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Mitglieder-Brief Nr. 85 19. März 2009 - freudlacan

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● Der Sekretär<br />

c/o Hans-Peter Jäck<br />

Keplerstraße 5 A<br />

D-60318 Frankfurt am Main<br />

Fon *069-558124 / Fax *069-9150 6723<br />

e-mail: hpjck@t-online.de<br />

Information: http://www.<strong>freudlacan</strong>.de<br />

<strong>Mitglieder</strong>-<strong>Brief</strong> <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong><br />

<strong>19.</strong> <strong>März</strong> <strong>2009</strong><br />

●<br />

Der <strong>Mitglieder</strong>brief der AFP erscheint alle sechs bis acht Wochen oder bei aktuellem Bedarf und wird vom Sekretär redigiert.<br />

Über die AFP informieren die Satzung und die Kommentare zur Satzung. Sie können beim Sekretär bestellt werden.<br />

Außerdem verweisen wir auf die Homepage der AFP: http://www.<strong>freudlacan</strong>.de<br />

Bankverbindung: Konto 2322676 HypoVereinsbank Karlsruhe BLZ 66020286<br />

IBAN 96660202860002322676, swift-code: HYVEDEMM475<br />

Der <strong>Mitglieder</strong>brief erscheint ab 2007 in elektronischer Form;<br />

die Druckfassung ist nur direkt über den Sekretär erhältlich.<br />

Inhalt:<br />

1. Vereinsnachrichten<br />

Zum Tod unserer Förderin Cornelia Vogt<br />

a) Adressenänderung<br />

b) Beitragszahlung – Erinnerung des Sekretärs<br />

c) Kalender<br />

‒ Berlin: FLG - Psychoanalytische Praxis und Politik<br />

‒ Frankfurt am Main; Vorstandssitzung der AFP 17. April 2010<br />

‒ Hamburg: (Wahl-)MV der AFP 26.-27. Juni 2010<br />

‒ Köln: a) Universität Köln: A. Michels, Kafkas Judentum<br />

b) Ringvorlesung zu Lacan<br />

‒ Linz: Neues Lacansches Feld Österreich<br />

‒ Wien: Institut Français de Vienne<br />

2. AFP-Kongress «Norm-Normalität-Gesetz»<br />

‒ André Michels, Von der „Grundregel“ zur „Grundnorm“ (1)<br />

‒ Michael Meyer zum Wischen: Einführung der „table ronde“<br />

zur Lage der Psychoanalyse in verschiedenen Ländern<br />

‒ Gabrielle Devallet-Gimpel: Zur Lage der Psychoanalyse in<br />

Frankreich<br />

3. AFP-Forum «Norm-Normalität-Gesetz»<br />

‒ Julia Kristeva: Gesetz und Frevel in «Ödipus auf Kolonos»<br />

‒ Martin Schulte: Zur Rechtstheorie nach Freud und Lacan<br />

‒ Hinweis von Karl-Josef Pazzini: Preisausschreiben zur Norm<br />

4. Medienschau<br />

A) PSYCHOANALYTICA<br />

‒ Fontini Ladaki: Lacans Haar<br />

‒ Dominique Guyomards „Mutter-Effekt“ (Libé)<br />

‒ Federico Fellinis Psychoanalytiker (FR)<br />

‒ Liebe auf der Couch (FR)<br />

‒ Jean-Pierre Castel: Geisteskrankheiten (LmdL)<br />

‒ US-Psychoanalyse im Fernsehen (FR)<br />

‒ Volkmar Siguschs Lexikon der Sexualforschung<br />

‒ Slavoj Žižeks neuer Kapitalismus (Libération)<br />

‒ Gérard Wajman und der «Absolute Blick» (LmdL)<br />

‒ Irvin D. Yalom, ein amerikanischer Psychoanalytiker<br />

B) PHILOSOPHICA<br />

‒ Jacques Derridas Seminar zur Bestiologie<br />

‒ Michel Foucaults Selbstsorge<br />

‒ Jean-Michel Palmiers Walter-Benjamin-Biografie (R. Wiggershaus, FR)<br />

‒ Jean-Luc Nancy und die Wahrheit der Demokratie (FR)<br />

‒ Jean-Luc Nancy und die nationale Identität (LmdL)<br />

C) SOCIOLOGICA<br />

‒ Macht Ungleichheit unglücklicher?<br />

5. <strong>Brief</strong> von Hajo Hübner<br />

6. Jacques Lacan: Psychoanalyse und Kriminologie, 1950 (1)<br />

7. AFP-Forum «Neurowissenschaften und Psychoanalyse»<br />

‒ Catherine Malabou interviewt Jean-Pierre Changeux<br />

‒ Pädagogik und Hirnforschung<br />

8. Hans-Peter Jäck: Sexuelle Différance im Kino (AK-Film)<br />

9. Hans-Peter Jäck: Rasche Bemerkungen (4) - Antigone und<br />

Kreon vor einem modernen deutschen Gericht – Anmerkungen<br />

zu einem unzeitgemäßen Prozess<br />

10. Lachen mit Freud: Deutsch-Schweizerisches<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>, <strong>März</strong> 2010<br />

1.<br />

Vereinsnachrichten<br />

Zum Tod unserer Förderin<br />

Dr. Cornelia Vogt, Freiburg<br />

Ein Nachruf<br />

Am 22.1.2010 ist meine Frau Cornelia völlig<br />

unerwartet gestorben. Neben vielfältigen an‐<br />

deren Interessen und Aktivitäten war sie auch<br />

Fördermitglied der AFP, weshalb ihr hier in<br />

einem Nachruf gedacht werden soll.<br />

Geboren 1950 in Rio de Janeiro, studierte<br />

sie nach der Rückkehr der Familie nach<br />

Deutschland Medizin. Während ihre ureigens‐<br />

te Begeisterung immer den Sprachen und der<br />

Literatur galt, entschied sie sich aus Verant‐<br />

wortungsgefühl für die väterliche Tradition<br />

und arbeitete zunächst in der klinischen Anäs‐<br />

thesie bis sie sich nach einer Ausbildung in<br />

Neurologie und Psychiatrie schließlich als Psy‐<br />

chotherapeutin etablierte. Hier konnte sie ihr ‒<br />

nicht zuletzt durch das leidenschaftliche Lesen<br />

geschultes ‒ feines Gespür für den Gegenüber<br />

und ihr einfühlsames Wesen mit dem An‐<br />

spruch eines humanistischen Wirkens verbin‐<br />

den. Tätig war sie in einer Suchtklinik und da‐<br />

neben in einer kleinen psychotherapeutischen<br />

Praxis.


