Rostock</strong> 2002 erfasste und nichts weniger<br />
zum Inhalt hatte, als die verschwiegenen Kapitel des zwanzigsten<br />
Jahrhunderts ans Licht zu befördern und Sorge zu tragen,<br />
dass sie dauerhaft Gegenstand öffentlicher Diskussion bleiben.<br />
¬
0.24 __ //// TITELTHEMA | DEBATTE<br />
Die <strong>Rostock</strong>er Museumslandschaft<br />
in den<br />
Vorstellungen des<br />
Museumskonzeptes<br />
PETER KÖPPEN<br />
Im Museumskonzept heißt es: „Das Kulturhistorische Museum,<br />
die Kunsthalle, das Schifffahrts- und Schiffbaumuseum<br />
sowie das Heimatmuseum legen mit diesem Papier ihre Zielsetzungen<br />
und Planung <strong>für</strong> die kommenden zehn Jahre in einem<br />
integrierten Entwicklungskonzept vor. Damit soll der Bürgerschaft<br />
und den Bürgern der Hansestadt <strong>Rostock</strong> und des Umlandes<br />
verdeutlicht werden, wie sich die Museen <strong>Rostock</strong>s mittelfristig<br />
profilieren und positionieren wollen.“<br />
Träger des Heimatmuseums Warnemünde ist der Museumsverein<br />
Warnemünde e. V., der ab 1.1.2005 mit der Stadt nach<br />
der 2003 aus Kostengründen drohenden Schließung einen Betreibervertrag<br />
abschloss und die Betriebsführung übernahm.<br />
Das Museum existiert nun mit Hilfe finanzieller Unterstützung<br />
der Stadt <strong>Rostock</strong>, projektgebundener Unterstützung des<br />
Landes Mecklenburg-Vorpommern und dem hohen Engagement<br />
der weit über 100 Mitglieder.(www.heimatmuseum-warnemuende.de)<br />
Betreiber der Kunsthalle (www.kunsthallerostock.de ) ist seit<br />
dem 1.März 2009 der Verein „pro Kunsthalle“ mit dem kunstinteressierten<br />
Zahnarzt Dr. Jörg-Uwe Neumann als Geschäftsführer.<br />
Eigentümer bleibt die Stadt <strong>Rostock</strong>, die eine monatliche<br />
Grundfinanzierung gibt. Zusätzliche Kosten trägt der Verein,<br />
der Ausstellungen und Veranstaltungen organisiert. Seit<br />
1992/93, als zum ersten Mal die Kunsthalle in ihrer Existenz<br />
bedroht war, unterstützen <strong>Rostock</strong>er BürgerInnen im Förderverein<br />
„Freunde der Kunsthalle <strong>Rostock</strong> e.V.“ auf vielfältige<br />
Weise ihr Weiterleben. Da die Kunsthalle bei ihrer Gründung<br />
1969 nicht als Museum, sondern als Ausstellungshalle konzipiert<br />
war, fehlt allerdings bis heute ein Funktionsanbau, der<br />
Räume <strong>für</strong> Ausstellungstechnik, Depots und Bibliotheksräume<br />
vorhält. Er muss gebaut werden. Laut Museumskonzept soll<br />
sich die Kunsthalle neben ständigen Sonderausstellungen auf<br />
die Präsentation aktueller zeitgenössischer Kunst ab 1948, ins-<br />
besondere in Ostdeutschland/DDR und in Nordeuropa, konzentrieren.<br />
Das 1859 gegründete Kulturhistorische Museum <strong>Rostock</strong><br />
(www.kulturhistorisches-museum-rostock.de) wird als einziges<br />
der vier Museen in kommunaler Trägerschaft betrieben. Es ist<br />
das älteste <strong>Rostock</strong>er Museum mit dem Schwerpunkt Kunst-,<br />
Kultur- und Stadtgeschichte. Der Fundus ist so groß, dass überlegt<br />
wird, den Teil der Kulturgeschichte von der Reformation<br />
bis zur Gegenwart und die achthundertjährige <strong>Rostock</strong>er<br />
Stadtgeschichte völlig neu in der August-Bebel-Straße 1 einzurichten.<br />
Es ist das ehemalige Schifffahrtsmuseum und der jetzige<br />
Sitz der Informations-, Bildungs- und Begegnungsstätte Societät<br />
<strong>Rostock</strong> maritim e.V., die durch ihr Wirken die vollständige<br />
Schließung des ehemaligen Schifffahrtmuseums verhindern<br />
konnte. Eine andere Variante der Erweiterung wäre ein<br />
Neubau, z.B. auf der Nordseite des Neuen Marktes. Im Kloster<br />
zum Heiligen Kreuz würden dann die Schwerpunkte Klostergeschichte,<br />
Backsteingotik, mittelalterliche Kunst, Kunsthandwerk<br />
und Alltagskultur und Spielzeug weiter profiliert.<br />
Das Schifffahrts- und Schiffbaumuseum <strong>Rostock</strong> ist derzeit<br />
auf dem Traditionsschiff, Typ Frieden, in <strong>Rostock</strong>-Schmarl auf<br />
dem IGA-Gelände untergebracht. Auf diesem Schiff öffnete<br />
einst am 13. Juni 1970 das <strong>Rostock</strong>er Schiffbaumuseum seine<br />
Pforten. Zur IGA 2003 in <strong>Rostock</strong> erhielt es seinen neuen Liegeplatz<br />
bei Schmarl. 2001 wurde es an die IGA GmbH zum<br />
symbolischen Kaufpreis von 1 DM übergeben und gehört seitdem<br />
zum Anlagevermögen der IGA GmbH. Das Verholen und<br />
die Restaurierung des Schiffes wurden finanziert mit Fördermittel<br />
aus dem Fonds des IGA-Projekts, um <strong>für</strong> die Zeit der<br />
IGA ein weiteres Highlight präsentieren zu können. Das Fehlen<br />
eines tragfähigen Nachnutzungskonzepts <strong>für</strong> das gesamte<br />
IGA-Gelände ließ auch das Schicksal des Schiffes ab Ende<br />
2003 ungeklärt.
Zum 01.09.2004 wurde das Schifffahrtsmuseum, einschließlich<br />
(zahlenmäßig reduzierter) Mitarbeiterschaft, aus dem Museumsverbund<br />
der Städtischen Museen herausgelöst und per<br />
Betriebsübergang in die Betreibergesellschaft des IGA-Parks<br />
integriert. Damit ist die IGA <strong>Rostock</strong> 2003 GmbH neben der<br />
Pflege und Betreibung des Parkgeländes auch <strong>für</strong> den Betrieb<br />
des nunmehrigen Schiffbau- und Schifffahrtsmuseums verantwortlich.<br />
Die dort gezeigten Sammlungen allerdings befinden<br />
sich im Eigentum der Hansestadt <strong>Rostock</strong>. Sie werden heute<br />
als Dauerleihgaben ausgestellt und wissenschaftlich vom Personal<br />
des Schiffbau- und Schifffahrtsmuseums betreut. Da<strong>für</strong><br />
zahlt die Stadt einen jährlichen Haushaltszuschuss von fast 1<br />
Mio. EUR an die IGA GmbH. An der IGA <strong>Rostock</strong> 2003<br />
GmbH ist die Hansestadt zu 63 % beteiligt. Der Geschäftsführer<br />
der IGA GmbH ist gleichzeitig der Geschäftsführer der<br />
Großmarkt <strong>Rostock</strong> GmbH, einer weiteren kommunalen Gesellschaft.<br />
Das Schifffahrts- und Schiffbaumuseum <strong>Rostock</strong> soll nach den<br />
Vorstellungen des <strong>Konzepte</strong>s bis zum Jahr 2018 zu einem Museum<br />
<strong>für</strong> maritime Technik entwickelt werden. Schwerpunkte<br />
lägen in der Präsentation der historischen Technikentwicklung<br />
in der Hansestadt <strong>Rostock</strong> und der Region und dabei in den<br />
Bereichen Schifffahrt und Schiffbau seit 1870, der Flugzeugindustrie<br />
in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der neueren<br />
maritimen Technik in den Bereichen Offshore und Schiffsausrüstung.<br />
Schwerpunkt soll die industrielle Entwicklung der Stadt unter<br />
dem Gesichtspunkt der technischen Innovationen sein. Dabei<br />
werde der politische Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung<br />
der Stadt – vor allem im Dritten Reich und in der DDR –<br />
besonders hervorgehoben. Damit einhergehend widmet sich<br />
das Museum <strong>für</strong> maritime Technik dem Problemkreis „Technik<br />
und Verantwortung“. Diese doch recht schwammige Formulierung<br />
lässt viele Deutungen zu, ebenso die genannten Ausstellungsschwerpunkte<br />
des Museums <strong>für</strong> maritime Technik:<br />
- <strong>Rostock</strong> als Standort der Schiffbauindustrie in Vergangenheit,<br />
Gegenwart und Zukunft<br />
- <strong>Rostock</strong> als maritimer Technologiestandort - Schiffe der<br />
Zukunft- <strong>Rostock</strong> als Marinestandort<br />
- <strong>Rostock</strong> als Standort der Hochseefischerei<br />
- <strong>Rostock</strong> als Standort der Flugzeugindustrie in der 1. Hälfte<br />
des 20. Jh.<br />
- Die Entwicklung des Segelschiffes im Ostseeraum – Die<br />
Bewahrung des maritim-kulturellen Erbes durch traditionelle<br />
Segelschiffe.<br />
Erforderlich <strong>für</strong> eine langfristige Entwicklung des Schifffahrtsund<br />
Schiffbaumuseum <strong>Rostock</strong> bis zum Jahr 2018 zu einem<br />
maritimen Technikmuseum wäre neben den bestehenden Ausstellungsflächen<br />
der Neubau eines Ausstellungsgebäudes (Kosten<br />
etwa 7 Mill. Euro) sowie die Bereitstellung von Freiflächen<br />
