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Konzepte für Rostock - Stadtgespräche Rostock

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GEDRUCKTE KÖRPERHALTUNG<br />

AUSGABE NR.<br />

WIE WEITER?<br />

MAGAZIN<br />

FÜR BEWEGUNG,<br />

MOTIVATION UND<br />

DIE NACHHALTIGE<br />

KULTIVIERUNG<br />

DER REGION ROSTOCK<br />

stadtgespraeche- rostock.de<br />

ISSN 0948-8839<br />

ERSCHEINT<br />

QUARTALSWEISE<br />

SEIT SEIT 1994 1994<br />

<strong>Konzepte</strong> <strong>für</strong> <strong>Rostock</strong><br />

Sybille Bachmann über Strategien <strong>für</strong> die Verwaltung der Hansestadt __ /<br />

Simone Briese: Warum <strong>Rostock</strong> eine aufstrebende Großstadt sein kann und wie __ /<br />

Felix Landmann zeigt ungenutzte Potentiale kommunaler Gestaltung auf__ /<br />

Benno Thiel über Public-Private-Partnerships, national und lokal __ /<br />

Lutz Budraß und Peter Köppen setzten die Debatte zum Museumskonzept fort __ /<br />

Christoph Körner fragt: Welche Wahl lässt uns die Krise? __ /<br />

Zwei Generationen oder 100 Jahre über 89/09: Joachim Cotaru & Jens Langer __ /<br />

Jens Langer in memoriam Günter Wirth __ /<br />

Ilja Ehrenburg zum 1.1.1945: Frohes neues Jahr, Moskau! __/<br />

15. JAHRGANG // ///____EINZELHEFTPREIS: 2,50 € ___///// JAHRESABO (4 AUSGABEN): 10,00 €


Schwalben erfreuen den Menschen, fressen Insekten, geben Hoffnung. Und bauen Nester. Gern auch in<br />

der alten Post, wo der Hausmeister nach dem Inhaber-/Betreiberwechsel die Anweisung erhielt, die Nester<br />

zu zerstören. Weniger Dreck. Weniger Reinigung. Weniger Hoffnung.


00.1 __ //// EDITORIAL | INHALT<br />

Liebe Leserinnen<br />

und Leser,<br />

Überlegt man dieser Tage, was <strong>Rostock</strong>, abgesehen<br />

natürlich von der Hansesail ;-), charakterisiert,<br />

fallen einem wohl recht schnell die vielen<br />

ungelösten Fragen und Probleme ein, die<br />

ebenso oft wie unzulänglich unter dem Schlagwort<br />

„Verschuldung“ zusammengefasst werden.<br />

Dieser Zustand hält irgendwie schon seit mehreren<br />

Jahren an, obwohl die Fristsetzungen aus<br />

Schwerin doch bereits 2007 nach Finale klangen.<br />

Eine Beschäftigung mit diesem Thema<br />

mag deshalb auf den ersten Blick altbacken und<br />

uninteressant erscheinen, was davon ablenkt,<br />

dass immer noch nach Lösungen gesucht wird,<br />

die Konzeptcharakter haben und nicht auf Blitzideen und Schnellschüssen basieren.<br />

Das aktuelle Heft enthält mehrere Beiträge, die sich um eine solche<br />

Konzeption bemühen – und erstaunlich konkrete Optionen aufzeigen.<br />

Als ebenso konstruktiv erweist sich ein zweiter Schwerpunkt des Heftes, dessen<br />

Beiträge die bereits im letzten Heft eröffnete Debatte um ein <strong>Rostock</strong>er<br />

Museumskonzept fortführen. Darüber hinaus kommt neben Alma Atemlos<br />

auch Ilja Ehrenburg persönlich zu Wort. Jens Langer und sein Sohn Jochen<br />

Cotaru blicken aus der Sicht zweier Generation noch einmal auf 1989 und das<br />

Wendejahr zurück.<br />

Reichlich Diskussionsstoff also, deshalb von mir nur einmal mehr die Ermunterung,<br />

sich mit Fortsetzung und Widerspruch aktiv zu beteiligen. In diesem<br />

Sinne wünsche ich Ihnen alles Gute <strong>für</strong> 2010 und eine motivierende Lektüre<br />

Ihre Kristina Koebe<br />

Inhalt dieses Heftes<br />

Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1<br />

A. Atemlos: Neuigkeiten aus der Provinz . . . . . . . . 2<br />

In eigener Sache 2.0/Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . 3<br />

Titelthema: Wie weiter? <strong>Konzepte</strong> <strong>für</strong> <strong>Rostock</strong><br />

S. Bachmann: Gegenwart absichern - Zukunft<br />

vorantreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5<br />

S. Briese: <strong>Rostock</strong> - eine aufstrebende<br />

ostdeutsche Großstadt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10<br />

F. Landmann: Eine <strong>Rostock</strong>er<br />

Momentaufnahme am Jahresanfang 2010 . . . . . . 14<br />

B. Thiel: Der Ausverkauf geht weiter . . . . . . . . . . 18<br />

Aktuelle Debatte:<br />

<strong>Rostock</strong> sucht sein Museumskonzept . . . . . . . . . . 21<br />

L. Budraß: „Opa war dabei.“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22<br />

P. Köppen: Die <strong>Rostock</strong>er Museumslandschaft<br />

in den Vorstellungen des Museumskonzeptes . . . 24<br />

Ch. Körner: Welche Wahl lässt uns die Krise? . . 28<br />

Resümee, 20. Jahre danach<br />

J. Cotaru: I. Namen und Tage: 1989 . . . . . . . . . . . 30<br />

J. Langer: II. Zusammenbruch mit Aufbruch<br />

nebst Anschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32<br />

J.Langer: Kultur & Geschichte - Günter Wirth . 35<br />

Ilja Ehrenburg: Frohes neues Jahr, Moskau! . . . . 37<br />

Wenigsten hier gibt’s Stabilität ...<br />

FOTO: TOM MAERCKER


00.2 __ //// GLOSSE | DANKSAGUNG | IMPRESSUM<br />

Neuigkeiten aus der Provinz<br />

liebevoll hinterfragt.<br />

In den vielen Bilanzen der <strong>Rostock</strong>er Kultureinrichtungen<br />

wurde auch im Jahr 2009 von Erfolg zu Erfolg geeilt. Die<br />

Stadt- und Messehallen hatten zum Beispiel 10.000 Besucher<br />

mehr zu verkünden als 2008.<br />

Ich habe mir das ja dieses Jahr auch mal gegönnt. Leider musste<br />

ich feststellen, dass das DDR-Interieur immer mehr verschandelt<br />

wird. So wurden jetzt neue Sitze eingebaut, die härter und<br />

unbequemer sind als die alten. Und im Rang sitzt man so eng<br />

wie bei Ryanair. Aber da<strong>für</strong> sind die Sitze bunt, einige rot, die<br />

meisten blau. So ist das im Westen - nichts hat sich gebessert,<br />

aber es ist bunter. Und richtig bunt wurde es, als ich auf einem<br />

roten Stuhl zu sitzen kam, der mit dem Namen unseres Oberbürgermeisters<br />

versehen war. Es dauerte dann eine ganze Weile,<br />

bis sich geklärt hatte, dass ich nun wirklich 120 Minuten auf<br />

dem Stuhl des Oberbürgermeisters Platz nehmen dürfe. Der<br />

Stuhl sei nämlich vorausschauend von Roland erworben worden,<br />

<strong>für</strong> die demnächst anbrechende Zeit, wenn er wieder auf<br />

die hinteren Plätze verwiesen werde. (Für alle die es genau wissen<br />

wollen: Rang links, Block C, Reihe 5.)<br />

Als die Vorstellung schon fast beginnen sollte, rauschte noch<br />

eine Blondine mit Gefolge auffällig unauffällig in den Saal, die<br />

Stadthallenchefin Frau Burmeister höchstselbst. Dann konnte<br />

es endlich losgehen. In der Pause waren alle Flure angenehm<br />

vom Duft von Halberstädter Würstchen erfüllt. Der hielt sich<br />

danach noch Wochen in der abgegebenen Garderobe. Womit<br />

das Finale eingeläutet ist: Nach der Vorstellung standen wir alle<br />

wie in alten Zeiten an der Garderobe an. Die Männer von der<br />

Security blickten aus sicherer Entfernung auf das Menschengewühl<br />

und schwatzten mit den Putzfrauen, während die Garderobieren<br />

sich die Füße wund liefen. Jeder an seinem Arbeitsplatz<br />

- alles zum Wohle usw. ... Nur Frau Burmeister, die habe<br />

ich in dem Chaos nicht entdecken können.<br />

Den Anfang mit den Erfolgsmeldungen hatte die Kunsthalle<br />

gemacht und 40.000 Besucher vermeldet und somit auch<br />

10.000 mehr als 2008. Und im nächsten Jahr wird alles noch<br />

besser und profilierter. Nachdem in diesem Jahr China today<br />

total Nippon war, will man sich 2010 noch mehr auf den Ostseeraum<br />

konzentrieren. Der Anfang wird gemacht mit „Riga<br />

dröhnt“. Da wird Herr Neumann zur Ausstellungseröffnung<br />

ordentlich seine Horst-Zimmermann-Gedächtnisfrisur schütteln<br />

und über die Konstanz der Subtilität der Ausstellungstitel<br />

referieren.<br />

Als ein weiterer Höhepunkt des Jahres 2010 sind Werke des<br />

Fotografen Paolo Roversi angekündigt. Um der Ostsee näher<br />

zu sein, ist Roversi vor einigen Jahren von Ravenna nach Paris<br />

gezogen. Besonders stolz ist die Kunsthalle, dass es gelungen<br />

ist, einige ca. 50 Jahre alte Strichmännchenzeichnungen aus<br />

dem Warnemünder Sand zu bergen und in einer Sonderschau<br />

zu präsentieren. Mehrere Gutachter haben inzwischen bestätigt,<br />

dass diese Relikte eindeutig Frühwerke von A.R. Penck<br />

seien. Der weilte nämlich als Kind mehrfach in Warnemünde,<br />

so wie alle Sachsen.<br />

Überhaupt geht es ja mit den <strong>Rostock</strong>er Museen und mit dem<br />

Museumskonzept voran. Mit Lenkungs- und Expertengruppen<br />

und allem was dazugehört. Nachdem 2005 eine Expertenkommission<br />

bereits festgestellt hatte, dass man auf dem Traditionsschiff<br />

keine Flugzeuge zeigen solle, wird jetzt eine Kommission<br />

eingesetzt, die wahrscheinlich das Gegenteil beweisen soll.<br />

Denn, so steht es im Konzept, spätestens 2018 sollen Schiffe<br />

und Flugzeuge gezeigt werden. Und weil Flugzeuge schon in<br />

Anklam, Peenemünde, Rechlin und bald auch in Wismar zu sehen<br />

sind, will die SPD von den Experten wissen, was denn das<br />

Alleinstellungsmerkmal des <strong>Rostock</strong>er Technikmuseums sein<br />

könnte. Da können die Experten viele Runden drehen.<br />

Auch ein Gang ins Kulturhistorische Museum lohnt immer.<br />

Bereits seit dem 04.Dezember 2009 wird dort eine kleine Ausstellung<br />

zur Wende mit folgendem Titel gezeigt: „Wir sind das<br />

Volk. Friedliche Revolution in <strong>Rostock</strong> 1989“. Ich hätte einen<br />

besseren Vorschlag <strong>für</strong> die Ausstellung gehabt: „Denn ihr sollt<br />

wissen, dass das Museum noch schläft ...“<br />

Aber das ist ja das noch herauszuarbeitende Alleinstellungsmerkmal<br />

des <strong>Rostock</strong>er Technikmuseums.<br />

Kommen Sie gut durch den musealen Winterschlaf.<br />

Ihre Alma Atemlos ¬


In eigener Sache 2.0<br />

Sie haben es inzwischen bemerkt: bei uns hat sich einiges verändert. Nicht<br />

nur dass wir unsere Ansprüche, Ziele und Hoffnungen („die nachhaltige<br />

Kultivierung der Region <strong>Rostock</strong>“) gelegentlich auf den Prüfstand stellen<br />

würden, manchmal werden wir auch durch äußere Anstöße in Bewegung<br />

versetzt. So z.B. mussten wir durch die Schließung des Copyshops (An dieser<br />

Stelle sei dem Copy-Team noch einmal ausdrücklich <strong>für</strong><br />

die langjährige und entgegenkommende Zusammenarbeit<br />

gedankt, ohne die die „<strong>Stadtgespräche</strong>“ nicht zu<br />

einer der inzwischen ältesten, noch publizierten<br />

Zeitschriften der Region geworden wäre!) über Nacht -<br />

übrigens im Wortsinn - eine neue Druckerei suchen, womit auch alle flankieren-<br />

den Parameter (Farbigkeit, Format, Versand, Lieferung, Konfektionierung inkl. deren Finanzierbarkeit etc.)<br />

zur Disposition standen.<br />

Inzwischen haben wir so manche Entscheidung treffen müssen - einige gewollt,<br />

andere notgedrungen. So werden wir häufig auf die neue „Aufmachung“<br />

angesprochen. Wir haben uns bemüht, trotz innovativer und zeitgerechter<br />

Gestaltung dem Kopier-Look der 80er Jahre auch weiterhin gerecht<br />

zu werden, allerdings wird es immer schwieriger, entsprechende Kopiergeräte<br />

zu finden, die diesem authentisch gerecht werden ...;-)<br />

Spaß beiseite. Die Druckkosten sind/waren nach der Umstellung auf „richtigen“<br />

Digitaldruck eine enorme Herausforderung, die viele unserer Abonnenten<br />

durch eine „solidarische“ Begleichung der Jahresrechnung abgemil -<br />

dert haben. Da<strong>für</strong> ein großes Danke an alle, die es einfach<br />

getan haben (und natürlich auch an die, die es vorhatten). Das hat uns sehr<br />

geholfen und wird die „<strong>Stadtgespräche</strong>“ auch 2010 sichern. Bei weiter steigenden<br />

Abonnentenzahlen werden wir perspektivisch sicher auch (wieder)<br />

FSC-zertifiziertes, klimaneutrales bzw. Recyclingpapier verwenden können.<br />

Ein erfolgreiches und gesundes 2010 wünscht,<br />

Tom Maercker. ¬<br />

Impressum<br />

<strong>Stadtgespräche</strong> Heft 57:<br />

„<strong>Konzepte</strong> <strong>für</strong> <strong>Rostock</strong>”<br />

Ausgabe Dezember 2009<br />

(Redaktionsschluss: 12. Januar 2010)<br />

Herausgeber (NEU)<br />

<strong>Stadtgespräche</strong> e.V. in Zusammenarbeit mit der Bürgerinitiative<br />

<strong>für</strong> eine solidarische Gesellschaft e.V. <strong>Rostock</strong><br />

und der Geschichtswerkstatt <strong>Rostock</strong> e.V.<br />

Redaktion und Abonnement (NEU)<br />

PF 10 40 66<br />

18006 <strong>Rostock</strong><br />

Fax: 03212-1165028 (NEU)<br />

E-Mail: redaktion@stadtgespraeche-rostock.de<br />

Internet: www.stadtgespraeche-rostock.de<br />

Verantwortlich (V.i.S.d.P.):<br />

Tom Maercker<br />

Dr. Kristina Koebe<br />

Redaktion:<br />

Dr. Kristina Koebe<br />

Tom Maercker<br />

Dr. Peter Koeppen<br />

Dr. Jens Langer<br />

Die einzelnen Beiträge sind namentlich gekennzeichnet<br />

und werden von den Autorinnen und Autoren<br />

selbst verantwortet.<br />

Layout: be:deuten.de //Klimagestalter<br />

Mediadaten:<br />

Gründung: 1994<br />

Erscheinung: 15. Jahrgang<br />

ISSN: 0948-8839<br />

Auflage: 200 Exemplare<br />

Erscheinung: quartalsweise<br />

Einzelheftpreis: 2,50 € (Doppelheft: 5,00 €)<br />

Herstellung: KDD<br />

Anzeigenpreise (Kurzfassung)<br />

(ermäßigt / gültig <strong>für</strong> 2010)<br />

3. Umschlagseite (Spalten-Millimeter-Preis): 0,25 €<br />

4. Umschlagseite (nur komplett): 145,00 €<br />

Details auf unserer Website im Internet<br />

Verkaufstellen in <strong>Rostock</strong>:<br />

Unibuchhandlung Thalia, Breite Str. 15-17<br />

Unibuchhandlung Weiland, Kröpeliner Str. 80<br />

die andere Buchhandlung, Wismarsche Str. 6/7<br />

Kröpeliner Tor, Kröpeliner Str.<br />

Sequential Art, Peter-Weiss-Haus, Doberaner Str. 21<br />

Made by Mira, Neue Werderstr. 4-5<br />

Bankverbindung (NEU)<br />

(<strong>für</strong> Abo-Überweisungen und Spenden)<br />

Kto.: 1203967<br />

BLZ: 13090000<br />

bei der <strong>Rostock</strong>er VR-Bank<br />

Abonnement:<br />

Jahresabonnement (4 Ausgaben): 10,00 €<br />

Jahressoliabo (4 Ausgaben): 20,00 €<br />

Einen Aboantrag finden Sie auf S. 12 (bzw. als<br />

PDF-Datei zum Ausdrucken und Ausfüllen auf<br />

unserer Website im Internet).


WIE WEITER?<br />

TITELTHEMA: KONZEPTE FÜR ROSTOCK<br />

FOTO: TOM MAERCKER


00.5 __ //// TITELTHEMA<br />

Gegenwart absichern -<br />

Zukunft vorantreiben<br />

Strategien <strong>für</strong> die Verwaltung der<br />

Hansestadt <strong>Rostock</strong><br />

Thesen zu den Denkanstößen<br />

DR. SYBILLE BACHMANN______//5.10.2009<br />

Die Hansestadt <strong>Rostock</strong> verfügt über viele innovative Ansätze<br />

und sollte ihre Zukunft selbstbewusst in die strategische Hand<br />

nehmen. Kommunalpolitik sollte helfen Grundrichtungen aufzuzeigen<br />

und Diskussionsplattformen herzustellen. Zufriedenheit<br />

mit einer Stadt erwächst aus der gebotenen Lebensqualität,<br />

Begeisterung aus Perspektiven und Beteiligung.<br />

Krise als Chance zu neuem Herangehen<br />

Kommunen stecken bundesweit in einer Finanzkrise, die sie<br />

überwiegend nicht selbst verursacht haben. Die Verschuldung<br />

entstand 2001-2005 in wirtschaftlich schwierigen Zeiten, die<br />

Aufschwungjahre 2006-2008 brachten positive Haushaltssalden.<br />

Diese Entwicklung erfolgte unabhängig von kommunalen<br />

politischen Verhältnissen. Für die Jahre 2009/10 brechen erneut<br />

Steuereinnahmen infolge von Wirtschaftskrise und Steuersenkungen<br />

weg, auch steigen erneut von Kommunen zu zahlende<br />

Sozialausgaben. Weder Negativ- noch Positivsalden sind<br />

den jeweiligen Bürgermeistern zuzuschreiben. Da Bund und<br />

Länder erhebliche Mitverantwortung <strong>für</strong> die dauerhafte Überschuldung<br />

tragen, stehen sie auch in der Mitverantwortung <strong>für</strong><br />

die Lösung der Finanzkrise der Gemeinden. Kommunen und<br />

Länder mit ihren Aufsichten sollten sich daher als Partner auf<br />

der Suche nach Lösungen verstehen. Entschuldung muss dabei<br />

bedachte Investition in die Zukunft sein, nicht kaputt Sparen.<br />

Ein integriertes Gesamtkonzept <strong>für</strong> die Stadtverwaltung müsste<br />

folgende Ebenen umfassen:<br />

- Zukunftskonzept mit Positionierung und Vision (Marktorientierung)<br />

- Ressourcen, Strukturen und Prozesse (Ressourcenorientierung)<br />

- Unternehmenskultur (Kulturorientierung).<br />

Hieraus leitet sich das Modell Konzept – Struktur – Kultur +<br />

Umsetzung ab.<br />

Erfolgsfaktor Konzept<br />

Eine strategische Entscheidung bezüglich einer Vision <strong>für</strong> die<br />

Stadtverwaltung <strong>Rostock</strong> ist erforderlich. Sie sollte in Übereinstimmung<br />

mit der Entwicklung des Landes und der Hansestadt<br />

stehen. Die Komponenten sind miteinander zu integrieren, damit<br />

Landes- und Stadtvision Realität werden und die Stadtverwaltung<br />

ausreichend Ressourcen erhält. Eine Vision <strong>für</strong> das<br />

Land M-V unter Berücksichtigung bestehender Potenziale<br />

könnte aus vier Komponenten bestehen: Tourismus-, Gesundheits-,<br />

Kultur- und Innovationsland. Die Visionselemente hängen<br />

dabei eng miteinander zusammen. Eine Stadt, die sich als<br />

kreativer Motor einer Zukunft ermöglichenden Regiopole versteht,<br />

benötigt eine Verwaltung mit entsprechender Vision,<br />

Mission, Strategie und Kultur. Als mögliche Vision wird „Partner<br />

<strong>für</strong> alle“, als mögliche Mission „Innovativer Problemlöser“<br />

vorgeschlagen.