Ihr Interesse für die Sprache führte sie auch<br />

auf eine AFP‐Tagung mit Lucien Israël. Dies<br />

war auch ihr Einstieg in die Beschäftigung mit<br />

der lacanschen Psychoanalyse als einem Denk‐<br />

system, dessen Grundlage nicht nur durch die<br />

Philosophie, sondern vor allem durch Textana‐<br />

lysen gebildet wird. So hat sie zunächst von<br />

weitem, dann als Zaungast und schließlich als<br />

Fördermitglied sich der AFP angenähert.<br />

Ihr Tod reißt ein tiefes Loch in mein Leben<br />

und das unserer zwei Söhne. Mit Cornelia ha‐<br />

be ich nicht nur eine warmherzige, vielseitig<br />

interessierte und begeisterungsfähige Lebens‐<br />

begleiterin, sondern auch eine beinahe ideale<br />

Gesprächspartnerin verloren.<br />

Nicht einmal 60‐jährig ist sie wohl ge‐<br />

schwächt durch ihre teils lebensgefährliche,<br />

aber dennoch diagnostisch nicht zu bestim‐<br />

mende Blutkrankheit, gegen die sie jahrzehnte‐<br />

lang tapfer ankämpfte, nach einem Herzversa‐<br />

gen während eines Spazierganges urplötzlich<br />

tot zusammengebrochen.<br />

Thomas Vogt<br />

Der Vorstand der AFP hat mit Bestürzung vom plötzlichen<br />

Tod von Dr. Cornelia Vogt erfahren. Wir verlieren<br />

durch sie eine langjährige und engagierte Förderin unserer<br />

Sache der Psychoanalyse. Unsere Gedanken und unser<br />

Beileid gelten ihrem Mann, unserem verdienten Mitglied<br />

Thomas, und den beiden Kindern, für die dieser<br />

Tod, der uns eine liebe Freundin und Förderin genommen<br />

hat, eine unerwartete und schmerzliche Lücke gerissen<br />

hat.<br />

Für den Vorstand der AFP<br />

André Michels<br />

1. Vorsitzender,<br />

im Januar 2010<br />

‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐<br />

a) Adressen‐Änderungen<br />

‒ Neue e‐mail:<br />

‐ Dieter Nitzgen<br />

dieter@nitzgen.info<br />

‐ Hiltrud Amuser Burger<br />

clinica@kurklinikum.com<br />

‒ Adressenänderung<br />

‐ Prof. Dr. Hermann Lang: Institut für Psychothera‐<br />

pie und Medizinische Psychologie, Klinikstraße 3,<br />

97070 Würzburg, privat: Steinbachtal 63, 97070<br />

WÜRZBURG<br />

Fon 0931‐31‐82710, Fax 0931‐31‐86080,<br />

Handy 0173‐5673627, privat 0931‐882930<br />

e‐mail: h.lang@uni‐wuerzburg.de,<br />

URL www.psychotherapie.uni‐wuerzburg.de<br />

‒ Michael Meyer zum Wischen: Fon in Frankreich:<br />

0033‐[1]6861‐28899; neue Faxnummer in Köln: 0221‐<br />

5949 2659<br />

b) Beitragszahlung <strong>2009</strong>!<br />

Zur Erinnerung: Einige <strong>Mitglieder</strong> bzw.<br />

Förderer sind mit ihrem Beitrag für <strong>2009</strong> in<br />

2<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

Verzug, der Sekretär behält sich deshalb vor,<br />

in diesen Fällen bis auf Weiteres die Liefe‐<br />

rung des <strong>Mitglieder</strong>‐<strong>Brief</strong>s einzustellen.<br />

d.sekr.<br />

c) Kalender<br />

‒ Berlin<br />

Pratique psychanalytique et politique /<br />

Psychoanalytische Praxis und Politik<br />

Eine Tagung der Assoziation Ferenczi après Lacan<br />

mit freundschaftlicher Unterstützung vom<br />

Tagung mit zweisprachiger Übersetzung<br />

Berlin, 13. – 16. Mai 2010<br />

Institut Français Berlin (Maison de France)<br />

Kurfürstendamm 211 ‐ 10719 Berlin‐Charlottenburg<br />

Programm<br />

Bei unseren vorangegangenen Tagungen haben wir begonnen, eine<br />

lacanianische Lektüre der Psychoanalytiker, denen in der Geschichte der<br />

Psychoanalyse ein bedeutender Platz zukommt, wieder aufzunehmen<br />

(Ferenczi in Budapest, Winnicott in London). Mit einer Tagung in Berlin<br />

können wir an weitere Psychoanalytiker zu erinnern, die als direkte Schü‐<br />

ler Freuds zur psychoanalytischen Theorie beigetragen haben, beson‐<br />

ders, aber nicht ausschließlich Karl Abraham. Wenn seine Theorie der<br />

Stufen auch als zu systematisch erscheinen mag, behaupten sich noch<br />

heute seine Theorie der Melancholie und der Platz, den er dem Objekt<br />

zuweist, sowie seine Verortung der sozialen Dimension des Triebs. Zu be‐<br />

rücksichtigen ist auch, dass Melanie Klein ihm einen Teil der Begriffe ver‐<br />

dankt, die für die Entwicklung der Klinik des Kindes notwendig waren.<br />

Wir bleiben jedoch nicht dabei stehen, denn besonders in Berlin hat die<br />

Psychoanalyse sich zwei der wesentlichsten Fragen ihres Bestands stellen<br />

müssen:<br />

1. Die Ausbildung von Praktikern. Dort entstand, im Zusammenhang mit<br />

einer Poliklinik, die erste « Lehranstalt der Psychoanalyse ».<br />

2. Ihr Verhältnis zur politischen Macht. Zwar hat die Psychoanalyse sich<br />

dort entwickeln und zahlreiche benachteiligte Psychoanalytiker aus Zent‐<br />

raleuropa aufnehmen können, doch wurde sie seit der Machtergreifung<br />

durch die Nazis angegriffen, und die Weise, auf die sie diese Aggression<br />

beantwortete, gibt uns noch heute Fragen auf. Es geht um den Platz der<br />

analytischen Bewegung in der Welt und um die Diskurse, in denen sie<br />

sich ansiedelt.<br />

Diese beiden Fragen haben etwas gemeinsam. Sie bringen die Politik mit<br />

sich, in der die psychoanalytische Institution und die Kur selbst ihren Part<br />

spielen. Es wird nicht darum gehen, diese schlicht historisch zu behan‐<br />

deln. Die psychoanalytische Praxis, die uns vor allem betrifft, ist heute of‐<br />