<strong>für</strong> industrielle Großobjekte aus der <strong>Rostock</strong>er Technikgeschichte.<br />
Bei einer Verlegung des Traditionsschiffes käme nach<br />
Ansicht des <strong>Konzepte</strong>s als neuer Ort die Haedgehalbinsel im<br />
<strong>Rostock</strong>er alten Hafen in Frage.<br />
Probleme in Hülle und Fülle und trotzdem …<br />
Die unterschiedlichen Betreibermodelle und komplizierten Besitz-<br />
und Nutzungsverhältnisse und damit auch unterschiedlichen<br />
Interessen und Gegebenheiten werden es sicher nicht einfacher<br />
machen, die Zielvorstellung des <strong>Konzepte</strong>s erfolgreich<br />
durchzusetzen, die da heißt:<br />
Die inhaltliche Abstimmung und das gemeinsame Markendach<br />
„Museumslandschaft <strong>Rostock</strong>“ führen zu einem gedeihlichen<br />
Miteinander der vier Einrichtungen mit den unterschiedlichen<br />
Präsentationsschwerpunkten<br />
- Museum <strong>für</strong> Kunst- und Kulturgeschichte (Kulturhistorisches<br />
Museum),<br />
- Museum <strong>für</strong> moderne Kunst (Kunsthalle),<br />
- Museum <strong>für</strong> maritime Technik (bisher Traditionsschiff )<br />
- Museum <strong>für</strong> Volkskunde (Warnemünder Heimatmuseum)<br />
„Denn nur durch eine konzeptionelle Zusammenführung der<br />
musealen Angebote der Hansestadt kann der Museumsstandort<br />
<strong>Rostock</strong> in Mecklenburg-Vorpommern und darüber hinaus<br />
national wie international profiliert werden.“<br />
Ein noch größeres Problem sind die aufzubringenden Kosten.<br />
Im Konzept heißt es: „Insgesamt sind 22.708.000 € zu investieren,<br />
von denen allerdings „nur“ 9.218.650 € aus dem Haushalt<br />
der Hansestadt zu finanzieren sind. Die restlichen 13.489.350<br />
€ werden aus Fördermitteln unterschiedlicher Förderinstitutionen<br />
finanziert.“<br />
Auch hier ist der kein Prophet, der von einer schließlich deutlich<br />
höheren Summe ausgeht. Und der muss auch kein Pessimist<br />
sein, der dann das Konzept scheitern sieht, wenn nicht<br />
klar ist: Woher und wann kommen die Mittel <strong>für</strong> den notwendigen<br />
Eigenanteil aus dem Haushalt der Stadt, welche Fördermittel<br />
können überhaupt beantragt werden?<br />
Die strittigste Frage ist die nach der inhaltlichen Ausgestaltung<br />
eines Technikmuseums, dem Alleinstellungsmerkmal dieses<br />
Museums und seinem Standort. Viele Antworten stehen noch<br />
aus.<br />
Nun soll nach dem Willen des Kulturausschusses nicht nur eine<br />
neue, per Bürgerschaftsbeschluss geforderte Expertenkommission<br />
die Sache richten, sondern eine Lenkungsgruppe vorgeschaltet<br />
werden, bestehend aus: dem Oberbürgermeister, der<br />
Senatorin <strong>für</strong> Jugend und Soziales, Gesundheit, Schule und<br />
Sport, Kultur, der Leiterin der Städtischen Museen, der Vorsitzenden<br />
des Kulturausschusses, dem Rektor der Universität <strong>Rostock</strong>,<br />
dem Leiters des Schifffahrtsmuseums, dem Direktors des<br />
Deutschen Museums, einem Vertreters des Museumsverbands<br />
Mecklenburg-Vorpommerns. Diese Lenkungsgruppe soll die<br />
Expertengruppe einberufen.<br />
(http://195.37.188.171/bi/to020.asp?TOLFDNR=7008838<br />
&options=2)<br />
Der Expertenkommission könnten nach Meinung des Kulturausschusses<br />
angehören: der Direktor des Deutschen Museums,
0.26 __ //// KONZEPTIONELLES: STADTPOLITIK<br />
der Leiter des Schifffahrtsmuseums <strong>Rostock</strong>, ein Vertreter des<br />
Museumsverbandes Mecklenburg-Vorpommerns, die Direktoren<br />
des Deutschen Technik Museums Berlin und des Deutschen<br />
Schifffahrtsmuseums Bremerhaven. Sie sollen zu einzelnen<br />
Fragestellungen weiteren Sachverstand kooptieren und außerdem<br />
einen Vorschlag <strong>für</strong> Marketing und Tourismus machen<br />
und daraus einen Standort <strong>für</strong> das Museum entwickeln. Die<br />
Vorschläge würden dann der Lenkungsgruppe vorgelegt. Anschließend<br />
solle gemäß des Bürgerschaftsbeschlusses<br />
2009/AN/0548-03 ein breiter Diskussionsprozess organisiert<br />
und das Museumskonzept entsprechend überarbeitet werden.<br />
Warum eigentlich wieder ein so ungemein komplizierter Verfahrensweg<br />
mit faktischem Abschieben von Verantwortung?<br />
Warum geht es nicht sehr viel einfacher und zielführender, z.B.<br />
so:<br />
Laut Beschluss Nr. 2009/AN/0579 der Bürgerschaft (vgl.<br />
oben) hat der OB die Expertenkommission einzusetzen. Welche<br />
Aufgabe sie hat, ist formuliert. Die personelle Zusammensetzung<br />
legen OB, Kultursenatorin und Kulturausschuss gemeinsam<br />
und in Absprache mit den Fraktionen und kulturellen<br />
und musealen Einrichtungen fest, ohne Prozedere einer<br />
Findungskommission, ohne lange Verhandlungen mit auswärtigen<br />
Fachleuten, ohne zusätzliche Kosten <strong>für</strong> Reisen und Unterkunft,<br />
z.B. <strong>für</strong> den Direktor des Deutschen Museums (gemeint<br />
ist wohl das Deutsche Museum von Meisterwerken der<br />
Naturwissenschaft und Technik in München, wohl das größte<br />
Technische Museum in Europa). Diese Kommission setzt sich<br />
vornehmlich aus Experten aus M-V zusammen, mit den Rostokker<br />
Gegebenheiten und den historischen Fakten vertrauten<br />
sachverständige Frauen und Männer. Es gibt sie, man muss sie<br />
nur kennen und ihnen Verantwortung und Gestaltungsspielraum<br />
geben. Namen sind gerne nachzureichen.<br />
Konsultationen mit dem Sachverstand aus den anderen Bundesländern<br />
sind natürlich jederzeit möglich und willkommen.<br />
Diese Kommission entwickelt die Grundzüge eines Projektes<br />
<strong>für</strong> den Aufbau eines Technikmuseums, <strong>für</strong> seinen Inhalt, den<br />
Standort, die Kosten usw., einen Zeitplan, der zum Ziel in verschiedenen<br />
Schritten führt. Und das alles geht letztlich – wenn<br />
man es ernst meint mit dem Projekt - nicht ohne einen hauptamtlich<br />
tätigen Projektleiter und bei der Verwirklichung des<br />
Projektes auch nicht ohne eigenen Haushalt.<br />
Wertvolle Vorarbeiten liegen vor<br />
Bereits 2004/05 erarbeitete eine vom OB im Juni 2004 berufene<br />
Expertenkommission Technik und Verantwortung „Empfehlungen<br />
an die Hansestadt <strong>Rostock</strong>, in welcher Weise die Industrie-<br />
und Technikgeschichte, vor allem hinsichtlich der<br />
Flugzeugindustrie und der Person Ernst Heinkel zur Zeit des<br />
Nationalsozialismus aufgearbeitet und präsentiert werden<br />
kann. Dabei soll die individuelle und gesellschaftliche Verantwortung<br />
der handelnden Personen und Gruppen sowie die Perspektive<br />
der Opfer des Nationalsozialismus einbezogen werden.“<br />
(Bürgerinformationssystem, Vorlage - 0052/05-IV)<br />
In der bisherigen Diskussion zum Museumskonzept spielten<br />
die Ergebnisse kaum eine Rolle, die wenigsten kennen sie oder<br />
erinnern sich daran. Oder befördern die weiter existierenden<br />
unterschiedlichen Sichten auf das Verhältnis von Technik und<br />
Verantwortung das „Vergessen“? Wer die museale Darstellung<br />
von Technikentwicklung in erster Linie als eine Frage der Außenwirkung,<br />
des Marketings und der Aufwertung <strong>Rostock</strong>s als<br />
Wirtschaftsstandort betrachtet, möchte die Empfehlungen von<br />
2004 wohl gerne in der Schublade vergilben lassen.<br />
Es ist ein Trauerspiel, mit welcher Ignoranz die Empfehlungen<br />
der Kommission in der Versenkung verschwanden und wie viel<br />
Zeit damit wieder verloren ging.<br />
Bereits 2004 hatte die Expertenkommission festgestellt: „Historische<br />
Forschung und Quellensicherung bilden die Grundlage<br />
<strong>für</strong> eine sachliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.“<br />
Notwendig sei eine solide Grundlagenforschung. Nichts<br />
ist geschehen. Das Vorhaben, am Historischen Institut der<br />
Universität <strong>Rostock</strong> eine Honorarprofessur einzurichten, die<br />
Stadt und Universität nicht mehr als mit den Reisekosten belastet<br />
hätte, scheiterte an der völligen Gleichgültigkeit der Verantwortlichen<br />
an der Universität.<br />
