Johanna Tschautscher - Code Vier S.pdf - ZZI
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CODE „VIER S“<br />
Zu Beginn der Aggression gegen Bosnien-Herzegowina lebte ich in der Stadt Prijedor, wo ich zur Au-<br />
genzeugin schrecklicher Verbrechen des Aggressors, der Jugoslawischen Volksarmee aus Serbien und<br />
der einheimischen Tschetniks wurde.<br />
Am 31. Mai 1992 griffen die serbische Einheiten Prijedor an. Während des einige Stunden langen Angriffs<br />
beschossen die Tschetniks die Stadt intensiv mit Granaten. Danach marschierte ihre Infanterie<br />
in die Stadt ein, führte die Bevölkerung aus ihren Häusern ab und ordnete sie an bestimmten Stellen in<br />
Gruppen. Sie trennten Bosniaken und Kroaten von den Serben. Die Serben ließen sie frei, diese gingen<br />
nach Hause.<br />
Mich brachten sie mit meiner Familie ins Bankgebäude, wo sie einen Sammelpunkt eingerichtet<br />
hatten. Sie nahmen uns die Ausweise weg, dann brachten sie uns ins Hotel „Balkan“ im Zentrum von<br />
Prijedor. Unsere Gruppe zählte mehr als 300 Menschen. Im Hotel trennten sie alle Männer von uns<br />
und brachten sie ins Lager Omarska. Nach Omarska brachten sie auch meinen Vater und meinen Zwillingsbruder.<br />
Mich, meine Mutter und die meisten Gefangenen hielten sie drei Tage im Hotel fest, dann<br />
ließen sie uns nach Hause gehen. Während wir eingesperrt waren, wurde unser Haus geplündert.<br />
Während der Zeit, die ich in Prijedor verbrachte, plünderten die Tschetniks, vergewaltigten, und<br />
mordeten… Sie brannten Privathäuser, Moscheen und andere Bauten nieder. In diesen Tagen wagten<br />
meine Mutter und ich nicht das Haus zu verlassen. Nahrung gab uns unsere Nachbarin Smilja, heimlich,<br />
damit die anderen Serben es nicht merkten.<br />
Die Leiden von mir und meiner Mutter begannen Anfang September. Wir wussten nichts über meinen<br />
Vater und meinen Bruder, über unsere Lieben. Wir hofften, dass sie am Leben seien, irgendwo in<br />
einem der serbischen Lager in der Umgebung von Prijedor. Wir hatten nichts zu essen. Smilja kam<br />
immer seltener, um uns zu helfen.<br />
In einer Nacht kamen fünf, sechs bewaffnete Tschetniks ins Haus. Sie waren betrunken. Sie fragten<br />
meine Mutter, wo unsere Männer seien, wo wir Waffen verstecken. Sie wussten ganz genau, was mit<br />
meinem Vater und meinem Bruder geschehen war, und dass es in unserer Wohnung keine Waffen<br />
gab. Meine Mutter sagte, dass da nichts sei, dass sie von Mann und Sohn nichts wisse, und einer von<br />
ihnen, den sie Ostoja nannten, schrie meine Mutter an, sie habe an der Brust Bomben versteckt. Meine<br />
Mutter wich aus, er packte sie zuerst mit den Händen am Hals, dann riss er ihr den Pyjama vom<br />
Leib. Meine Mutter flehte ihn an, sie loszulassen, er wurde aber noch brutaler. Mit einem Tritt gegen<br />
den Knöchel warf er sie zu Boden. Dann sprang ein großer Serbe hinzu und riss ihr das Unterteil des<br />
Pyjamas vom Leib. Die anderen schrien: „Zieht sie aus, wir wollen die Türkin nackt.“ Meine Mutter<br />
wehrte sich. Auch ich begann zu schreien und die Nachbarn zu Hilfe zu rufen, worauf ein dicker<br />
Tschetnik, rot im Gesicht, mir eine mächtige Ohrfeige versetzte, mich zu Boden schlug und schrie:
„Zuerst wollen wir die alte, dann die junge Türkin. Zucker kommt zuletzt.“ Ich versuchte aufzustehen,<br />
er trat mir gegen den Kopf, und ich verlor fast die Besinnung. Ich hörte, wie sich meine Mutter widersetzte,<br />
wehrte, ich hörte sie kämpfen. Ich hörte das Grunzen, ich roch den Gestank verschwitzter und<br />
dreckiger Tschetniks.<br />
Während Mutter halbtot auf dem Fußboden lag, zerrissen zwei Tschetniks meine Bluse und riefen:<br />
„Hier sind Bomben, hier, zwei Bomben bei der jüngeren Türkin.“ Ich versuchte loszukommen, weinte,<br />
presste die Beine zusammen, doch hatte ich keine Kraft, da zwei von ihnen meine Beine festhielten,<br />
der dritte meine Arme.<br />
Einer von den Tschetniks zerschnitt mit einem Messer meine Unterhose, wobei er mich ein wenig verletzte.<br />
Er rief: „Hier ist eine unschuldige Türkin, hier ist eine Glückliche, bei der der Sohn eines Woiwoden<br />
der Erste sein wird, die dem Woiwoden einen Enkel gebärt.“ Ich war kraftlos, ohne Besinnung.<br />
Alles glich einem bösen Traum, einem Alptraum. Ich war halbtot, fast besinnungslos, verprügelt, taub<br />
und ich weiß nicht, wie viele mich vergewaltigten. Ich kam zum Bewusstsein, als die Tür hinter ihnen<br />
zuschlug…<br />
Meine Mutter lag auf dem Boden neben mir, eine Frau von fast 50 Jahren. Ich konnte mich nicht mehr<br />
rühren. Ich war blutbeschmiert. Vor dem Haus klang schreckenerregend das Tschetnik-Lied: „Wer will<br />
der zweite sein, ich bin der erste, lasst uns Türkenblut trinken.“<br />
Am 26. Oktober 1992 übergaben sie uns in der Stadt Nova Gradiška (Republik Kroatien) den Martić-<br />
Tschetniks, diese den UNO-Soldaten, die uns nach Zagreb brachten. In Zagreb wurden wir von den<br />
Mitarbeitern der Islamischen Glaubensgemeinschaft Kroatiens und den Bosniaken, die dort leben,<br />
aufgenommen. Mit ihrer Hilfe kamen wir nach Kanada, wo wir bis vor drei Monaten lebten.<br />
Ausschnitt aus dem Buch „Ich flehte um meinen Tod“. Sarajevo: Savez logoraša BiH, 2000<br />
ICH FLEHTE UM MEINEN TOD<br />
Frauen als Kriegsopfer<br />
29. September 2007, Neues Rathaus Linz<br />
Zentrum der zeitgemäßen Initiativen (<strong>ZZI</strong>)<br />
www.zzi.at