fensichtlich nicht gegen die kombinierte Wirkung von kognitiven Verhal‐<br />

tenstherapien und Psychotherapeutengesetzen sowie der zugrundelie‐<br />

genden Diskurse gefeit.<br />

Wissenschaftliches Komitee : Claude Boukobza, Michel Bousseyroux,<br />

Jean Clam, Roland Gori, Anita Izcovich, Patrick Landman, Jean‐Pierre Leb‐<br />

run, Martine Lerude, Charles Melman, André Michels, Claus‐Dieter Rath,<br />

Moustapha Safouan, Marc Strauss, Bernard Toboul, Jean‐Jacques Tyszler,<br />

Johanna Vennemann<br />

Organisationskomitee : Roland Chemama, Françoise Gorog, Jean‐Jacques<br />

Gorog, Christian Hoffmann, Alain Vanier, Catherine Vanier<br />

(Zertifizierung der Tagung durch die Psychotherapeutenkammer Berlin<br />

beantragt.)<br />

Donnerstag, 13. Mai, Nachmittag Gesprächsleitung Roland Chemama<br />

14h15 Eröffnung der Tagung durch Claus‐Dieter Rath und einen Vertreter<br />

der Französischen Botschaft<br />

14h40 Christian Hoffmann, Introduction aux journées : psychanalyse, or‐<br />

ganisation, recherche (Einleitung : Psychoanalyse, Organisation, For‐<br />

schung)<br />

15h05, Claus‐Dieter Rath, Der Widerstand gegen das Politische (La résis‐<br />

tance au politique)<br />

15h30 Diskussion<br />

16h Pause<br />

16h15 Anita Izcovich De la formation de l'analyste à la passe (Von der<br />

Analytikerausbildung zur ‘passe’)<br />

16h40 Martine Lerude, Avons‐nous un mur dans la tête ? (Haben wir eine<br />

Mauer im Kopf ?)<br />

17h05 André Michels, Institution psychanalytique et principe de souve‐<br />

raineté (Psychoanalytische Institution und Souveränitätsprinzip) 17h30


Diskussion<br />

Freitag, 14. Mai, Vormittag Gesprächsleitung Catherine Vanier<br />

9h Claude Boukobza, Le rapport d’Anna Freud à Max Eitingon Anna<br />

Freuds Beziehung zu Max Eitingon)<br />

9h25 Joël Birman, La psychanalyse, l’institution psychanalytique et<br />

l’université (Psychoanalyse, psychoanalytische Institution und Universi‐<br />

tät)<br />

9h50 Annie Tardits, Théodor Reik et ses deux séjours à Berlin (Theodor<br />

Reik und seine zwei Aufenthalte in Berlin) 10h15 Diskussion 10h45 Pause<br />

11h Gesprächsleitung Claus‐Dieter Rath<br />

Jean‐Jacques Tyszler, Quid aujourd’hui du dialogue Freud Abraham ?(Der<br />

Dialog Freud‐Abraham aus heutiger Sicht)<br />

11h25 Françoise Gorog, Karl Abraham, de l’incertitude du rôle sexuel<br />

dans la mélancolie à la sexualité féminine (Karl Abraham – von der Unbe‐<br />

stimmtheit der Geschlechtsrolle in der Melancholie zur weiblichen Se‐<br />

xualität) 11h50 Diskussion<br />

Freitag, 14. Mai, Nachmittag Gesprächsleitung André Michels<br />

14h15 Bernard Toboul, Le temps de l’esprit, l’esprit du temps (Zeit des<br />

Geistes, Geist der Zeit)<br />

14h40 Sophie de Mijolla, la psychanalyse et le politique (Die Psychoana‐<br />

lyse und das Politische)<br />

15h05 Patrick Landman, L’analyse peut‐elle être laïque par rapport au<br />

discours politique ? (Kann die Psychoanalyse gegenüber dem politischen<br />

Diskurs einen Laienstatus halten ?) 15h30 Diskussion 16h Pause<br />

16h15 Gesprächsleitung Jean‐Jacques Rassial<br />

Jean Clam, Le manque d’être. Sur la centralité d’un motif philoso‐<br />

phique/existentialiste dans la psychanalyse (Der Seinsmangel. Über die<br />

Zentralität eines philosophisch‐ existenzialistischen Motivs in der Psy‐<br />

choanalyse)<br />

16h40 Achim Perner, Gott ist tot. Über das Ichideal und den Terrorismus<br />

(Dieu est mort, l’idéal du moi et le totalitarisme)<br />

17h05 Jean‐Jacques Moscovitz, Le malaise du sujet dans la civilisation,<br />

1929‐<strong>2009</strong>, un troisième tour entre psychanalyse et politique. (Das Un‐<br />

behagen des Subjekts in der Kultur 1929‐<strong>2009</strong>. Eine dritte Runde zwi‐<br />