Die Kommission hatte viele Einzelschritte in einem mehrstufigen<br />
Vorgehen empfohlen, in dem die Einwohner <strong>Rostock</strong>s auf<br />
unterschiedliche Weise eingebunden werden sollten und längerfristig<br />
ein attraktives, überregional bedeutsames Ausstellungsangebot<br />
entwickelt wird. Und sie machte ganz wesentliche<br />
Aussagen zum derzeit wieder so krampfhaft gesuchten Alleinstellungsmerkmal<br />
eines Technik-Museums (vgl. dazu Beitrag<br />
von Lutz Budraß in diesem Heft.)<br />
Wird es gelingen, diesmal das Knäuel aus unterschiedlichen Interessen<br />
und Sichten aufzulösen, das jahrelange Hin und Her<br />
der Diskussionen ohne klare Entscheidungen, die personellen<br />
Querelen und fachlichen Unzulänglichkeiten zu überwinden,<br />
die personellen und fachlichen, die finanziellen und wirtschaftlichen<br />
Ressourcen zu mobilisieren und das politische Durcheinander<br />
und Gegeneinander in Bürgerschaft und Verwaltung<br />
zu überwinden?<br />
Was würden Sie sagen, wenn schon nicht im März, aber eine<br />
überschaubare Zeit später ein erster Beschluss von der Bürgerschaft<br />
gefasst wird (ohne folgenden Widerspruch des OB!):<br />
„Das Traditionsschiff wird als ersten Schritt auf dem Weg zum<br />
Technikmuseum in den alten Hafen verholt und am günstigsten<br />
Platz <strong>für</strong> den Zugang vieler Besucher festgemacht. Schritt<br />
<strong>für</strong> Schritt werden entlang der Kaikante von den Silos bis zum<br />
zweiten großen noch stehenden Kran die Einzel-Exponate von<br />
den Freiflächen in Schmarl neu aufgestellt. Die von der Expertenkommission<br />
vorgelegten inhaltlichen Schwerpunkte und<br />
Arbeitsvorhaben sowie die zeitliche Abfolge der folgenden Arbeiten<br />
werden bestätigt.“<br />
Ich weiß, Sie sagen: unglaublich. - Aber vielleicht passiert auch<br />
in <strong>Rostock</strong> noch ab und an ein Wunder. ¬
FOTO: TOM MAERCKER
0.28 __ //// TITELTHEMA<br />
Welche Wahl lässt<br />
uns die Krise?<br />
CHRISTOPH KÖRNER<br />
Wenn es nach den Vertretern des Neoliberalismus ginge, dann<br />
hätten wir auch in der jetzigen Krise keine Wahl. Denn seit<br />
Margret Thatchers Leitspruch „There Is No Alternative“ geistert<br />
das TINA-Syndrom in der Welt umher und vergiftet die<br />
Köpfe von Politikern, Ökonomen und Geldbesitzern. Diese<br />
„TINA-Ideologie“, die uns erst in die Krise geführt hat, besagt,<br />
dass es zum Neoliberalismus keine Alternative gebe und darum<br />
dieser jetzt mit aller Macht erst recht durchgesetzt werden<br />
müsste. Und dies wird behauptet, obwohl die Krise gezeigt hat,<br />
dass Globalisierung, Liberalisierung und Privatisierung nicht<br />
wie propagiert zur allgemeinen Gleichheit und zu allgemeinem<br />
Wohlstand <strong>für</strong> alle führten, sondern das Gegenteil bewirkten.<br />
Aber auch die Pessimisten, die keinen Ausweg aus der gegenwärtigen<br />
weltweiten Gesellschafts- und Klimakrise sehen, weil<br />
es schon zu spät <strong>für</strong> ein Umsteuern sei, sind mit ihrer Alternativlosigkeit<br />
nicht besser als die neoliberalen Vertreter. Beide leben<br />
ohne Visionen und deshalb ohne Hoffnungen und sind<br />
deshalb untauglich zur lebenserhaltenden Gestaltung der Welt.<br />
Aber Krise heißt nicht Untergang sondern Entscheidung.<br />
Und deshalb stellt uns die Krise vor die Wahl, zuerst einmal<br />
Grundsatzentscheidungen zu fällen.<br />
So sollten wir uns jetzt in der Krise fragen: Müssen ausschließlich<br />
Märkte, Männer und Moneten unsere Welt beherrschen<br />
oder nicht doch eher lebensdienliche Maßstäbe <strong>für</strong> alle? Verstehen<br />
wir uns noch als Wertegemeinschaft oder schon als<br />
Wertpapiergemeinschaft? Sind wir, und besonders die Unternehmer<br />
und Eigner von Kapital, bereit, <strong>für</strong> Werte wie Demokratie,<br />
soziale Gerechtigkeit und Solidarität einzutreten und<br />
da<strong>für</strong> auch Opfer zu bringen? Wollen wir, dass die Politik des<br />
Gemeinwohls das Primat vor der Wirtschaft hat und darum<br />
dieser auch Rahmenbedingungen setzt oder wollen wir weiterwirtschaften<br />
wie bisher? Denn Daniela Dahn hat in ihrem<br />
jüngsten Buch („Wehe dem Sieger!“) das Krisensyndrom unse-<br />
rer Gesellschaft auf den Punkt gebracht: Der Kapitalismus<br />
muss aufhören, er selbst zu sein, „damit die Krise nicht auch die<br />
Demokratie in den freien Fall zieht.“<br />
Bevor man aber Strategien entwickelt, benötigt man ein Leitziel,<br />
eine Vision, denn schon in den Sprüchen Salomonis steht:<br />
„Ein Volk ohne Vision geht zugrunde.“ (Spr.29,18). Und das<br />
heißt: Der Weg aus diesem Dilemma führt nur über eine Vision<br />
von einer gerechten Gesellschaft, die die zukünftige Politik<br />
ethisch zielorientiert bestimmen muss. Diese Vision darf deshalb<br />
nicht mehr bei den Hoffnungen ansetzen, die wir durch<br />
Herrschaft über Mensch und Natur erreichen, sondern bei den<br />
Hoffnungen, um die Menschen bis heute betrogen werden,<br />
weil man sie ignoriert und nicht <strong>für</strong> sie da sein will.<br />
Deshalb müssen sich die Betroffenen selbst einmischen in die<br />
Verhältnisse, die sie unterdrücken. Durch die direkte Demokratisierung<br />
der Leidenden kommt es zu einer Globalisierung<br />
ihrer Hoffnung, wie sie sich jetzt schon weltweit in den globalisierungskritischen<br />
Bewegungen (Weltsozialforum) zeigt. Diese<br />
Demokratisierung neuer Bürgerbewegung wird zur Neuformierung<br />
gesellschaftlicher Verhältnisse führen, die drei grundsätzliche<br />
Reformen beinhaltet:<br />
1. Geldreform:<br />
Grundlage einer Geldreform wäre die Erkenntnis, dass Geld<br />
nur als Tauschmittel und Wertmesser fungieren dürfte und von<br />
seiner Funktion als Schatzmittel (Wertaufbewahrungsmittel)<br />
befreit werden muss. Denn Geld ist nichts anderes als ein effektives<br />
Transportmittel, das den Handel unterschiedlicher Waren<br />
zwischen Erzeugern und Verbrauchern ermöglicht. Das heißt<br />
konkret: Statt Zinsen müsste eine Nutzungs- und Umlaufgebühr<br />
erhoben werden (wie es heute schon die so genannten Regionalwährungen<br />
praktizieren), die verhindert, dass Geld um<br />
des eigenen Gewinns willen zurückgehalten wird. Der monetä-
e Kern jeder Kreditrendite könnte marktwirtschaftlich gegen<br />
Null tendieren, wenn der „Joker-Vorteil“ (Keynes) des Geldes<br />
durch eine Liquiditätsabgabe neutralisiert würde. Freilich<br />
müsste die Geldreform mit einer Bodenreform verbunden werden,<br />
weil sonst überschüssiges Geld in Bodenspekulationen<br />
fliessen würde.<br />
2. Bodenreform:<br />
Da Boden weder von Menschen produziert noch vermehrt<br />
werden kann, muss er Gemeinbesitz sein, der aber durch Pachtgebühren<br />
(z.B. Erbpacht) privat genutzt werden darf. So könnte<br />
der verpachtete Boden gegen ein laufendes Nutzungsentgelt<br />
zur Verfügung gestellt werden (Bodenrente, Erbzins), das dann<br />
zur Grundsicherung kinderreicher Eltern bereitgestellt werden<br />
könnte. In einem längeren Prozess könnte das bisherige Privateigentum<br />
von Boden in ein privates Nutzungsrecht umgewandelt<br />
und mit staatlichen Pachtabgaben belastet werden. Neben<br />
der Geld- und Bodenreform müsste gleichzeitig eine ökologische<br />
Steuerreform erfolgen.<br />
3. Steuerreform:<br />
Die neuen Steuergesetze müssten in zwei Richtungen gehen:<br />
a) Besteuerung der Produkte und Naturressourcen an Stelle<br />
von Steuern auf Einkommen, denn Arbeit muss von Steuern<br />
befreit sein.<br />
b) Die ökologischen Kosten der Produkte müssten in die Bemessung<br />
der Produktsteuer einfließen.<br />
Alle diese Reformvorhaben sind möglich, wenn wir zu einer<br />
nachhaltigen Form des Wirtschaftens zurückfinden. Dazu benötigen<br />
wir eine Doppelstrategie. Zum einen müssen wir Alternativen<br />
im Kleinen, in überschaubaren Gruppen bilden,<br />
die bewusst untereinander solidarisch handeln. Die kleine gesellschaftliche<br />
Netzzelle könnte somit eine Mikrokontrastgesellschaft<br />
zur großen kapitalistischen Gesellschaft sein und<br />