00.6 __ //// TITELTHEMA<br />

Erfolgsfaktor Struktur und Prozess<br />

Auf der Basis einer Vision und Mission müssten die strategischen<br />

Ziele <strong>für</strong> die gesamte Stadtverwaltung festgelegt werden.<br />

Daraus ableitbar wären die Zielvorgaben <strong>für</strong> die einzelnen Senatsbereiche<br />

und daraus wieder die der Ämter. Die zahlreichen<br />

Änderungen des Organigramms der Stadtverwaltung und damit<br />

der Organisation in den letzten Jahren belegen, dass Verwaltung<br />

entgegen ihrer Aufgaben überwiegend politisch verstanden<br />

wird, strukturiert nach Einflussmöglichkeiten und<br />

(teilweise) persönlichen Vorlieben anstelle von Prozessabläufen.<br />

Mängel in der Organisation führten zu struktureller Verantwortungslosigkeit<br />

des Einzelnen durch Vielzuständigkeiten,<br />

zum Kampf um Ressourcen, zu Redundanzen, Kompetenzgerangel,<br />

höherem Bedarf an Führungskräften, hohem Kommunikationsaufwand<br />

und gegenseitigem Ausspielen von Mitarbeitern.<br />

Aufgrund vielfältiger Beziehungen und wechselseitiger Abhängigkeiten<br />

sollte eine Umgestaltung der Aufbau- und Ablauforganisation<br />

der Stadtverwaltung synchron erfolgen, unter Zuhilfenahme<br />

der Musterorganisation der KGSt (Kommunalen<br />

Gemeinschaftsstelle). Die Organisationsstruktur muss frei von<br />

Interessen- und Machterwägungen erfolgen.<br />

Anpassung von Managementsystemen<br />

Es bedarf zuallererst der Aufnahme der Dienstleistungsorientierung<br />

als zentralem Wert in die Organisationsphilosophie der<br />

Stadtverwaltung sowie deren konsequenter Umsetzung.<br />

Grundgedanke muss sein: Unterstützung statt Reglementierung.<br />

Dies kann nur durch eine Vorbildfunktion der Führungskräfte,<br />

eine flache Organisationsstruktur, Teamstrukturen sowie<br />

ein hohes Maß an Delegation erfolgen. Neben der Anpassung<br />

von Strukturen in Sinne einer Beziehungsorientierung<br />

muss eine Anpassung der Managementsysteme erfolgen (Personalmanagement,<br />

Qualitätsmanagement, Zins- und Schuldenmanagement<br />

etc.*)<br />

Erfolgsfaktor Kultur<br />

Die Stadtverwaltung <strong>Rostock</strong> ist der Hierarchie-Kultur zuzuordnen.<br />

Derartige Unternehmenskulturen weisen die niedrigste<br />

Beziehungs- und Kundenorientierung auf. Eine allmähliche<br />

Veränderung ist dringend anzuraten. Als Zielkultur wird eine<br />

Kultur vorgeschlagen, die folgende Kennzeichen hat:<br />

- Kunden- und Anspruchsgruppenorientierung (Wertschätzung,<br />

Zusammenarbeit)<br />

- Mitarbeiterorientierung (Wertschätzung; Offenheit, Klarheit,<br />

Vertrauen in der Kommunikation; Teamarbeit; situativer,<br />

meist kooperativer Führungsstil)<br />

- Unternehmensorientierung (Identifikation; loyales, konfliktbereites,<br />

solidarisches, engagiertes Verhalten)<br />

- Ergebnisorientierung (Kosten-, Qualitäts-, Leistungsorientierung)<br />

- Flexibilitätsorientierung (Wandlungsbereitschaft, Anpassung<br />

von Strukturen und Prozessen)<br />

- Wettbewerbsorientierung (Suche nach besseren Lösungen;<br />

Annahme von Herausforderungen)<br />

- Innovationsorientierung (Offenheit <strong>für</strong> Neues; Kreativität;<br />

Dynamik; Erschließen neuer Ressourcen).<br />

Eine solche Kultur würde nicht nur intern wichtige Potentiale<br />

erschließen, sondern die Stadtverwaltung auch nach außen fit<br />

<strong>für</strong> die Zukunft machen.<br />

Erforderlich ist ebenso die Umsetzung eines Leitbildes der<br />

Stadtverwaltung als Selbstverpflichtung. Das im April 2005<br />

von der Verfasserin als Entwurf übergebene Leitbild ist bis heute<br />

nicht wirksam geworden. Die Leitsätze sind: Wir sind <strong>für</strong><br />

die Bürger da. Wir sind offen <strong>für</strong> Veränderung. Wir sind transparent.<br />

Wir denken wirtschaftlich. Wir sind leistungsorientiert.<br />

Wir sind einander Partner. Wir fördern Selbständigkeit.<br />

Wir arbeiten mit der Bürgervertretung gemeinsam. Wir setzen<br />

die Verwaltungsreform konsequent um.<br />

Auch die Stadtverwaltung hat eine Corporate Social Responsibility<br />

(CSR), soziale Verantwortung, die sich daran misst, in<br />

welchem Maße sie zu wirtschaftlichem Wohlstand, Umweltqualität<br />

und Sozialkapital beiträgt. Die ökonomische Dimension<br />

zielt dabei auf langfristige Erträge aus den vorhandenen<br />

Ressourcen, die ökologische Dimension auf den schonenden<br />

Umgang mit diesen Ressourcen und der Natur allgemein und<br />

die soziale Dimension auf die Verteilungsgerechtigkeit, d. h. eine<br />

intra- und intergenerative Gerechtigkeit. Sowohl bei der<br />

Personalentwicklung als auch bei der Neueinstellung von Mitarbeiter/innen<br />

sollte die Stadtverwaltung auf das ehrenamtliche<br />

Engagement von Bewerber/innen Wert legen. Gleiches gilt<br />

<strong>für</strong> Bewerber/innen, die durch die Erziehung von Kindern<br />

oder Pflege von Angehörigen Familienlasten getragen haben.<br />

Haushaltssicherung<br />

*Eine ausführliche Beschreibungen dieser Reorganisation jedes einzelnen Managementsystems finden Sie<br />

in der kompletten Fassung des Papiers unter www.stadtgespraeche-rostock.de<br />

Die Sicherung des Haushaltes der Stadtverwaltung <strong>Rostock</strong> ist<br />

nur möglich im Dreiklang von<br />

Erledigung der Hausaufgaben, Verhinderung der Selbstaufgabe<br />

und Neuem Politikansatz. Kern der Erledigung der Hausaufgaben<br />

ist die Erlangung einer nachhaltigen Haushaltsführung,<br />

durch die eine Neuverschuldung verhindert und Altschulden<br />

langfristig abgebaut werden. Als Mittel dienen eine frühzeitige<br />

Reaktion auf den demografischen Wandel, die Modernisierung<br />

der Verwaltung und die Konsolidierungspolitik. Von entscheidender<br />

Bedeutung ist die Durchführung einer umfassenden<br />

Aufgabenkritik, ausgerichtet am Ergebnis <strong>für</strong> die Gesellschaft<br />

bzw. den Bürger. Der Grundsatz muss lauten: Intelligent managen<br />

statt mit der Rasenmähermethode sparen.


Bei der Verhinderung der Selbstaufgabe geht es um das politische<br />

Handeln der Stadt nach außen, z.B. durch die Unterstützung<br />

bundesweiter Initiativen wie Reform der Gemeindefinanzierung,<br />

Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und Änderung<br />

von Steuermodellen. Zu einer externen Handlungsstrategie<br />

zählt auch der Umgang mit Landtag, Landesregierung und<br />

Kommunalaufsicht M-V. Dialog statt Konfrontation sollte das<br />

Leitmotiv sein. Politisches Handeln nach außen sollte ebenso<br />

die entwicklungs- und verwaltungspolitische sowie administrative<br />

Zusammenarbeit im interkommunalen Bereich beinhalten.<br />

Gerade im administrativen Bereich gibt es hier viel Nachholbedarf.<br />

Zukunft der Stadt? - Stadt der Zukunft!<br />

Die Stärken/Schwäche sowie Chancen/Risiken der Stadtverwaltung <strong>Rostock</strong> (SWOT)* sind u. a.:<br />

INTERNE<br />

FAKTOREN<br />

STÄRKEN<br />

- Fachkräftequalität<br />

- Engagement der Mitarbeiter<br />

- Vielseitigkeit<br />

- Steuerungsfähigkeit von Prozessen<br />

SCHWÄCHEN<br />

EXTERNE<br />

FAKTOREN<br />

-Überalterung<br />

-Misstrauenskultur<br />

- öffentliche Wahrnehmung<br />

-Bürokratie<br />

- unflexible Strukturen<br />

- schwache Vertriebsstruktur<br />

- uneinheitliches Handeln<br />

- Verantwortungsabgabe durch Vielzuständigkeit<br />

- fehlende Darstellung sozialer Verantwortung<br />

CHANCEN<br />

- Einbindung in Stadt/Region<br />

- überregionale Verankerung<br />

- politische Verankerung<br />

- Auslandskooperationen<br />

-Image<br />

Nutzen von Möglichkeiten durch Einsatz<br />

von Stärken<br />

- Verstärkung der Kooperationen mit<br />

Unternehmen, Universität und<br />

dem Umland bis hin zur Teilung von<br />

Aufgaben<br />

- Einbindung in bundesdeutsche Netzwerke,<br />

mit Schwerpunkt Nord- und<br />

Ostdeutschland<br />

- Einbindung <strong>Rostock</strong>er Landtagsund<br />

Bundestags abgeordneter sowie<br />

EU-Abgeordneter aus M-V<br />

- Ausbau der Auslandskooperationen<br />

- Vernetzung von Initiativen<br />

- Förderung des Ehrenamtes<br />

Eliminieren von Schwächen zur Nutzung<br />

von Chancen<br />

- Einstellungskorridor <strong>für</strong> junge Fachkräfte<br />

- Verabschiedung und Umsetzung eines<br />

Leitbildes<br />

- Entwicklung des Selbstverständnisses<br />

als Dienstleister <strong>für</strong> die Bürger<br />

- Abflachung von Hierarchien<br />

- Übertragung von Verantwortung<br />

und Budget auf jeweils Zuständige<br />

- Aufbau integratives Kommunikationsmanagement<br />

Der Neue Politikansatz besteht in dem Gedanken, dass die Sicherung<br />

des Haushaltes der Stadtverwaltung zuallererst strategische<br />

Entscheidungen in Bezug auf eine Vision <strong>für</strong> die Hansestadt<br />

<strong>Rostock</strong> verlangt. Auf Basis dieses Zukunftsbildes sind<br />

konkrete Ziele und Wege zur Erreichung festzulegen, mit entsprechenden<br />

finanziellen Prognosen bzw. Kennzahlen. Der<br />

entscheidende Faktor ist dabei der Wandel der Kultur.<br />

RISIKEN<br />

-Kaputt-Sparen<br />

- Verbürokratisierung<br />

- Überregulierung<br />

Einsatz von Stärken zur Entschärfung<br />

von Bedrohungen<br />

- Abschluss mehrjähriger Zielvereinbarungen<br />

mit dem Land M-V<br />

- Durchführung von politischen<br />

Stammtischen mit dem Landtag<br />

(„Politisch essen“)<br />

Abbau von Schwächen zur Reduzierung<br />

von Risiken<br />

- Verstärkung der Wahrnehmbarkeit<br />

vorhandener Kompetenzen und<br />

übernommener sozialer Verantwortung<br />

* Bei dieser Art der Analyse werden die internen Stärken und Schwächen sowie die externen Chancen und Risiken miteinander<br />

in Beziehung gesetzt. Daraus sind geeignete Strategien bzw. Maßnahmen/Aufgaben abzuleiten (siehe Anlage).


0.8 __ //// TITELTHEMA<br />

Vorschläge zu einzelnen kommunalen Unternehmen/Beteiligungen der Hansestadt <strong>Rostock</strong>:<br />

Unternehmen<br />

<strong>Rostock</strong>er Straßenbahn AG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />

Stadtwerke <strong>Rostock</strong> AG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />

Stadtentsorgung <strong>Rostock</strong> GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />

Flughafen <strong>Rostock</strong> – Laage – Güstrow GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />

<strong>Rostock</strong>er Versorgungs- und Verkehrsholding GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />

Kommunale Objektbewirtschaftung und -entwicklung (Eigenbetrieb) . . . .<br />

WIRO Wohnungsgesellschaft mbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />

<strong>Rostock</strong>er Gesellschaft <strong>für</strong> Stadtentwicklung mbH. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />

Hafen-Entwicklungsgesellschaft <strong>Rostock</strong> mbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />

Fracht- und Fischereihafen GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />

<strong>Rostock</strong> Business GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />

Technologiepark Warnemünde GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />

IGA <strong>Rostock</strong> 2003 gGmbH<br />

<strong>Rostock</strong>er Messe- und Stadthallen GmbH<br />

Großmarkt <strong>Rostock</strong> GmbH<br />

Tourismuszentrale <strong>Rostock</strong> & Warnemünde (Eigenbetrieb)<br />

}<br />

Theater gGmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />

Zoologischer Garten <strong>Rostock</strong> gGmbH. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />

Klinikum Südstadt (Eigenbetrieb) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />

Bemerkung/Vorschlag<br />

Erneuerung des Beherrschungs- und Gewinnabführvertrages<br />

mit der RVV zum 01.01.2011<br />

Verstärkung interkommunaler Kooperationen<br />

Verstärkung interkommunaler Kooperationen; Prüfung des<br />

Anteilszukaufs (Rekommunalisierung)<br />

verstärkte finanzielle Einbindung des Landes bzw. weiterer<br />

Regionen (de facto Landesflughafen)<br />

Steigerung der Ausschüttungen an die Hansestadt <strong>Rostock</strong>;<br />

Anpassung des Holdingportfolios (beteiligte Unternehmen)<br />

Übernahme des kompletten Immobilienportfolios sowie Prüfung<br />

der Übernahme des kompletten entsprechenden Dienstleistungsmanagements<br />

Konzentration auf das Kerngeschäft; Veräußerung von Nebengeschäften;<br />

Verkauf von bis zu 5.000 Wohnungen in Einzelpaketen<br />

an Genossenschaften oder Wohnungsunternehmen<br />

(nicht Fonds); Kauf interessanter Wohnungen zur Portfolioverbesserung<br />

Auflösung durch Überführung der Aufgaben in die WIRO<br />

GmbH oder den Eigenbetrieb KOE<br />

weiterer Ausbau der Infrastruktur<br />

Ausbau der positiven Entwicklung im Umschlagsbereich,<br />

evtl. Ausweitung auf Überseehafen; Übertragung der Infrastruktur<br />

an HERO<br />

weitere Stärkung von Handlungsspielräumen<br />

verstärkte Nutzung als Standort <strong>für</strong> start up- Unternehmen;<br />

Verringerung der Dauernutzung<br />

Zusammenfassung in einer Veranstaltungs-Holding, einschließlich<br />

Hanse Sail Büro und Warnemünder Woche; Qualitätssteigerung,<br />

Zielvereinbarung(en); Zuschussreduzierung<br />

keine Fusion mit Schweriner Theater, aber interkommunale<br />

Zusammenarbeit; mittelfristige Zielvereinbarung; Einnahmeverbesserung;<br />

ggf. Bildung einer Kultur- und Bildungsholding<br />

(mit Volkshochschule, Konservatorium, Museen und<br />

Zoo)<br />

Bildung einer Anstalt Öffentlichen Rechts auf Basis eines geänderten<br />

Landesgesetzes (Herbst) sowie verstärkte Kooperation<br />

mit dem Universitätsklinikum; Ausbau der positiven<br />

Wirtschaftsergebnisse (Gewinnabführung) ¬


FOTO: TOM MAERCKER


0.10 __ //// TITELTHEMA<br />

<strong>Rostock</strong> - eine auf-<br />

strebendeostdeut- sche Großstadt?<br />

SIMONE BRIESE<br />

<strong>Rostock</strong> in Zukunft<br />

<strong>Rostock</strong> gehört, neben Potsdam, Erfurt und Jena, laut einer<br />

Studie der Bertelsmannstiftung zu den 6 aufstrebenden ostdeutschen<br />

Großstädten. Die Studie vergleicht Wirtschaftskraft,<br />

Bevölkerungswachstum und Innovationspotential der<br />

Großstädte. Sie bescheinigt den betrachteten Städten dynamischen<br />

wirtschaftlichen Strukturwandel mit hohem Wachstumspotential,<br />

unterdurchschnittliche künftige Alterungsprozesse<br />

sowie einen Trendwechsel von Schrumpfung zu künftigem<br />

Bevölkerungswachstum. Das gilt auch <strong>für</strong> <strong>Rostock</strong>, auch<br />

wenn unsere Stadt in der 6-er Reihe als schwächster Kandidat<br />

eingestuft wird und ihr bis 2020 zunächst noch weitere Bevölkerungsverluste<br />

prognostiziert werden.<br />

Für eine entsprechende Entwicklung <strong>Rostock</strong>s empfiehlt die<br />

Studie die Förderung regionaler Branchenschwerpunkte. Die<br />

zukunftsfähigen Bereiche der Stadtentwicklung seien die der<br />

Bildung und Kultur, Gesundheit und Tourismus sowie der Innovationsindustrie<br />

(moderne Wirtschaftszweige, wie regenerative<br />

Energien, mittlere maritime Wirtschaft, Gesundheitstechnik)<br />

– hier muss im Stadtzusammenhang weiter investiert und<br />

entwickelt werden. Für den bedarfsgerechten Stadtumbau bedeutet<br />

dies, besonderes Augenmerk zu legen auf: Bildung, Kinder-<br />

und Familienfreundlichkeit, demografiesensible Infrastruktur<br />

und eine zukunftsfähige Seniorenpolitik, damit einerseits<br />

die jungen Familien und jungen Erwachsen als Arbeitskräfte<br />

<strong>für</strong> die wissensbasierten produzierenden Zukunftsbranchen<br />

in <strong>Rostock</strong> gehalten werden können und anderseits auch<br />

der demografischen Entwicklung der Bevölkerung Rechnung<br />

getragen wird.<br />

<strong>Rostock</strong> heute<br />

Von der positiven Entwicklungsprognose zurück zum gegenwärtigen<br />

Haushaltsalltag: Die Stadt ist trotz der guten Zu-<br />

kunftsaussichten derzeit hoch verschuldet, von innenministeriellen<br />

Erlassen und Verboten geplagt und bewegt sich am Rande<br />

der Handlungsunfähigkeit. Damit ist <strong>Rostock</strong> kein schwarzes<br />

Schaf sondern in illustrer Gesellschaft, denn den meisten<br />

deutschen Kommunen geht es schlecht: Die Ausgaben, vor allem<br />

im Jugend- und Sozialbereich, steigen, die Einnahmen aus<br />

Gewerbesteuern und dem FAG sinken.<br />

Der deutsche Städtetag hat den Bund bereits aufgefordert, sich<br />

im ersten Schritt mit höheren Beträgen an den Sozialausgaben,<br />

vor allem den Unterkunftskosten <strong>für</strong> die Langzeitarbeitslosen,<br />

zu beteiligen. Er fordert ebenfalls zusätzliche Finanzhilfen des<br />

Bundes beim Ausbau der Kinderbetreuung in den Kommunen.<br />

Dies muss kombiniert werden mit einer erneuten Diskussion<br />

der Ausstattung <strong>Rostock</strong>s als einziger Großstadt des Landes<br />

Mecklenburg-Vorpommern, die als Oberzentrum und Regiopole<br />

viele Leistungen <strong>für</strong> die umliegenden Gemeinden im Land<br />

vorhält und in der Abwanderungs- und Überalterungstendenzen<br />

anders als im Rest des Landes aufgehalten werden können.<br />

<strong>Rostock</strong> ist die Wachstumsinsel im Land und daher muss mit<br />

dem Land darüber geredet werden, diese Insel zu stärken, um<br />

das Umland attraktiv zu halten und damit auch dort sozialdemografischen<br />

Negativtendenzen entgegenzuwirken.<br />

Trotzdem muss, neben dem Ruf nach mehr Einnahmen aus<br />

Bund und Landesausgleich, an der Konsolidierung des Haushaltes<br />

gearbeitet werden und zwar mit einem Konzept, dass die<br />

Stadt trotz Haushaltskonsolidierung entwickelt. Die Bertelsmannstiftung<br />

nennt das in ihren Handlungsanweisungen <strong>für</strong><br />

die Kommunen „Stärken stärken“. Folgt man diesen Empfehlungen<br />

bedeutet das: Trotz Sparzwang sollte in den Bildungsund<br />

Kulturstandort <strong>Rostock</strong>, in Kindergärtenplätze und Entwicklungsstandorte<br />

<strong>für</strong> die innovative Industriezweige investiert<br />

werden.


Wo also sparen?<br />

In 2008 und durch den Nachtragshaushalt auch in 2009 konnte<br />

der Haushalt unterjährig ausgeglichen werden (mit einem<br />

ganz minimalen Überschuss), was vor allem der positiven konjunkturellen<br />

Situation zuzuschreiben war. Ausgabenseitige<br />

Konsolidierung entstand ausschließlich konzeptionslos, durch<br />

willkürliches Einsparen in haushaltsloser Zeit und durch Haushaltssperren.<br />

Eine Reduzierung der Personalstärke auf die geforderte<br />

Größe erfolgte durch altersbedingtes Ausscheiden und<br />

Nichtwiederbesetzen der Stellen, egal ob dort notwendig die<br />

Arbeit erledigt werden muss oder nicht.<br />

Eine Konsolidierung der laufenden Kosten des städtischen<br />

Haushaltes bleibt die strategische Herausforderung der nächsten<br />

Zukunft. Und das meint nicht das nochmalige pauschale<br />

Streichen in Haushaltstellen, in denen schon nichts mehr zu<br />

holen ist – ebenso wenig wie das willkürliche Einsparen über<br />

Haushaltsperren oder Abweisen von Ausgaben in haushaltloser<br />

Zeit. Im Folgenden vielleicht einige Überlegungen, die sicher<br />

auch schon gedacht worden sind von Anderen, aber trotzdem<br />

nicht an Aktualität verlieren:<br />

Haustarifvertrag<br />

Der solidarische Ansatz, statt möglicher Kündigung überzähligen<br />

Stadtverwaltungspersonals einen Haustarifvertrag abzuschließen,<br />

ist vom Oberbürgermeister als beendet erklärt worden<br />

– obwohl es sich hier um den einzigen gesamtkonzeptionellen<br />

Ansatz, die einzige strukturelle Maßnahme aller bisherigen<br />

Hasikoplanungen handelte.<br />

Derzeit nehmen Personal- und Sozialkosten ca.60% der laufenden<br />

Kosten des gesamten städtischen Haushaltes ein. Im Nachtragshaushalt<br />

mussten <strong>für</strong> 2009 6 Mio € mehr an Personalkosten<br />

eingestellt werden, die sämtliche Mehreinnahmen aus Gewerbesteuern<br />

auffraßen. Die steigenden Personalkosten werden<br />

das strukturelle Defizit im jährlichen Haushalt essentiell anwachsen<br />

lassen. Das Konzept des Hoffens auf zusätzliche Einnahmen,<br />

die dies kompensieren können, wird sich in den nächsten<br />

Jahren so nicht fortsetzen lassen.<br />

Ein Absenken der Personalkosten durch einen Haustarifvertrag<br />

ist aus meiner Sicht alternativlos und kann nicht aufgegeben<br />

werden. Die Hasikoplanungen des letzten Jahres sahen schon<br />

ein Absenken der Personalkosten der Stadtverwaltung durch<br />

den Abschluss eines Haustarifvertrages vor. Auch wenn die Anzahl<br />

der Beschäftigten in der Stadtverwaltung bereits wesentlich<br />

gesunken ist, wird die Hansestadt allein in 2010 ca. 8 Mio<br />

€ mehr an Personalkosten aufbringen müssen als im alten<br />

Haushaltsicherungskonzept geplant war. Gibt es jetzt also neue<br />

Tarifverhandlungen und Ausnahmeregelungen, muss erneut<br />

über einen Haustarifvertrag verhandelt werden. Und selbst<br />

wenn dies nicht zu Einsparungen in Höhe von 8 Mio € führt -<br />

auch 1,5-3 Mio € wären ja schon hilfreich.<br />

Regionale Clusterpolitik und Oberzentrumsfunktion<br />

Die Zahl der Langzeitarbeitslosen wird auf Grund der wirtschaftlichen<br />

Lage in der nächsten Zeit steigen. Auch weil me-<br />

tropole Zentren in Krisenphasen eine Anziehungskraft auf viele<br />

Menschen ausüben, die sich dort bessere Zukunftschancen<br />

erhoffen als auf dem flachen Land. Hier muss vor allem politisch<br />

in Richtung Land und auch Bund agiert werden, denn<br />

diese Auffangfunktion von Oberzentren ist sozialgeografisch<br />

wichtig und bedarf der Unterstützung.<br />

Mindestens ebenso wichtig: Wir brauchen ein Umsteuern in<br />

der Politik zwischen <strong>Rostock</strong> und dem Land M-V, müssen wegkommen<br />

von der Erlass- und Widerspruchspolitik hin zu einer<br />

gemeinsamen Entwicklungsstrategie, die <strong>Rostock</strong> als Wachstumsmotor<br />