schen Psychoanalyse und Politik)<br />

17h30 Marc Strauss Germe d'un clivage dans la psychanalyse (Keim einer<br />

Spaltung in der Psychoanalyse) 17h55 Diskussion<br />

Freitag, 14. Mai, Abend : Empfang zu einem Umtrunk in der Französi‐<br />

schen Botschaft<br />

Sonntag, 16. Mai, Vormittag Gesprächsleitung Françoise Gorog<br />

9h Karl‐Josef Pazzini, Einige Erfahrungen bei der Konzeption der Bildung<br />

des Analytikers in Deutschland (Quelques expériences au sujet de la<br />

formatipn de l’analyste en Allemagne)<br />

9h25 Muriel Drazien, La loi italienne sur les psychothérapies et son enjeu<br />

pour la psychanalyse (Das italienische Psychotherapiegesetz und seine<br />

Auswirkungen auf die Psychoanalyse) 9h50 Diskussion 10h20 Pause<br />

11h Gesprächsleitung Alain Vanier<br />

Gérard Pommier, La psychanalyse a‐t‐elle un effet sur la politique ?<br />

(Wirkt die Psychoanalyse sich auf die Politik aus?)<br />

11h25 Colette Soler, La politique avec l’inconscient (Die Politik mit dem<br />

Unbewussten)<br />

11h50 Roland Chemama, L’éthique psychanalytique implique‐t‐elle une<br />

politique ? (Impliziert die psychoanalytische Ethik eine Politik ?) 12h15<br />

Diskussion und Schlussworte (R. Chemama, F. Gorog, J‐J. Gorog, C. Hoff‐<br />

mann, A. Vanier, C. Vanier)<br />

Samstag, 15. Mai, Vormittag, Raum A Gesprächsleitung Jean Clam<br />

Cornelius Tauber, Psychoanalyse in der Stadt (Psychanalyse dans la ville)<br />

Jean‐Richard Freymann, Les névroses post‐traumatiques sont‐elles ana‐<br />

lysables ? (Sind die posttraumatischen Neurosen analysierbar ?)<br />

Olivier Douville, De l’introduction de la psychanalyse dans le traitement<br />

des névroses de guerre (Über die Einführung der Psychoanalyse in die<br />

Behandlung der Kriegsneurosen)<br />

Bernhard Schwaiger, « Die eingesperrte Psychoanalyse » : Der Diskurs<br />

der Psychoanalyse in der Institution und die Frage nach Wirksamkeit und<br />

Wahrheit (« La psychanalyse enfermée » : le discours de la psychanalyse<br />

en institution et la question de l’efficacité et de la vérité)<br />

Maria Izabel Oliveira Szpacenkopf, Sur la notion de caractère chez Freud<br />

et quelques considérations quant à la pratique psychanalytique actuelle<br />

(Über den Begriff des Charakters bei Freud und einige Bemerkungen zur<br />

aktuellen psychoanalytischen Praxis)<br />

Samstag, 15. Mai, Vormittag, Raum B Gesprächsleitung Johanna<br />

Vennemann<br />

Maya Malet, Norme et légitimité. Sauver sa peau, sauver la psychana‐<br />

lyse ? (Norm und Legitimität. Seine Haut retten, die Psychoanalyse ret‐<br />

ten ?)<br />

Marc Morali, La fin d’une éthique scientifique (Das Ende einer wissen‐<br />

schaftlichen Ethik)<br />

Michèle Benhaïm, Le maternel dans les textes de Karl Abraham (Das<br />

Mütterliche in den Texten Karl Abrahams)<br />

Anna Tuschling, Ist die Kulturwissenschaft möglicher Mitstreiter für eine<br />

politische Psychoanalyse ? (Pour une psychanalyse politique : est‐ce que<br />

les études de « Culture et Civilisation » sont un partenaire ?)<br />

Anne Ropers, Liens et croisements entre le théâtre expressionniste et la<br />

psychanalyse – le thème du meurtre du père (Hanns Sachs) (Verbindun‐<br />

gen und Kreuzungspunkte zwischen dem expressionistischen Theater<br />

3<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

und der Psychoanalyse – das Thema Vatermord (Hanns Sachs))<br />

Samstag, 15. Mai, Nachmittag, Raum A Gesprächsleitung Jean‐Jacques<br />

Gorog<br />

Dominique Janin‐Pilz, La question de l’étranger dans les associations psy‐<br />

chanalytiques (Das Fremde in den psychoanalytischen Assoziationen)<br />

Hélène Godefroy, De Vienne à Berlin, l’étranger de la psychanalyse (Von<br />

Wien nach Berlin. Das Fremde der Psychoanalyse)<br />

Jean‐Jacques Blévis, La pratique psychanalytique, entre langue et poli‐<br />

tique. Vienne, Berlin, et Jérusalem, entre Freud, Zweig, et Eitingon (Die<br />

psychoanalytische Praxis zwischen Sprache und Politik. Wien, Berlin und<br />

Jerusalem, zwischen Freud, Zweig und Eitingon)<br />

Radu Turcanu, La politique du « retour à Freud ». Le discours du<br />

psychanalyste entre Berlin et l’Amérique (Die Politik der « Rückkehr zu<br />

Freud ». Der Diskurs des Psychoanalytikers zwischen Berlin und Amerika.)<br />

Samstag, 15. Mai, Nachmittag, Raum B Gesprächsleitung Bernhard<br />

Schwaiger<br />

Susanne Gottlob, Enttäuschung des Politischen. Thesen zur Gewalt (La<br />

déception du politique. Thèses sur la violence)<br />

Alain Harly, Peut‐on parler d’un sujet postcommuniste ? (Kann man von<br />

einem post‐kommunistischen Subjekt sprechen ?)<br />

Gorana Bulat‐Manenti, Analyser et transmettre : clinique et transfert(s)<br />

(Analysieren und übermitteln : Klinik und Übertragung(en))<br />

Muriel Mosconi, Du contrôle : Lacan et le débat Budapest‐Berlin. (Über<br />

die Kontrollanalyse : Lacan und die Debatte Budapest‐ Berlin)<br />

Andrée Lehmann, titre non communiqué (Ohne Titel)<br />

Samstag, 15. Mai, Abend, Darstellung der Entwicklung der Berliner Archi‐<br />

tektur im Lauf der letzten Jahrzehnte<br />

‒ Frankfurt am Main<br />

Vorstandssitzung der AFP am 17. April 2010<br />

‒ Hamburg<br />

(WAHL‐)MV der AFP, Fr.‐Sa. 25.‐26. Juni 2010<br />

in Hamburg im Warburg‐Haus; Organisato‐<br />

rin: Susanne Gottlob, HH., e‐mail.<br />

s.gottlob@web.de<br />

‒ Köln<br />

a) André Michels, Kafkas Judentum, 26. April<br />

2010, 16‐17.30 Uhr, Hörsaal B IV (Gebäude der<br />

Universitätsbibliothek), Lehrstuhl für Literaturwis‐<br />

senschaft und Medientheorie. ‒ Was jüdisch an<br />

Kafka ist, gehört zu den schwierigsten und noch<br />

ungeklärten Fragen. Wie soll man ein Judentum de‐<br />

finieren, das weder religiös noch politisch gelebt<br />

wird? Eine Frage, die bereits Freud an eine noch zu<br />

kommende Wissenschaft gestellt hat.<br />

b) textura ‐ Freud Lacan Gruppe Köln in Kooperation<br />

mit dem Englischen Seminar der Universität zu Köln<br />

(Prof. Dr. Beate Neumeier)<br />

Veranstaltungen im Sommersemester 2010<br />

jeweils donnerstags um 20h im Hörsaal XVIII<br />

Hauptgebäude der Universität zu Köln:<br />

RINGVORLESUNG - EINFÜHRUNGEN IN DIE<br />

PSYCHOANALYSE JACQUES LACANS<br />

06.05.2010 Jacques Lacans Psychoanalyse: Wissenschaft<br />

und Häresie. Die Rückkehr des Freudschen<br />

Dings aus der Zukunft I - Dr. Michael Meyer<br />

zum Wischen<br />

20.05.2010 Jacques Lacans Psychoanalyse: Wissenschaft<br />

und Häresie. Die Rückkehr des Freudschen<br />

Dings aus der Zukunft II - Dr. Michael Meyer<br />

zum Wischen<br />

01.07.2010 Weshalb erscheint Draculas Bild nicht<br />

im Spiegel? Psychoanalytische Überlegungen zu<br />

Bram Stokers Romanfigur Graf Dracula - Lic.-<br />

Psych. Cristina Burckas<br />

‒ Linz<br />

NEUES LACANSCHES FELD ÖSTERREICH<br />

Ausgehend von Lacans Text `Meine Lehre` werden wir bei die‐<br />

sem Seminar unter anderem folgende Fragen besprechen:


‐ Was ist lehrbar, was ist übermittelbar, was ist übersetzbar,<br />

was ist übertragbar in der Psychoanalyse von Freud und Lacan?<br />

‐ Was geht dabei verloren und wie kann dieser Verlust genutzt<br />

werden?<br />

‐ Was muss sich der Analytiker aneignen, damit er es vergessen<br />

und als Nichtwissender in der analytischen Stunde zuhören<br />

kann?<br />

‐ Wie handeln, damit Lacans Lehre als Effekt des Rests wirken<br />

kann?<br />

‐ Was passiert beim Werden zum Analytiker mit dem Wissen?<br />

‐ Was sind die klinischen Konsequenzen (anhand von Fallvignet‐<br />

ten)?<br />

Dies ist nur ein Teil der Fragen, die Lacans Text aufwirft und mit<br />

denen wir uns beschäftigen werden.<br />

Bis jetzt zugesagte Beiträge von<br />

Claus Dieter Rath, Karl Josef Pazzini, Avi Rybnicki, Gerhard<br />

Zenaty, <strong>Mitglieder</strong> des Kartells zu `Meine Lehre` und es werden<br />