Vorbildcharakter <strong>für</strong> andere haben. So könnten Gemeinden in<br />
Verbindung mit anderen alternativen Gruppen eine Regionalwährung<br />
einführen.<br />
Zum anderen müsste in diesen Kontrastgruppen das Bewusstsein<br />
<strong>für</strong> alternatives Handeln gestärkt werden, wie zum Beispiel:<br />
- Nutzung alternativer Banken<br />
- Förderung nachhaltiger Investitionen, bei denen die Zinsrate<br />
nicht die Wachstumsrate übersteigt<br />
- Nutzung vor allem erneuerbare Energien (Stromanbieter<br />
wechseln!)<br />
- Schwerpunktlegung auf vorrangig lokale Produktion und<br />
Vermarktung von Grundnahrungsmitteln(wird durch Regionalwährung<br />
gefördert!)<br />
- Bildung neuer größerer und vernetzter Initiativen mit anderen<br />
gleichgesinnten Gruppen, um eine wachsende solidarische<br />
Sozialökonomie zu erreichen.<br />
Damit aber sind wir auf die zweite Strategie gestoßen, die wir<br />
als vernetzte alternative Weltgruppen, als Global Player, ausüben<br />
müssen: Die Bündnisbildung auf der Makroebene mit anderen<br />
sozialen Bewegungen (ATTAC und Gewerkschaften)<br />
zur Intervention gegen neoliberale Wirtschaftsinteressen transnationaler<br />
Konzerne und der mit ihrer Tätigkeit verbundenen<br />
Gewalt gegen Natur und Menschen, bei denen es um die demokratische<br />
und ökologisch verantwortliche Wiederaneignung<br />
der (gestohlenen) Ressourcen und der Früchte der gemeinsamen<br />
Arbeit geht. Die Praxis hat gezeigt, dass eine gerechte<br />
Globalisierung nur durch widerständige Sozialstaaten<br />
möglich ist, die durch ihre alternativen Basisbewegungen demokratisch<br />
beeinflusst werden. Deshalb gilt auch <strong>für</strong> uns heute,<br />
was Daniela Dahn feststellte:<br />
„Der Glaube an eine Gesellschaft, in der ‚die Freiheit des Einzelnen<br />
die Voraussetzung der Freiheit aller’ ist, bedeutet ein<br />
kompromissloses Festhalten an den Gründungsurkunden der<br />
Demokratie, insbesondere der UNO-Menschenrechtscharta.<br />
Die freiheitlichen Grundrechte sind unverzichtbar und müssen<br />
in jeder Gesellschaft neu verteidigt werden. Da<strong>für</strong> unerlässlich<br />
ist in den alternativen Entwürfen die Rückgewinnung des Primats<br />
der Politik gegenüber der Wirtschaft. Wer ein solches Primat<br />
schon einmal erlebt hat, hält die Forderung weder <strong>für</strong> naiv<br />
noch <strong>für</strong> unrealistisch. Die Lehre aus dieser Erfahrung besteht<br />
vielmehr darin, dass sich eine Politik, die ein Primat beansprucht,<br />
permanent demokratisch legitimieren muss[…]. Als<br />
Ergebnis wird eine Ökonomie mit vielfältigen Eigentumsformen<br />
beschrieben, die eine neue Balance zwischen Markt und<br />
Plan findet, weder zentralistisch noch dereguliert ist[…].<br />
Die Kontrolle und Besteuerung der internationalen Finanzmärkte<br />
und Konzerne würde auch berücksichtigen, dass alles<br />
umweltzerstörende Wachstum unser Überleben ernsthaft in<br />
Frage stellt. Preise hätten den Naturverbrauch zu berücksichtigen.<br />
Den Sinn des biblischen Zinsverbotes neu zu bedenken<br />
würde auch bedeuten, Visionen aus der Humanwirtschaftslehre<br />
zu prüfen. Wäre die Zinslogik des Kapitals gebrochen, ließe<br />
sich Wachstum verwandeln vom Umsatz in Umsetzen. Ein<br />
Umsetzen von Ideen in Bildung, Kultur und Forschung.“ (Daniela<br />
Dahn: Wehe dem Sieger! - Ohne Osten kein Westen.<br />
Reinbeck bei Hamburg: rowohlt 2009, S. 279).<br />
Finden wir uns nicht zu diesem Umsetzen zusammen, gleichen<br />
wir Menschen, die schon Bertolt Brecht so karikiert hat:<br />
„Sie sägten Äste ab, auf denen sie saßen,<br />
und schrieen sich zu ihre Erfahrungen,<br />
wie man schneller sägen könnte,<br />
und fuhren mit Krachen in die Tiefe;<br />
die ihnen zusahen, schüttelten die Köpfe<br />
beim Sägen - und sägten weiter.“ ¬
0.30 __ //// RÜCKBLICK<br />
Resümee, 20. Jahre danach<br />
Zwei Generationen oder 100 Jahre über 89/09.<br />
I. Namen und Tage: 1989<br />
JOACHIM COTARU<br />
Für Michael Krenkel gesegneten Andenkens<br />
und alle, mit denen ich damals sein durfte.<br />
Mit Dank an Pit Köppen.<br />
Immer dieses Foto. Das handgemalte Transpi, das uns jemand<br />
nach einer Samstagsdemo am Neuen Markt in die Hand drückte.<br />
Michi, Christian, Eckart, dann zwei, deren Namen mir<br />
nicht in den Sinn kommen, Martin, ich selbst ganz links.<br />
Freundschaften, Bekanntschaften, lange schon aus den Augen<br />
verloren, aus dem Sinn. Michi 1992 so viel zu früh gestorben.<br />
Dieses Foto. 1989? Was war das, frage ich, und wann?<br />
Kurz vor den damals anberaumten Kommunalwahlen, Anfang<br />
Mai, hatte ich mit Hilfe von Karl Schultz meinen Austritt aus<br />
der FDJ schriftlich verfasst und per Post abgeschickt. Lange<br />
hatte dies reifen müssen, über die Zeit in der Jugendgruppe bei<br />
Jochen Schmachtel und die Angst meiner Eltern hinaus: Done!<br />
Mich kotzte der ganze Laden an. Zugleich bereitete er mir<br />
Spaß mit den vielen Gelegenheiten, die er einem Heranwachsenden<br />
zur Provokation bot.<br />
Stefan Krawczyk war aus dem Land geschmissen worden,<br />
durch kräftiges Zutun eines Anwalts, dem wir alle mehr glaubten;<br />
doch die Lieder sangen und hörten wir genauso wie Biermanns.<br />
Seit einem Jahr beschäftigte ich mich mit den Fragen<br />
der Wehrdienstverweigerung – nicht aus Spaß, sondern weil<br />
wir schon so früh in der Schule angefragt wurden, ob wir nicht<br />
<strong>für</strong> unser Vaterland… Nein. Egal, zwei Wochen nach meinem<br />
Austritt hieß es in der Schule, dass das so nicht ginge und meine<br />
Klassenlehrerin Burmeister, fordert die Klasse, pardon:<br />
FDJ-Gruppe, zur Abstimmung auf. Einstimmig angenommen,<br />
was anderes war ja auch nicht vermittelt worden. Ich fand's<br />
sehr amüsant.<br />
Immerhin wollte ich ja bleiben und Pfarrer werden in der sozialistischen<br />
DDR. Auch das hatte ich schon geschrieben, weil es<br />
um die Motivation und Zulassung zur EOS ging, zur Oberstufe.<br />
Ich wollte bleiben, das war auch Tenor in unserer Familie<br />
und es war okay. Schließlich war man damit ja schon fast wieder<br />
Außenseiter in der eigenen Subkultur der Kinder aus oppositionellen<br />
Familien, kirchlichen Zusammenhängen und wie es<br />
so hieß. Nach den Wahlen, verließen mehrere von diesen <strong>Rostock</strong><br />
Richtung Westen. Das Reinemachen gegen die Anzeigenerstatter<br />
wegen Fälschung bei der Kom-munalwahl hatte begonnen.<br />
Plötzlich, ohne Ungarn oder Prager Botschaft, hieß es<br />
<strong>für</strong> Jan, Hanka und einige mehr Koffer packen. Auf einer Party<br />
in der Rennbahnallee erinnere ich mich der Wut, die wir hatten.<br />
Ich mag der Jüngste gewesen sein, die Älteren vielleicht<br />
siebzehn, achtzehn Jahre alt. Wir sangen Westernhagens „Freiheit“,<br />
kippten der Katze Petroleum auf den Schwanz, tranken<br />
viel zu viel, hörten und brüllten TonSteineScherben. Dann begann<br />
die Schulbuchverbrennung, Parteizeitungen als Zugabe.<br />
Die Lieder, die wir mochten, rissen wir vorher noch aus dem<br />
Musikbuch heraus: „Sag mir, wo Du stehst“ gehörte dazu,<br />
„…und welchen Weg Du gehst.“<br />
Im Juni hatte ich Aufnahmeprüfung am Kirchlichen Oberseminar<br />
Herrmannswerder, schon ahnend, dass ich <strong>für</strong> die EOS<br />
nicht gut genug wäre. Schon ahnend, dass meine Nische in der<br />
Zone, meine selbst reservierte Schublade mit „Pfarrer“ oder<br />
„Kirchenmusiker“ versehen sein würde. Wir bleiben hier, das<br />
hatten wir ja so gesagt. Als Pfarrer, so meinten Freunde damals,<br />
würde ich dann wohl mit Irokesenschnitt auf die Kanzel steigen.<br />
Wer weiß.<br />
Mit meiner bei der Aufnahmeprüfung gefundenen ersten Liebe,<br />
Friederike, schwärmte ich nicht nur in Ostberliner Abenden.<br />
Einmal klopften wir bei Eppelmann und brachten Buttons<br />
mit Slogans gegen das Massaker auf dem Tian’anmen-Platz unter<br />
das uns genehme Völkchen. Da war mehr als ein Kribbeln<br />
unter pubertären Brüsten; es juckte gewaltig in unsern Köpfen.<br />
Füssen und Händen.