fördert, der langfristig Impulse auf ganz M-V ausstrahlt<br />

und somit auch großflächig Abwanderungs- und Überalterungsprozesse<br />

aufhalten kann. Im Umgang mit dem direkten<br />

Umland benötigen wir eine Stadt-Umland-Partnerschaft<br />

mit fairer Lastenverteilung und regionalem Flächenmanagement<br />

und einer Strategie der zukünftigen Zusammenarbeit.<br />

Hier gibt es bereits vielversprechende Ansätze.<br />

Die Ausgaben im Jugend- und Kulturbereich, die in den nächsten<br />

Jahren ebenfalls weiter steigen werden, werden vom Umland<br />

mitgenutzt und sollten deshalb auch von diesem mitfinanziert<br />

werden. Modelle wie der Zweckverband der VHS sind<br />

da sinnvoll und weisen den richtigen Weg, weil durch regionale<br />

Vernetzung Synergien sowohl im Publikums- als auch im Personalbereich<br />

erreicht werden.<br />

Vermögensaktivierung<br />

Die oft geforderte Aktivierung städtischen Vermögens brächte<br />

kurzfristig eine Entlastung des Haushaltes durch den Wegfall<br />

der Zinslast <strong>für</strong> die angehäuften Schulden. Nur wenn nicht<br />

vorher oder zumindest gleichzeitig das jährliche strukturelle<br />

Defizit abgebaut wird, summieren sich die Schulden in kürzester<br />

Zeit wieder auf. Für dieses werden dann wieder Zinsen fällig,<br />

mit dem Unterschied nunmehr noch geringere Haushaltseinnahmen,<br />

weil die an die Stadt abgeführten Erlöse aus den<br />

verkauften Unternehmen oder Produkten fehlen. Gleichzeitig<br />

steigen die Ausgaben im Jugend- und Sozialbereich sowie die<br />

Personalkosten auch weiterhin an.<br />

Folglich bedarf es einer ehrlichen und konstruktiven Abwägung<br />

einer möglichen Teilaktivierung des Vermögens der Hansestadt,<br />

die dann gut überlegt und vorbereitet und zu einem<br />

marktwirtschaftlich günstigen Zeitpunkt erfolgen sollte.<br />

Wichtig dabei ist, Aktivierung nicht ausschließlich als Verkauf<br />

zu begreifen.<br />

Derzeit ist <strong>für</strong> Verkäufe definitiv kein guter Zeitpunkt, daher<br />

ist dieses Argument kurzfristig unsinnig. Wenn sich aber beispielsweise<br />

die Lage auf dem Wohnungsmarkt stabilisiert hat,<br />

sollte darüber nochmals geredet werden. Allerdings setzt das<br />

auch eine realistische Aussage über die erzielbaren Erlöse voraus<br />

und einen anderen politischen Umgang miteinander. Der<br />

Oberbürgermeister hat im Fortschreibungsentwurf des Hasiko<br />

einen Persilschein <strong>für</strong> jedwede möglichen Verkäufe von Vermögen<br />

gefordert und die Bürgerschaft hat diesen Absatz ersatzlos


0.12 __ //// TITELTHEMA | ABOSCHEIN<br />

gestrichen, woraufhin der Oberbürgermeister in Widerspruch<br />

zum Beschluss des Hasikos gegangen ist. So wird das nicht<br />

funktionieren. Eine gemeinsame ehrliche Diskussion ohne Populismus<br />

und Drohungen wäre die Voraussetzung. Und die<br />

Konsolidierung der laufenden Kosten kann es nicht ersetzen.<br />

Diese Diskussion muss im ersten Schritt ergebnisoffen sein Ergibt<br />

die Abwägung eine Entscheidung gegen Vermögensveräußerung,<br />

ist dies bei einem konstruktiv und ehrlich geführtem<br />

Prozess auch als Argumentationshilfe gegenüber diesbezüglichen<br />

Forderungen des Innenministeriums nutzbar.<br />

Steuern<br />

Um die Einnahmen zu verbessern, wird man das Thema Steuern<br />

betrachten müssen. In Krisenzeiten ist es sinnvoll, die Steuern<br />

nicht zu senken und ggf. über einen solidarischen Beitrag<br />

der gesamten Bevölkerung zu der Verbesserung der Einnahmensituation<br />

nachzudenken. Auch die Kommunen müssen das<br />

diskutieren. Die von B90/Die Grünen vorgeschlagene Erhöhung<br />

des Hebesatzes <strong>für</strong> die Grundsteuer hat Auswirkung auf<br />

die Mieten, allerdings in wirklich vertretbarem Maße (bei einer<br />

70qm-Wohnung sind das ca. 10€ pro Jahr). Eine Diskussion<br />

wie sich das auf die steuerlichen Belastungen <strong>für</strong> die Gewerbetreibenden<br />

auswirkt, sollte ehrlich und zielorientiert geführt<br />

werden, um diesen Vorschlag wenigstens ernsthaft zu prüfen.<br />

Fazit<br />

Haustarifvertrag, Abwägung einer Teilaktivierung städtischen<br />

Vermögens und Steuererhöhungen – es handelt sich sämtlich<br />

um unangenehme Entscheidungen. Dennoch müssen diese in<br />

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einem offenen konstruktiven und ergebnisorientierten Prozess<br />

geprüft werden, der sie als konzeptionelle Ansätze <strong>für</strong> eine<br />

nachhaltige Konsolidierung des laufenden Haushaltes in der<br />

Kombination mit Altschuldenabbau begreift.<br />

Dazu bedarf es einer sehr guten Moderation zwischen den Beteiligten<br />

und einer starken Motivation der Mitwirkenden. Vor<br />

diesem Hintergrund wird das derzeitige Fehlen einer Führungskultur<br />

in <strong>Rostock</strong> ein Problem, stattdessen dominieren<br />

Alleingänge und Komplettblockade. Wir benötigen dringend<br />

eine andere Kultur des Umgangs miteinander, wenn wir nicht<br />

riskieren wollen, dass die Leistungsstrukturen der Stadt aufgeben<br />

und sich auflösen und die schöne Zukunftsvision sich in<br />

eine wundersame Illusion aus vergangener Zeit verwandelt.<br />

Gleichzeitig muss sich <strong>Rostock</strong> im Land besser aufstellen und<br />

die direkte Zusammenarbeit mit dem Umland noch aktiver gestalten,<br />

um seiner Funktion als Regiopole gerecht zu werden.<br />

Regiopole bedeutet auch, politisch und entwicklungsstrategisch<br />

Impulsgeber und Moderator zu sein. Daran muss gearbeitet<br />

werden, um durch das Wachstum einer aufstrebenden<br />

Großstadt und ihrer Umgebung die Region zu entwickeln. Die<br />

regionale Clusterpolitik wird dabei von wesentlicher Bedeutung<br />

sein. Ziel muss sein, das aufgezeigte Entwicklungspotential<br />

der Hansestadt <strong>Rostock</strong> zu erhalten, möglichst auszubauen<br />

und auf das Umland auszustrahlen. ¬<br />

AUSSCHNEIDEN, AUSFÜLLEN, UNTERSCHREIBEN UND BITTE PER POST/FAX AN DIE REDAKTIONSADRESSE (ODER SIE BESTELLEN IM INTERNET: WWW.STADTGESPRAECHE-ROSTOCK.DE)<br />

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FOTO: TOM MAERCKER


0.14 __ //// TITELTHEMA<br />

Eine <strong>Rostock</strong>er Momentaufnahme<br />

am Jahres -<br />

anfang 2010<br />

Grundlagen kommunaler Gestaltung<br />

FELIX LANDMANN<br />

Kommunales Engagement besteht, kurz gesagt, vor allem darin,<br />

dass sich die Einwohnerinnen und Einwohner einer Kommune<br />

in deren Entwicklung und Gestaltung einbringen. Ausgeschlossen<br />

ist dabei der Eigennutz, der in vielerlei Spielarten<br />

daher kommen kann - Letzteres zu beleuchten wäre sicherlich<br />

ein lohnendes Thema, soll aber hier nicht vertieft werden. Hier<br />

soll vielmehr kurz und knapp auf einige, nicht abschließende<br />

Notwendigkeiten eingegangen werden, die die Erschließung<br />

kommunaler Gestaltungsräume ausmachen.<br />

Abstrakt ist es ja jedem klar, dass fachlichen Ressourcen und<br />

geordnete Finanzen Grundvoraussetzungen <strong>für</strong> die Umsetzung<br />

sinnhafter Entscheidungen sind, gleichgültig in welchem Lebensbereich,<br />

gleichgültig auf welcher Ebene. Will also eine Gemeindevertreterin<br />

oder ein Gemeindevertreter erkennen, wo<br />

sich Handlungsspielräume erschließen und wie diese ausgefüllt<br />

werden könnten, so sind zwei wesentliche Aspekte zu betrachten:<br />

1. Wo sind Zukunfts- und Entwicklungspotentiale auszumachen?<br />

2. Wie steht es um die Möglichkeiten der Zielerreichung?<br />

Über die Beantwortung der ersten Frage sind wir uns in <strong>Rostock</strong><br />

recht schnell einig: Wir wollen die Stärken unserer Stadt<br />

stärken. Wir wollen die Regiopole im Nordosten zwischen den<br />

Metropolen Hamburg, Berlin und Kopenhagen entwickeln.<br />

Wir wollen damit auch unser Bundesland stärken. Und so weiter.<br />

– Und wir sind uns über die zu stärkenden Stärken gleichermaßen<br />

sicher: Unsere Zukunftspotentiale liegen in den Bereichen<br />

Familienfreundlichkeit, Bildung, Kultur, Gesundheit,<br />

Tourismus, Regenerative Energien, Maritime Wirtschaft, usw.<br />

Nur mit der Stärkung dieser Zukunftspotentiale kann <strong>Rostock</strong><br />

sein zukünftiges Standortprofil schärfen. Und zur Unterset-<br />

zung dieses Prozesses kann die Kommune erheblich beitragen.<br />

Eine Vielzahl von Initiativen und Projekte im sogenannten vorpolitischen<br />

Raum in unserer Stadt belegt dies. Eine stärkere<br />

Vernetzung mit dem politischen Raum der Stadt würde diese<br />

Stärken weiter stärken.<br />

Die Beantwortung der zweiten Frage, wie die definierten Zukunftspotentiale<br />

der Stadt mit einer Vielzahl von Einzelschritten<br />

und -maßnahmen zu untersetzen wären, muss natürlich mit<br />

der Analyse der finanziellen und sonstigen Ressourcen beginnen,<br />

die zur Zielerreichung notwendig sind. Nur wenn die<br />

Analyse stimmt, kann die Ableitung richtig werden. (Und das<br />

ist in der Tat eine wahrhaftige Aufgabe, was unsere Kommunalpolitiker<br />

da leisten!) Also betrachten wir als Erstes einmal die<br />

Einnahme- und Ausgabesituation der letzten Jahre:<br />

Haushaltsjahr Ausgaben 1) Einnahmen 1) Defizit/Überschuss 1)<br />

Plan 2005 458,4 364,2 - 94,2<br />

2005 2) 445,7 400,0 - 45,7<br />

Plan 2006 448,9 378,7 - 70,2<br />

2006 2) 443,6 412,0 - 31,6<br />

2007 2) 447,3 443,2 - 5,1<br />

2008 2) 453,6 463,3 + 9,7<br />

2009 3) 461,9 464,4 + 2,5<br />

2010 4) 465,9 456,5 - 9,4<br />

1) Angaben in Mio. €<br />

2) Angaben nach Jahresrechnung<br />

3) Voraussichtliches Ist auf Grundlage des Nachtragshaushaltes<br />

4) Planungsstand Dezember 2009<br />

Sieht gar nicht so schlimm aus, könnte man meinen, wäre da<br />

nicht ein unschöner Schuldenstand, der sich aus zwei Positionen<br />

zusammensetzt: Zum einen Investitionsschulden von sage<br />

und schreibe fast 198 Mio. € zum 31.12.2009, die den Haus-


halt in 2009 mit etwa 8,5 Mio. € Zinsen und ca. 5 Mio. € Tilgung<br />

belastet haben.<br />

Zum anderen kumulierte Defizite in Höhe von etwa 208 Mio.<br />

€ zum 31.12.2009 aus den Verwaltungshaushalten der Jahre, in<br />

denen unsere Stadt mehr Geld ausgegeben als eingenommen<br />

hat. Diese so genannten Altfehlbeträge haben in 2009 den<br />

Haushalt mit etwa 4 Mio. € Zinsen belastet.*<br />

Addiert man die sich aus dem gesamten Schuldenstand der<br />

Stadt ergebenden Zahlungsverpflichtungen, ergibt sich als<br />

jährliche Belastung des Haushaltes – einschließlich der 5 Mio.<br />

€ Tilgung - die stattliche Summe von immerhin 17,5 Mio. €,<br />

die den Haushalt unserer Stadt in 2009 belastet haben. Ohne<br />

Frage wäre es schön, diese Belastung nicht zu haben. Der Haushalt<br />

des Jahres 2009 hätte dann nicht nur 2,5 Mio. € Überschuss<br />

gehabt, sondern sogar satte 20 Mio. €. Was hätte man<br />

damit nicht alles machen können! Und deshalb scheint sich<br />

auch die Vermögensveräußerung – sofern solches Vermögen<br />

vorhanden und liquidierbar ist - zur Schuldentilgung anzubieten.<br />

Wie viel aber tatsächlich gewonnen wäre, verdeutlichen<br />

spätestens die Planungszahlen aus der Aufstellung des Haushaltes<br />

2010. Denn zurückgehenden Einnahmen stehen steigende<br />

Ausgaben gegenüber.<br />

Außerdem sieht die Lebenswirklichkeit – wie immer – anders<br />

aus. Bezieht man nämlich die Struktur der städtischen Verschuldung<br />

in die Betrachtung mit ein, so ist natürlich die Vertragssituation<br />

der jeweiligen Kreditverträge zu betrachten. Die<br />

Investitionskredite sind zwar als solche ausgesprochen günstig<br />

finanziert (Dank der Zinsmanager in der Kämmerei), aber als<br />

Annuitätendarlehen könnten diese gar nicht ohne Entrichtung<br />

so genannter Vorfälligkeitsentschädigungen an die darlehensgebende<br />

Bank zu einem beliebigen Zeitpunkt zurückgezahlt<br />

werden. Das heißt: Selbst, wenn die Stadt flüssig genug und eine<br />

Rückzahlung von den Stadtvertretern gewollt wäre, wäre es<br />

nicht möglich diese Kredite auf einen Schlag ohne erheblichen<br />

zusätzlichen Aufwand <strong>für</strong> die Stadt zu tilgen.<br />

Dagegen ist die Ablösung der sogenannten Altfehlbeträge -<br />

das waren die etwa 208 Mio. € - recht einfach, da diese nur sehr<br />

kurzfristig finanziert sind. Aber das würde im Augenblick nur<br />

4 Mio. € jährlich einsparen. Damit kann man dann schon nicht<br />

mehr so viel machen. Andererseits: Die Verzinsung dieser Altfehlbeträge<br />

kann ja auch teurer werden, nämlich dann, wenn<br />

die Zinsen <strong>für</strong> solche kurzfristigen Kredite wieder steigen.<br />

Was also tun? – Die Aufsicht über die Stadt - und das ist immerhin<br />

das Innenministerium des unseres Bundeslandes –<br />

verlangt von der Stadt nicht nur den jährlichen Haushaltsausgleich<br />

(was selbstverständlich ist und nicht mehr bedeutet,<br />

als dass die Stadt eben nicht mehr ausgeben als einnehmen<br />

darf ) sondern auch, die Altfehlbeträge in Höhe von<br />

208 Mio. € möglichst schnell abzubauen: 22 Mio. € jedes<br />

Jahr ist das Ziel.<br />

Folglich gibt es zwei Aufgaben:<br />

* Von der Verwaltung war zu erfahren, dass die Zahlen des Jahres 2009 natürlich unter dem Vorbehalt<br />

der Jahresrechnung 2009 stehen, die erst im Laufe des 1. Quartals des neuen Jahres erstellt wird.<br />

Nicht mehr Geld ausgeben als eingenommen wird. Und:<br />

Schulden tilgen - natürlich die Altfehlbeträge, denn die sind ja<br />

haushaltsrechtlich das Problem. Und beides heißt, wenn man<br />

auf die zurückgehendes Einnahmen schaut: SPAREN, SPA-<br />

REN und nochmals SPAREN. Oder/und: Einnahmen erhöhen.<br />

Welche greifbaren Lösungsansätze bietet also die finanzielle<br />

Situation, um der Politik kurz- und mittelfristig entsprechende<br />

Spielräume zu erschließen, um die Stadt zu fördern?<br />

Das Hauptproblem der städtischen Finanzen liegt, so hört man<br />

immer wieder aus dem Rathaus, im so genannten Einzelplan 4,<br />

dem Haushalt <strong>für</strong> Soziales und Jugend, und in den Personalkosten.<br />

Allein zwischen 2005 und 2009 sind die Kosten im Bereich<br />

Soziales und Jugend um 29,9 Mio. € gestiegen sind (von<br />

182,2 Mio. € auf 212,1 Mio. €). Hier lässt sich jedenfalls keine<br />

kurzfristige Einsparung erreichen, da die Leistungen der Kommune<br />

sich fast vollständig auf gesetzlich legitimierte Individualansprüche<br />

beschränken.<br />

Was bleibt, ist auf jeden Fall die „normale“ Konsolidierung,<br />

die zu den Standardmaßnahmen einer Haushaltsentlastung gehört:<br />

Weniger Personal, weniger Büros, weniger Gebäude, weniger<br />

…, weniger …, Verwaltung effizienter strukturieren usw.<br />

Das setzt aber auch ein weiteres Umdenken und noch den einen<br />

oder anderen Einschnitt in der Verwaltung voraus, die dabei<br />

jedoch in ihrer Funktionsfähigkeit als Dienstleister nicht<br />

beeinträchtigt werden soll. Auch hier muss ein Haushaltssicherungskonzept<br />

ansetzen, welches Maßnahmen <strong>für</strong> einen Haushaltsausgleich<br />

einschließlich der Tilgung der Altfehlbeträge im<br />

Konsolidierungszeitraum zu benennen hat.<br />

Und was ist mit den Personalkosten? Die haben sich zwischen<br />

2005 und 2009 um 3,3 Mio. € reduziert. Und das ist vor allem<br />

der Tatsache zu verdanken, dass sich die Zahl der zu finanzierenden<br />

Stellen zwischen 2005 und 2009 von etwa 2.970 auf<br />

knapp unter 2.600 reduziert hat - dass die Ersparnis nicht größer<br />

ausfiel, ist den Tarifabschlüssen zu verdanken.<br />

Stellt sich die Frage, ob sich die Personalkosten mittels eines<br />

bezirklichen Tarifs, bei dem eine reduzierte Arbeitszeit zu entsprechend<br />

geringeren Gehaltszahlungen führt, kurzfristig reduzieren<br />

lassen. Angesichts des Stellenabbaus der Vorjahre und<br />

des Durchschnittsalters der Beschäftigten der Stadtverwaltung<br />

eine echte Herausforderung. Die vom altersbedingten Ausscheiden<br />

Beschäftigter besonders betroffene Sozialverwaltung<br />

weiß von der damit einhergehenden Arbeitsverdichtung ein<br />

Lied zu singen.<br />

Nur ein schwacher Trost bleibt insofern die Forderung des<br />

Landesrechnungshofes, der im Jahr 2005 eine Reduzierung der<br />

Stellen von 2.970 auf unter 2.000 (einschließlich der Beschäftigten<br />

des Volkstheaters) empfohlen hatte. Der strategische


0.16 __ //// TITELTHEMA<br />

Ansatz, die Personalkosten durch Tarifverhandlungen zu senken<br />

und so einen Erhalt von Beschäftigung zu erreichen, brachte<br />

bisher keinen Erfolg und ist zudem auch ordnungspolitisch<br />

nicht unumstritten.<br />

Stellt sich also auch die Frage, ob nicht Einnahmeerhöhungen<br />

angezeigt sind, mit denen der Ausgleich des Haushaltes erreicht<br />

und die politischen Spielräume erschlossen werden können.<br />

Solche könnten natürlich höhere Erträge der städtischen<br />

Beteiligungen sein, aber auch Erhöhungen von Gewerbeoder<br />

Grundsteuer. Im Vergleich zu anderen Städten ist zumindest<br />

im Bereich der Grundsteuer das Potential noch nicht ausgeschöpft.<br />

Und mittelfristig müsste auch die Funktion der<br />

Stadt <strong>für</strong> das Land höher dotiert werden, wie dies mit einem<br />

<strong>für</strong> die Zentren auskömmlichen Finanzausgleichsgesetz erreicht<br />

würde.<br />

Insofern verkürzt hier allein die Betrachtung der städtischen Finanzen<br />

die „Fehlersuche“ in unzulässiger Weise, denn schließlich<br />

haben die von Land und Bund gesetzten Rahmenbedingungen<br />

erhebliche Bedeutung <strong>für</strong> eine Kommune und damit<br />

auch <strong>für</strong> <strong>Rostock</strong>. Da sich aber die Kommune am Ende der finanzwirtschaftlichen,<br />

öffentlichen Nahrungskette befindet, ist<br />

hier eine kurzfristige Änderung unrealistisch. Sicher ist, dass<br />

das was die Stadt auch im Interesse von Region und Land<br />

schultert, noch anerkennungsfähiger ist. Und dies hat nicht<br />

nur eine finanzielle und wirtschaftliche, sondern auch eine gesellschaftliche<br />

und politische und kulturelle Dimension. Nur<br />

andeutungsweise provoziert dabei die Frage: „Was wären Region<br />

und Land, wenn nicht <strong>Rostock</strong> ….!?“ Viele Beispiele wären<br />

schnell genannt.<br />

Befasst sich die Politik aber mit der Frage der Erhöhung der<br />

Einnahmen aus den städtischen Beteiligungen, wird recht<br />

schnell deutlich, dass die Natur der Unternehmungen auch hier<br />

Grenzen setzt. So wird bei der berechtigten Frage nach der Verzinsung<br />

des eingesetzten Eigenkapitals schnell klar, dass sich<br />

beispielsweise ein Zoo oder ein Theater aufgrund der Rahmenbedingungen<br />

und Konkurrenzsituation nicht mit dem Ziel einer<br />

Gewinnmaximierung betreiben lassen. Hinzu kommt: Vermögensaktivierung<br />

muss nicht Vermögensveräußerung heißen.<br />

Ob allerdings eine Veräußerung oder die Forderung nach<br />

einer angemessenen Verzinsung des eingesetzten Eigenkapitals<br />

die angezeigte Handlungs- und Entscheidungsvariante ist, setzt<br />

eine sorgfältige und vertiefte Betrachtung, Analyse und Abwägung<br />

der Vor- und Nachteile einer Handlungsoption mit anderen<br />

Handlungsoptionen voraus. Und damit wird auch klar,<br />

dass es hier nicht nur um Einsparpotentiale geht, sondern auch<br />

um Kommunikation und eine entsprechende Kommunikationskultur.<br />

Fazit zur Verbesserung der Finanzsituation der Stadt: Eine Reihe<br />

unbequemer Maßnahmen <strong>für</strong> Verwaltung und Politik bedarf<br />

der gründlichen Prüfung. Neben der nach weiteren Einsparmaßnahmen<br />

ist die Frage nach Einnahmeerhöhungen<br />

deutlicher als bisher zu stellen. Denn Haushaltsausgleich und<br />

Tilgung der Fehlbeträge der Vergangenheit werden erst die<br />

Grundlagen <strong>für</strong> die weitere Entwicklung der Stadt schaffen.<br />

Auch wenn Kommunalpolitik jede Aufgabe und Ausgabe unter<br />

den Maßgabe „Nutzt meine Entscheidung der Zukunft?<br />

Stärkt meine Entscheidung meine Stadt?“ betrachten wollte,<br />

wird dies nicht immer gelingen, da Entscheidungen in einem<br />

demokratischen Wettstreit unter weitgehend extern gesetzten<br />

Rahmenbedingungen fallen und sich somit nicht immer die<br />

sachlich beste Lösung, sondern eher ein mehrheitsfähiges Ergebnis<br />

durchsetzt. Je besser dies aber ist, um so „weiter“ wird es<br />

die Kommune bringen. Das beste Ergebnis wird nicht durch eine<br />

mathematische Gleichung ermittelt, sondern durch eine<br />

prognostische Betrachtung, die später dann auch wieder ganz<br />

anders bewertet werden kann. Nachher ist man eben klüger,<br />

wie schon der Volksmund weiß. ¬


FOTO: TOM MAERCKER


0.18 __ //// TITELTHEMA<br />

Der Ausverkauf<br />

geht weiter<br />

Jagdzeit – <strong>für</strong> PPP-Berater<br />

BENNO THIEL<br />

Nun ist es endlich soweit! Nach diesem Wahlausgang kann nun<br />

endlich die ersehnte Jagd auf kommunales Eigentum eröffnet<br />

werden. Die Abkürzung PPP steht <strong>für</strong> Publik Private Partnership<br />