noch andere folgen<br />

Texte zur Vorbereitung:<br />

‐ Jacques Lacan: Meine Lehre. Turia+Kant, Wien 2008<br />

‐ Claus Dieter Rath: Überraschung. Kritik der Weitergabe. In:<br />

Wie ist Psychoanalyse lehrbar? Jahrbuch für Klinische Psycho‐<br />

analyse ‐ Band 8, Edition Diskord, Tübingen 2008<br />

Ort: Linz, Katholisch‐Theologische Universität,<br />

Bethlehemstrasse 20<br />

Zeit: Samstag 12.6.2010, 10:00 bis 19:00 Uhr<br />

Kosten: € 80.‐ (Tagungsgebühr inkl. Mittagessen und Pausenge‐<br />

tränke)<br />

Anmeldung direkt: www.lacanfeld.at oder via Email:<br />

lacanfeld@gmx.at<br />

Bankverbindung: Neues Lacansches Feld Österreich Sparkasse,<br />

BLZ 20330, Kto.<strong>Nr</strong>. 02104001298 nähere Informationen auf<br />

www.lacanfeld.at<br />

TAGUNG zum Thema EIN UNMÖGLICHER BE‐RUF<br />

ÜBERTRAGUNG ‐ ÜBERMITTLUNG ‐ ANALYTIKER WERDEN<br />

Das Ziel meiner Lehre, nun ja, das wäre, Psychoanalytiker zu<br />

machen, die der Funktion gewachsen wären, die sich das Sub‐<br />

jekt nennt. (Lacan, Meine Lehre, 53)www.lacanfeld.at<br />

‒ Wien<br />

Institut Français de Vienne:<br />

Vorträge zu Geneviève Morel, Das Gesetz der Mutter:<br />

20. <strong>März</strong> 2010 – 14:00 Uhr<br />

Dr. Gabrielle Devallet‐Gimpel – Psychoanalytikerin, Toulouse<br />

„Das Reale des Körpers am Ende der psychoanalytischen Kur.<br />

Kann der Körper die Rolle eines trennenden Elements über‐<br />

nehmen?“<br />

Welche Rolle spielt der Körper außer in Angstzuständen,<br />

Somatisations‐ oder Konversionssymptomen? Welche Stütze<br />

bildet er, wenn am Ende der psychoanalytischen Kur das Sub‐<br />

jekt ohne Einbindung in die Signifikantenkette auskommen<br />

muss, wenn das Subjekt an einem Signifikanten stehenbleibt,<br />

der nur auf Abwesenheit von Sinn hinweist? Angesichts dieser<br />

Sinnesleere, Bedeutungsleere, ist die Konsistenz des Symboli‐<br />

schen geschwächt ( „abgenutzt bis auf die Kette“): der Körper<br />

kann die Furche des Realen ausheben.<br />

Kann das Reale des Körpers, wenn das Fantasma am Ende der<br />

Kur an Konsistenz verliert ( die „psychische Realität“ bei Freud),<br />

eine Stütze für das Subjekt bilden? Kann ein psychosomatisches<br />

Phänomen die verschiedenen Konsistenzen des Realen, Symbo‐<br />

lischen und Imaginären zusammenhalten wie es vorher das<br />

Fantasma tat?<br />

Wir werden zusätzlich zu „Das Gesetz der Mutter“ eine Arbeit<br />

von Jeanne Granon‐Laffont heranziehen, die in diesem Zusam‐<br />

menhang von einer Verdoppelung der realen Konsistenz, von<br />

einem „zusätzlichen“ Realen spricht, das eine zusätzliche Ver‐<br />

knotung im Borromäischen Knoten ermöglicht oder auch eine<br />

„Reparation“ im Sinne einer „Stellvertretung“ (suppléance).<br />

24. April 2010 – 14:00 Uhr<br />

Regula Schindler – Psychoanalytikerin, Zürich<br />

„Symbolische Mutter, realer Vater“<br />

Ist die „symbolische Mutter“ ein Auslaufmodell? Diese frühe<br />

Setzung Lacans (1957/58 im Seminar IV „Relation d’ objet“) mag<br />

im späteren Werk nicht mehr als solche auftauchen, behält je‐<br />

doch ihre Gültigkeit schon insofern, als sie die in manchen Krei‐<br />

4<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

sen stets noch virulente Zuordnung Vater =symbolischer Agent,<br />

Mutter = real/imaginäre Agentin, sprich „Krokodil“, verbietet.<br />

Wir werden das Schema „Frustration/ Privation/ Kastration“,<br />

wo die Mutter als symbolische Agentin der realen Frustrati‐<br />

on/Versagung auftaucht (Sem. IV, 6. 2.1957) als Vorläufer‐<br />

Modell des Knotens R/S/I lesen, und das Schicksal dieser symbo‐<br />

lischen Agentin, und ihres Kumpans, des „realen Vaters“, wei‐<br />

terverfolgen: im Spätwerk Lacans (Sem. RSI, Le Sinthome), in<br />

ausgewählten literarischen Texten, in Fallbeispielen aus der<br />

Praxis.<br />

<strong>19.</strong> Juni 2010 – 14:00 Uhr<br />

Marta Pérez Valverde – Psychoanalytikerin, Wien: «Wege aus<br />

dem Wahnsinn»<br />

Es werden zwei Fälle mit psychotischer Struktur präsentiert. In<br />

einer ersten Vignette entwickelte sich das Sinthom erst im Laufe<br />

der Kur. Die zweite Falldarstellung zeigt, wie eine Patientin im<br />

Verlauf der Analyse ein Sinthom ausarbeiten konnte, mit dem<br />

sie bereits in die Praxis gekommen war.<br />

2.<br />

AFP-Kongess<br />

«Norm-Normalität-Gesetz»<br />

Beiträge auf dem Kongress der AFP<br />

‒ André Michels<br />

Von der „Grundregel“ zur „Grundnorm“<br />

Zur Kritik der normativen Vernunft<br />

1.Teil<br />

Meine These lautet: Die Psychoanalyse ist<br />

vorwiegend Kritik an der normativen Ver‐<br />

nunft. Aus dieser Kritik ist sie hervorgegan‐<br />

gen. Sie ist also kein theoretisches Anhängsel,<br />

sondern wesentlicher Bestandteil der analyti‐<br />

schen Arbeit. Als solcher kommt ihr der Cha‐<br />

rakter der Notwendigkeit zu. Diese These ist<br />

nur haltbar, wenn der dabei verwendete<br />

Normbegriff nicht von außen her als gesell‐<br />

schaftlicher, juristischer, ethischer oder wis‐<br />

senschaftlicher Anspruch, an die Psychoanaly‐<br />

se herangetragen wird, sondern wenn er sich<br />

als eine genuine Leistung des Unbewussten<br />

erweist, wenn er sich erst aufgrund der Arbeit<br />

des und am Unbewussten ergibt. Bei diesem<br />

Thema geht es also um die Eigenständigkeit<br />

(Autonomie) der Psychoanalyse anderen Dis‐<br />

kursen gegenüber. Darüber hinaus gibt es ei‐<br />

nen direkten Bezug zum Thema der „Arbeit“,<br />

mit dem sich der letzte AFP‐Kongress vor 2<br />

Jahren befasst hat, ebenso wie zu jenem der<br />

„Technik“, dem vor genau 20 Jahren ein ande‐<br />

rer Kongress, ebenfalls auch in Karlsruhe, ge‐<br />

widmet war.<br />

Grundregel<br />

Relevant an der Technik ist, dass sie einer<br />

Regel – und zwar der Grundregel – unterliegt.<br />

Diese steht im Zentrum unseres Themas, und<br />

deshalb möchte ich mit ihr anfangen. Die<br />

Grundregel begründet die analytische Praxis.<br />

Die eigentlich spannende Frage ist, wie sie sich<br />

zu Norm und Normativität verhält. Um darü‐


er mehr zu erfahren und einen Vergleich auf‐<br />

stellen zu können, möchte ich zuerst nach dem<br />

Gebrauch der Regel bei Wittgenstein fragen,<br />

etwa in der Darstellung eines Robert B. Bran‐<br />

dom, einem der führenden angelsächsischen<br />

Philosophen der Gegenwart. Er unterscheidet<br />

