Psychotherapeutenjournal 2/2009
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Methodenvielfalt in der Psychotherapieforschung<br />
Ergebnisse quantitativer Psychotherapieforschung<br />
manchmal nicht so leicht in die<br />
Praxis psychotherapeutischer Versorgung<br />
zu übertragen sind: Soll sich ein praktizierender<br />
Psychotherapeut etwa auf die Wirkfaktoren<br />
außerhalb der Psychotherapie<br />
verlassen und sich lediglich zusätzlich auf<br />
die unspezifischen Wirkfaktoren zurückziehen<br />
– womit er ja bereits 70% psychotherapeutischer<br />
Wirksamkeit abgedeckt hätte?<br />
Gibt es nachvollziehbare Zusammenhänge<br />
zwischen den Wirkfaktoren? Wie würden<br />
Psychotherapeuten aus ihren praxeologischen<br />
Erfahrungen und Zugängen heraus<br />
diese Zusammenhänge beschreiben (vgl.<br />
hierzu auch Hardt & Hebebrand, 2006)?<br />
All dies können Fragestellungen qualitativer<br />
Psychotherapieforschung sein. Es ist klar,<br />
dass sich Forschungsergebnisse, unabhängig<br />
ob quantitativ oder qualitativ, nicht<br />
eins zu eins in die Praxis übertragen lassen.<br />
Systemtheoretisch betrachtet hat dies<br />
damit zu tun, dass Praxis und Forschung<br />
unterschiedliche Systeme mit je eigener<br />
Logik darstellen, die für sich gegenseitig<br />
Umwelten darstellen und als solche sich<br />
vor allem Komplexität und Kontingenz gegenseitig<br />
zur Verfügung stellen. Qualitative<br />
Forschung kann jedoch möglicherweise<br />
die Anschlussfähigkeit zwischen Forschung<br />
und Praxis erhöhen.<br />
Nach der Einteilung der Psychotherapieforschung<br />
in drei Phasen von Shapiro (z. B.<br />
1989) kann diese Form von Forschung der<br />
Legitimationsforschung zugerechnet werden<br />
(gefolgt von den Phasen der Verlaufs-<br />
und Ergebnisforschung sowie der Phase<br />
der Mikroprozessanalysen). Das Gros der<br />
Studien, die der Legitimationsforschung<br />
zugeordnet werden können, wurde allerdings<br />
unter Bedingungen durchgeführt,<br />
die nicht recht mit der in der realen Versorgung<br />
durchgeführten Psychotherapie vergleichbar<br />
waren/sind. Dieser Sachverhalt<br />
hat mit dazu beigetragen, dass zurzeit in<br />
Deutschland ein verstärktes Bemühen erkennbar<br />
ist, die Wirksamkeit von Psychotherapie<br />
unter Versorgungsbedingungen<br />
mit überzeugenden Zahlen zu belegen<br />
bzw. zu legitimieren (z. B. Schulz, Barghaan,<br />
Harfst & Koch, 2006) – u. a. um den<br />
von manchen Kostenträgern präsentierten<br />
Zahlen, die Zweifel an der Wirksamkeit<br />
von Psychotherapie unter Versorgungsbedingungen<br />
suggerieren möchten (z. B.<br />
122<br />
Grobe, Dörning & Schwartz, 2007), starke<br />
empirisch-quantitative Argumente gegenüberstellen<br />
zu können. Kordy (2008)<br />
bezeichnet Versorgungsforschung deshalb<br />
als „politiknah“, da sie Verteilung von Ressourcen<br />
und Einkommen beeinflusst. Dies<br />
ist wesentlicher Grund dafür, dass diese<br />
Form der Psychotherapieforschung im<br />
Kontext der Psychotherapeutenkammern<br />
von großem Interesse ist.<br />
Unabhängig von möglichen Versäumnissen<br />
der Psychotherapieforschung besteht<br />
seit vielen Jahren eine Entwicklung, mittels<br />
marktwirtschaftlicher Strategien, wie<br />
finanziellen Anreizsystemen und Verwaltungstechniken,<br />
wie Qualitätssicherung<br />
per Dokumentation, das Sozial- und Gesundheitswesen<br />
zu optimieren (zur notwendigen<br />
kritischen Auseinandersetzung<br />
mit diesem Trend vgl. z. B. Hardt, 2008).<br />
Um innerhalb dieser Entwicklung bestehen<br />
zu können, sind überzeugende und<br />
robuste Zahlen vonnöten.<br />
Verfahren und<br />
Therapeuten<br />
Ein wesentlicher Befund quantitativ orientierter<br />
Psychotherapieforschung ist, dass es<br />
kein psychotherapeutisches Verfahren gibt,<br />
dass in seiner Wirksamkeit allen anderen<br />