- zu deutsch ÖPP (Öffentliche Private Partnerschaft). Damit<br />

wird eine Kooperation bezeichnet, in der private Investoren<br />

den Investitionsbedarf im öffentlichen Bereich decken. Das<br />

Engagement erstreckt sich vom Betreibermodell bis zum Bauen,<br />

Betreiben und Übertragen.<br />

Nachdem die öffentlichen Hände Banken und Versicherungen<br />

mit Milliarden Steuermitteln geflutet haben, über mehrere Jahre<br />

durch eine verfehlte neoliberale Wirtschaftspolitik und mittels<br />

Dumpinglöhnen die Binnenwirtschaft heruntergewirtschaftet<br />

wurde, sind die kommunalen Kassen leer. Im Ergebnis<br />

entstehen Zwangsminderungen auf der Ausgabenseite <strong>für</strong> öffentliche<br />

Investitionen und im Sozialbereich. Die Steuerentlastung<br />

<strong>für</strong> Unternehmen von rund 240 Milliarden in den letzten<br />

Jahren hat die Staatsschulden nach oben getrieben, anstatt<br />

Impulse <strong>für</strong> die Binnenwirtschaft zu setzen. Ein weiterer verhängnisvoller<br />

Irrtum.<br />

Zusätzlich treten nun vermehrt die Wirkungen der Wirtschafts-<br />

und Finanzkrise zu Tage und lassen im Zusammenhang<br />

mit der noch schnell erlassenen Schuldenbremse den<br />

Handlungsspielraum der Kommunen gen Null sinken. Die zu<br />

erwartenden Steuermindereinnahmen werden die kurz- und<br />

mittelfristigen Finanzpläne der Kommunen zu Makulatur werden<br />

lassen. In einigen Städten sind die Einnahmen um 50% gesunken.<br />

Seriöse Schätzungen, also nicht von Regierungsseite<br />

oder bezahlten Schönrednern, erwarten <strong>für</strong> 2009 ein Minus<br />

von 45 Mrd. Euro, <strong>für</strong> 2010 minus 85 Mrd. Euro. Nun treten<br />

die „Retter“ auf den Plan und lassen wie durch Wunderhand<br />

die Finanzprobleme der Kommunen sich in Luft auflösen.<br />

Ermöglicht wird das durch ein Gesetz, welches im Schweinsgalopp<br />

durch den Bundestag und Bundesrat gewunken wurde.<br />

Das „Gesetz über Öffentlich-Rechtliche Partnerschaften“, in<br />

Kraft seit dem 1.September 2005. Nicht nur das Tempo war<br />

verblüffend, sondern auch die Art wie das Gesetz zustande gekommen<br />

ist. Bislang wurden die Gesetze von Ministerialbeamten<br />

formuliert, von Experten und Parlamentariern überarbeitet.<br />

Diesmal ist das Gesetz von der amerikanischen Anwaltssozietät<br />

Hogan & Hartson Raue ausgearbeitet worden, dann von<br />

Ministerialen und Privatjuristen in Gesetzform gegossen. Diese<br />

Vorgehensweise wird Mode, entzieht sich der öffentlichen<br />

Kontrolle, die Gesetzeswerke werden nur noch von Spezialisten<br />

verstanden, eben jenen, die diese Vertragswerke entworfen<br />

haben. Somit ist es nicht verwunderlich, wenn die Mitglieder<br />

einer Bürgerschaft oftmals nicht wissen, worüber sie eigentlich<br />

abstimmen, da die notwendige Sachkenntnis fehlt, es auch gar<br />

nicht erwartet werden kann, dass diese vorhanden ist. Fragen<br />

Sie nie ihren Abgeordneten, denn der wird Ihnen auch nur sagen,<br />

dass er nicht verstanden, was er gerade beschlossen hat,<br />

aber das Gerücht umgehe, dass es einen in der Fraktion gebe,<br />

der einen kenne, der wüsste, wen man fragen kann. Beispiel:<br />

Der Vertrag zu Toll Collect (Mautgebühr) umfasst 17.000 Seiten.<br />

Zudem wird der Inhalt dieser Verträge mit Hinweis auf das<br />

Geschäftsgeheimnis geheim gehalten, so dass diese auch nicht<br />

von anderer Stelle begutachtet werden können - bei einer Laufzeit<br />

von teilweise 20 oder 30 Jahren. Pikanterweise werden die<br />

Verträge von den Anwaltsagenturen formuliert, die dann anschließend<br />

die Privatisierer beraten, sie schreiben also praktisch<br />

ihre Verträge selbst.<br />

Objekt der Begierde sind insbesondere öffentliche Einrichtungen<br />

der Daseins<strong>für</strong>sorge, die teilweise jahrzehntelang mit Steuermittel<br />

in einem hervorragenden Zustand gebracht wurden,


eine ständige sichere Einnahmequelle darstellen und nun möglichst<br />

günstig eingekauft, man kann auch sagen verscherbelt<br />

werden sollen. Energieversorgungsunternehmen, Wasser, Abwasser,<br />

Müllentsorgung, Schulen, Parkhäuser, Krankenhäuser<br />

bis hin zu Gefängnissen stehen auf der Wunschliste. Auch am<br />

Privatisierungsvorgang selbst lässt sich hervorragend verdienen:<br />

Rechtsanwälte, Gutachter, Wirtschaftsprüfer, Beratungsunternehmen<br />

und ehemalige oder noch tätige Politiker, die<br />

nicht selten dann im Aufsichtsrat der von ihnen privatisierten<br />

Unternehmen landen.<br />

So ist es nicht verwunderlich, dass sich im illustren Bereich der<br />

Privatisierung Politiker aller Bundestagsparteien, außer<br />

LINKSPARTEI, einträchtig zusammenfinden. So ist zum Beispiel<br />

Rainer Brüderle, FDP, neuer Wirtschaftsminister, <strong>für</strong> den<br />

ehemaligen SPD-Minister Rudolf Scharping in dessen RSBK<br />

GmbH tätig, Friedrich Merz <strong>für</strong> den Hedgefonds TCI, Wolfgang<br />

Clement <strong>für</strong> die Citigroup, Dussmann und diverse weitere,<br />

Kanzleramtsminister a. D. Bury und Jürgen Schrempp <strong>für</strong><br />

Lehman Brothers und viele mehr.<br />

Politische Leistung heute, Entgelt später. Dabei dreht sich die<br />

Tür immer schneller. So erhielt Ex- Kanzler Kohl erst Jahre später<br />

von Kirch 600.000 Mark jährlich <strong>für</strong> mehrere Jahre als Berater<br />

<strong>für</strong> die Wegbereitung des privaten Fernsehens. Bei den<br />

Herren Riester, Clement, Schröder, Joschka Fischer und Rürup<br />

ging es wesentlich schneller. Clement landete beispielsweise bei<br />

einer Zeitarbeitsfirma, nachdem er jahrelang die Dumpinglöhne<br />

vorbereitet hatte, Rürup verkauft jetzt als Vertreter mit Professorentitel<br />

bei AWD die Rente, die er selbst erfunden hat.<br />

Beispiele endlos.<br />

So erfolgt auch immer wieder mit schöner Regelmäßigkeit die<br />

Forderung nach einem Verkauf von WIRO-Wohnungen. Und<br />

das selbst bei einem stagnierenden bzw. sinkenden Preisniveau,<br />

woran auch die Schönrederei von Maklern nichts ändert: Die<br />

Statistiken sprechen <strong>für</strong> sich! Der durch Wohnungsverkäufe<br />

kurzfristig erzielte Liquiditätsgewinn kommt die Kommunen<br />

teuer zu stehen, denn die dann erfolgten Mieterhöhungen müssen<br />

von der Solidargemeinschaft aller Steuerzahler aufgefangen<br />

werden.<br />

Grundgedanke eines kommunalen Wohnungsbestandes war,<br />

der Bevölkerung preisgünstigen Wohnraum anzubieten und<br />

marktregulierend auf die Mietpreisgestaltung wirken zu können.<br />

Dass einige kommunale Wohnungsunternehmen zwischenzeitlich<br />

als Preistreiber wirken, zeigt allerdings, wie weit<br />

wir auch hier von diesem Grundgedanken entfernt sind und<br />

dass auch die Tätigkeit der Aufsichtsratsmitglieder nicht wirklich<br />

funktioniert.<br />

Wir stehen am Anfang einer gigantischen Verramschung gemeinnütziger<br />

Wohneinheiten an internationale Fonds und dubiose<br />

Kapitalanlagegesellschaften. Annington, Cerberus,<br />

Blackstone, Fortress und Lone Star kaufen massenweise deutsche<br />

Wohnungspakete. Wenn ausländische Investoren Mietwohnungen<br />

aufkaufen, haben sie Renditeerwartungen im zwei-<br />

stelligen Bereich (Ackermann mit seinen 25% lässt grüßen).<br />

Diese Erwartungen sind in der Immobilienwirtschaft normal<br />

nicht realisierbar. Es gibt nur zwei Optionen: Senkung der<br />

Ausgaben, also Verzicht auf Modernisierung und Instandsetzung<br />

oder Erhöhung des Cashflows, also Mieterhöhungen. Da<br />

nach dem Auslaufen der Kurzarbeiterbezüge viele Mieter ihre<br />

Wohnungen ohnehin nicht mehr bezahlen werden können, ein<br />

absurder Gedanke, wieder muss dann der Steuerzahler einspringen.<br />

Ein Zurückfahren der Ausgaben <strong>für</strong> Modernisierung<br />

und Instandsetzung zu Gunsten einer entsprechenden Rendite<br />

bedeutet, dass unsere Städte bald wieder so aussehen wie vor<br />

der Wende.<br />

Unser ehemaliger Finanzminister wollte den Finanzplatz<br />

Deutschland durch Produktinnovationen wie REITs stärken.<br />

Dass daraus nur ein Spielkasino wurde, haben zwischenzeitlich<br />

viele leidvoll erfahren müssen. REITs (Real Estate Investment<br />

Trusts) sind börsennotierte Immobiliengesellschaften, die keine<br />

Körperschaftsteuer zahlen, unter der Bedingung, dass sie ihren<br />

Gewinn zu mindestens 90 Prozent an die Aktionäre ausschütten.<br />

Dass die Mieter durch den Renditedruck der Anleger<br />

(Aktionäre) mit steigenden Mieten, Umwandlungen in Eigentumswohnungen<br />

zu rechnen haben, ist durch viele Beispiele im<br />

Ausland belegt.<br />

Zurzeit stehen etwa zehn REITs in den Startlöchern und hoffen,<br />

die bis Ende 2009 geltenden Steuerbegünstigungen <strong>für</strong><br />

Unternehmen, die ihre Gebäude an einen REIT verkaufen, zu<br />

verlängern. Das alte Gesetz (Exit-Tax) sah vor, dass Gewinne<br />

aus dem Verkauf betrieblicher Immobilien nur zur Hälfte besteuert<br />

werden.<br />

Beispiel Südstadtklinikum<br />

Ebenso wird die Forderung nach einem Verkauf des Südstadtklinikums<br />

laut. Unverständlich, denn man kann ohne weiteren<br />

Aufwand die Liste der gescheiterten Privatisierungen im Krankenhausbereich<br />

einsehen. Das geht vom Megaflop der Hamburger<br />

Krankenhäuser (an den Klinikbetreiber Asklepios AG<br />

sind bisher aus dem Stadtsäckel 108,4 Mio. Euro geflossen, im<br />

Gegenzug hat Asklepios bisher lediglich 19,2 Mio. des Kaufpreises<br />

von 318,6 Mio. Euro überwiesen. Der damalige CDU-<br />

Finanzsenator Wolfgang Peiner hatte den Deal mit Asklepios<br />

eingefädelt) bis zum Abhörskandal beim Klinikkonzern Asklepios<br />

(die Vorstandstelefone waren verwanzt).<br />

Bei der Uni-Klinik Gießen-Marburg ging die Privatisierung zu<br />

Lasten der Patienten und des Personals. So wurden Stellen abgebaut<br />

und über 100 sind noch nicht wieder besetzt, Ärzte<br />

kündigten und sind im Ausland tätig, Hausärzte weigern sich,<br />

Patienten dort einzuweisen. Für die Betreiber allerdings ein<br />

Geschäft, bei 21 Milliarden Euro wurde ein Gewinn von 123<br />

Millionen Euro ausgewiesen. Zu Lasten der Patienten.<br />

Der Vorstand und Aufsichtsrat der Rhön-Klinikum AG hat beschlossen,<br />

die wegen der sinkenden Steuereinnahmen erwartete<br />

finanzielle Enge der Kommunalen Körperschaften <strong>für</strong> eine Of-


0.20 __ //// TITELTHEMA | DEBATTE<br />

fensive zu nutzen. Die Eigner der privaten Betreiber sind zugleich<br />

die Profiteure der systematisch betriebenen Verarmung<br />

der öffentlichen Hände. Nach Ansicht der Investoren werden<br />

ihnen in den nächsten Jahren Krankenhäuser wie im Schlaraffenland<br />

zufliegen. Nachdem die Privatisierer in der neuen Bundesregierung<br />

an den entscheidenden Stellen sitzen, die ausgestellten<br />

Checks <strong>für</strong> die Parteispenden nun eingelöst werden<br />

müssen, stehen die Chancen augenscheinlich nicht schlecht.<br />

Zudem unsere Kanzlerin mit ihrem Vizekanzler Westerwelle<br />

einen ausgewiesenen Finanzlobbyisten zur Seite hat (Westerwelle<br />

war noch bis zum 1.10.2009 im Beirat der TellSell Consulting<br />

tätig, die besonders bei PPP- Projekten berät, außerdem<br />

bei der ARAG und der Hamburg-Mannheimer). So wurden<br />

während der Rezession 2002/2003 fast 20 Kliniken an die<br />

Rhön-Klinikum AG übertragen. Es ist zu erwarten, dass die<br />

Unternehmen demnächst aggressive Kampagnen starten werden,<br />

weil sie an die aktuelle Gunst der Stunde glauben. Dabei<br />

wird üblicherweise auch nicht vor einer Korrumpierung von<br />

Kommunalpolitikern halt gemacht werden.<br />

Der Energiemarkt ist ein Paradebeispiel <strong>für</strong> die Privatisierung<br />

von Daseinsvorsorge, vermachtete Strukturen und den Missbrauch<br />

von Marktmacht. Extraprofite durch die Monopolsituation,<br />

illegale Preisabsprachen und Manipulationen der Strombörse<br />

führen zu überteuerte Preisen. Manche Gasversorger haben<br />

zum 1. August 2008 ihre Preise wieder über 20% erhöht.<br />

Eine Folge der steigenden Nachfrage nach Energie und der begrenzten<br />

Kapazitäten – sagen die Konzerne. Doch nicht nur<br />

die Einkaufspreise, auch die Gewinne der Konzerne steigen stetig.<br />

E.on vermeldete <strong>für</strong> 2007 eine Steigerung des Konzerngewinns<br />

um 27 Prozent auf 7,7 Milliarden Euro. RWE steigerte<br />

sein Betriebsergebnis 2007 um 15 Prozent auf 6,5 Milliarden<br />

Euro.<br />

Beispiel Wasserwerke Berlin<br />

Nachdem die CDU und die SPD 49,9 Prozent an die Beteiligungsgesellschaft<br />

BB-AG verkauft haben, stiegen die Wasserpreise<br />

steil nach oben. Von 2000 bis 2005 haben sich die Wasserpreise<br />

um 20,7 Prozent erhöht, im Bundesdurchschnitt nur<br />

um acht Prozent.<br />

In Berlin haben alle ÖPP-Projekte und Großprivatisierungen<br />

der Bevölkerung nur geschadet:<br />

Verkauf der Bewag an Southern Energie (USA), Verkauf der<br />

Gasag an Gaz de France, die Bankgesellschaft Berlin, das Modell<br />

Teilprivatisierung der Wasserbetriebe, und die Konzerne<br />

Vivendi und RWE. Es ist zweifellos <strong>für</strong> viele Politiker verlokkend,<br />

mit teilweiser Haushaltskonsolidierung zu glänzen, dem<br />

Erfolg der Privatisierung. Die Folgen hat allerdings der Steuerzahler<br />

und Mieter viele Jahre lang zu tragen, die Verantwortlichen<br />

stehen dann allerdings nicht mehr zur Wahl oder sind<br />

zum Privatisierer gewechselt.<br />

Ein kommunales Unternehmen in einer schlechten Marktsituation<br />

zu einem schlechten Preis zu verkaufen, sollte gründlich<br />

hinterfragt werden (insbesondere: wer ist beteiligt, wer verdient<br />

daran?). Die Verträge müssen öffentlich gemacht werden,<br />

nicht wie bisher in Hinterzimmerrunden ausgekungelt werden.<br />

Die Privatisierer scheinen zu verdrängen, dass eine Vermögensbilanz<br />

zwei Seiten hat. Wenn man auf der einen Seite Schulden<br />

abbaut, verringert sich auf der anderen Seite das Vermögen. Es<br />

ist also keine Leistung, durch Vermögensabbau Schulden zu<br />

verringern. Einige Kommunen werden versucht sein anzubeißen,<br />

wenn die Bürger nicht entsprechend Widerstand leisten.<br />

Allerdings ist irgendwann das Tafelsilber weg, dann geht es ans<br />

Eingemachte. Dann ist das Ende der Fahnenstange erreicht. ¬


Die aktuelle „<strong>Stadtgespräche</strong>“-Dabatte:<br />

<strong>Rostock</strong> sucht sein<br />

Museumskonzept<br />

Im vergangenen Heft haben wir einen ersten Beitrag zu diesem<br />

Thema veröffentlicht. Inzwischen ist es fast schon wieder ein<br />

Vierteljahr her, dass die Bürgerschaft der Hansestadt <strong>Rostock</strong><br />

am 4. 11. 2009 nach längerer Diskussion zwei Beschlüsse zur<br />

weiteren Entwicklung der <strong>Rostock</strong>er Museen verabschiedete:<br />

Beschluss Nr. 2009/AN/0584:<br />

„Der Oberbürgermeister wird beauftragt, ausgehend von den<br />

Anlagen zur Beschlussvorlage Nr. 2009/BV/0444 (Museumskonzept<br />

<strong>für</strong> die Hansestadt <strong>Rostock</strong>) einen breiten Diskussionsprozess<br />

unter Moderation und Verantwortung des Kulturausschusses<br />

in Zusammenarbeit mit der Senatorin <strong>für</strong> Jugend<br />

und Soziales, Gesundheit, Schule und Sport, Kultur zu organisieren.<br />

Dabei sind Vertreter/innen der Kulturvereine und -institutionen<br />

der Hansestadt <strong>Rostock</strong> angemessen zu beteiligen.<br />

Die als Ergebnis dieses Diskussionsprozesses erforderlichen Ergänzungen,<br />

Veränderungen und Vertiefungen des Museumskonzeptes<br />

sind durch die Verwaltung auszuarbeiten. Der Bürgerschaft<br />

ist das überarbeitete Museumskonzept bis zu ihrer<br />

Sitzung im März 2010 zum Beschluss vorzulegen.“<br />

Beschluss Nr. 2009/AN/0579:<br />

„Der Oberbürgermeister wird beauftragt, im Einvernehmen<br />

mit dem Kulturausschuss eine Expertenkommission einzusetzen,<br />

die aufzeigt, welches Alleinstellungsmerkmal ein Technikmuseum<br />

in <strong>Rostock</strong> im Vergleich zu anderen norddeutschen<br />

technikorientierten Museen haben muss. Die Expertenkommission<br />

soll unter Einbeziehung und auf Basis bereits vorhandener<br />

Analysen eine zukunftsweisende, verbindliche und auch<br />

kostenmäßig überschaubare Konzeption erarbeiten und Vorschläge<br />

<strong>für</strong> den bestmöglichen Standort unterbreiten. Diese<br />

Konzeption ist der Bürgerschaft in ihrer Sitzung am<br />

17.03.2010 vorzulegen.“ (Vgl. dazu den entsprechenden Sitzungsbericht<br />

im Bürgerinformationssystem der HRO <strong>Rostock</strong>)<br />

Eine Museumskonzeption gehörte schon lange zu den bisher<br />

unerledigten Hausaufgaben der Stadt, nun lag sie Entwurf vor:<br />

Museumslandschaft <strong>Rostock</strong>, Integriertes Entwicklungskon-<br />

zept bis 2018, Zusammenfassung sowie Konzept zur Personalentwicklung<br />

2009 (ebd., unter „Textrecherche“).<br />

Im März 2010 soll diese Konzeption durch die Bürgerschaft<br />

beschlossen werden. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird dies<br />

nicht geschehen – statt dessen sollten wir froh sein, wenn sich<br />

2010 eine breite, auf konkrete Ergebnisse orientierte Diskussion<br />

entwickelt, die zu einem tatsächlich tragfähigen Konzept<br />

führt.<br />

Denn in der Tat gibt es ein lebhaftes Interesse vieler <strong>Rostock</strong>erinnen<br />

und <strong>Rostock</strong>er, mitzudenken und mitzureden bei der<br />

Gestaltung der <strong>Rostock</strong>er Museumslandschaft und damit eines<br />

Teils der eigenen Vergangenheit. Die vielen Gedanken der agilen<br />

und tatkräftigen maritimen Vereine, der Fördervereine, der<br />

freien Kulturszene und vieler Einzelpersonen sollten einfließen<br />

in das Konzept. Das verlangt allerdings nicht nur mehr Zeit<br />

der Verantwortlichen, sondern auch Geduld, Toleranz , das<br />

Aushalten anderer, gar konträrer, selbst unsachlich vorgetragener<br />

und allein der Selbstdarstellung dienender Meinungen, die<br />

Vermittlung sachlicher und konkreter Informationen, aber<br />

auch der Mut zum endlichen Beschluss, eben all das, was Demokratie<br />

ausmacht und entweder zu üppig oder nicht gerade<br />

prächtig in <strong>Rostock</strong> ausgeprägt ist.<br />

Mit den Beiträgen dieses Heftes möchten die <strong>Stadtgespräche</strong><br />

mithelfen, das Gespräch in Gang zu bringen.<br />

Es geht im Wesentlichen um zwei große Schwerpunkte.<br />

1. Wie soll die Museumslandschaft <strong>Rostock</strong>s insgesamt in der<br />

Zukunft aussehen und sich entwickeln?<br />

2. Welchen Inhalt kann ein evtl. neu einzurichtendes Technikmuseum<br />

und welches Alleinstellungsmerkmal sollte es<br />

besitzen, wo soll es Platz finden? ¬


0.22 __ //// TITELTHEMA | DEBATTE<br />

„Opa war dabei.“<br />

Einige Bemerkungen zur Auseinandersetzung über<br />

das Museumskonzept der Hansestadt <strong>Rostock</strong><br />

LUTZ BUDRAß<br />

Es ist gar nicht lange her. Im Juni 2004 berief der Oberbürgermeister<br />

der Hansestadt <strong>Rostock</strong> eine Expertenkommission, die<br />

unter dem Titel „Technik und Verantwortung“ Empfehlungen<br />

formulieren sollte, „in welcher Weise die Industrie- und Technikgeschichte,<br />

vor allem hinsichtlich der Flugzeugindustrie<br />

und der Person Ernst Heinkel zur Zeit des Nationalsozialismus<br />

aufgearbeitet und präsentiert werden kann.“ Die Kommission<br />

kam zu drei Arbeitssitzungen in <strong>Rostock</strong> zusammen, ihre Mitglieder<br />

referierten zu den eigenen Themenbereichen und hörten<br />

etliche weitere Vorträge von Sachverständigen aus der Stadt<br />

und von außerhalb. Am 3. Mai 2005 lagen die Empfehlungen<br />

vor.<br />

Heute, rund viereinhalb Jahre später, gibt es ein Museumskonzept<br />

<strong>für</strong> die Hansestadt <strong>Rostock</strong>. In den Erläuterungen dazu<br />

heißt es, bei der Diskussion über die Weiterentwicklung des<br />

Schifffahrts- und Schiffbaumuseums zu einem Museum <strong>für</strong><br />

(maritime) Technik sollen die Empfehlungen der Expertenkommission<br />

„Technik und Verantwortung“ an die Hansestadt<br />

<strong>Rostock</strong> „einbezogen“ werden. Was auch immer das bedeutet:<br />

Das Konzept <strong>für</strong> das Museum <strong>für</strong> (maritime) Technik, aber<br />

auch <strong>für</strong> die Darstellung des 20. Jahrhunderts in den Museen<br />

der Stadt sähe anders aus, wären die Empfehlungen der Kommission<br />

dort eingeflossen. In jedem Fall hätten Sie die Frage<br />

aufgeworfen, ob eine weitere Expertenkommission berufen<br />

werden sollte, wie auf einen Antrag der Bürgerschaftsfraktion<br />

der SPD hin am 4. November beschlossen. Sie soll darüber befinden,<br />

was das „Alleinstellungsmerkmal“ eines <strong>Rostock</strong>er Museums<br />

<strong>für</strong> (maritime) Technik im Vergleich zu anderen technikorientierten<br />