drei Anwendungsbereiche der Regel bei Witt‐<br />

genstein: einmal sagen die Regeln „explizit,<br />

was man zu tun hat“; zum zweiten besagt Re‐<br />

gel „alles, was diejenigen leitet …, deren Ver‐<br />

halten beurteilt wird, gleichgültig, ob es dis‐<br />

kursiv oder begrifflich gegliedert ist“; schließ‐<br />

lich ist von Regel die Rede, „wenn ein Verhal‐<br />

ten Gegenstand normativer Beurteilung ist,<br />

wenn also eine Verantwortlichkeit zugewiesen<br />

wird, gleichgültig, ob derjenige sich dessen<br />

bewusst ist, wenn er entscheidet, was zu tun<br />

ist.“1 Ich will diese Darstellung nicht weiter<br />

diskutieren. Ähnliche Fragen stellen sich bei<br />

der Formulierung der Grundregel, für die der<br />

Bezug zur Sprache, ebenso wie bei Wittgens‐<br />

tein, ausschlaggebend ist. Es handelt sich um<br />

die Bedingungen der Ausübung der Psycho‐<br />

analyse schlechthin.<br />

Eine erste Formulierung der Grundregel<br />

finden wir bereits in den „Studien über Hyste‐<br />

rie“, eine Vorstufe eigentlich, deren Wortlaut<br />

aber sich in der Folge nicht wesentlich geän‐<br />

dert hat. Freud versucht die Hypnose, die an<br />

die Grenzen der Erinnerungsfähigkeit des Pa‐<br />

tienten gestoßen war, durch einen „kleinen<br />

technischen Kunstgriff“ zu ersetzen oder zu<br />

„verstärken“, wie er annimmt, indem er einen<br />

Druck auf die Stirn des Patienten ausübt und<br />

ihn dazu auffordert, das Bild oder den Einfall,<br />

der sich einstellt, mitzuteilen, „was immer das<br />

sein möge. Er dürfe es nicht für sich behalten,<br />

weil er etwa meine, es sei nicht das Gesuchte,<br />

das Richtige, oder weil es ihm unangenehm<br />

sei, es zu sagen. Keine Kritik, keine Zurückhal‐<br />

tung, weder aus dem Affekt noch aus Gering‐<br />

schätzung! Nur so könnten wir das Gesuchte<br />

finden, so fänden wir es aber unfehlbar.“2 Be‐<br />

merkenswert an der Formulierung ist, das sie<br />

fast gleichbleibend, mit nur kleinen Varianten,<br />

Freuds Werk durchzieht. Der Wortlaut insti‐<br />

tuiert, wie ein Basisaxiom, die Grundregel als<br />

das eigentlich Invariante des psychoanalyti‐<br />

schen Diskurses, der Psychoanalyse als Dis‐<br />

kurs. Sie ist der gemeinsame Bezugspunkt, bei<br />

1 Robert B. Brandom (1994), Expressive Vernunft, Suhrkamp<br />

Verlag, Frankfurt a. M. 2000, S.1<strong>19.</strong><br />

2 Sigmund Freud (1895), Studien über Hysterie, G.W. I, S.270.<br />

5<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

den mannigfaltigsten Orientierungen der Psy‐<br />

choanalyse in mehr als einem Jahrhundert.<br />

Die Grundregel pro‐<br />

duziert den Einfall, eine Funktion des Neuen,<br />

unter der Voraussetzung der „Aufrichtigkeit“<br />

und „Kritiklosigkeit“ dessen, was sich bisher<br />

der Erinnerung und dem Wissen entzogen hat.<br />

Wie konnte Freud jedoch annehmen, dass da‐<br />

bei etwas Anderes als bloßer Unsinn heraus‐<br />

komme? Seine Antwort, die uns noch heute in<br />

Staunen versetzt, besteht in der Umkehrung<br />

der logischen Wertigkeit: der Unsinn ist der<br />

beste Beweis, der Hinweis nämlich, dass wir<br />

das Gesuchte gefunden haben; Freud meint:<br />

das „Richtige“. Es geht um das Finden, Auf‐<br />

finden und um das Richtige, Wahre. Die Psy‐<br />

choanalyse wird von Anfang an als eine Heu‐<br />

ristik definiert, deren Bedingungen die Grund‐<br />

regel festlegt, ein für allemal, wie es scheint. Es<br />

ist der Grundpfeiler, der die Psychoanalyse im<br />

Realen verankert; alles Andere ist theoretischer<br />

Überbau in den verschiedensten Ausrichtun‐<br />

gen. Damit meine ich, dass die Entwicklung<br />

einer Logik des Unbewussten und einer Ethik<br />

der Psychoanalyse stets eine Heuristik voraus‐<br />

setzt.<br />

Die Psychoanalyse ist Erfindungskunst, be‐<br />

vor sie zur Deutungskunst wird. Die eine ist<br />

ohne die andere nicht denkbar. Ihr oberstes<br />

Prinzip ist die Auffindung des Neuen, und nur<br />

unter dieser Bedingung findet Deutung statt.<br />

Wahrscheinlich ohne es zu wissen, jedenfalls<br />

ohne es je hervorgehoben zu haben, macht sich<br />

Freud die talmudische Inspiration zu eigen:<br />

chidush, die Auffindung des Neuen, ist die ein‐<br />

zige Sicherheit, über die wir bei der Deutung<br />

verfügen. Nur unter dieser Voraussetzung fin‐<br />

det sie statt. Es „kann“ also nicht alles gedeutet<br />

werden, ganz im Gegensatz zur Behauptung<br />

eines Karl Popper, der die Psychoanalyse der


Pseudowissenschaftlichkeit bezichtigt hat.<br />

Aber es „darf“ alles gesagt werden. Darf es?<br />

Freud rekonstituiert und reinstituiert das<br />

oberste Prinzip der mündlichen Überlieferung,<br />

die, der Tradition nach, bis auf den Sinai zu‐<br />

rückgeht, d.h. auf die Gabe des Gesetzes<br />

(matanat thora). Es liegt zwar ein Text vor, der<br />

von dem ursprünglichen Ereignis, der Urszene<br />

zeugt, der aber ohne die mündliche Überliefe‐<br />

rung wenig aussagekräftig wäre.<br />

Die Dialektik von Sprache und Schrift, von<br />

mündlicher und schriftlicher Tradition, steckt<br />

das Feld ab, in dem wir uns bewegen. Beiden<br />

geht eine Gabe voraus, ein Eingabe sozusagen,<br />

die – wie „gottgegeben“, im übertragenen Sinn<br />

– den Einfall bedingt. „Gottgegeben“ ist weni‐<br />

ger der Einfall selbst, als das Vertrauen, das<br />

Freud in ihn setzt. Es verleiht dem Einfall nicht<br />

nur die Qualität des „Neuen“, sondern auch<br />

des „Richtigen“, nach dem Prinzip der antizi‐<br />

pierten Sicherheit. Freud bezeichnet es als „un‐<br />

fehlbar“. Unfehlbar ist sein Vertrauen in die<br />

Dimension des Anderen, sein „Zutrauen zur<br />

Strenge der Determinierung im Seelischen“3,<br />

das an der Wende von der Hypnose zur Psy‐<br />

choanalyse wesentlich beteiligt war.<br />

Die Determinierung oder Überdeterminie‐<br />

rung steht an der Wiege der Psychoanalyse.<br />

Sie bestimmt die „Richtigkeit“ des Einfalls, der<br />

wie aus einer höheren Inspiration stammt, und<br />

dem „Fortschritt in der Geistigkeit“ Genüge<br />

leistet, den Freud, wenn ich den „Mann Moses“<br />

richtig lese, auch für sei Lebenswerk, die Psy‐<br />

choanalyse beansprucht.4<br />

Einfall<br />

Was also ist der Einfall? Vom Einfall, als<br />

Produkt der Grundregel erwarten wir uns ei‐<br />

nigen Aufschluss über die „Determinierung im<br />