Der Sommer verging mit Liebesbriefen und Familienurlaub<br />
und der Rückkehr in die verhasste Schule. Roland kam, um<br />
sich via Polen in den Westen zu verabschieden. Ansonsten war<br />
Ungarn-Welle angesagt und es gab eine Menge Klarstellungen<br />
in der Schule. Mal abgesehen von unserem Direktor und drei<br />
männlichen Kollegen, die in unterschiedlicher Art, doch nie<br />
ganz direkt ihren Unmut erkennen ließen, über die Sturheit der<br />
alten Säcke in Ostberlin. Die anderen Lehrer hatten's schon<br />
nicht ganz leicht, weil die Jungs (ja, leider…) in der Klasse sich<br />
doch laut über die DDR ärgerten.<br />
In Potsdam wurde ich angenommen, an der EOS nicht – das<br />
bekam ich in der ersten Schulwoche schriftlich. Irgendeine<br />
„volkswirtschaftliche Kennziffer“ sei an mir nicht ausreichend,<br />
hieß es. Ich hab mich immer gefragt, welche Zahl es wohl gewesen<br />
sei. Dass die Rechnung mit mir absehbar nicht aufgegangen<br />
wäre? Dass ich doch bitte verschwinden solle? Mit der<br />
EOS-Absage sagte ich mich auch vom Alltag los. Wir wollen<br />
Dich nicht, na danke.<br />
Es fing immer mehr an zu brodeln. Wir stemmten uns gegen<br />
den Topfdeckel, schlenderten an der Stasi vorbei zur Umweltbibliothek<br />
in der Michaeliskirche. Wieder TonSteineScherben,<br />
leicht angepasst auf unsere Verhältnisse: „Aus dem Weg, ihr<br />
Stalinisten, die letzte Schlacht gewinnen wir…“ Nicht gerade<br />
friedlich; von den Türmen der U-Haft gegenüber wurden alle,<br />
die ein- und ausgingen, kontinuierlich beglotzt. Bibel, Bakunin<br />
und Grundgesetz, das waren unsere Grundlagen. Oder was wir<br />
uns dazu dachten.<br />
Ende September kursierten kleine Zettelchen. Andacht in der<br />
Petrikirche, am 7. Oktober. Es stand auch noch „Vierzig Jahre<br />
DDR“ drauf – ich versah dies Thema auf dutzenden Zetteln<br />
mit einem Fragezeichen und kam mir wie ein Held vor. Und<br />
ging zu der Andacht. Habe ich damals während der Fürbitte<br />
tatsächlich diese alttestamentarische Losung gelesen, ob Er uns<br />
denn dieses Joch der Unterdrückung gegeben hätte, diesen<br />
Geist der Verzagtheit? Die Erinnerungen verschwimmen –<br />
aber nach der Andacht ging’s zum Uniplatz, man stand aufgeregt<br />
und unschlüssig am Pornobrunnen. Micha kam auf dem<br />
Rad vorbei und hatte Mannschaftswagen gesichtet – besser<br />
sollten wir zum Rathaus gehen. Weniger als zwei Dutzend<br />
Menschen standen vor dem Seitenflügel des Rathauses und wir<br />
hatten Kerzen dabei. Kein großes Aufmucken. Der Neue<br />
Markt wie leergefegt. Bullen in den Türen. Wir würden wiederkommen.<br />
Samstags.<br />
Samstags. Am 14.10. waren wir schon einige mehr gewesen.<br />
Mein Vater war in den USA zu einer Informationsreise, aber<br />
Zugriff auf die Schreibmaschine hatte ich schon früher gehabt.<br />
Unser Aufruf passte neunmal auf eine Seite, acht Durchschläge<br />
hämmerten wir hin. 80 Zettel am Ausgang der Marienkirche<br />
Donnerstagabend verteilt, auf Samstag gewartet. Ich hatte den<br />
Kirchgang ja im Blut, aber was suchten diese Leutchen denn alle<br />
da? Wir meinten: Falsche Adresse – geht gleich zum Rathaus!<br />
Und dann kamen sie, am 21. und 28. Oktober und auch<br />
am 4.November.<br />
Dann aber hatte es sich auch schon mit den Samstagdemos.<br />
Wir hatten nur einen von uns in eine eilig einberufene Versammlung<br />
geschickt, auf der entschieden werden sollte, welche<br />
Demo weiterzuführen sei. Die Samstagsdemo oder die unter<br />
Forumsführung. War ja eh klar: Heiliges Forum. Dirk hatte einem<br />
Stasimann an der Wohnungstür ein Megaphon in die<br />
Hand gedrückt, und die wahre Opposition hatte uns wissen<br />
lassen, dass wir nicht authentisch seien. Geht so nich, woll'n<br />
wir nich. Danke auch.<br />
Am 28.10. erwarteten uns vor dem Rathaus, am Ende der Demo,<br />
ein Podium mit Mikro und Lautsprechern. Es wurde ein<br />
Dialog mit dem aus Frankreich zurückgekehrten Bürgermeister<br />
Schleiff inszeniert. Uns regten die Fragen auf, die sich um den<br />
FOTO: SIEGFRIED WITTENBURG/ARCHIV SCHMIDTBAUER
0.32 __ //// RÜCKBLICK<br />
ganzen Krimskrams täglicher Kleinigkeiten drehten. Als ob das<br />
wichtig sei! Ich mag mich nicht ganz auf meine Erinnerungen<br />
verlassen: sie verfärben sich und schieben die Dinge dann in<br />
das Licht, das man sich wünscht… Aber es waren wohl Micha,<br />
Oliver und andere, die die Leute zur Seite schoben, bis wir hinter<br />
dem OB standen und das Mikrofon übernahmen. Wir hatten<br />
uns verständigt, dass ich klar seinen Rücktritt verlangen<br />
sollte – darum ging es doch, nicht um Beruhigungspillen.<br />
Es gab ja auch schon anderes. Der Linke Schülerbund (LSB)<br />
formierte sich. War das alles so wichtig? War es damals wohl.<br />
Der LSB war noch nicht gegründet, da schaute schon eine lustige<br />
FDJ-Abordnung in der Michaeliskirche vorbei, dass sie<br />
uns fertig machen würden. Ganz überzeugt, ganz ehrlich. Es<br />
zeichnete sich schon so was wie Marktwirtschaft ab.<br />
Egal – die Mauer fiel und der Schleier auch. Berlin im Rausch<br />
zu sehen, war toll. Mit Lutz am 11.11. abends bei Gisela an die<br />
Tür zu klopfen war ein Film. Die ersten Deutschlandbanner<br />
auf unsern Demos zu sehen, war noch verwunderlich, die Reaktionen<br />
auf unsere ablehnenden Reaktionen vertraut: „Verpisst<br />
Euch doch, ihr Wandlitzkinder!“ Hätten unsere Eltern<br />
sein können, waren sie aber zum Glück nicht. Hatten das Maul<br />
nie aufgekriegt – jetzt johlten sie. Sollten sie doch.<br />
Anfang Dezember diese Demo an der Kongresshalle. Im Namen<br />
des LSB schlug ich vor, dass Alexander Dubček eingeladen<br />
werden solle, die Symbolfigur des Prager Frühlings. Er starb<br />
wenige Jahre später, ohne dass daraus etwas geworden wäre. Ich<br />
begrüßte die TeilnehmerInnen als „Bürger der Freien und Han-<br />
JENS LANGER<br />
sestadt <strong>Rostock</strong>“, darauf hatten wir es beim Formulieren abgesehen.<br />
Die Dinge normalisierten sich bereits, bevor sie wirklich<br />
umgebrochen worden waren. Der Rausch der Bürgeranarchie<br />
neigte sich bereits seinem Ende zu. Immerhin wurde die „Tante<br />
Trude“ besetzt. Beim Silvester ins 1990er Jahr dort Auseinandersetzungen<br />
auf der Strasse mit den Kahlrasierten: ich schoss<br />
endlich einmal, mit Feuerwerksraketen, aber auf sie.<br />
In Rumänien habe ich begonnen, mich als deutscher Staatsbürger<br />
zu bekennen. Länger als im vereinten Deutschland lebe ich inzwischen<br />
hier und komme so selten wie gern zu Besuch an die Küste.<br />
Ich war damals fünfzehn. Die Jubeleien und Spiele heute lassen<br />
mich kalt. Weder damals noch heute musste ich mich um meine<br />
materielle Existenz sorgen. Was aber war das <strong>für</strong> ein Land, in<br />
dem man sich vor der ersten Akne über den Wehrdienst den Kopf<br />
zerbrechen musste, vor dem ersten Kuss sich versuchte politisch zu<br />
verorten, weil dazu gedrängt? Was <strong>für</strong> ein krankes System war<br />
das denn eigentlich, dem manche immer noch hinterherheulen?<br />
Was <strong>für</strong> eine kleinliche, widerliche Struktur mit der wir zu früh<br />
unsern Frieden versuchten? Je länger das alles zurückliegt, umso<br />
mehr ärgere ich mich über dieses verschwundene Land, in das ich<br />
geboren wurde. Wo sind wir heute, welche Regeln jagen uns und<br />
welchen wir hinterher?<br />
Und dann wieder dieses Foto. Wo wir lächeln. Weil die alten<br />
Männer mit ihren Hüten gerade die Logenplätze räumen. Weil<br />
wir glaubten, sie dabei voranzuschubsen.“Fußball hättest du damals<br />
spielen sollen“, hat Schippi einmal gesagt. Und er hatte recht<br />
damit. ¬<br />
II. Zusammenbruch mit Aufbruch nebst Anschluss.<br />
Viel früher als 1989 und vorläufig bis 2009.<br />
Am 6. Oktober 1959 wurde ich an der Universität Jena immatrikuliert.<br />
Das war am Vorabend des Staatsfeiertages zur Gründung<br />
der DDR und ist nun fünfzig Jahre her. Niemand hat mir<br />
gratuliert, abgesehen von einem Freund aus Norwegen, der es<br />
auf meine Aufforderung hin tat. Dabei war es ein Sieg. Denn<br />
mir war nach dem Abitur schriftlich jedes Studium im Lande<br />
untersagt worden. Ein Jahr danach war ich der brieflichen Aufforderung<br />
zur auch 1959 schon verspäteten Immatrikulation<br />
gefolgt und stand nun in der Administration der Universität.<br />
Der Beamte sagte: „Sie sind hier, um sich einzuschreiben“, und<br />
fuhr fort: „Aber Ihre Akten sind gar nicht hier.“ Er setzte nach:<br />
„Dann machen wir es eben ohne Akten.“ Ich vermute heute, das<br />
war keine Eingebung des Augenblicks, sondern es gab eine Absprache<br />
zwischen diesem Sachbearbeiter und dem Dekan mei-<br />
ner zukünftigen Fakultät. Arbeitsthese „Was ich nicht weiß,<br />
macht mich nicht heiß.“<br />
Meine Mutter hatte mich wegen angeblich politisch renitenter<br />
Äußerungen seit Jahren gewarnt: „Dich sperren sie noch einmal<br />
ein.“ Ich war immer schon ängstlich und wollte niemanden<br />
provozieren. Aber meine Zurückhaltung und mein Schweigen<br />