Museen in Norddeutschland ist, <strong>für</strong> welchen<br />

Standort und welchen Zweck ein solches Museum zu konzipieren<br />

sei. Genau zu diesen Fragen hatte die Kommission von<br />

2004/05 schon ziemlich gut begründete Voten abgegeben.<br />

Aber der Reihe nach. Sicher, die Kommission von 2004/05<br />

widmete sich in erster Linie Ernst Heinkel und seinem Flugzeugwerk.<br />

Die Ausstellung des Förderkreises Luft- und Raumfahrt<br />

2002 hatte aber in <strong>Rostock</strong> eine <strong>für</strong> die Bundesrepublik<br />

beispiellose Diskussion über die Bedeutung der nationalsoziali-<br />

stischen Rüstungskonjunktur <strong>für</strong> eine Stadt entfacht. Allein<br />

deswegen waren sich alle Mitglieder der Kommission einig,<br />

dass es um mehr ging als einen schwäbischen Flugzeugbauer. In<br />

Frage stand das Selbstverständnis der Stadt im 20. Jahrhundert.<br />

Es ging um das „Alleinstellungsmerkmal“ <strong>Rostock</strong>s – darum,<br />

wie diese Stadt, die tiefer als die meisten anderen in Deutschland<br />

von den industriegeschichtlichen Zäsuren des Jahrhunderts<br />

geprägt wurde, ihre Zeitgeschichte <strong>für</strong> ihre Bürger, aber<br />

auch <strong>für</strong> Besucher darstellen könne.<br />

Deshalb haben die Empfehlungen auch, grob gesehen, zwei<br />

Teile. Einen ersten, in dem der Industrialisierungsschub durch<br />

die Rüstung deutlich gemacht wird – mit einem Ausblick auf<br />

die Folgen in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg – und einen<br />

zweiten, in dem Modelle <strong>für</strong> die museale Präsentation entwikkelt<br />

werden.<br />

Um es noch einmal kurz zusammenzufassen: Der Aufbau einer<br />

kriegsfähigen Flugzeugindustrie war das größte industrielle<br />

Projekt des Dritten Reiches. Drei Viertel der Investitionen <strong>für</strong><br />

dieses Projekt flossen in den Teil Deutschlands, der 1945 zur<br />

sowjetischen Besatzungszone wurde. Und der durch dieses Projekt<br />

ausgelöste Wandel bildete sich nirgendwo so deutlich ab<br />

wie in <strong>Rostock</strong> und Warnemünde. Allein deshalb stand aber<br />

diese Stadt 1945 mehr als alle anderen vor der Frage, wie mit<br />

den Hinterlassenschaften dieses Projekts umgegangen werden<br />

sollte. Zumal durch die Verheerungen des Krieges plötzlich<br />

noch einmal 2 Millionen Menschen mehr in Mecklenburg und<br />

Vorpommern waren – Vertriebene und Umsiedler, ohne Heim,<br />

ohne Arbeit und Habe.<br />

Neptun- und Warnowwerft, Fischkombinat, Seerederei und<br />

Überseehafen waren nicht einfach da<strong>für</strong> gedacht, einen Ersatz<br />

<strong>für</strong> Heinkel und Arado zu bieten. Durch sie setzte sich die Erfahrung<br />

der dreißiger Jahre fort: <strong>Rostock</strong> und Warnemünde<br />

waren abermals Zentren eines durch Industrialisierung ausgelösten<br />

Wandels, der in keinem anderen Teil Deutschlands eine<br />

Entsprechung findet. Das Wachstum der Stadt auf 100.000<br />

Einwohner (1935) und später 250.000 (1987) spiegelt ihn nur


lass, doch zeigt es mindestens dies: Die Geschichte der überwiegenden<br />

Mehrheit der Menschen, die heute in <strong>Rostock</strong> und<br />

Warnemünde leben, liegt in diesem Industrialisierungsschub,<br />

der sich in dem halben Jahrhundert zwischen 1930 und 1980<br />

entfaltete.<br />

Niemand, der an der Sache interessiert ist, wird die nationalsozialistische<br />

Rüstung und den Aufbau des Sozialismus in der<br />

DDR in einen Topf werfen. Genauso falsch wäre es aber, die<br />

Geschichte des Nationalsozialismus auf Gedenkstätten zu beschränken:<br />

„Opa war dabei, Opa war fasziniert, Opa war ein<br />

toller Techniker und bis heute ist er die Seele der Familie“ - dies<br />

sei die <strong>Rostock</strong>er Erfahrung, sagte Matthias Pfüller von den<br />

Politischen Memorialen auf der zweiten Sitzung der Expertenkommission,<br />

die es zu erfassen gelte. Auf sie muss sich die historische<br />

Selbstdarstellung der Stadt – Alleinstellungsmerkmal<br />

hin, „Edutainment“ her – konzentrieren, denn ohne diese Erfahrung<br />

ist diese Stadt nicht zu verstehen, weder von den<br />

Nachgeborenen noch von ihren Besuchern.<br />

Geschichte leitet sich ab von Geschehen, aber auch von<br />

Schichten. Die Schichten des zwanzigsten Jahrhunderts legten<br />

sich in <strong>Rostock</strong> von der Heinkelmauer entlang der Unterwarnow<br />

bis hin nach Warnemünde übereinander, wo die „sozialistische<br />

Seewirtschaft“ an die Stelle der „faschistischen Rüstungsindustrie“<br />

trat. Das ist der historische Ort der <strong>Rostock</strong>er<br />

Zeitgeschichte. Die Empfehlungen der Kommission von<br />

2004/05 zur musealen Präsentation konzentrieren sich daher<br />

auf das „Band der Erinnerung“.<br />

Dieses Band, das in die Kulturmeile entlang der Warnow zu integrieren<br />

ist [die <strong>Stadtgespräche</strong> berichteten – Anm. d. Red.],<br />

soll durch gesicherte Überreste der verschiedenen Schichten<br />

des <strong>Rostock</strong>er 20. Jahrhunderts – angefangen bei der so genannten<br />

Heinkelmauer - markiert werden, und dabei vor allem<br />

dem Zweck dienen, die historische Auseinandersetzung in die<br />

Öffentlichkeit zu tragen. Denn die breite und intensive öffentliche<br />

Diskussion, die ihre Ursache darin hatte, dass die Spuren<br />

der älteren Schicht fast restlos getilgt wurden, ist Teil der Geschichte<br />

selbst. Industriearchäologische Präsentation im Verbund<br />

mit erläuternden Tafeln im öffentlichen Raum sowie eine<br />

Open-Air-Ausstellung auf dem Gelände der Neptunwerft seien<br />

ein Ansatz, dauerhaft eine Gelegenheit zum Gespräch über die<br />

Erfahrung der Stadt im 20. Jahrhundert zu bieten. Alles dies<br />

könne eine vertiefende Darstellung, schlossen die Empfehlungen<br />

der Kommission, aber nur ergänzen, nicht ersetzen. Langfristiges<br />

Ziel müsse eine überregional attraktive Dauerausstellung<br />

zur industriegeprägten Zeitgeschichte <strong>Rostock</strong>s sein, <strong>für</strong><br />

die entweder Gebäude am historischen Ort selbst – der Hochbunker<br />

auf dem Gelände der Neptunwerft oder die Heinkel-<br />

Lehrwerkstatt der in Marienehe – oder das Museumsgebäude<br />

in der August-Bebel-Straße in Frage kämen.<br />

Soweit die Empfehlungen. Was hat sich seit 2005 getan, und<br />

vor allem, wie ist das jetzige Museumskonzept im Licht dieser<br />

Empfehlungen zu bewerten? Die <strong>Rostock</strong>er Zeitgeschichte in<br />

die Öffentlichkeit zu tragen, hat in der Aufstellung der Tafeln<br />

am Thomas-Müntzer-Platz immerhin einen Anfang genommen.<br />

Allerdings ist die Sicherung der Überreste – vor allem in<br />

der Frage, welcher Rang der Heinkelmauer zukommen soll –<br />

und das Vorhaben des „Bandes der Erinnerung“ sonst nicht viel<br />

weiter vorangekommen.<br />

Das Museumskonzept freilich ignoriert die Findungen der<br />

Kommission und erst recht die Besonderheiten der <strong>Rostock</strong>er<br />

Geschichte des 20. Jahrhunderts überhaupt. Die Frage nach<br />

dem Alleinstellungsmerkmal eines <strong>Rostock</strong>er Technikmuseums<br />

lässt sich schon allein mit einem Zitat aus dem Protokoll der<br />

Sitzung der Kommission vom 10.9.2004 beantworten: „Herr<br />

Prof. Morsch fragt anschließend nach, inwieweit das Schiffbaumuseum<br />

auch andere Technikbereiche, z. B. den Flugzeugbau ,<br />

aufnehmen könne […] Herr Dr. Danker-Carstensen führt aus,<br />

dass weder auf dem Traditionsschiff noch in dem geplanten<br />

Museumsneubau <strong>für</strong> weitere Technikbereiche Kapazitäten vorhanden<br />

seien. […] Herr Dr. Budraß fragt, was den besonderen<br />

Charakter des Schiffbaumuseums ausmache. Herr Dr. Danker-<br />

Carstensen führt aus, dass die Schiffbaugeschichte den inhaltlichen<br />

Schwerpunkt des Schiffbaumuseums darstelle und dass<br />

dieser Schwerpunkt das Alleinstellungsmerkmal gegenüber anderen<br />

technikhistorischen Museen sei.“ Was, ist zu fragen, kann<br />

eine Expertenkommission herausfinden, um diese eindeutige<br />

Stellungnahme des Museumsdirektors aus dem Jahr 2004 zu<br />

widerlegen?<br />

Das Museumskonzept – auch und gerade die Idee, dem Schifffahrts-<br />

und Schiffbaumuseum <strong>Rostock</strong> nun doch auch aufzutrage,<br />

„<strong>Rostock</strong> als Standort der Flugzeugindustrie in der 1.<br />

Hälfte des 20. Jh.“ zu präsentieren – krankt jedoch daran, dass<br />

überhaupt eine Teilung zwischen technik- und zeithistorischer<br />

Ausstellung vorgenommen wird. Technikgeschichte als Teildisziplin<br />

der Geschichtswissenschaften wird seit mindestens dreißig<br />

Jahren von der Grundüberlegung bestimmt, dass sie die<br />

Prägung von Gesellschaft durch Technik darzustellen hat – was<br />

sich am <strong>Rostock</strong>er Beispiel <strong>für</strong> das 20. Jahrhundert besser darstellen<br />

liesse als irgendwo sonst. Die Auffassung, sie erschöpfe<br />

sich in der Lehrschau von technischen „Meisterwerken“, ist<br />

hoffnungslos antiquiert. Genau dieser Weg wird aber mit diesem<br />

inspirationslosen Konzept beschritten. Denn Zeitgeschichte<br />

<strong>Rostock</strong>s soll in der August-Bebel-Straße gezeigt werden<br />

- jedoch nicht als Schwerpunkt, sondern als kleinerer Ausschnitt<br />

aus der 800jährigen <strong>Rostock</strong>er Stadtgeschichte insgesamt,<br />

zumal entlang der Zäsuren der allgemeinen politischen<br />

Geschichte: 1918-1933-1945-1989.<br />

Allein diese banale chronologische Teilung zeigt, dass die Verfasser<br />

des Konzepts nicht verstanden haben, worin das geschilderte<br />

„Alleinstellungsmerkmal“ der <strong>Rostock</strong>er industriegeprägten<br />

Zeitgeschichte besteht. Erst recht nicht die leidenschaftliche<br />

Bewegung, die <strong>Rostock</strong> 2002 erfasste und nichts weniger<br />

zum Inhalt hatte, als die verschwiegenen Kapitel des zwanzigsten<br />

Jahrhunderts ans Licht zu befördern und Sorge zu tragen,<br />

dass sie dauerhaft Gegenstand öffentlicher Diskussion bleiben.<br />

¬


0.24 __ //// TITELTHEMA | DEBATTE<br />

Die <strong>Rostock</strong>er Museumslandschaft<br />

in den<br />

Vorstellungen des<br />

Museumskonzeptes<br />

PETER KÖPPEN<br />

Im Museumskonzept heißt es: „Das Kulturhistorische Museum,<br />

die Kunsthalle, das Schifffahrts- und Schiffbaumuseum<br />

sowie das Heimatmuseum legen mit diesem Papier ihre Zielsetzungen<br />

und Planung <strong>für</strong> die kommenden zehn Jahre in einem<br />

integrierten Entwicklungskonzept vor. Damit soll der Bürgerschaft<br />

und den Bürgern der Hansestadt <strong>Rostock</strong> und des Umlandes<br />

verdeutlicht werden, wie sich die Museen <strong>Rostock</strong>s mittelfristig<br />

profilieren und positionieren wollen.“<br />

Träger des Heimatmuseums Warnemünde ist der Museumsverein<br />

Warnemünde e. V., der ab 1.1.2005 mit der Stadt nach<br />

der 2003 aus Kostengründen drohenden Schließung einen Betreibervertrag<br />

abschloss und die Betriebsführung übernahm.<br />

Das Museum existiert nun mit Hilfe finanzieller Unterstützung<br />

der Stadt <strong>Rostock</strong>, projektgebundener Unterstützung des<br />

Landes Mecklenburg-Vorpommern und dem hohen Engagement<br />

der weit über 100 Mitglieder.(www.heimatmuseum-warnemuende.de)<br />

Betreiber der Kunsthalle (www.kunsthallerostock.de ) ist seit<br />

dem 1.März 2009 der Verein „pro Kunsthalle“ mit dem kunstinteressierten<br />

Zahnarzt Dr. Jörg-Uwe Neumann als Geschäftsführer.<br />

Eigentümer bleibt die Stadt <strong>Rostock</strong>, die eine monatliche<br />

Grundfinanzierung gibt. Zusätzliche Kosten trägt der Verein,<br />

der Ausstellungen und Veranstaltungen organisiert. Seit<br />

1992/93, als zum ersten Mal die Kunsthalle in ihrer Existenz<br />

bedroht war, unterstützen <strong>Rostock</strong>er BürgerInnen im Förderverein<br />

„Freunde der Kunsthalle <strong>Rostock</strong> e.V.“ auf vielfältige<br />

Weise ihr Weiterleben. Da die Kunsthalle bei ihrer Gründung<br />

1969 nicht als Museum, sondern als Ausstellungshalle konzipiert<br />

war, fehlt allerdings bis heute ein Funktionsanbau, der<br />

Räume <strong>für</strong> Ausstellungstechnik, Depots und Bibliotheksräume<br />

vorhält. Er muss gebaut werden. Laut Museumskonzept soll<br />

sich die Kunsthalle neben ständigen Sonderausstellungen auf<br />

die Präsentation aktueller zeitgenössischer Kunst ab 1948, ins-<br />

besondere in Ostdeutschland/DDR und in Nordeuropa, konzentrieren.<br />

Das 1859 gegründete Kulturhistorische Museum <strong>Rostock</strong><br />

(www.kulturhistorisches-museum-rostock.de) wird als einziges<br />

der vier Museen in kommunaler Trägerschaft betrieben. Es ist<br />

das älteste <strong>Rostock</strong>er Museum mit dem Schwerpunkt Kunst-,<br />

Kultur- und Stadtgeschichte. Der Fundus ist so groß, dass überlegt<br />

wird, den Teil der Kulturgeschichte von der Reformation<br />

bis zur Gegenwart und die achthundertjährige <strong>Rostock</strong>er<br />

Stadtgeschichte völlig neu in der August-Bebel-Straße 1 einzurichten.<br />

Es ist das ehemalige Schifffahrtsmuseum und der jetzige<br />

Sitz der Informations-, Bildungs- und Begegnungsstätte Societät<br />

<strong>Rostock</strong> maritim e.V., die durch ihr Wirken die vollständige<br />

Schließung des ehemaligen Schifffahrtmuseums verhindern<br />

konnte. Eine andere Variante der Erweiterung wäre ein<br />

Neubau, z.B. auf der Nordseite des Neuen Marktes. Im Kloster<br />

zum Heiligen Kreuz würden dann die Schwerpunkte Klostergeschichte,<br />

Backsteingotik, mittelalterliche Kunst, Kunsthandwerk<br />

und Alltagskultur und Spielzeug weiter profiliert.<br />

Das Schifffahrts- und Schiffbaumuseum <strong>Rostock</strong> ist derzeit<br />

auf dem Traditionsschiff, Typ Frieden, in <strong>Rostock</strong>-Schmarl auf<br />

dem IGA-Gelände untergebracht. Auf diesem Schiff öffnete<br />

einst am 13. Juni 1970 das <strong>Rostock</strong>er Schiffbaumuseum seine<br />

Pforten. Zur IGA 2003 in <strong>Rostock</strong> erhielt es seinen neuen Liegeplatz<br />

bei Schmarl. 2001 wurde es an die IGA GmbH zum<br />

symbolischen Kaufpreis von 1 DM übergeben und gehört seitdem<br />

zum Anlagevermögen der IGA GmbH. Das Verholen und<br />

die Restaurierung des Schiffes wurden finanziert mit Fördermittel<br />

aus dem Fonds des IGA-Projekts, um <strong>für</strong> die Zeit der<br />

IGA ein weiteres Highlight präsentieren zu können. Das Fehlen<br />

eines tragfähigen Nachnutzungskonzepts <strong>für</strong> das gesamte<br />

IGA-Gelände ließ auch das Schicksal des Schiffes ab Ende<br />

2003 ungeklärt.


Zum 01.09.2004 wurde das Schifffahrtsmuseum, einschließlich<br />

(zahlenmäßig reduzierter) Mitarbeiterschaft, aus dem Museumsverbund<br />

der Städtischen Museen herausgelöst und per<br />

Betriebsübergang in die Betreibergesellschaft des IGA-Parks<br />

integriert. Damit ist die IGA <strong>Rostock</strong> 2003 GmbH neben der<br />

Pflege und Betreibung des Parkgeländes auch <strong>für</strong> den Betrieb<br />

des nunmehrigen Schiffbau- und Schifffahrtsmuseums verantwortlich.<br />

Die dort gezeigten Sammlungen allerdings befinden<br />

sich im Eigentum der Hansestadt <strong>Rostock</strong>. Sie werden heute<br />

als Dauerleihgaben ausgestellt und wissenschaftlich vom Personal<br />

des Schiffbau- und Schifffahrtsmuseums betreut. Da<strong>für</strong><br />

zahlt die Stadt einen jährlichen Haushaltszuschuss von fast 1<br />

Mio. EUR an die IGA GmbH. An der IGA <strong>Rostock</strong> 2003<br />

GmbH ist die Hansestadt zu 63 % beteiligt. Der Geschäftsführer<br />

der IGA GmbH ist gleichzeitig der Geschäftsführer der<br />

Großmarkt <strong>Rostock</strong> GmbH, einer weiteren kommunalen Gesellschaft.<br />

Das Schifffahrts- und Schiffbaumuseum <strong>Rostock</strong> soll nach den<br />

Vorstellungen des <strong>Konzepte</strong>s bis zum Jahr 2018 zu einem Museum<br />

<strong>für</strong> maritime Technik entwickelt werden. Schwerpunkte<br />

lägen in der Präsentation der historischen Technikentwicklung<br />

in der Hansestadt <strong>Rostock</strong> und der Region und dabei in den<br />

Bereichen Schifffahrt und Schiffbau seit 1870, der Flugzeugindustrie<br />

in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der neueren<br />

maritimen Technik in den Bereichen Offshore und Schiffsausrüstung.<br />

Schwerpunkt soll die industrielle Entwicklung der Stadt unter<br />

dem Gesichtspunkt der technischen Innovationen sein. Dabei<br />

werde der politische Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung<br />

der Stadt – vor allem im Dritten Reich und in der DDR –<br />

besonders hervorgehoben. Damit einhergehend widmet sich<br />

das Museum <strong>für</strong> maritime Technik dem Problemkreis „Technik<br />

und Verantwortung“. Diese doch recht schwammige Formulierung<br />

lässt viele Deutungen zu, ebenso die genannten Ausstellungsschwerpunkte<br />

des Museums <strong>für</strong> maritime Technik:<br />

- <strong>Rostock</strong> als Standort der Schiffbauindustrie in Vergangenheit,<br />

Gegenwart und Zukunft<br />

- <strong>Rostock</strong> als maritimer Technologiestandort - Schiffe der<br />

Zukunft- <strong>Rostock</strong> als Marinestandort<br />

- <strong>Rostock</strong> als Standort der Hochseefischerei<br />

- <strong>Rostock</strong> als Standort der Flugzeugindustrie in der 1. Hälfte<br />

des 20. Jh.<br />

- Die Entwicklung des Segelschiffes im Ostseeraum – Die<br />

Bewahrung des maritim-kulturellen Erbes durch traditionelle<br />

Segelschiffe.<br />

Erforderlich <strong>für</strong> eine langfristige Entwicklung des Schifffahrtsund<br />

Schiffbaumuseum <strong>Rostock</strong> bis zum Jahr 2018 zu einem<br />

maritimen Technikmuseum wäre neben den bestehenden Ausstellungsflächen<br />

der Neubau eines Ausstellungsgebäudes (Kosten<br />

etwa 7 Mill. Euro) sowie die Bereitstellung von Freiflächen<br />

<strong>für</strong> industrielle Großobjekte aus der <strong>Rostock</strong>er Technikgeschichte.<br />

Bei einer Verlegung des Traditionsschiffes käme nach<br />

Ansicht des <strong>Konzepte</strong>s als neuer Ort die Haedgehalbinsel im<br />

<strong>Rostock</strong>er alten Hafen in Frage.<br />

Probleme in Hülle und Fülle und trotzdem …<br />

Die unterschiedlichen Betreibermodelle und komplizierten Besitz-<br />

und Nutzungsverhältnisse und damit auch unterschiedlichen<br />

Interessen und Gegebenheiten werden es sicher nicht einfacher<br />

machen, die Zielvorstellung des <strong>Konzepte</strong>s erfolgreich<br />

durchzusetzen, die da heißt:<br />

Die inhaltliche Abstimmung und das gemeinsame Markendach<br />

„Museumslandschaft <strong>Rostock</strong>“ führen zu einem gedeihlichen<br />

Miteinander der vier Einrichtungen mit den unterschiedlichen<br />

Präsentationsschwerpunkten<br />

- Museum <strong>für</strong> Kunst- und Kulturgeschichte (Kulturhistorisches<br />