Seelischen“, sowohl über die Funktionsweise<br />

des psychischen Apparates als auch über die<br />

Logik des Unbewussten. Logik aber besteht im<br />

Verbinden und Schließen, also zunächst in der<br />

Schaffung eines Mittelgliedes (meson, bei Aris‐<br />

toteles). Nichts Anderes erfahren wir über den<br />

Einfall. Er ist nicht immer die „ vergessene “<br />

oder verdrängte Erinnerung, sondern häufiger<br />

„in Mittelglied… in der Assoziationskette…<br />

oder reine Vorstellung, die den Ausgangs‐<br />

3 Sigmund Freud (1923) Psychoanalyse und Libidotheorie, G. W.<br />

XIII, S.214.<br />

4 Sigmund Freud (1939), Der Mann Moses und die monotheistische<br />

Religion, G.W. XVI, S.219-223.<br />

6<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

punkt einer neuen Reihe von Gedanken und<br />

Erinnerungen bildet.“5<br />

Der Einfall selbst ist das Produkt einer logi‐<br />

schen Verflechtung. Während die Assoziation<br />

selbst nicht frei ist, sondern der „Strenge der<br />

Determinierung“ unterliegt, drängt sich die<br />

Frage auf, wie neu denn das Neue ist. Was ist<br />

neu an ihm? Was erlaubt uns vor allem, etwas<br />

als neu zu erkennen? Oder sollten wir eher sa‐<br />

gen: wiederzuerkennen?<br />

Es ist der „Zusammenhang“, d.h. der Kon‐<br />

text oder Text, von dem es mehrere Stufen<br />

oder Schichten gibt, wie bei einem Palimpsest.<br />

Es ist zunächst der Zusammenhang, der „in<br />

Vergessenheit geraten“ war, jedoch „über be‐<br />

kannte Erinnerungen“ wieder zugänglich ge‐<br />

macht wird. Auf einer anderen Stufe bringt die<br />

Grundregel Einfälle, d.h. Erinnerungen hervor,<br />

die längst aus jedem Zusammenhang gerissen<br />

oder gefallen waren, „welche seit vielen Jahren<br />

der Assoziation entzogen waren, aber noch als<br />

Erinnerungen erkannt werden können“. Die<br />

nächste Stufe bezeichnet Freud als „höchste<br />

Leistung der Reproduktion“, nämlich Gedan‐<br />

ken, die der Analysant „niemals als die seini‐<br />

gen anerkennen will, die er [streng genom‐<br />

men] nicht erinnert [und die dennoch] von<br />

dem Zusammenhange unerbittlich gefordert<br />

werden…“. Er fügt hinzu, „dass gerade diese<br />

Vorstellungen den Abschluss der Analyse und<br />

das Aufhören der Symptome herbeiführen“.6<br />

Was den letzten Punkt anbelangt, so sind<br />

wir etwas vorsichtiger geworden und nehmen<br />

im Gegenteil an, dass vom Symptom stets ein<br />

Rest übrigbleibt, vielleicht das Wesentlichste.<br />

Der Abschluss einer Analyse entspricht eher<br />

einer „Umschreibung“, „Überschreibung“ des<br />

Symptoms, als einer Auflösung. Er wird „auf‐<br />

gehoben“, d.h. in seine Teile zerlegt und als<br />

Fragment erhalten, als Ruine einer vergange‐<br />

nen Zeit, die noch vom alten, längst<br />

vergegangenen Ruhm zeugt. Es bleiben also<br />

Spuren vom vergangenen Genießen übrig, die<br />

jedoch nicht alle in die Sprache des Subjekts<br />

übersetzt werden können.<br />

Welches ist dieser Zusammenhang, d.h.<br />

dieser Kontext, der so unerbittlich fordert?<br />

Woher stammt die Kraft der Determinierung,<br />

die an die Stelle der Vordeterminierung tritt,<br />

nicht als Vorschrift, wie die einer Norm, son‐<br />

dern als das, was zu schreiben nicht aufhört (ce<br />

5 Sigmund Freud (1895) Studien über Hysterie, ebd., S.271.<br />

6 Ebd., S.272-273.


qui ne cesse pas de s’écrire) – Lacans Definition<br />

der Notwendigkeit. Der Einfall, der zunächst<br />

wie ein Zufall erscheint, erweist sich demnach<br />

mit einer unerbittlichen Notwendigkeit, als ei‐<br />

ne Forderung des Textes, eine Funktion der<br />

Schrift. Diese drängt mit einer konstanten<br />

Kraft, wie der Trieb. Es ist die eigentliche<br />

Schreibkraft, die über uns verfügt, und zwar<br />

unentwegt, die wir uns aber verfügbar zu ma‐<br />

chen suchen. Sie lässt uns nicht zur Ruhe<br />

kommen, wie Freud im Jahr 1932 schreibt:<br />

„…das Unbewusste schläft vielleicht niemals.“<br />

Der Grund dazu ist unser Triebleben: „Alles,<br />

was sich in unserem Seelenleben tummelt und<br />

was sich in unseren Gedanken Ausdruck<br />

schafft, ist Abkömmling und Vertretung der<br />

mannigfachen Triebe, die uns in unserer leibli‐<br />

chen Konstitution gegeben sind; aber nicht alle<br />

diese Triebe sind gleich lenkbar und<br />

ertziehbar, sich den Anforderungen der Au‐<br />

ßenwelt und der menschlichen Gemeinschaft<br />

zu fügen. Manche von ihnen haben ihren ur‐<br />

sprünglich unbändigen Charakter bewahrt;<br />

wenn wir sie gewähren ließen, würden sie uns<br />

unfehlbar ins Verderben stürzen.“7 „Unfehl‐<br />

bar“ ist die Not in die uns der Trieb versetzt,<br />

sowie die logische Notwendigkeit des Den‐<br />

kens, die sich uns aufdrängt. Wir denken sozu‐<br />

sagen „in Vertretung“ der Triebe, nicht eigen‐<br />

ständig.<br />

Die ganze Denkanstrengung Freuds und<br />

der Psychoanalyse gilt aber dem Erringen die‐<br />

ser Eigenständigkeit, der „Trockenlegung der<br />

Zuyderzee“, d.h. der Urbarmachung der vom<br />

Trieb erschlossenen und beherrschten Gebiete,<br />

um sie in Kulturlandschaften zu verwandeln.<br />

Das oberste Anliegen der Psychoanalyse ist es,<br />

Denken, Sprechen, Handeln der Beherrschung<br />

durch die Triebe zu entreißen. Das Instrument,<br />

über das sie verfügt, ist die Grundregel und<br />

das Mittel die Sprache. Der Übergang vom<br />

Einfall zur Sprache ist eine Hürde, die nicht je‐<br />

der schafft und die nicht in jedem Augenblick<br />

zu schaffen ist. Die Hürde ist eine Folge des‐<br />

sen, was sich im Sagen einschreibt (ce qui s’écrit<br />

dans ce qui se dit), auf das zu hören uns die<br />

Grundregel auffordert. Sie steht am Anfang<br />

der mündlichen Überlieferung, die gleich ur‐<br />

sprünglich mit der schriftlichen ist.<br />

Von der letzten Assoziationsstufe, die erst<br />

in der Endphase einer Analyse zur Sprache<br />

7 Sigmund Freud (1932), Meine Berührung mit Josef Popper-<br />

Lynkeus, G.W. XVI, S.263.<br />

7<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

kommt oder verarbeitet wird, geht eine „uner‐<br />

bittliche Anforderung“ aus, die sich rückwir‐<br />

kend auf die ganze Assoziationskette auswirkt<br />

und darauf hinweist, wie unfrei die „freie As‐<br />

soziation“ ist. Wie ist ihr gegenüber das Neue<br />