wurden in der ideologisch aufgeheizten Schule als Provokation<br />
missverstanden. Unpädagogische Reaktionen haben mir nicht<br />
geschadet. Das ist aber kein Verdienst solcher Lehrer 1 . Meiner<br />
Mutter antwortete ich regelmäßig: „Wir kriegen sie alle.“ Die<br />
konkrete Bezeichnung der zu Kriegenden ließ ich offen.<br />
Am 5.Dezember 1989 sprach ich auf dem Weg zur Arbeit wildfremde<br />
Menschen an: „Heute Nacht ist die Staatssicherheit
stillgelegt worden. Nun bringen wir sie alle vor Gericht.“ Einer<br />
reagierte: „Nicht alle. Die meisten haben nur ihre Pflicht getan.“<br />
Einen Tag später war ich Ko-Vorsitzender des „Unabhängigen<br />
Untersuchungsausschusses zur Sicherstellung und Überprüfung<br />
der Akten des Ministeriums <strong>für</strong> Staatssicherheit/Nationale<br />
Sicherheit“(UUA) in unserer Region. Nun hatte<br />
ich sie alle. Und was haben wir gemacht? In kurzen Abständen<br />
informierten wir in Kirchen und Presse über Prinzipien<br />
und Stand unserer Untersuchungen. Wir haben sie im Beisein<br />
eines Militärstaatsanwalts entwaffnet und da<strong>für</strong> gesorgt, dass<br />
die etwa 2000 hauptamtlichen Mitarbeiter ordnungsgemäß<br />
mit Papieren entlassen wurden. Mein Albtraum war, dass sich<br />
andernfalls marodierende Gruppen im Untergrund bewegen<br />
könnten, deren Angehörige sich gegenüber ihren Kindern als<br />
Märtyrer gerierten.<br />
Der Militärstaatsanwalt, immer in voller Montur, neigte sich<br />
uns, lediglich durch die Zeit und die Straße sowie allenfalls<br />
noch durch die randständige Verfassung in bürgerrechtlichidealer<br />
Auslegung legitimierten, Zivilisten erst kooperativ zu,<br />
als wir in seiner Gegenwart Briefbögen und Siegel seiner eigenen<br />
Behörde in Tresoren der Staatssicherheit entdeckten. Bei<br />
der Prozedur der Entwaffnung wirkte seine Anwesenheit vielleicht<br />
auch als eine Art Ausgleich <strong>für</strong> die reichliche Präsenz von<br />
Zivil gegenüber den in militärischen Kategorien lebenden Sicherheitsdienstlern.<br />
Außerdem verfasste der Ausschuss ein<br />
Buch über die Staatssicherheit in unserer Region.<br />
Bei Demonstrationen sah ich unseren fünfzehnjährigen Sohn<br />
und seinen Cousin in der ersten Reihe. Ich wusste auch, dass sie<br />
es waren, die zu diesen Manifestationen aufgerufen hatten. Mir<br />
schwoll der Kamm. Die protestantische Saat war aufgegangen.<br />
Ich veröffentlichte im <strong>Rostock</strong>er „Bürgerrat“, der ersten freien<br />
Zeitung in der DDR, am Tag, als sie die Presselandschaft mit<br />
dem leichten Morgenrot einer kommenden Zeit begrüßte<br />
(Auflage 25.000), einen Artikel: „Die protestantische Revolution“<br />
(7.12.1989).<br />
Nach einigen Monaten verließ ich den UUA. Die Belastung<br />
neben der regulären Arbeit spielte dabei eine Rolle, aber vor allem<br />
war mir klar geworden, dass im Vergehen eines Geheimdienstes<br />
auch der siegreiche Geheimdienst erscheint.<br />
Es stimmt, dass die Evangelischen eine wichtige Rolle in diesen<br />
Monaten und bei ihrer Vorbereitung spielten. Der römische<br />
Kardinal Sterzinsky (Berlin) reflektierte 1990 und noch neun<br />
Jahre später darüber, wieso seine Kirche den Anschluss an die<br />
Ereignisse verpasst hatte 2 . Jedoch bestand der protestantische<br />
Beitrag zu den Veränderungen neben dem Bestehen auf einem<br />
emanzipatorischen Menschenbild in Legitimation durch die<br />
einzige nichtintegrierte Institution im Staate und in Moderation.<br />
Es waren dabei anfangs durchaus nicht alle Kirchgemeinden<br />
offen <strong>für</strong> diese neuen Gäste und ihre bunten politischen<br />
Ziele, aber es fand sich zum Glück insgesamt eine repräsentative<br />
Zahl.<br />
Revolution allerdings fand nicht statt, und eine so genannte<br />
Wende gab es nur in den unterschiedlichen Vorstellungen von<br />
dieser, die in den Köpfen von Egon Krenz und Helmut Kohl<br />
herrschten, um die je eigene Herrschaft zu verlängern bzw. anzutreten<br />
3 .<br />
Bei realistischer Betrachtung der Vorgänge ergibt sich folgende<br />
Entwicklung: Ein System bricht zusammen, und zwar das<br />
Großreich Sowjetunion als Supersystem, aber auch die Systeme<br />
der einzelne Staaten des Warschauer Paktes. Eingeschlossen die<br />
DDR mit ihren ungezählten Subsystemen, die allesamt nicht<br />
mehr vital miteinander kommunizierten. Regierung und Bevölkerung<br />
seit langem nicht wegen sklerotischer Abschottung<br />
der Machthaber von der Wirklichkeit, die Partei und die Bedürfnisse<br />
der Bevölkerung seit längerem, Kultur und Politik<br />
schon früh, sozialistischer Anspruch und politische biedermeierliche<br />
Außenwirkung immer mehr.<br />
Während also die offiziellen staatlich institutionalisierten Kanäle<br />
der Kommunikation verstopfen und schließlich verfallen,<br />
bilden sich die informellen Kanäle der ethisch orientierten<br />
Gruppen zwischen Ökologie, Antimilitarismus, Feminismus<br />
und politischer Emanzipation heraus. Sie organisieren den<br />
Aufbruch im Zusammenbruch. Reale Machtverhältnisse und<br />
die ebenso realen Bedürfnisse der Bevölkerung machen aus diesem<br />
Aufbruch im wunderschönen Herbst unserer Anarchie<br />
den Anschluss an die Bundesrepublik Deutschland 4 .<br />
Keine gemeinsame Verfassung nach dem Grundgesetz, sondern<br />
Beitritt, Beitrittsgebiet und Beitrittsbürger. Wenn jemand das<br />
nicht <strong>für</strong> großes Glück halten sollte, müsste er das Ergebnis<br />
doch wohl <strong>für</strong> das kleinere Übel gegenüber realen Varianten<br />
des Möglichen halten können. Das alles ereignete sich freilich<br />
trotz deutscher Spezifik nicht in einem isoliert nationalen Rahmen,<br />
sondern Ereignisverlauf und das Ergebnis waren Produkt<br />
und Teil eines politischen Erdbebens in Europa mit weltweiten<br />
Auswirkungen. Es waren die Verhältnisse und ihr von ihnen getriebener<br />
Vollstrecker, Michail Gorbatschow.<br />
Meine Erklärung ist der Systemtheorie von Niklas Luhmann<br />
verpflichtet. Ich hatte zwischen 1985 und 1988 an einer Bestandsaufnahme<br />
der kulturellen Perspektive und des vorhandenen<br />
Potentials in der einzigen nicht völlig integrierten Institution<br />
im Staate gearbeitet 5 . Mir ging es um praktische Aspekte<br />
einer internationalen Debatte zur Durchsetzung und Verände-<br />
1 Vgl. Caritas Führer, Die Montagsangst, Köln 1998 1. Auflage<br />
2 Vgl. 1. Tagung der VI. Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, 23.25.2.1990, Synodeninformation Nr. 3; epd 7.11.1999<br />
3 Vgl. Theo Mechtenberg, Der Herbst '89 und die deutsche Einheit: Orientierung 73.Jg. Nr. 17, Zürich 15.9.2009; Martin Sabrow, Wende oder<br />
Revolution ? Keinesfalls nur eine scholastische Frage. Der Herbstumbruch vor 20 Jahren im deutschen Geschichtsbewusstsein: Neues<br />
Deutschland 21./22.11. 2009<br />
4 Vgl. lebendig werden. Die Stimme Hans-Jochen Vogels. Hgg. v. Elke Vogel u. a., Kückenshagen 2008
0.34 __ //// RÜCKBLICK | REZENSIONEN<br />
rung von Werten im Interesse von kultureller Innovation, und<br />
zwar im Blick auf die hiesigen Verhältnisse damals. Es hätte eine<br />
Handlungsanleitung werden können, im Dialog eigene Vorstellungen<br />
durchzusetzen. Luhmanns Positionen zu Kontingenz,<br />
Komplexität der Systeme und notwendige Ausdifferenzierung<br />
der Gesellschaft fand ich angemessen und konstruktiv.<br />
Als ich die Zusammenstellung abgeschlossen hatte, durfte sie<br />
wegen bürgerlicher Sprache und ihrer philosophischen Begrifflichkeit<br />
nicht publiziert werden. Und schließlich kam die<br />
DDR meinem Projekt abhanden durch Untergang.<br />
Hier angedeutete Erfahrungen und gewonnene Kenntnisse haben<br />
mich immer inspiriert, mich mit den Verhältnissen auseinanderzusetzen.<br />
Das ist ein Privileg der Gene oder des biblischen<br />
Vertrauens, wie man will, jedenfalls aber ein Geschenk<br />
aus der Freundschaft vieler Menschen, denen ich in alltäglichen<br />
oder einmaligen Situationen begegnet bin. Unter ihnen seit gerade<br />
20 Jahren einige authentische Marxisten.<br />
1953 sah ich mit Angst die sowjetischen Panzer, als der Junge,<br />
der ich war, neugierig zu den streikenden Werftarbeitern wollte.<br />
Gegen diese militärische Macht gab es keine Chance. Es war<br />
nichts zu machen. 1956 hörten wir über Radio Wien die ferne<br />
Stimme von Imre Nagy mit der Bitte um Hilfe. Es war nichts<br />
zu machen. 1968 beflügelten uns die Vorstellungen von Alexander<br />
Dubcek in Prag. Sie wurden niederkartätscht. Wir konnten<br />
wenig machen. In den siebziger Jahren weckten die Parteien<br />
der Eurokommunisten Hoffnungen. Aber das war weit weg,<br />
und konnte nicht unser Ding werden.<br />
1989 war alles anders. Die geschichtliche Zeit war weit vorangeschritten.<br />
Jetzt mussten wir etwas machen. Und wir taten,<br />
was wir konnten. Das war nicht viel, aber das leisteten wir. Moderieren,<br />
sich <strong>für</strong> Transparenz und Partizipation einsetzen. Keine<br />
protestantische Revolution, aber ich war als Protestant dabei.<br />