Museum),<br />

- Museum <strong>für</strong> moderne Kunst (Kunsthalle),<br />

- Museum <strong>für</strong> maritime Technik (bisher Traditionsschiff )<br />

- Museum <strong>für</strong> Volkskunde (Warnemünder Heimatmuseum)<br />

„Denn nur durch eine konzeptionelle Zusammenführung der<br />

musealen Angebote der Hansestadt kann der Museumsstandort<br />

<strong>Rostock</strong> in Mecklenburg-Vorpommern und darüber hinaus<br />

national wie international profiliert werden.“<br />

Ein noch größeres Problem sind die aufzubringenden Kosten.<br />

Im Konzept heißt es: „Insgesamt sind 22.708.000 € zu investieren,<br />

von denen allerdings „nur“ 9.218.650 € aus dem Haushalt<br />

der Hansestadt zu finanzieren sind. Die restlichen 13.489.350<br />

€ werden aus Fördermitteln unterschiedlicher Förderinstitutionen<br />

finanziert.“<br />

Auch hier ist der kein Prophet, der von einer schließlich deutlich<br />

höheren Summe ausgeht. Und der muss auch kein Pessimist<br />

sein, der dann das Konzept scheitern sieht, wenn nicht<br />

klar ist: Woher und wann kommen die Mittel <strong>für</strong> den notwendigen<br />

Eigenanteil aus dem Haushalt der Stadt, welche Fördermittel<br />

können überhaupt beantragt werden?<br />

Die strittigste Frage ist die nach der inhaltlichen Ausgestaltung<br />

eines Technikmuseums, dem Alleinstellungsmerkmal dieses<br />

Museums und seinem Standort. Viele Antworten stehen noch<br />

aus.<br />

Nun soll nach dem Willen des Kulturausschusses nicht nur eine<br />

neue, per Bürgerschaftsbeschluss geforderte Expertenkommission<br />

die Sache richten, sondern eine Lenkungsgruppe vorgeschaltet<br />

werden, bestehend aus: dem Oberbürgermeister, der<br />

Senatorin <strong>für</strong> Jugend und Soziales, Gesundheit, Schule und<br />

Sport, Kultur, der Leiterin der Städtischen Museen, der Vorsitzenden<br />

des Kulturausschusses, dem Rektor der Universität <strong>Rostock</strong>,<br />

dem Leiters des Schifffahrtsmuseums, dem Direktors des<br />

Deutschen Museums, einem Vertreters des Museumsverbands<br />

Mecklenburg-Vorpommerns. Diese Lenkungsgruppe soll die<br />

Expertengruppe einberufen.<br />

(http://195.37.188.171/bi/to020.asp?TOLFDNR=7008838<br />

&options=2)<br />

Der Expertenkommission könnten nach Meinung des Kulturausschusses<br />

angehören: der Direktor des Deutschen Museums,


0.26 __ //// KONZEPTIONELLES: STADTPOLITIK<br />

der Leiter des Schifffahrtsmuseums <strong>Rostock</strong>, ein Vertreter des<br />

Museumsverbandes Mecklenburg-Vorpommerns, die Direktoren<br />

des Deutschen Technik Museums Berlin und des Deutschen<br />

Schifffahrtsmuseums Bremerhaven. Sie sollen zu einzelnen<br />

Fragestellungen weiteren Sachverstand kooptieren und außerdem<br />

einen Vorschlag <strong>für</strong> Marketing und Tourismus machen<br />

und daraus einen Standort <strong>für</strong> das Museum entwickeln. Die<br />

Vorschläge würden dann der Lenkungsgruppe vorgelegt. Anschließend<br />

solle gemäß des Bürgerschaftsbeschlusses<br />

2009/AN/0548-03 ein breiter Diskussionsprozess organisiert<br />

und das Museumskonzept entsprechend überarbeitet werden.<br />

Warum eigentlich wieder ein so ungemein komplizierter Verfahrensweg<br />

mit faktischem Abschieben von Verantwortung?<br />

Warum geht es nicht sehr viel einfacher und zielführender, z.B.<br />

so:<br />

Laut Beschluss Nr. 2009/AN/0579 der Bürgerschaft (vgl.<br />

oben) hat der OB die Expertenkommission einzusetzen. Welche<br />

Aufgabe sie hat, ist formuliert. Die personelle Zusammensetzung<br />

legen OB, Kultursenatorin und Kulturausschuss gemeinsam<br />

und in Absprache mit den Fraktionen und kulturellen<br />

und musealen Einrichtungen fest, ohne Prozedere einer<br />

Findungskommission, ohne lange Verhandlungen mit auswärtigen<br />

Fachleuten, ohne zusätzliche Kosten <strong>für</strong> Reisen und Unterkunft,<br />

z.B. <strong>für</strong> den Direktor des Deutschen Museums (gemeint<br />

ist wohl das Deutsche Museum von Meisterwerken der<br />

Naturwissenschaft und Technik in München, wohl das größte<br />

Technische Museum in Europa). Diese Kommission setzt sich<br />

vornehmlich aus Experten aus M-V zusammen, mit den Rostokker<br />

Gegebenheiten und den historischen Fakten vertrauten<br />

sachverständige Frauen und Männer. Es gibt sie, man muss sie<br />

nur kennen und ihnen Verantwortung und Gestaltungsspielraum<br />

geben. Namen sind gerne nachzureichen.<br />

Konsultationen mit dem Sachverstand aus den anderen Bundesländern<br />

sind natürlich jederzeit möglich und willkommen.<br />

Diese Kommission entwickelt die Grundzüge eines Projektes<br />

<strong>für</strong> den Aufbau eines Technikmuseums, <strong>für</strong> seinen Inhalt, den<br />

Standort, die Kosten usw., einen Zeitplan, der zum Ziel in verschiedenen<br />

Schritten führt. Und das alles geht letztlich – wenn<br />

man es ernst meint mit dem Projekt - nicht ohne einen hauptamtlich<br />

tätigen Projektleiter und bei der Verwirklichung des<br />

Projektes auch nicht ohne eigenen Haushalt.<br />

Wertvolle Vorarbeiten liegen vor<br />

Bereits 2004/05 erarbeitete eine vom OB im Juni 2004 berufene<br />

Expertenkommission Technik und Verantwortung „Empfehlungen<br />

an die Hansestadt <strong>Rostock</strong>, in welcher Weise die Industrie-<br />

und Technikgeschichte, vor allem hinsichtlich der<br />

Flugzeugindustrie und der Person Ernst Heinkel zur Zeit des<br />

Nationalsozialismus aufgearbeitet und präsentiert werden<br />

kann. Dabei soll die individuelle und gesellschaftliche Verantwortung<br />

der handelnden Personen und Gruppen sowie die Perspektive<br />

der Opfer des Nationalsozialismus einbezogen werden.“<br />

(Bürgerinformationssystem, Vorlage - 0052/05-IV)<br />

In der bisherigen Diskussion zum Museumskonzept spielten<br />

die Ergebnisse kaum eine Rolle, die wenigsten kennen sie oder<br />

erinnern sich daran. Oder befördern die weiter existierenden<br />

unterschiedlichen Sichten auf das Verhältnis von Technik und<br />

Verantwortung das „Vergessen“? Wer die museale Darstellung<br />

von Technikentwicklung in erster Linie als eine Frage der Außenwirkung,<br />

des Marketings und der Aufwertung <strong>Rostock</strong>s als<br />

Wirtschaftsstandort betrachtet, möchte die Empfehlungen von<br />

2004 wohl gerne in der Schublade vergilben lassen.<br />

Es ist ein Trauerspiel, mit welcher Ignoranz die Empfehlungen<br />

der Kommission in der Versenkung verschwanden und wie viel<br />

Zeit damit wieder verloren ging.<br />

Bereits 2004 hatte die Expertenkommission festgestellt: „Historische<br />

Forschung und Quellensicherung bilden die Grundlage<br />

<strong>für</strong> eine sachliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.“<br />

Notwendig sei eine solide Grundlagenforschung. Nichts<br />

ist geschehen. Das Vorhaben, am Historischen Institut der<br />

Universität <strong>Rostock</strong> eine Honorarprofessur einzurichten, die<br />

Stadt und Universität nicht mehr als mit den Reisekosten belastet<br />

hätte, scheiterte an der völligen Gleichgültigkeit der Verantwortlichen<br />

an der Universität.<br />

Die Kommission hatte viele Einzelschritte in einem mehrstufigen<br />

Vorgehen empfohlen, in dem die Einwohner <strong>Rostock</strong>s auf<br />

unterschiedliche Weise eingebunden werden sollten und längerfristig<br />

ein attraktives, überregional bedeutsames Ausstellungsangebot<br />

entwickelt wird. Und sie machte ganz wesentliche<br />

Aussagen zum derzeit wieder so krampfhaft gesuchten Alleinstellungsmerkmal<br />

eines Technik-Museums (vgl. dazu Beitrag<br />

von Lutz Budraß in diesem Heft.)<br />

Wird es gelingen, diesmal das Knäuel aus unterschiedlichen Interessen<br />

und Sichten aufzulösen, das jahrelange Hin und Her<br />

der Diskussionen ohne klare Entscheidungen, die personellen<br />

Querelen und fachlichen Unzulänglichkeiten zu überwinden,<br />

die personellen und fachlichen, die finanziellen und wirtschaftlichen<br />

Ressourcen zu mobilisieren und das politische Durcheinander<br />

und Gegeneinander in Bürgerschaft und Verwaltung<br />

zu überwinden?<br />

Was würden Sie sagen, wenn schon nicht im März, aber eine<br />

überschaubare Zeit später ein erster Beschluss von der Bürgerschaft<br />

gefasst wird (ohne folgenden Widerspruch des OB!):<br />

„Das Traditionsschiff wird als ersten Schritt auf dem Weg zum<br />

Technikmuseum in den alten Hafen verholt und am günstigsten<br />

Platz <strong>für</strong> den Zugang vieler Besucher festgemacht. Schritt<br />

<strong>für</strong> Schritt werden entlang der Kaikante von den Silos bis zum<br />

zweiten großen noch stehenden Kran die Einzel-Exponate von<br />

den Freiflächen in Schmarl neu aufgestellt. Die von der Expertenkommission<br />

vorgelegten inhaltlichen Schwerpunkte und<br />

Arbeitsvorhaben sowie die zeitliche Abfolge der folgenden Arbeiten<br />

werden bestätigt.“<br />

Ich weiß, Sie sagen: unglaublich. - Aber vielleicht passiert auch<br />

in <strong>Rostock</strong> noch ab und an ein Wunder. ¬


FOTO: TOM MAERCKER


0.28 __ //// TITELTHEMA<br />

Welche Wahl lässt<br />

uns die Krise?<br />

CHRISTOPH KÖRNER<br />

Wenn es nach den Vertretern des Neoliberalismus ginge, dann<br />

hätten wir auch in der jetzigen Krise keine Wahl. Denn seit<br />

Margret Thatchers Leitspruch „There Is No Alternative“ geistert<br />

das TINA-Syndrom in der Welt umher und vergiftet die<br />

Köpfe von Politikern, Ökonomen und Geldbesitzern. Diese<br />

„TINA-Ideologie“, die uns erst in die Krise geführt hat, besagt,<br />

dass es zum Neoliberalismus keine Alternative gebe und darum<br />

dieser jetzt mit aller Macht erst recht durchgesetzt werden<br />

müsste. Und dies wird behauptet, obwohl die Krise gezeigt hat,<br />

dass Globalisierung, Liberalisierung und Privatisierung nicht<br />

wie propagiert zur allgemeinen Gleichheit und zu allgemeinem<br />

Wohlstand <strong>für</strong> alle führten, sondern das Gegenteil bewirkten.<br />

Aber auch die Pessimisten, die keinen Ausweg aus der gegenwärtigen<br />

weltweiten Gesellschafts- und Klimakrise sehen, weil<br />

es schon zu spät <strong>für</strong> ein Umsteuern sei, sind mit ihrer Alternativlosigkeit<br />

nicht besser als die neoliberalen Vertreter. Beide leben<br />

ohne Visionen und deshalb ohne Hoffnungen und sind<br />

deshalb untauglich zur lebenserhaltenden Gestaltung der Welt.<br />

Aber Krise heißt nicht Untergang sondern Entscheidung.<br />

Und deshalb stellt uns die Krise vor die Wahl, zuerst einmal<br />

Grundsatzentscheidungen zu fällen.<br />

So sollten wir uns jetzt in der Krise fragen: Müssen ausschließlich<br />

Märkte, Männer und Moneten unsere Welt beherrschen<br />

oder nicht doch eher lebensdienliche Maßstäbe <strong>für</strong> alle? Verstehen<br />

wir uns noch als Wertegemeinschaft oder schon als<br />

Wertpapiergemeinschaft? Sind wir, und besonders die Unternehmer<br />

und Eigner von Kapital, bereit, <strong>für</strong> Werte wie Demokratie,<br />

soziale Gerechtigkeit und Solidarität einzutreten und<br />

da<strong>für</strong> auch Opfer zu bringen? Wollen wir, dass die Politik des<br />

Gemeinwohls das Primat vor der Wirtschaft hat und darum<br />

dieser auch Rahmenbedingungen setzt oder wollen wir weiterwirtschaften<br />

wie bisher? Denn Daniela Dahn hat in ihrem<br />

jüngsten Buch („Wehe dem Sieger!“) das Krisensyndrom unse-<br />

rer Gesellschaft auf den Punkt gebracht: Der Kapitalismus<br />

muss aufhören, er selbst zu sein, „damit die Krise nicht auch die<br />

Demokratie in den freien Fall zieht.“<br />

Bevor man aber Strategien entwickelt, benötigt man ein Leitziel,<br />

eine Vision, denn schon in den Sprüchen Salomonis steht:<br />

„Ein Volk ohne Vision geht zugrunde.“ (Spr.29,18). Und das<br />

heißt: Der Weg aus diesem Dilemma führt nur über eine Vision<br />

von einer gerechten Gesellschaft, die die zukünftige Politik<br />

ethisch zielorientiert bestimmen muss. Diese Vision darf deshalb<br />

nicht mehr bei den Hoffnungen ansetzen, die wir durch<br />

Herrschaft über Mensch und Natur erreichen, sondern bei den<br />

Hoffnungen, um die Menschen bis heute betrogen werden,<br />

weil man sie ignoriert und nicht <strong>für</strong> sie da sein will.<br />

Deshalb müssen sich die Betroffenen selbst einmischen in die<br />

Verhältnisse, die sie unterdrücken. Durch die direkte Demokratisierung<br />

der Leidenden kommt es zu einer Globalisierung<br />

ihrer Hoffnung, wie sie sich jetzt schon weltweit in den globalisierungskritischen<br />

Bewegungen (Weltsozialforum) zeigt. Diese<br />

Demokratisierung neuer Bürgerbewegung wird zur Neuformierung<br />

gesellschaftlicher Verhältnisse führen, die drei grundsätzliche<br />

Reformen beinhaltet:<br />

1. Geldreform:<br />

Grundlage einer Geldreform wäre die Erkenntnis, dass Geld<br />

nur als Tauschmittel und Wertmesser fungieren dürfte und von<br />

seiner Funktion als Schatzmittel (Wertaufbewahrungsmittel)<br />

befreit werden muss. Denn Geld ist nichts anderes als ein effektives<br />

Transportmittel, das den Handel unterschiedlicher Waren<br />

zwischen Erzeugern und Verbrauchern ermöglicht. Das heißt<br />

konkret: Statt Zinsen müsste eine Nutzungs- und Umlaufgebühr<br />

erhoben werden (wie es heute schon die so genannten Regionalwährungen<br />

praktizieren), die verhindert, dass Geld um<br />

des eigenen Gewinns willen zurückgehalten wird. Der monetä-


e Kern jeder Kreditrendite könnte marktwirtschaftlich gegen<br />

Null tendieren, wenn der „Joker-Vorteil“ (Keynes) des Geldes<br />

durch eine Liquiditätsabgabe neutralisiert würde. Freilich<br />

müsste die Geldreform mit einer Bodenreform verbunden werden,<br />

weil sonst überschüssiges Geld in Bodenspekulationen<br />

fliessen würde.<br />

2. Bodenreform:<br />

Da Boden weder von Menschen produziert noch vermehrt<br />

werden kann, muss er Gemeinbesitz sein, der aber durch Pachtgebühren<br />

(z.B. Erbpacht) privat genutzt werden darf. So könnte<br />

der verpachtete Boden gegen ein laufendes Nutzungsentgelt<br />

zur Verfügung gestellt werden (Bodenrente, Erbzins), das dann<br />

zur Grundsicherung kinderreicher Eltern bereitgestellt werden<br />

könnte. In einem längeren Prozess könnte das bisherige Privateigentum<br />

von Boden in ein privates Nutzungsrecht umgewandelt<br />

und mit staatlichen Pachtabgaben belastet werden. Neben<br />

der Geld- und Bodenreform müsste gleichzeitig eine ökologische<br />

Steuerreform erfolgen.<br />

3. Steuerreform:<br />

Die neuen Steuergesetze müssten in zwei Richtungen gehen:<br />

a) Besteuerung der Produkte und Naturressourcen an Stelle<br />

von Steuern auf Einkommen, denn Arbeit muss von Steuern<br />

befreit sein.<br />

b) Die ökologischen Kosten der Produkte müssten in die Bemessung<br />

der Produktsteuer einfließen.<br />

Alle diese Reformvorhaben sind möglich, wenn wir zu einer<br />

nachhaltigen Form des Wirtschaftens zurückfinden. Dazu benötigen<br />

wir eine Doppelstrategie. Zum einen müssen wir Alternativen<br />

im Kleinen, in überschaubaren Gruppen bilden,<br />

die bewusst untereinander solidarisch handeln. Die kleine gesellschaftliche<br />

Netzzelle könnte somit eine Mikrokontrastgesellschaft<br />

zur großen kapitalistischen Gesellschaft sein und<br />

Vorbildcharakter <strong>für</strong> andere haben. So könnten Gemeinden in<br />

Verbindung mit anderen alternativen Gruppen eine Regionalwährung<br />

einführen.<br />

Zum anderen müsste in diesen Kontrastgruppen das Bewusstsein<br />

<strong>für</strong> alternatives Handeln gestärkt werden, wie zum Beispiel:<br />

- Nutzung alternativer Banken<br />

- Förderung nachhaltiger Investitionen, bei denen die Zinsrate<br />

nicht die Wachstumsrate übersteigt<br />

- Nutzung vor allem erneuerbare Energien (Stromanbieter<br />

wechseln!)<br />

- Schwerpunktlegung auf vorrangig lokale Produktion und<br />

Vermarktung von Grundnahrungsmitteln(wird durch Regionalwährung<br />

gefördert!)<br />

- Bildung neuer größerer und vernetzter Initiativen mit anderen<br />

gleichgesinnten Gruppen, um eine wachsende solidarische<br />

Sozialökonomie zu erreichen.<br />

Damit aber sind wir auf die zweite Strategie gestoßen, die wir<br />

als vernetzte alternative Weltgruppen, als Global Player, ausüben<br />

müssen: Die Bündnisbildung auf der Makroebene mit anderen<br />

sozialen Bewegungen (ATTAC und Gewerkschaften)<br />

zur Intervention gegen neoliberale Wirtschaftsinteressen transnationaler<br />

Konzerne und der mit ihrer Tätigkeit verbundenen<br />

Gewalt gegen Natur und Menschen, bei denen es um die demokratische<br />

und ökologisch verantwortliche Wiederaneignung<br />

der (gestohlenen) Ressourcen und der Früchte der gemeinsamen<br />

Arbeit geht. Die Praxis hat gezeigt, dass eine gerechte<br />

Globalisierung nur durch widerständige Sozialstaaten<br />

möglich ist, die durch ihre alternativen Basisbewegungen demokratisch<br />

beeinflusst werden. Deshalb gilt auch <strong>für</strong> uns heute,<br />

was Daniela Dahn feststellte:<br />

„Der Glaube an eine Gesellschaft, in der ‚die Freiheit des Einzelnen<br />

die Voraussetzung der Freiheit aller’ ist, bedeutet ein<br />

kompromissloses Festhalten an den Gründungsurkunden der<br />

Demokratie, insbesondere der UNO-Menschenrechtscharta.<br />

Die freiheitlichen Grundrechte sind unverzichtbar und müssen<br />

in jeder Gesellschaft neu verteidigt werden. Da<strong>für</strong> unerlässlich<br />

ist in den alternativen Entwürfen die Rückgewinnung des Primats<br />

der Politik gegenüber der Wirtschaft. Wer ein solches Primat<br />

schon einmal erlebt hat, hält die Forderung weder <strong>für</strong> naiv<br />

noch <strong>für</strong> unrealistisch. Die Lehre aus dieser Erfahrung besteht<br />

vielmehr darin, dass sich eine Politik, die ein Primat beansprucht,<br />

permanent demokratisch legitimieren muss[…]. Als<br />

Ergebnis wird eine Ökonomie mit vielfältigen Eigentumsformen<br />

beschrieben, die eine neue Balance zwischen Markt und<br />

Plan findet, weder zentralistisch noch dereguliert ist[…].<br />

Die Kontrolle und Besteuerung der internationalen Finanzmärkte<br />

und Konzerne würde auch berücksichtigen, dass alles<br />

umweltzerstörende Wachstum unser Überleben ernsthaft in<br />

Frage stellt. Preise hätten den Naturverbrauch zu berücksichtigen.<br />

Den Sinn des biblischen Zinsverbotes neu zu bedenken<br />

würde auch bedeuten, Visionen aus der Humanwirtschaftslehre<br />

zu prüfen. Wäre die Zinslogik des Kapitals gebrochen, ließe<br />

sich Wachstum verwandeln vom Umsatz in Umsetzen. Ein<br />

Umsetzen von Ideen in Bildung, Kultur und Forschung.“ (Daniela<br />

Dahn: Wehe dem Sieger! - Ohne Osten kein Westen.<br />

Reinbeck bei Hamburg: rowohlt 2009, S. 279).<br />

Finden wir uns nicht zu diesem Umsetzen zusammen, gleichen<br />

wir Menschen, die schon Bertolt Brecht so karikiert hat:<br />

„Sie sägten Äste ab, auf denen sie saßen,<br />

und schrieen sich zu ihre Erfahrungen,<br />

wie man schneller sägen könnte,<br />

und fuhren mit Krachen in die Tiefe;<br />

die ihnen zusahen, schüttelten die Köpfe<br />

beim Sägen - und sägten weiter.“ ¬


0.30 __ //// RÜCKBLICK<br />

Resümee, 20. Jahre danach<br />

Zwei Generationen oder 100 Jahre über 89/09.<br />

I. Namen und Tage: 1989<br />

JOACHIM COTARU<br />

Für Michael Krenkel gesegneten Andenkens<br />

und alle, mit denen ich damals sein durfte.<br />

Mit Dank an Pit Köppen.<br />

Immer dieses Foto. Das handgemalte Transpi, das uns jemand<br />

nach einer Samstagsdemo am Neuen Markt in die Hand drückte.<br />

Michi, Christian, Eckart, dann zwei, deren Namen mir<br />

nicht in den Sinn kommen, Martin, ich selbst ganz links.<br />

Freundschaften, Bekanntschaften, lange schon aus den Augen<br />

verloren, aus dem Sinn. Michi 1992 so viel zu früh gestorben.<br />

Dieses Foto. 1989? Was war das, frage ich, und wann?<br />

Kurz vor den damals anberaumten Kommunalwahlen, Anfang<br />

Mai, hatte ich mit Hilfe von Karl Schultz meinen Austritt aus<br />

der FDJ schriftlich verfasst und per Post abgeschickt. Lange<br />

hatte dies reifen müssen, über die Zeit in der Jugendgruppe bei<br />

Jochen Schmachtel und die Angst meiner Eltern hinaus: Done!<br />

Mich kotzte der ganze Laden an. Zugleich bereitete er mir<br />

Spaß mit den vielen Gelegenheiten, die er einem Heranwachsenden<br />

zur Provokation bot.<br />

Stefan Krawczyk war aus dem Land geschmissen worden,<br />

durch kräftiges Zutun eines Anwalts, dem wir alle mehr glaubten;<br />

doch die Lieder sangen und hörten wir genauso wie Biermanns.<br />

Seit einem Jahr beschäftigte ich mich mit den Fragen<br />

der Wehrdienstverweigerung – nicht aus Spaß, sondern weil<br />

wir schon so früh in der Schule angefragt wurden, ob wir nicht<br />

<strong>für</strong> unser Vaterland… Nein. Egal, zwei Wochen nach meinem<br />

Austritt hieß es in der Schule, dass das so nicht ginge und meine<br />

Klassenlehrerin Burmeister, fordert die Klasse, pardon:<br />

FDJ-Gruppe, zur Abstimmung auf. Einstimmig angenommen,<br />

was anderes war ja auch nicht vermittelt worden. Ich fand's<br />

sehr amüsant.<br />

Immerhin wollte ich ja bleiben und Pfarrer werden in der sozialistischen<br />

DDR. Auch das hatte ich schon geschrieben, weil es<br />

um die Motivation und Zulassung zur EOS ging, zur Oberstufe.<br />

Ich wollte bleiben, das war auch Tenor in unserer Familie<br />

und es war okay. Schließlich war man damit ja schon fast wieder<br />

Außenseiter in der eigenen Subkultur der Kinder aus oppositionellen<br />

Familien, kirchlichen Zusammenhängen und wie es<br />

so hieß. Nach den Wahlen, verließen mehrere von diesen <strong>Rostock</strong><br />