Verfahren überlegen zu sein scheint und<br />
dass psychotherapeutische Verfahren, zu<br />
denen umfassende wissenschaftliche Studien<br />
vorliegen, in der Verrechnung ähnlich<br />
wirksam zu sein scheinen. Dieses Phänomen<br />
wird bekanntlich unter Begriffen, wie<br />
„Dodo Bird Verdict“ 2 oder „Äquivalenzparadox“<br />
diskutiert (z. B. Luborsky et al., 2003).<br />
Das Zutreffen des Dodo Bird Verdicts wird<br />
zwar ebenfalls öfters in Frage gestellt, z. B.<br />
im Rahmen des Ansatzes der „empirically<br />
supported treatments“, wo, verkürzt dargestellt,<br />
argumentiert wird, dass es sinnvoller<br />
(und ethisch eher vertretbar) sei, definierte<br />
Therapietechniken anzuwenden, die<br />
sich in experimentellen Untersuchungen<br />
für spezifische Patientengruppen als wirksam<br />
herausgestellt haben, als sozusagen<br />
über unspezifische Variablen zu spekulieren<br />
(z. B. Chambless, 2002). Lambert und<br />
Ogles (2004, zitiert nach Strauss, 2008)<br />
argumentieren jedoch, dass das Herausrechnen<br />
von Forschungsartefakten inner-<br />
halb von Psychotherapiestudien das Dodo<br />
Bird Verdict eher zu bestätigen scheint.<br />
Solche Artefakte (Fehlresultate, die durch<br />
die Forschung an sich entstehen und wenig<br />
mit dem beforschten Gegenstandsbereich<br />
zu tun haben) können etwa durch<br />
die Einbeziehung lediglich eher leicht bis<br />
mittelschwer gestörter Patienten in die<br />
Psychotherapieforschung oder durch die<br />
Loyalität des Forschers gegenüber einem<br />
bestimmten psychotherapeutischen Verfahren<br />
(dieses Artefakt wird in der Literatur<br />
unter dem Begriff „allegiance“ diskutiert)<br />
entstehen. Beutler et al. (2004, S. 292)<br />
gehen noch einen Schritt weiter und fordern<br />
eine Synthese: „We conclude that the<br />
tendency to pit relationship factors against<br />
technical ones, or common factors against<br />
specific ones, or the dodo bird against<br />
,empirically supported treatments‘, must<br />
be replaced by a more integrative and synergistic<br />
perspective“. 3<br />
Zu den oben angesprochenen psychotherapeutischen<br />
Verfahren mit umfassenden<br />
wissenschaftlichen Studien können<br />
zumindest die vom Wissenschaftlichen<br />
Beirat Psychotherapie (WBP) anerkannten<br />
Verfahren zählen, die recht gut mit dem<br />
Vier-Säulen-Modell der Psychotherapie<br />
von Kriz (2007) korrespondieren. Dieses<br />
Modell stellt psychodynamische, beha-<br />
2 Im Kinderbuchklassiker „Alice im Wunderland“<br />
von Lewis Carroll liefern sich die Tiere<br />
einen verrückten Wettlauf. Jedes rennt frei<br />
nach Schnauze irgendwo los und spurtet<br />
zu einem Ziel, das es sich selbst ausgesucht<br />
hat. Unmöglich, einen Sieger zu ermitteln.<br />
Schließlich urteilt ein Dodo Vogel (eine Vogelart,<br />
die zu Carrolls Lebzeiten schon rund<br />
170 Jahre ausgestorben war): „Alle haben<br />
gewonnen und müssen einen Preis bekommen“<br />
(Paulus, 2007).<br />
3 Mario Pfammatter und Wolfgang Tschacher<br />
von der Universität Bern vermuten, dass der<br />
vermeintliche Widerspruch zwischen empirically<br />
supported treatments und dem Dodo<br />
Bird Verdict auf sprachlichen Missverständnissen<br />
beruht: Um mögliche begriffliche<br />
Unterschiede bzw. Ähnlichkeiten in der Terminologie<br />
zu den Wirkfaktoren von Psychotherapie<br />
zu analysieren, führen sie aktuell<br />
deshalb eine Untersuchung mit Hilfe der<br />
Repertory Grid-Technik nach George A. Kelly<br />
durch, in welcher die Konstrukte von Experten<br />
über psychotherapeutische Wirkfaktoren<br />
systematisch erfasst und geordnet werden<br />
sollen. Die Repertory Grid-Technik stellt im<br />
Übrigen einen methodischen Ansatz dar, der<br />
sich sowohl qualitativer als auch quantitativer<br />
Methodenelemente bedient.<br />
<strong>Psychotherapeutenjournal</strong> 2/<strong>2009</strong>