Mitglieder des UUA stellten sich sogar einmal zum Schutz<br />
vor Randalierern vor den Sitz des Geheimdienstes. Welche Paradoxie!<br />
Die Vernunft gebot sie. Ein Zehntel unser Stadtbevölkerung<br />
beteiligte sich an den Demonstrationen: 25.000. Das ist<br />
der Prozentsatz, den die Soziologen allgemein <strong>für</strong> den aktiven<br />
Bevölkerungsteil ansetzen. Wir warben um alle.<br />
Die Künstlerin Tisa von der Schulenburg hat das mit einer<br />
Skizze vom Oktober 1989 festgehalten: Die Menschen strömen<br />
aus unserer Kirche heraus zur Demonstration, und was rufen<br />
sie? „Wir bleiben hier - schließt euch an!“<br />
Wir wollten den leer gewordenen Raum mit unseren eigenen<br />
Vorstellungen füllen. Wir begannen damit. Der Rest ist bekannt.<br />
Alles, was wir taten, war notwendig, und trotzdem wa-<br />
ren wir Statisten der Geschichte. Es kam, wie es kommen musste.<br />
Das ist keine Enttäuschung, sondern Einsicht in die Notwendigkeit<br />
(bei Friedrich Engels übrigens eine Definition <strong>für</strong><br />
Freiheit). Die Komparserie ist <strong>für</strong> alle großen Aufführungen<br />
der tragende Hintergrund. Oft genug sind wir aus diesem Off<br />
herausgetreten.<br />
Die Menschen mussten weiterleben mit ihren Begabungen und<br />
Chancen, offenen Flanken und versteckten Geheimnissen 6 .Die<br />
Bewältigung des gesamten Geschehens sollte erfolgen durch<br />
viel Geld und Anpassung, musste erfolgen im Kulturschock<br />
und durch Widerspruch zu neuen Allgemeinplätzen. Um Eckpunkte<br />
einer humanen Existenz muss neu gekämpft werden 7 .<br />
Wir sammelten uns in den neunziger Jahren wieder oft am vertrauten<br />
Ort <strong>für</strong> die Beachtung von Menschen, ihrer Kompetenzen<br />
und der Solidarität. „Für Arbeit <strong>für</strong> alle“ hieß unser städtisches<br />
Bündnis zwischen Gewerkschaften, Parteien und Kirchen.<br />
Unter diesem Thema demonstrierten immerhin bis zu<br />
10.000 Menschen mitten im ausgereizten Konsumismus.<br />
Die Irakkriege und der G8-Gipfel bei <strong>Rostock</strong> brachten uns<br />
wieder auf die Straße. Die Erkenntnis dieses westlichen Politiktalks<br />
in Heiligendamm 2007 war auf seiten der phantastisch<br />
präsenten und ideenreichen Jugend des internationalen Widerstands<br />
gegen die Dominanz des Kapitals und ihrer älteren<br />
Weggenossenschaft: Frauen und Männer, die <strong>für</strong> mehr Demokratie,<br />
Gerechtigkeit und Partizipation auf die Straße gehen,<br />
werden als Gegner des Systems behandelt, und so agieren die<br />
Polizeikräfte ihnen gegenüber 8 .<br />
Das überforderte Sicherheitspersonal wird das erste Opfer einer<br />
in die Jahre gekommenen Hegemonialpolitik. Die deutsche<br />
Kanzlerin hat beim ersten Regierungsantritt erklärt: „Mehr<br />
Freiheit wagen!“ Nach diesem propagierten Mehr an Freiheit<br />
gibt es vor der Vereidigung der neuen Regierung mehr Sicherheitsüberwachung,<br />
mehr Krieg und eine soziale Spaltung der<br />
Gesellschaft. Die Brutalisierung in ihr spiegelt das Gewaltpotential<br />
des Staates wider, und ungezählt sind die Toten an den<br />
Grenzen Europas, das von Elenden nicht betreten werden soll.<br />
So können neoliberale Brandstifter zu Feuerwehrleuten des Systems<br />
berufen werden, nachdem sich die Selbstheilungskräfte<br />
des Marktes in den Orkus abgemeldet haben. Wer einen Staat<br />
hat untergehen sehen, weiß im Vergleich, dass im Zeichen der<br />
Globalisierung dieses System immer noch hocheffizient, komplex<br />
und ausdifferenziert ist. Aber Anzeichen einer fortschreitenden<br />
politischen, sozialen und ökonomischen Sklerose irritieren<br />
global und werden auch so wahrgenommen. ¬<br />
5 Jens Langer, Evangelium und Kultur in der DDR, 2 Bände, West-Berlin 1990<br />
6 Vgl. Pauline de Bok, Blankow oder Das Verlangen nach Heimat, Frankfurt/M. 2009<br />
7 J. Langer, Kulturen in der Krise. Die neuen Länder in der alten Bundesrepublik Deutschland: Orientierung (Zürich) Nr. 17, 15.9.1996<br />
8 Feindbild Demonstrant. Polizeigewalt, Militäreinsatz, Medienmanipulation. Der G8-Gipfel aus Sicht des Anwaltlichen Notdienstes. Hgg. v.<br />
Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein/ Legal Team, Berlin/Hamburg 2008
Kultur und Geschichte:<br />
Günter Wirth<br />
Günter Wirth starb am 5.12.2009<br />
JENS LANGER<br />
Als fünfzehnjähriger „Volkssturmmann mit der Panzerfaust am<br />
Fahrrad“ (G.W.) kam er 1945 nach Hause. Wie viele seiner Generation<br />
spürte der am 7.12.1929 im erzgebirgischen Brand-<br />
Erbisdorf geborene Günter Wirth die Befreiung real und wollte<br />
sich <strong>für</strong> eine neue Gesellschaft einsetzen. Noch 1945 gehörte<br />
er zu den Gründern eines örtlichen Antifaschistischen Jugendausschusses.<br />
Bereits 1946 trat er der Freien Deutschen Jugend<br />
bei, ein Jahr später der CDU. Die selbständige Kulturpolitik<br />
der frühen CDU empfindet er damals als Korrektiv gegenüber<br />
den Vorstellungen der SED.<br />
Für diese Zeit hat er seine Erfahrungen im Umgang mit seiner<br />
unorthodoxen Lektüre aufgezeichnet, die durch Familie und<br />
Nachbarn gefördert wurde, denen er in diesem handschriftlichen<br />
Skript ein dankbares Gedenken stiftet. Nach dem Freiberger<br />
Abitur wird ihm das Studium der Germanistik zunächst<br />
verwehrt, und er volontiert bei der Märkischen Union in Potsdam.<br />
Hier liegen die Wurzeln <strong>für</strong> spätere kulturgeschichtliche<br />
Studien zur Region, woran zuletzt die zwischen 1918 und<br />
1989 gespannte Untersuchung Der andere Geist von Potsdam<br />
(Suhrkamp 2000) erinnert.<br />
Während des schließlich doch möglichen und nach Unterbrechung<br />
erfolgreich abgeschlossenen Studiums übernimmt er<br />
hauptamtliche Aufgaben in der CDU-Parteileitung. Hier wird<br />
er persönlicher Mitarbeiter Otto Nuschkes, des stellvertretenden<br />
Ministerpräsidenten, der bis zu seiner Entmachtung durch<br />
einen SED-Staatssekretär <strong>für</strong> Kirchenfragen den Ansprechpartner<br />
der Kirche <strong>für</strong> Probleme mit der Staatsgewalt darstellte.<br />
Wirth gehörte bis zum Übergang dieser Partei in die CDU<br />
Helmut Kohls ihrem Hauptvorstand an, zuletzt als Leiter der<br />
Wissenschaftlichen Arbeitsgruppe bei Lothar de Maizière, dem<br />
neuen CDU-Vorsitzenden. 1972-1990 wirkte er auch als Vizepräsident<br />
des Kulturbundes, der sich ursprünglich durch einen<br />
funktionalen Zusatz auszeichnete: (...) zur demokratischen Erneuerung<br />
Deutschlands. Von 1985 bis 1990 war Wirth Honorar-Professor<br />
<strong>für</strong> Neueste Kirchengeschichte an der Berliner<br />
Humboldt-Universität mit reicher Herausgebertätigkeit.<br />
Dieses Leben scheint vordergründig als die Karriere von Funktionär<br />
und so genannter Blockflöte verlaufen zu sein, im Detail<br />
allerdings ist die Biografie komplexer. Als Vizechef der Neuen<br />
Zeit, dem Hauptblatt der DDR-CDU, wird ihm eines Montagsfrüh<br />
im März 1963 bei Arbeitsbeginn mitgeteilt, er sei<br />
nicht mehr stellvertretender Chefredakteur - das Gehalt liefe<br />
zunächst weiter. Ab 1963 arbeitete Wirth als Cheflektor des<br />
Union-Verlages. Hier förderte er Johannes Bobrowski, den östlichsten<br />
der Ostpoeten mit einer unverwechselbaren Stimme,<br />
die von Gott und Menschen in Litauen und Sarmatien sprach.<br />
In diesem Verlag erschienen auch die Erzählungen rumäniendeutscher<br />
Schriftsteller. Noch im Oktober 1989 diskutierten literarische<br />
Dissidenten aus Rumänien im deutschen Süd-West-<br />
Funk darüber, was davon zu halten sei.<br />
Im Verlag erscheint Fritz Baades Wettlauf zum Jahre 2000 mit<br />
dem herausfordernden und heute noch nicht eingelösten<br />
Schlusskapitel „Die große Zeit des Christentums“. Es werden<br />
gedruckt Teilhard de Chardins Der Mensch im Kosmos, von<br />
Weizsäckers Friedenspreisrede, Günther Anders. Es gibt Publikationen<br />
über M. L. King und Albert Luthuli, von Stauffenberg<br />
und von Moltke, und es schreiben hier eigenständige heimische<br />
Autoren, die die christliche Sozialisation ihrer Leserschaft<br />
fördern. Die ganze Richtung passte nicht, wie loyal sich<br />
der Autor auch selbst einschätzen mochte und wenn es auch<br />
opportunistische Veröffentlichungen, wie u. a. zum 20. Jahrestag<br />
der DDR geben mochte. Wirth musste den Schreibtisch<br />
des Cheflektors räumen. Ein Manuskript über das Wirken des<br />
Union-Verlages liegt nun unter den hinterlassenen Papieren.<br />
Eine Fundgrube <strong>für</strong> übersehene kulturgeschichtliche Besonderheiten<br />
in der DDR.<br />
Im Archiv der Konrad-Adenauer-Stiftung befindet sich Wirths<br />
erste selbständige Publikation Christliches Leben im neuen Rumänien<br />
(1954), in der Informationen verwendet werden, die<br />
Wirth 1953 bei Besuchen im Kontext der IV. Weltfestspiele<br />
der Jugend in Bukarest gewann. Diese Schrift zeigt den Willen<br />
zur Information aus einer abgeschotteten Gesellschaft und vor<br />
allem die engen Grenzen da<strong>für</strong>.