Richtung Westen. Das Reinemachen gegen die Anzeigenerstatter<br />

wegen Fälschung bei der Kom-munalwahl hatte begonnen.<br />

Plötzlich, ohne Ungarn oder Prager Botschaft, hieß es<br />

<strong>für</strong> Jan, Hanka und einige mehr Koffer packen. Auf einer Party<br />

in der Rennbahnallee erinnere ich mich der Wut, die wir hatten.<br />

Ich mag der Jüngste gewesen sein, die Älteren vielleicht<br />

siebzehn, achtzehn Jahre alt. Wir sangen Westernhagens „Freiheit“,<br />

kippten der Katze Petroleum auf den Schwanz, tranken<br />

viel zu viel, hörten und brüllten TonSteineScherben. Dann begann<br />

die Schulbuchverbrennung, Parteizeitungen als Zugabe.<br />

Die Lieder, die wir mochten, rissen wir vorher noch aus dem<br />

Musikbuch heraus: „Sag mir, wo Du stehst“ gehörte dazu,<br />

„…und welchen Weg Du gehst.“<br />

Im Juni hatte ich Aufnahmeprüfung am Kirchlichen Oberseminar<br />

Herrmannswerder, schon ahnend, dass ich <strong>für</strong> die EOS<br />

nicht gut genug wäre. Schon ahnend, dass meine Nische in der<br />

Zone, meine selbst reservierte Schublade mit „Pfarrer“ oder<br />

„Kirchenmusiker“ versehen sein würde. Wir bleiben hier, das<br />

hatten wir ja so gesagt. Als Pfarrer, so meinten Freunde damals,<br />

würde ich dann wohl mit Irokesenschnitt auf die Kanzel steigen.<br />

Wer weiß.<br />

Mit meiner bei der Aufnahmeprüfung gefundenen ersten Liebe,<br />

Friederike, schwärmte ich nicht nur in Ostberliner Abenden.<br />

Einmal klopften wir bei Eppelmann und brachten Buttons<br />

mit Slogans gegen das Massaker auf dem Tian’anmen-Platz unter<br />

das uns genehme Völkchen. Da war mehr als ein Kribbeln<br />

unter pubertären Brüsten; es juckte gewaltig in unsern Köpfen.<br />

Füssen und Händen.


Der Sommer verging mit Liebesbriefen und Familienurlaub<br />

und der Rückkehr in die verhasste Schule. Roland kam, um<br />

sich via Polen in den Westen zu verabschieden. Ansonsten war<br />

Ungarn-Welle angesagt und es gab eine Menge Klarstellungen<br />

in der Schule. Mal abgesehen von unserem Direktor und drei<br />

männlichen Kollegen, die in unterschiedlicher Art, doch nie<br />

ganz direkt ihren Unmut erkennen ließen, über die Sturheit der<br />

alten Säcke in Ostberlin. Die anderen Lehrer hatten's schon<br />

nicht ganz leicht, weil die Jungs (ja, leider…) in der Klasse sich<br />

doch laut über die DDR ärgerten.<br />

In Potsdam wurde ich angenommen, an der EOS nicht – das<br />

bekam ich in der ersten Schulwoche schriftlich. Irgendeine<br />

„volkswirtschaftliche Kennziffer“ sei an mir nicht ausreichend,<br />

hieß es. Ich hab mich immer gefragt, welche Zahl es wohl gewesen<br />

sei. Dass die Rechnung mit mir absehbar nicht aufgegangen<br />

wäre? Dass ich doch bitte verschwinden solle? Mit der<br />

EOS-Absage sagte ich mich auch vom Alltag los. Wir wollen<br />

Dich nicht, na danke.<br />

Es fing immer mehr an zu brodeln. Wir stemmten uns gegen<br />

den Topfdeckel, schlenderten an der Stasi vorbei zur Umweltbibliothek<br />

in der Michaeliskirche. Wieder TonSteineScherben,<br />

leicht angepasst auf unsere Verhältnisse: „Aus dem Weg, ihr<br />

Stalinisten, die letzte Schlacht gewinnen wir…“ Nicht gerade<br />

friedlich; von den Türmen der U-Haft gegenüber wurden alle,<br />

die ein- und ausgingen, kontinuierlich beglotzt. Bibel, Bakunin<br />

und Grundgesetz, das waren unsere Grundlagen. Oder was wir<br />

uns dazu dachten.<br />

Ende September kursierten kleine Zettelchen. Andacht in der<br />

Petrikirche, am 7. Oktober. Es stand auch noch „Vierzig Jahre<br />

DDR“ drauf – ich versah dies Thema auf dutzenden Zetteln<br />

mit einem Fragezeichen und kam mir wie ein Held vor. Und<br />

ging zu der Andacht. Habe ich damals während der Fürbitte<br />

tatsächlich diese alttestamentarische Losung gelesen, ob Er uns<br />

denn dieses Joch der Unterdrückung gegeben hätte, diesen<br />

Geist der Verzagtheit? Die Erinnerungen verschwimmen –<br />

aber nach der Andacht ging’s zum Uniplatz, man stand aufgeregt<br />

und unschlüssig am Pornobrunnen. Micha kam auf dem<br />

Rad vorbei und hatte Mannschaftswagen gesichtet – besser<br />

sollten wir zum Rathaus gehen. Weniger als zwei Dutzend<br />

Menschen standen vor dem Seitenflügel des Rathauses und wir<br />

hatten Kerzen dabei. Kein großes Aufmucken. Der Neue<br />

Markt wie leergefegt. Bullen in den Türen. Wir würden wiederkommen.<br />

Samstags.<br />

Samstags. Am 14.10. waren wir schon einige mehr gewesen.<br />

Mein Vater war in den USA zu einer Informationsreise, aber<br />

Zugriff auf die Schreibmaschine hatte ich schon früher gehabt.<br />

Unser Aufruf passte neunmal auf eine Seite, acht Durchschläge<br />

hämmerten wir hin. 80 Zettel am Ausgang der Marienkirche<br />

Donnerstagabend verteilt, auf Samstag gewartet. Ich hatte den<br />

Kirchgang ja im Blut, aber was suchten diese Leutchen denn alle<br />

da? Wir meinten: Falsche Adresse – geht gleich zum Rathaus!<br />

Und dann kamen sie, am 21. und 28. Oktober und auch<br />

am 4.November.<br />

Dann aber hatte es sich auch schon mit den Samstagdemos.<br />

Wir hatten nur einen von uns in eine eilig einberufene Versammlung<br />

geschickt, auf der entschieden werden sollte, welche<br />

Demo weiterzuführen sei. Die Samstagsdemo oder die unter<br />

Forumsführung. War ja eh klar: Heiliges Forum. Dirk hatte einem<br />

Stasimann an der Wohnungstür ein Megaphon in die<br />

Hand gedrückt, und die wahre Opposition hatte uns wissen<br />

lassen, dass wir nicht authentisch seien. Geht so nich, woll'n<br />

wir nich. Danke auch.<br />

Am 28.10. erwarteten uns vor dem Rathaus, am Ende der Demo,<br />

ein Podium mit Mikro und Lautsprechern. Es wurde ein<br />

Dialog mit dem aus Frankreich zurückgekehrten Bürgermeister<br />

Schleiff inszeniert. Uns regten die Fragen auf, die sich um den<br />

FOTO: SIEGFRIED WITTENBURG/ARCHIV SCHMIDTBAUER


0.32 __ //// RÜCKBLICK<br />

ganzen Krimskrams täglicher Kleinigkeiten drehten. Als ob das<br />

wichtig sei! Ich mag mich nicht ganz auf meine Erinnerungen<br />

verlassen: sie verfärben sich und schieben die Dinge dann in<br />

das Licht, das man sich wünscht… Aber es waren wohl Micha,<br />

Oliver und andere, die die Leute zur Seite schoben, bis wir hinter<br />

dem OB standen und das Mikrofon übernahmen. Wir hatten<br />

uns verständigt, dass ich klar seinen Rücktritt verlangen<br />

sollte – darum ging es doch, nicht um Beruhigungspillen.<br />

Es gab ja auch schon anderes. Der Linke Schülerbund (LSB)<br />

formierte sich. War das alles so wichtig? War es damals wohl.<br />

Der LSB war noch nicht gegründet, da schaute schon eine lustige<br />

FDJ-Abordnung in der Michaeliskirche vorbei, dass sie<br />

uns fertig machen würden. Ganz überzeugt, ganz ehrlich. Es<br />

zeichnete sich schon so was wie Marktwirtschaft ab.<br />

Egal – die Mauer fiel und der Schleier auch. Berlin im Rausch<br />

zu sehen, war toll. Mit Lutz am 11.11. abends bei Gisela an die<br />

Tür zu klopfen war ein Film. Die ersten Deutschlandbanner<br />

auf unsern Demos zu sehen, war noch verwunderlich, die Reaktionen<br />

auf unsere ablehnenden Reaktionen vertraut: „Verpisst<br />

Euch doch, ihr Wandlitzkinder!“ Hätten unsere Eltern<br />

sein können, waren sie aber zum Glück nicht. Hatten das Maul<br />

nie aufgekriegt – jetzt johlten sie. Sollten sie doch.<br />

Anfang Dezember diese Demo an der Kongresshalle. Im Namen<br />

des LSB schlug ich vor, dass Alexander Dubček eingeladen<br />

werden solle, die Symbolfigur des Prager Frühlings. Er starb<br />

wenige Jahre später, ohne dass daraus etwas geworden wäre. Ich<br />

begrüßte die TeilnehmerInnen als „Bürger der Freien und Han-<br />

JENS LANGER<br />

sestadt <strong>Rostock</strong>“, darauf hatten wir es beim Formulieren abgesehen.<br />

Die Dinge normalisierten sich bereits, bevor sie wirklich<br />

umgebrochen worden waren. Der Rausch der Bürgeranarchie<br />

neigte sich bereits seinem Ende zu. Immerhin wurde die „Tante<br />

Trude“ besetzt. Beim Silvester ins 1990er Jahr dort Auseinandersetzungen<br />

auf der Strasse mit den Kahlrasierten: ich schoss<br />

endlich einmal, mit Feuerwerksraketen, aber auf sie.<br />

In Rumänien habe ich begonnen, mich als deutscher Staatsbürger<br />

zu bekennen. Länger als im vereinten Deutschland lebe ich inzwischen<br />

hier und komme so selten wie gern zu Besuch an die Küste.<br />

Ich war damals fünfzehn. Die Jubeleien und Spiele heute lassen<br />

mich kalt. Weder damals noch heute musste ich mich um meine<br />

materielle Existenz sorgen. Was aber war das <strong>für</strong> ein Land, in<br />

dem man sich vor der ersten Akne über den Wehrdienst den Kopf<br />

zerbrechen musste, vor dem ersten Kuss sich versuchte politisch zu<br />

verorten, weil dazu gedrängt? Was <strong>für</strong> ein krankes System war<br />

das denn eigentlich, dem manche immer noch hinterherheulen?<br />

Was <strong>für</strong> eine kleinliche, widerliche Struktur mit der wir zu früh<br />

unsern Frieden versuchten? Je länger das alles zurückliegt, umso<br />

mehr ärgere ich mich über dieses verschwundene Land, in das ich<br />

geboren wurde. Wo sind wir heute, welche Regeln jagen uns und<br />

welchen wir hinterher?<br />

Und dann wieder dieses Foto. Wo wir lächeln. Weil die alten<br />

Männer mit ihren Hüten gerade die Logenplätze räumen. Weil<br />

wir glaubten, sie dabei voranzuschubsen.“Fußball hättest du damals<br />

spielen sollen“, hat Schippi einmal gesagt. Und er hatte recht<br />

damit. ¬<br />

II. Zusammenbruch mit Aufbruch nebst Anschluss.<br />

Viel früher als 1989 und vorläufig bis 2009.<br />

Am 6. Oktober 1959 wurde ich an der Universität Jena immatrikuliert.<br />

Das war am Vorabend des Staatsfeiertages zur Gründung<br />

der DDR und ist nun fünfzig Jahre her. Niemand hat mir<br />

gratuliert, abgesehen von einem Freund aus Norwegen, der es<br />

auf meine Aufforderung hin tat. Dabei war es ein Sieg. Denn<br />

mir war nach dem Abitur schriftlich jedes Studium im Lande<br />

untersagt worden. Ein Jahr danach war ich der brieflichen Aufforderung<br />

zur auch 1959 schon verspäteten Immatrikulation<br />

gefolgt und stand nun in der Administration der Universität.<br />

Der Beamte sagte: „Sie sind hier, um sich einzuschreiben“, und<br />

fuhr fort: „Aber Ihre Akten sind gar nicht hier.“ Er setzte nach:<br />

„Dann machen wir es eben ohne Akten.“ Ich vermute heute, das<br />

war keine Eingebung des Augenblicks, sondern es gab eine Absprache<br />

zwischen diesem Sachbearbeiter und dem Dekan mei-<br />

ner zukünftigen Fakultät. Arbeitsthese „Was ich nicht weiß,<br />

macht mich nicht heiß.“<br />

Meine Mutter hatte mich wegen angeblich politisch renitenter<br />

Äußerungen seit Jahren gewarnt: „Dich sperren sie noch einmal<br />

ein.“ Ich war immer schon ängstlich und wollte niemanden<br />

provozieren. Aber meine Zurückhaltung und mein Schweigen<br />

wurden in der ideologisch aufgeheizten Schule als Provokation<br />

missverstanden. Unpädagogische Reaktionen haben mir nicht<br />

geschadet. Das ist aber kein Verdienst solcher Lehrer 1 . Meiner<br />

Mutter antwortete ich regelmäßig: „Wir kriegen sie alle.“ Die<br />

konkrete Bezeichnung der zu Kriegenden ließ ich offen.<br />

Am 5.Dezember 1989 sprach ich auf dem Weg zur Arbeit wildfremde<br />

Menschen an: „Heute Nacht ist die Staatssicherheit


stillgelegt worden. Nun bringen wir sie alle vor Gericht.“ Einer<br />

reagierte: „Nicht alle. Die meisten haben nur ihre Pflicht getan.“<br />

Einen Tag später war ich Ko-Vorsitzender des „Unabhängigen<br />

Untersuchungsausschusses zur Sicherstellung und Überprüfung<br />

der Akten des Ministeriums <strong>für</strong> Staatssicherheit/Nationale<br />

Sicherheit“(UUA) in unserer Region. Nun hatte<br />

ich sie alle. Und was haben wir gemacht? In kurzen Abständen<br />

informierten wir in Kirchen und Presse über Prinzipien<br />

und Stand unserer Untersuchungen. Wir haben sie im Beisein<br />

eines Militärstaatsanwalts entwaffnet und da<strong>für</strong> gesorgt, dass<br />

die etwa 2000 hauptamtlichen Mitarbeiter ordnungsgemäß<br />

mit Papieren entlassen wurden. Mein Albtraum war, dass sich<br />

andernfalls marodierende Gruppen im Untergrund bewegen<br />

könnten, deren Angehörige sich gegenüber ihren Kindern als<br />

Märtyrer gerierten.<br />

Der Militärstaatsanwalt, immer in voller Montur, neigte sich<br />

uns, lediglich durch die Zeit und die Straße sowie allenfalls<br />

noch durch die randständige Verfassung in bürgerrechtlichidealer<br />

Auslegung legitimierten, Zivilisten erst kooperativ zu,<br />

als wir in seiner Gegenwart Briefbögen und Siegel seiner eigenen<br />

Behörde in Tresoren der Staatssicherheit entdeckten. Bei<br />

der Prozedur der Entwaffnung wirkte seine Anwesenheit vielleicht<br />

auch als eine Art Ausgleich <strong>für</strong> die reichliche Präsenz von<br />

Zivil gegenüber den in militärischen Kategorien lebenden Sicherheitsdienstlern.<br />

Außerdem verfasste der Ausschuss ein<br />

Buch über die Staatssicherheit in unserer Region.<br />

Bei Demonstrationen sah ich unseren fünfzehnjährigen Sohn<br />

und seinen Cousin in der ersten Reihe. Ich wusste auch, dass sie<br />

es waren, die zu diesen Manifestationen aufgerufen hatten. Mir<br />

schwoll der Kamm. Die protestantische Saat war aufgegangen.<br />

Ich veröffentlichte im <strong>Rostock</strong>er „Bürgerrat“, der ersten freien<br />

Zeitung in der DDR, am Tag, als sie die Presselandschaft mit<br />

dem leichten Morgenrot einer kommenden Zeit begrüßte<br />

(Auflage 25.000), einen Artikel: „Die protestantische Revolution“<br />

(7.12.1989).<br />

Nach einigen Monaten verließ ich den UUA. Die Belastung<br />

neben der regulären Arbeit spielte dabei eine Rolle, aber vor allem<br />

war mir klar geworden, dass im Vergehen eines Geheimdienstes<br />

auch der siegreiche Geheimdienst erscheint.<br />

Es stimmt, dass die Evangelischen eine wichtige Rolle in diesen<br />

Monaten und bei ihrer Vorbereitung spielten. Der römische<br />

Kardinal Sterzinsky (Berlin) reflektierte 1990 und noch neun<br />

Jahre später darüber, wieso seine Kirche den Anschluss an die<br />

Ereignisse verpasst hatte 2 . Jedoch bestand der protestantische<br />

Beitrag zu den Veränderungen neben dem Bestehen auf einem<br />

emanzipatorischen Menschenbild in Legitimation durch die<br />

einzige nichtintegrierte Institution im Staate und in Moderation.<br />

Es waren dabei anfangs durchaus nicht alle Kirchgemeinden<br />

offen <strong>für</strong> diese neuen Gäste und ihre bunten politischen<br />

Ziele, aber es fand sich zum Glück insgesamt eine repräsentative<br />

Zahl.<br />

Revolution allerdings fand nicht statt, und eine so genannte<br />

Wende gab es nur in den unterschiedlichen Vorstellungen von<br />

dieser, die in den Köpfen von Egon Krenz und Helmut Kohl<br />

herrschten, um die je eigene Herrschaft zu verlängern bzw. anzutreten<br />

3 .<br />

Bei realistischer Betrachtung der Vorgänge ergibt sich folgende<br />

Entwicklung: Ein System bricht zusammen, und zwar das<br />

Großreich Sowjetunion als Supersystem, aber auch die Systeme<br />

der einzelne Staaten des Warschauer Paktes. Eingeschlossen die<br />

DDR mit ihren ungezählten Subsystemen, die allesamt nicht<br />

mehr vital miteinander kommunizierten. Regierung und Bevölkerung<br />

seit langem nicht wegen sklerotischer Abschottung<br />

der Machthaber von der Wirklichkeit, die Partei und die Bedürfnisse<br />

der Bevölkerung seit längerem, Kultur und Politik<br />

schon früh, sozialistischer Anspruch und politische biedermeierliche<br />

Außenwirkung immer mehr.<br />

Während also die offiziellen staatlich institutionalisierten Kanäle<br />

der Kommunikation verstopfen und schließlich verfallen,<br />

bilden sich die informellen Kanäle der ethisch orientierten<br />

Gruppen zwischen Ökologie, Antimilitarismus, Feminismus<br />

und politischer Emanzipation heraus. Sie organisieren den<br />

Aufbruch im Zusammenbruch. Reale Machtverhältnisse und<br />

die ebenso realen Bedürfnisse der Bevölkerung machen aus diesem<br />

Aufbruch im wunderschönen Herbst unserer Anarchie<br />

den Anschluss an die Bundesrepublik Deutschland 4 .<br />

Keine gemeinsame Verfassung nach dem Grundgesetz, sondern<br />

Beitritt, Beitrittsgebiet und Beitrittsbürger. Wenn jemand das<br />

nicht <strong>für</strong> großes Glück halten sollte, müsste er das Ergebnis<br />

doch wohl <strong>für</strong> das kleinere Übel gegenüber realen Varianten<br />

des Möglichen halten können. Das alles ereignete sich freilich<br />

trotz deutscher Spezifik nicht in einem isoliert nationalen Rahmen,<br />

sondern Ereignisverlauf und das Ergebnis waren Produkt<br />

und Teil eines politischen Erdbebens in Europa mit weltweiten<br />

Auswirkungen. Es waren die Verhältnisse und ihr von ihnen getriebener<br />

Vollstrecker, Michail Gorbatschow.<br />

Meine Erklärung ist der Systemtheorie von Niklas Luhmann<br />

verpflichtet. Ich hatte zwischen 1985 und 1988 an einer Bestandsaufnahme<br />

der kulturellen Perspektive und des vorhandenen<br />

Potentials in der einzigen nicht völlig integrierten Institution<br />

im Staate gearbeitet 5 . Mir ging es um praktische Aspekte<br />

einer internationalen Debatte zur Durchsetzung und Verände-<br />

1 Vgl. Caritas Führer, Die Montagsangst, Köln 1998 1. Auflage<br />

2 Vgl. 1. Tagung der VI. Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, 23.25.2.1990, Synodeninformation Nr. 3; epd 7.11.1999<br />

3 Vgl. Theo Mechtenberg, Der Herbst '89 und die deutsche Einheit: Orientierung 73.Jg. Nr. 17, Zürich 15.9.2009; Martin Sabrow, Wende oder<br />

Revolution ? Keinesfalls nur eine scholastische Frage. Der Herbstumbruch vor 20 Jahren im deutschen Geschichtsbewusstsein: Neues<br />