0.36 __ //// REZENSION | DEBATTE<br />
Welch eine Vielschichtigkeit des Textes hingegen ein Leben<br />
später etwa in der Studie über das römisch-katholische Engagement<br />
von Joachims Fests Vater in der Berlin-Karlshorster Pfarrgemeinde<br />
(FAZ 8.12.2007)! Hier sei der allgemeine Hinweis<br />
erlaubt auf eine Vielzahl solcher aus den Quellen erarbeiteten<br />
Spezialstudien auch in jüngster Zeit. Alle Intention wird deutlich<br />
in dem Sammelband Landschaften des Bürgerlichen<br />
(Duncker&Humblot 2008): Weit über, beispielsweise, Uwe<br />
Tellkamps vielfach hochgelobtes insulares Kulturresidium in<br />
der Belletristik hinaus vernetzt Wirth bürgerliche Geschichte<br />
und Kultur mit den Auseinandersetzungen der Politik. Damit<br />
verwahrt er sich gegen die Beschränkung des Kulturbegriffs auf<br />
ein bestimmtes Milieu, und sei es das dissidentäre in der Literatur.<br />
Vehement stritt er <strong>für</strong> diese Offenheit gegen Werner Mittenzweigs<br />
Werk Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland<br />
1945-2000 (die hochschule 1/2002).In Marxismus,<br />
Glauben, Religion, einer umfangreichen Rezension (Utopie<br />
kreativ H. 201/201 Juli/August 2007 ), setzt er sich mit vereinfachenden<br />
Positionen des Juristen Uwe-Jens Heuer (Marxismus<br />
und Glauben, Hamburg 2006) detailliert auseinander -<br />
„aus der Sicht eines protestantischen Laien, der sich in DDR-<br />
Zeiten als christlich-demokratischer Publizist und Historiker<br />
immer wieder mit dem Verhältnis von Marxismus und Christentum<br />
beschäftigt hat“ (G.W.).<br />
Als Chef der Monatsschrift STANDPUNKT (1973-1990) hat<br />
er bei aller Staatsloyalität eine gewisse Breite an Beiträgen ermöglichen<br />
können. Zuvor sollte sich das von ihm 1970-1972<br />
redigierte Evangelische Pfarrerblatt schon durch das Attribut<br />
vom Deutschen Pfarrerblatt in der Bundesrepublik abgrenzen.<br />
Heutigentags erscheint dort im Novemberheft eine zweispaltige<br />
Würdigung. Unter den zunehmenden Beschwerden des Alters<br />
hat Günter Wirth an seiner Autobiografie geschrieben. Da<br />
kann das Spektrum an Fragen und Antworten nur breiter werden.<br />
Am 2.12. teilte er mir in seinem nun letzten Brief mit, er<br />
wolle mit seinen Zeilen über die Verschlechterung seines Gesundheitszustandes<br />
wenigstens ein Signal senden. Drei Tage<br />
später starb er, zwei Tage vor seinem 80. Geburtstag. Er wusste<br />
Bescheid. ¬
Die Debatte um die Bewertung Ilja Ehrenburgs ist wieder aufgeflammt – so unsachlich und funktional, als hätte es die Informationsveranstaltungen<br />
der gleichnamigen Initiative und die Ausstellung im Peter-Weiß-Haus über sein Leben und Wirken nicht gegeben. Dabei sollten doch sogar<br />
seine Kritiker inzwischen über mehr Faktenwissen verfügen, als dies die Leserbriefe im <strong>Rostock</strong>er Blitz abbilden. Die Ilja-Ehrenburg-Initiative<br />
bemüht sich weiter um eine auf Sachkenntnis fußende Auseinandersetzung mit dem Thema - der nachfolgende Abdruck Textes eines Ehrenburg-Textes<br />
ist ein Beitrag dazu.<br />
Ilja Ehrenburg: Frohes neues Jahr, Moskau!<br />
(„Moskowski bolschewik“, 1. Januar 1945)<br />
ÜBERSETZUNG AUS DEM RUSSISCHEN: CORNELIA MANNEWITZ<br />
In seinem Neujahrsartikel schreibt Goebbels über Hitler: „Er<br />
verfügt über den sechsten Sinn, er weiß das, was anderen verborgen<br />
ist. Er ist ein deutsches Wunder. Alles andere ist erforschlich<br />
und verständlich, nur der Führer ist unerforschlich.<br />
Wenn er beim Gehen den Kopf ein wenig neigt, so erklärt sich<br />
das mit seinem pausenlosen Studium der Karte ...“<br />
Ich weiß nicht, was Goebbels den sechsten Sinn nennt, augenscheinlich<br />
die Abwesenheit der übrigen fünf Sinne. Hitler sieht<br />
zweifellos das, was anderen verborgen ist. So sah er zum Beispiel<br />
1941 den Fall Moskaus. 1942 sah er den vollständigen<br />
Sieg Deutschlands. Er sieht das, was es nicht gibt, und in anderen<br />
Ländern werden solche „Hellseher“ in eine psychiatrische<br />
Heilanstalt eingewiesen. Ich bin völlig einverstanden damit,<br />
dass der Führer ein deutsches Wunder ist. Aber ich mache eine<br />
Ergänzung: Jeder Fritz ist ein deutsches Wunder. Jeder Fritz ist<br />
<strong>für</strong> uns unerforschlich, denn wir verstehen nicht und können<br />
nicht verstehen, wie Wesen, die äußerlich Menschen ähneln, fähig<br />
sind, in speziellen Öfen Säuglinge zu verbrennen und Polster<br />
mit Frauenhaar zu stopfen. Aber am interessantesten sind<br />
Goebbels' Worte über die leichte Haltungsschwäche des Führers.<br />
Hitler hat also aufgehört, den Kopf hoch zu tragen, weil er<br />
zu oft auf die Karte schaut. Man muss annehmen, dass sich<br />
Hitler von diesem Anblick bald bis zum Boden krümmen<br />
wird: Denn die Karte spricht zu ihm von seinem Ende.<br />
Ich will nicht an die weiter zurückliegende Vergangenheit erinnern,<br />
aber erst vor einem Jahr überwinterten die Deutschen in<br />
Jalta und in Nizza, prassten in Paris, in Belgrad, in Riga, standen<br />
vor Leningrad. Innerhalb eines Jahres haben die Deutschen<br />
elf europäische Hauptstädte und alle ihre europäischen Verbündeten<br />
verloren. Der Krieg hat seinen Fuß auf den Boden<br />
Deutschlands gesetzt und jetzt ist allen klar, dass die Auflösung<br />
naht.<br />
Moskau hat viel Leid erfahren. Moskau wird die Tage nicht<br />
vergessen, als die Deutschen in Chimki waren. Über diesen<br />
Herbst werden wir mit den Deutschen in Berlin noch sprechen.<br />
Moskau bewahrt in seinem Gedächtnis die trauervollen<br />
Worte „Am Frontabschnitt Moshaisk ...“. Für die Kränkung, <strong>für</strong><br />
Links <strong>für</strong> das Jahr 2010:<br />
Kampagne zum 65. Jahrestag der Befreiung vom deutschen Faschismus: befreiung.blogsport.de<br />
Initiative Ilja Ehrenburg: www.rostocker-friedensbuendnis.de/initiative-ilja-ehrenburg<br />
die Sorge, <strong>für</strong> die Trauer, <strong>für</strong> die Wunden Moskaus werden sich<br />
die Deutschen verantworten. Sie werden den Moskauern zu<br />
antworten haben. Unsere Moskauer Freunde sind ja jetzt weit<br />
weg: in Norwegen, in Budapest, in Ostpreußen. Fern der Heimat<br />
denkt der eine an den Arbat, der andere an Sokolniki, wieder<br />
ein anderer an die Presnja. Bald werden sie durch die Straßen<br />
Berlins gehen: Dort wird ein ernsthaftes Gespräch zwischen<br />
Moskau und den Deutschen, zwischen den Richtern und<br />
dem Mörder stattfinden. 1945 wird die Antwort auf 1941 sein.<br />
Wir vergessen die Toten nicht. Wir erinnern uns an die, deren<br />
Seele in den schwärzesten Tagen nicht gewankt hat. Wir erinnern<br />
uns, wie sich unser Moskau erhob, wie die Abteilungen<br />
der Landwehr durch die Straßen gingen. Wir wissen, wie<br />
standhaft die Helden <strong>für</strong> Moskau kämpften, wie sie starben vor<br />
Wjasma und vor Moshaisk und vor Malojaroslawez, um Tula<br />
herum, vor Dmitrow, starben, aber nicht zurückwichen. Sie<br />
sind gestorben, damit Moskau lebe. Und Moskau - das ist mehr<br />
als eine Stadt, bei seinem Namen schwören Städte, auf es blikken<br />
voller Zuversicht die Völker. Moskau war, ist und wird<br />
sein. Und jetzt geht Moskau nach Westen, befreit die Beleidigten,<br />
schlägt die Beleidiger nieder, unser altes, liebes Moskau.<br />
Vor uns liegen noch viele Prüfungen. Das „deutsche Wunder“<br />
wandelt noch auf Erden. Der Führer sitzt noch über der Karte;<br />
er hat sogar seinen Fritzen zu Weihnachten eine echte Ersatz-<br />
Offensive beschert. Die Deutschen fletschen die Zähne. Sie liegen<br />
in den letzten Zügen und machen alles mit. Wenn sie in<br />
Budapest unsere Parlamentäre umgebracht haben, heißt das,<br />
dass sie nichts mehr zu verlieren haben. Sie wissen, dass wir keine<br />
Kindermörder in Rente gehen lassen. Moskau soll sich nicht<br />
vor der Zeit beruhigen. Siege sind uns zu wenig, wir brauchen<br />
DEN Sieg: den letzten und endgültigen - Berlin! Bis dahin<br />
werden wir uns nicht beruhigen. Von uns allen hängt es ab,<br />
dass die Auflösung schnell kommt. Wir haben uns zu Tode gesehnt<br />
nach dem wirklichen Leben, nach unseren Nächsten,<br />
nach dem Glück. Möge 1945 Deutschlands letztes Jahr werden!<br />
Möge es das Jahr unseres Glücks werden! ¬
BUCHVORSTELLUNG<br />
Nationalistische Macht und<br />
nationale Minderheit<br />
Jan Skala (1889-1945) - Ein<br />
Sorbe in Deutschland<br />
Peter Kroh<br />
Kai-Homilius-Verlag<br />
Berlin 2009<br />
Es lies der Autor Peter Kroh.<br />
Anschließend Diskussion.<br />
Ort: Peter-Weiß-Haus, Doberaner Str. 21<br />
Beginn: 19.30 Uhr<br />
Eintritt: frei<br />
Es laden ein:<br />
Bürgerinitiative <strong>für</strong> eine solidarische Gesellschaft e.V.<br />
STADTGESPRÄCHE<br />
SOBI e.V. im Peter-Weiß-Haus<br />
25.<br />
FEBRUAR 2010