Deutschland 21./22.11. 2009<br />

4 Vgl. lebendig werden. Die Stimme Hans-Jochen Vogels. Hgg. v. Elke Vogel u. a., Kückenshagen 2008


0.34 __ //// RÜCKBLICK | REZENSIONEN<br />

rung von Werten im Interesse von kultureller Innovation, und<br />

zwar im Blick auf die hiesigen Verhältnisse damals. Es hätte eine<br />

Handlungsanleitung werden können, im Dialog eigene Vorstellungen<br />

durchzusetzen. Luhmanns Positionen zu Kontingenz,<br />

Komplexität der Systeme und notwendige Ausdifferenzierung<br />

der Gesellschaft fand ich angemessen und konstruktiv.<br />

Als ich die Zusammenstellung abgeschlossen hatte, durfte sie<br />

wegen bürgerlicher Sprache und ihrer philosophischen Begrifflichkeit<br />

nicht publiziert werden. Und schließlich kam die<br />

DDR meinem Projekt abhanden durch Untergang.<br />

Hier angedeutete Erfahrungen und gewonnene Kenntnisse haben<br />

mich immer inspiriert, mich mit den Verhältnissen auseinanderzusetzen.<br />

Das ist ein Privileg der Gene oder des biblischen<br />

Vertrauens, wie man will, jedenfalls aber ein Geschenk<br />

aus der Freundschaft vieler Menschen, denen ich in alltäglichen<br />

oder einmaligen Situationen begegnet bin. Unter ihnen seit gerade<br />

20 Jahren einige authentische Marxisten.<br />

1953 sah ich mit Angst die sowjetischen Panzer, als der Junge,<br />

der ich war, neugierig zu den streikenden Werftarbeitern wollte.<br />

Gegen diese militärische Macht gab es keine Chance. Es war<br />

nichts zu machen. 1956 hörten wir über Radio Wien die ferne<br />

Stimme von Imre Nagy mit der Bitte um Hilfe. Es war nichts<br />

zu machen. 1968 beflügelten uns die Vorstellungen von Alexander<br />

Dubcek in Prag. Sie wurden niederkartätscht. Wir konnten<br />

wenig machen. In den siebziger Jahren weckten die Parteien<br />

der Eurokommunisten Hoffnungen. Aber das war weit weg,<br />

und konnte nicht unser Ding werden.<br />

1989 war alles anders. Die geschichtliche Zeit war weit vorangeschritten.<br />

Jetzt mussten wir etwas machen. Und wir taten,<br />

was wir konnten. Das war nicht viel, aber das leisteten wir. Moderieren,<br />

sich <strong>für</strong> Transparenz und Partizipation einsetzen. Keine<br />

protestantische Revolution, aber ich war als Protestant dabei.<br />

Mitglieder des UUA stellten sich sogar einmal zum Schutz<br />

vor Randalierern vor den Sitz des Geheimdienstes. Welche Paradoxie!<br />

Die Vernunft gebot sie. Ein Zehntel unser Stadtbevölkerung<br />

beteiligte sich an den Demonstrationen: 25.000. Das ist<br />

der Prozentsatz, den die Soziologen allgemein <strong>für</strong> den aktiven<br />

Bevölkerungsteil ansetzen. Wir warben um alle.<br />

Die Künstlerin Tisa von der Schulenburg hat das mit einer<br />

Skizze vom Oktober 1989 festgehalten: Die Menschen strömen<br />

aus unserer Kirche heraus zur Demonstration, und was rufen<br />

sie? „Wir bleiben hier - schließt euch an!“<br />

Wir wollten den leer gewordenen Raum mit unseren eigenen<br />

Vorstellungen füllen. Wir begannen damit. Der Rest ist bekannt.<br />

Alles, was wir taten, war notwendig, und trotzdem wa-<br />

ren wir Statisten der Geschichte. Es kam, wie es kommen musste.<br />

Das ist keine Enttäuschung, sondern Einsicht in die Notwendigkeit<br />

(bei Friedrich Engels übrigens eine Definition <strong>für</strong><br />

Freiheit). Die Komparserie ist <strong>für</strong> alle großen Aufführungen<br />

der tragende Hintergrund. Oft genug sind wir aus diesem Off<br />

herausgetreten.<br />

Die Menschen mussten weiterleben mit ihren Begabungen und<br />

Chancen, offenen Flanken und versteckten Geheimnissen 6 .Die<br />

Bewältigung des gesamten Geschehens sollte erfolgen durch<br />

viel Geld und Anpassung, musste erfolgen im Kulturschock<br />

und durch Widerspruch zu neuen Allgemeinplätzen. Um Eckpunkte<br />

einer humanen Existenz muss neu gekämpft werden 7 .<br />

Wir sammelten uns in den neunziger Jahren wieder oft am vertrauten<br />

Ort <strong>für</strong> die Beachtung von Menschen, ihrer Kompetenzen<br />

und der Solidarität. „Für Arbeit <strong>für</strong> alle“ hieß unser städtisches<br />

Bündnis zwischen Gewerkschaften, Parteien und Kirchen.<br />

Unter diesem Thema demonstrierten immerhin bis zu<br />

10.000 Menschen mitten im ausgereizten Konsumismus.<br />

Die Irakkriege und der G8-Gipfel bei <strong>Rostock</strong> brachten uns<br />

wieder auf die Straße. Die Erkenntnis dieses westlichen Politiktalks<br />

in Heiligendamm 2007 war auf seiten der phantastisch<br />

präsenten und ideenreichen Jugend des internationalen Widerstands<br />

gegen die Dominanz des Kapitals und ihrer älteren<br />

Weggenossenschaft: Frauen und Männer, die <strong>für</strong> mehr Demokratie,<br />

Gerechtigkeit und Partizipation auf die Straße gehen,<br />

werden als Gegner des Systems behandelt, und so agieren die<br />

Polizeikräfte ihnen gegenüber 8 .<br />

Das überforderte Sicherheitspersonal wird das erste Opfer einer<br />

in die Jahre gekommenen Hegemonialpolitik. Die deutsche<br />

Kanzlerin hat beim ersten Regierungsantritt erklärt: „Mehr<br />

Freiheit wagen!“ Nach diesem propagierten Mehr an Freiheit<br />

gibt es vor der Vereidigung der neuen Regierung mehr Sicherheitsüberwachung,<br />

mehr Krieg und eine soziale Spaltung der<br />

Gesellschaft. Die Brutalisierung in ihr spiegelt das Gewaltpotential<br />

des Staates wider, und ungezählt sind die Toten an den<br />

Grenzen Europas, das von Elenden nicht betreten werden soll.<br />

So können neoliberale Brandstifter zu Feuerwehrleuten des Systems<br />

berufen werden, nachdem sich die Selbstheilungskräfte<br />

des Marktes in den Orkus abgemeldet haben. Wer einen Staat<br />

hat untergehen sehen, weiß im Vergleich, dass im Zeichen der<br />

Globalisierung dieses System immer noch hocheffizient, komplex<br />

und ausdifferenziert ist. Aber Anzeichen einer fortschreitenden<br />

politischen, sozialen und ökonomischen Sklerose irritieren<br />

global und werden auch so wahrgenommen. ¬<br />

5 Jens Langer, Evangelium und Kultur in der DDR, 2 Bände, West-Berlin 1990<br />

6 Vgl. Pauline de Bok, Blankow oder Das Verlangen nach Heimat, Frankfurt/M. 2009<br />

7 J. Langer, Kulturen in der Krise. Die neuen Länder in der alten Bundesrepublik Deutschland: Orientierung (Zürich) Nr. 17, 15.9.1996<br />

8 Feindbild Demonstrant. Polizeigewalt, Militäreinsatz, Medienmanipulation. Der G8-Gipfel aus Sicht des Anwaltlichen Notdienstes. Hgg. v.<br />

Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein/ Legal Team, Berlin/Hamburg 2008


Kultur und Geschichte:<br />

Günter Wirth<br />

Günter Wirth starb am 5.12.2009<br />

JENS LANGER<br />

Als fünfzehnjähriger „Volkssturmmann mit der Panzerfaust am<br />

Fahrrad“ (G.W.) kam er 1945 nach Hause. Wie viele seiner Generation<br />

spürte der am 7.12.1929 im erzgebirgischen Brand-<br />

Erbisdorf geborene Günter Wirth die Befreiung real und wollte<br />

sich <strong>für</strong> eine neue Gesellschaft einsetzen. Noch 1945 gehörte<br />

er zu den Gründern eines örtlichen Antifaschistischen Jugendausschusses.<br />

Bereits 1946 trat er der Freien Deutschen Jugend<br />

bei, ein Jahr später der CDU. Die selbständige Kulturpolitik<br />

der frühen CDU empfindet er damals als Korrektiv gegenüber<br />

den Vorstellungen der SED.<br />

Für diese Zeit hat er seine Erfahrungen im Umgang mit seiner<br />

unorthodoxen Lektüre aufgezeichnet, die durch Familie und<br />

Nachbarn gefördert wurde, denen er in diesem handschriftlichen<br />

Skript ein dankbares Gedenken stiftet. Nach dem Freiberger<br />

Abitur wird ihm das Studium der Germanistik zunächst<br />

verwehrt, und er volontiert bei der Märkischen Union in Potsdam.<br />

Hier liegen die Wurzeln <strong>für</strong> spätere kulturgeschichtliche<br />

Studien zur Region, woran zuletzt die zwischen 1918 und<br />

1989 gespannte Untersuchung Der andere Geist von Potsdam<br />

(Suhrkamp 2000) erinnert.<br />

Während des schließlich doch möglichen und nach Unterbrechung<br />

erfolgreich abgeschlossenen Studiums übernimmt er<br />

hauptamtliche Aufgaben in der CDU-Parteileitung. Hier wird<br />

er persönlicher Mitarbeiter Otto Nuschkes, des stellvertretenden<br />

Ministerpräsidenten, der bis zu seiner Entmachtung durch<br />

einen SED-Staatssekretär <strong>für</strong> Kirchenfragen den Ansprechpartner<br />

der Kirche <strong>für</strong> Probleme mit der Staatsgewalt darstellte.<br />

Wirth gehörte bis zum Übergang dieser Partei in die CDU<br />

Helmut Kohls ihrem Hauptvorstand an, zuletzt als Leiter der<br />

Wissenschaftlichen Arbeitsgruppe bei Lothar de Maizière, dem<br />

neuen CDU-Vorsitzenden. 1972-1990 wirkte er auch als Vizepräsident<br />

des Kulturbundes, der sich ursprünglich durch einen<br />

funktionalen Zusatz auszeichnete: (...) zur demokratischen Erneuerung<br />

Deutschlands. Von 1985 bis 1990 war Wirth Honorar-Professor<br />

<strong>für</strong> Neueste Kirchengeschichte an der Berliner<br />

Humboldt-Universität mit reicher Herausgebertätigkeit.<br />

Dieses Leben scheint vordergründig als die Karriere von Funktionär<br />

und so genannter Blockflöte verlaufen zu sein, im Detail<br />

allerdings ist die Biografie komplexer. Als Vizechef der Neuen<br />

Zeit, dem Hauptblatt der DDR-CDU, wird ihm eines Montagsfrüh<br />

im März 1963 bei Arbeitsbeginn mitgeteilt, er sei<br />

nicht mehr stellvertretender Chefredakteur - das Gehalt liefe<br />

zunächst weiter. Ab 1963 arbeitete Wirth als Cheflektor des<br />

Union-Verlages. Hier förderte er Johannes Bobrowski, den östlichsten<br />

der Ostpoeten mit einer unverwechselbaren Stimme,<br />

die von Gott und Menschen in Litauen und Sarmatien sprach.<br />

In diesem Verlag erschienen auch die Erzählungen rumäniendeutscher<br />

Schriftsteller. Noch im Oktober 1989 diskutierten literarische<br />

Dissidenten aus Rumänien im deutschen Süd-West-<br />

Funk darüber, was davon zu halten sei.<br />

Im Verlag erscheint Fritz Baades Wettlauf zum Jahre 2000 mit<br />

dem herausfordernden und heute noch nicht eingelösten<br />

Schlusskapitel „Die große Zeit des Christentums“. Es werden<br />

gedruckt Teilhard de Chardins Der Mensch im Kosmos, von<br />

Weizsäckers Friedenspreisrede, Günther Anders. Es gibt Publikationen<br />

über M. L. King und Albert Luthuli, von Stauffenberg<br />

und von Moltke, und es schreiben hier eigenständige heimische<br />

Autoren, die die christliche Sozialisation ihrer Leserschaft<br />

fördern. Die ganze Richtung passte nicht, wie loyal sich<br />

der Autor auch selbst einschätzen mochte und wenn es auch<br />

opportunistische Veröffentlichungen, wie u. a. zum 20. Jahrestag<br />

der DDR geben mochte. Wirth musste den Schreibtisch<br />

des Cheflektors räumen. Ein Manuskript über das Wirken des<br />

Union-Verlages liegt nun unter den hinterlassenen Papieren.<br />

Eine Fundgrube <strong>für</strong> übersehene kulturgeschichtliche Besonderheiten<br />

in der DDR.<br />

Im Archiv der Konrad-Adenauer-Stiftung befindet sich Wirths<br />

erste selbständige Publikation Christliches Leben im neuen Rumänien<br />

(1954), in der Informationen verwendet werden, die<br />

Wirth 1953 bei Besuchen im Kontext der IV. Weltfestspiele<br />

der Jugend in Bukarest gewann. Diese Schrift zeigt den Willen<br />

zur Information aus einer abgeschotteten Gesellschaft und vor<br />

allem die engen Grenzen da<strong>für</strong>.


0.36 __ //// REZENSION | DEBATTE<br />

Welch eine Vielschichtigkeit des Textes hingegen ein Leben<br />

später etwa in der Studie über das römisch-katholische Engagement<br />

von Joachims Fests Vater in der Berlin-Karlshorster Pfarrgemeinde<br />

(FAZ 8.12.2007)! Hier sei der allgemeine Hinweis<br />

erlaubt auf eine Vielzahl solcher aus den Quellen erarbeiteten<br />

Spezialstudien auch in jüngster Zeit. Alle Intention wird deutlich<br />

in dem Sammelband Landschaften des Bürgerlichen<br />

(Duncker&Humblot 2008): Weit über, beispielsweise, Uwe<br />

Tellkamps vielfach hochgelobtes insulares Kulturresidium in<br />

der Belletristik hinaus vernetzt Wirth bürgerliche Geschichte<br />

und Kultur mit den Auseinandersetzungen der Politik. Damit<br />

verwahrt er sich gegen die Beschränkung des Kulturbegriffs auf<br />

ein bestimmtes Milieu, und sei es das dissidentäre in der Literatur.<br />

Vehement stritt er <strong>für</strong> diese Offenheit gegen Werner Mittenzweigs<br />

Werk Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland<br />

1945-2000 (die hochschule 1/2002).In Marxismus,<br />

Glauben, Religion, einer umfangreichen Rezension (Utopie<br />

kreativ H. 201/201 Juli/August 2007 ), setzt er sich mit vereinfachenden<br />

Positionen des Juristen Uwe-Jens Heuer (Marxismus<br />

und Glauben, Hamburg 2006) detailliert auseinander -<br />

„aus der Sicht eines protestantischen Laien, der sich in DDR-<br />

Zeiten als christlich-demokratischer Publizist und Historiker<br />

immer wieder mit dem Verhältnis von Marxismus und Christentum<br />

beschäftigt hat“ (G.W.).<br />

Als Chef der Monatsschrift STANDPUNKT (1973-1990) hat<br />

er bei aller Staatsloyalität eine gewisse Breite an Beiträgen ermöglichen<br />

können. Zuvor sollte sich das von ihm 1970-1972<br />

redigierte Evangelische Pfarrerblatt schon durch das Attribut<br />

vom Deutschen Pfarrerblatt in der Bundesrepublik abgrenzen.<br />

Heutigentags erscheint dort im Novemberheft eine zweispaltige<br />

Würdigung. Unter den zunehmenden Beschwerden des Alters<br />

hat Günter Wirth an seiner Autobiografie geschrieben. Da<br />

kann das Spektrum an Fragen und Antworten nur breiter werden.<br />

Am 2.12. teilte er mir in seinem nun letzten Brief mit, er<br />

wolle mit seinen Zeilen über die Verschlechterung seines Gesundheitszustandes<br />

wenigstens ein Signal senden. Drei Tage<br />

später starb er, zwei Tage vor seinem 80. Geburtstag. Er wusste<br />

Bescheid. ¬


Die Debatte um die Bewertung Ilja Ehrenburgs ist wieder aufgeflammt – so unsachlich und funktional, als hätte es die Informationsveranstaltungen<br />

der gleichnamigen Initiative und die Ausstellung im Peter-Weiß-Haus über sein Leben und Wirken nicht gegeben. Dabei sollten doch sogar<br />

seine Kritiker inzwischen über mehr Faktenwissen verfügen, als dies die Leserbriefe im <strong>Rostock</strong>er Blitz abbilden. Die Ilja-Ehrenburg-Initiative<br />

bemüht sich weiter um eine auf Sachkenntnis fußende Auseinandersetzung mit dem Thema - der nachfolgende Abdruck Textes eines Ehrenburg-Textes<br />

ist ein Beitrag dazu.<br />

Ilja Ehrenburg: Frohes neues Jahr, Moskau!<br />

(„Moskowski bolschewik“, 1. Januar 1945)<br />

ÜBERSETZUNG AUS DEM RUSSISCHEN: CORNELIA MANNEWITZ<br />

In seinem Neujahrsartikel schreibt Goebbels über Hitler: „Er<br />

verfügt über den sechsten Sinn, er weiß das, was anderen verborgen<br />

ist. Er ist ein deutsches Wunder. Alles andere ist erforschlich<br />

und verständlich, nur der Führer ist unerforschlich.<br />

Wenn er beim Gehen den Kopf ein wenig neigt, so erklärt sich<br />

das mit seinem pausenlosen Studium der Karte ...“<br />

Ich weiß nicht, was Goebbels den sechsten Sinn nennt, augenscheinlich<br />

die Abwesenheit der übrigen fünf Sinne. Hitler sieht<br />

zweifellos das, was anderen verborgen ist. So sah er zum Beispiel<br />

1941 den Fall Moskaus. 1942 sah er den vollständigen<br />

Sieg Deutschlands. Er sieht das, was es nicht gibt, und in anderen<br />

Ländern werden solche „Hellseher“ in eine psychiatrische<br />

Heilanstalt eingewiesen. Ich bin völlig einverstanden damit,<br />

dass der Führer ein deutsches Wunder ist. Aber ich mache eine<br />

Ergänzung: Jeder Fritz ist ein deutsches Wunder. Jeder Fritz ist<br />

<strong>für</strong> uns unerforschlich, denn wir verstehen nicht und können<br />

nicht verstehen, wie Wesen, die äußerlich Menschen ähneln, fähig<br />

sind, in speziellen Öfen Säuglinge zu verbrennen und Polster<br />

mit Frauenhaar zu stopfen. Aber am interessantesten sind<br />

Goebbels' Worte über die leichte Haltungsschwäche des Führers.<br />

Hitler hat also aufgehört, den Kopf hoch zu tragen, weil er<br />

zu oft auf die Karte schaut. Man muss annehmen, dass sich<br />

Hitler von diesem Anblick bald bis zum Boden krümmen<br />

wird: Denn die Karte spricht zu ihm von seinem Ende.<br />

Ich will nicht an die weiter zurückliegende Vergangenheit erinnern,<br />

aber erst vor einem Jahr überwinterten die Deutschen in<br />

Jalta und in Nizza, prassten in Paris, in Belgrad, in Riga, standen<br />

vor Leningrad. Innerhalb eines Jahres haben die Deutschen<br />

elf europäische Hauptstädte und alle ihre europäischen Verbündeten<br />

verloren. Der Krieg hat seinen Fuß auf den Boden<br />

Deutschlands gesetzt und jetzt ist allen klar, dass die Auflösung<br />

naht.<br />

Moskau hat viel Leid erfahren. Moskau wird die Tage nicht<br />

vergessen, als die Deutschen in Chimki waren. Über diesen<br />

Herbst werden wir mit den Deutschen in Berlin noch sprechen.<br />

Moskau bewahrt in seinem Gedächtnis die trauervollen<br />

Worte „Am Frontabschnitt Moshaisk ...“. Für die Kränkung, <strong>für</strong><br />

Links <strong>für</strong> das Jahr 2010:<br />

Kampagne zum 65. Jahrestag der Befreiung vom deutschen Faschismus: befreiung.blogsport.de<br />

Initiative Ilja Ehrenburg: www.rostocker-friedensbuendnis.de/initiative-ilja-ehrenburg<br />

die Sorge, <strong>für</strong> die Trauer, <strong>für</strong> die Wunden Moskaus werden sich<br />

die Deutschen verantworten. Sie werden den Moskauern zu<br />

antworten haben. Unsere Moskauer Freunde sind ja jetzt weit<br />

weg: in Norwegen, in Budapest, in Ostpreußen. Fern der Heimat<br />

denkt der eine an den Arbat, der andere an Sokolniki, wieder<br />

ein anderer an die Presnja. Bald werden sie durch die Straßen<br />

Berlins gehen: Dort wird ein ernsthaftes Gespräch zwischen<br />

Moskau und den Deutschen, zwischen den Richtern und<br />

dem Mörder stattfinden. 1945 wird die Antwort auf 1941 sein.<br />

Wir vergessen die Toten nicht. Wir erinnern uns an die, deren<br />

Seele in den schwärzesten Tagen nicht gewankt hat. Wir erinnern<br />

uns, wie sich unser Moskau erhob, wie die Abteilungen<br />

der Landwehr durch die Straßen gingen. Wir wissen, wie<br />

standhaft die Helden <strong>für</strong> Moskau kämpften, wie sie starben vor<br />

Wjasma und vor Moshaisk und vor Malojaroslawez, um Tula<br />

herum, vor Dmitrow, starben, aber nicht zurückwichen. Sie<br />

sind gestorben, damit Moskau lebe. Und Moskau - das ist mehr<br />

als eine Stadt, bei seinem Namen schwören Städte, auf es blikken<br />

voller Zuversicht die Völker. Moskau war, ist und wird<br />

sein. Und jetzt geht Moskau nach Westen, befreit die Beleidigten,<br />

schlägt die Beleidiger nieder, unser altes, liebes Moskau.<br />

Vor uns liegen noch viele Prüfungen. Das „deutsche Wunder“<br />

wandelt noch auf Erden. Der Führer sitzt noch über der Karte;<br />

er hat sogar seinen Fritzen zu Weihnachten eine echte Ersatz-<br />

Offensive beschert. Die Deutschen fletschen die Zähne. Sie liegen<br />

in den letzten Zügen und machen alles mit. Wenn sie in<br />

Budapest unsere Parlamentäre umgebracht haben, heißt das,<br />

dass sie nichts mehr zu verlieren haben. Sie wissen, dass wir keine<br />

Kindermörder in Rente gehen lassen. Moskau soll sich nicht<br />

vor der Zeit beruhigen. Siege sind uns zu wenig, wir brauchen<br />

DEN Sieg: den letzten und endgültigen - Berlin! Bis dahin<br />

werden wir uns nicht beruhigen. Von uns allen hängt es ab,<br />

dass die Auflösung schnell kommt. Wir haben uns zu Tode gesehnt<br />

nach dem wirklichen Leben, nach unseren Nächsten,<br />

nach dem Glück. Möge 1945 Deutschlands letztes Jahr werden!<br />

Möge es das Jahr unseres Glücks werden! ¬


BUCHVORSTELLUNG<br />

Nationalistische Macht und<br />

nationale Minderheit<br />

Jan Skala (1889-1945) - Ein<br />

Sorbe in Deutschland<br />

Peter Kroh<br />

Kai-Homilius-Verlag<br />

Berlin 2009<br />

Es lies der Autor Peter Kroh.<br />

Anschließend Diskussion.<br />

Ort: Peter-Weiß-Haus, Doberaner Str. 21<br />

Beginn: 19.30 Uhr<br />

Eintritt: frei<br />

Es laden ein:<br />

Bürgerinitiative <strong>für</strong> eine solidarische Gesellschaft e.V.<br />

STADTGESPRÄCHE<br />

SOBI e.V. im Peter-Weiß-Haus<br />

25.<br />

FEBRUAR 2010

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