des Einfalls zu verstehen? Es ist ein Produkt<br />

der Differenz , die sich aus dem Kontext ergibt<br />

und über ihn hinausführt, in Bezug auf das<br />

kleinste Konstituens des Textes, den Buchsta‐<br />

ben, insofern er die Differenz zu sich selbst<br />

aushält. Das Neue geht aus dieser ursprüngli‐<br />

chen Differenz hervor. Aus dem Schnitt des<br />

Buchstabens, der in jedem Einfall mitwirkt,<br />

mitschreibt und ihm, so zufällig er auch sein<br />

mag, den Charakter der Notwendigkeit ver‐<br />

leiht. Die Grundregel erhebt die Kontingenz in<br />

den Status der logischen Notwendigkeit. Der<br />

Einfall ist jeweils eine Entscheidung und damit<br />

ein Verlust, ein Verzicht auf Welten – so<br />

kommt es dem Analysanten vor –, die nicht<br />

zur Sprache kommen. Es ist die besondere<br />

Schwierigkeit des sogenannten Zwangsneuro‐<br />

tikers, dem oft nichts einfällt, weil er sich nicht<br />

entscheiden kann und so eine Folge von<br />

nichtssagenden oder normierten Aussagen<br />

trifft. Die isoliert betrachtete Norm wäre also<br />

eine Form des Nichts‐Sagens?<br />

Dadurch, dass etwas gesagt wird, kann,<br />

zumindest im gleichen Augenblick, alles An‐<br />

dere nicht gesagt werden. Die Grundregel be‐<br />

fiehlt demnach „alles Ander “ nicht zu sagen,<br />

um den Einfall zu ermöglichen. Er beruht auf<br />

der Negation des Allfaktors. Was zur Sprache<br />

kommt ist eine Ausnahme zu einer der Spra‐<br />

che innewohnenden Norm. Die Negation des<br />

Allfaktors, nämlich alles zu sagen, instituiert<br />

erst die Möglichkeit eines Sagens, das kein<br />

bloßes Sprechen ist. Über die Unmöglichkeit,<br />

nicht alles sagen zu können, stolpert der Psy‐<br />

chotiker. Nicht alles zu sagen macht ihm das<br />

Sagen unmöglich, während es jenes des Neu‐<br />

rotikers erst ermöglicht. Der Einfall als eine lo‐<br />

gische Funktion des „pas‐tout“ (nicht‐Alles)<br />

unterliegt dem Imperativ der Grundregel, das<br />

jenes der Deutung ist, und widersetzt sich der‐<br />

art der normativen Vernunft. Die Vorausset‐<br />

zungen dazu sind „Aufrichtigkeit“ und „Kri‐<br />

tiklosigkeit“.<br />

Aufrichtigkeit<br />

Die Aufforderung an den Analysanten,<br />

„aufrichtig“ und „kritiklos“ zu sein, erweist<br />

sich als die Grundbedingung der analytischen<br />

Praxis. Mit einer erstaunlicher Regelmäßigkeit<br />

tritt sie in Freuds Schriften – von den „Studien


über Hysterie“ (1895) bis zum „Abriss der Psy‐<br />

choanalyse“ (1938) auf. Dort fordert er erneut:<br />

„volle Aufrichtigkeit“, unter der Bedingung<br />

der Kritiklosigkeit: „mit dem Neurotiker<br />

schließen wir also den Vertrag: volle Aufrich‐<br />

tigkeit gegen strenge Diskretion.“8 Es ist die<br />

Voraussetzung der Grundregel auf Seiten des<br />

Analytikers wie des Vertrauens, das ihm der<br />

Analysant entgegenbringt: „… denn wir wol‐<br />

len von ihm nicht nur hören, was er weiß und<br />

vor anderen verbirgt, sondern er soll uns auch<br />

erzählen, was er nicht weiß.“ Was heißt aber<br />

hier: „soll“? Wie kann man von jemandem<br />

fordern, das zu sagen, was er nicht weiß? Die‐<br />

sem Sollen liegt das tiefe „Zutrauen zur Stren‐<br />

ge der Determinierung“ zugrunde. Es ist fast<br />

„wie ein religiöser Glaube“, wie es ein Analy‐<br />

sant formulierte, der einige Schwierigkeiten<br />

empfand, sich auf die Bedingungen der Analy‐<br />

se, d.h. der Grundregel einzulassen. Eine Ana‐<br />

lysantin sagte: „Was Sie von mir verlangen ist<br />

seelischer Striptease.“ Eine andere meinte: „Sie<br />

möchten, dass ich negativ über meinen Vater<br />

rede.“ Wobei sie schon viel mehr gesagt hatte,<br />

als ihr lieb war und sie zu dem Augenblick zu<br />

sagen bereit war.<br />

Das tiefe „Zutrauen“ (emuna) Freuds öffnet<br />

das Tor zu einer anderen Form der Rationali‐<br />

tät, die sich von jener der Naturwissenschaften<br />

strikt unterscheidet. Aufrichtigkeit gilt hier als<br />

Vertrag, deal oder Geschäft: du gibst mir so‐<br />

viel, ich gebe dir soviel zurück. Die „vollste<br />

Aufrichtigkeit“ erhebt Freud 1923 zur<br />

„Pflicht“9<br />

Sie ist nicht zu verwechseln mit der Wahr‐<br />

haftigkeit, aber die Bedingung, dass einer Aus‐<br />

sage etwas Wahres abgewonnen werden kann.<br />

Was ist aber von der Forderung zu erwar‐<br />

ten: „Du sollst nicht lügen!“ oder hebräisch:<br />

„Du wirst nicht lügen!“ Ein Satz, der sich in<br />

die Folge der anderen Sprüche einreiht: „Du<br />

wirst nicht töten! Du wirst nicht begehren das<br />

Haus, den Ochsen, die Frau Deines Nach‐<br />

barn!“ Diese Sprüche – zehn an der Zahl – sind<br />

wie zehn Kategorien des „Triebverzichts“, ei‐<br />

nes Grundgesetzes, das für alle Zeiten und für<br />

alle Menschen gilt: „Geltung“, meint Kelsen,<br />

ist die Form der Existenz der Norm.10 Diese<br />

8 Sigmund Freud (1938), Abriss der Psychoanalyse, G.W. XVII,<br />

S.99.<br />

9 Sigmund Freud (1923), Psychoanalyse und Libidotheorie, ebd.,<br />

S.214.<br />

10 Hans Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, Manz-Verlag,<br />

Wien, 1979, S.101.<br />

8<br />

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Sprüche haben die Form oder die Struktur des<br />

Zuspruchs. Sie richten sich an ein Du, an Dich<br />

allein: „Du wirst nicht lügen!“ gilt für Dich,<br />

nur für Dich, wie die Tür zum Gesetz bei Kaf‐<br />

ka. Sie steht offen, nur für Dich, an Dir, die Ge‐<br />

legenheit zu ergreifen. Normativ ist die Schaf‐<br />

fung einer individuellen Norm, die nur für<br />

diesen Fall (casus) gilt, aber allgemeinen Prin‐<br />

zipien entspricht. Die Singularität des Zu‐<br />

spruchs: Du wirst nicht…! ist subjektivierend,<br />

insofern es die Unterwerfung unter die<br />

Sprachregel, die eine Spruchregel ist, verlangt.<br />

(Fortsetzung folgt.)<br />

‒ Michael Meyer zum Wischen<br />

Einleitende Worte zur «table ronde»:<br />

Die Lage der Psychoanalyse in verschiedenen<br />

Ländern ‐ „Standardisierung und Normierung<br />

in Psychoanalyse und Psychotherapie“<br />

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe<br />

Freundinnen und Freunde,<br />

Ende des Jahres 2008 erfuhren wir in der<br />

Kölner Freud‐Lacan Gruppe textura von unse‐<br />

ren englischen Freunden in London, dass in<br />

Großbritannien eine weitgehende Regulierung<br />

und Standardisierung der psychotherapeuti‐<br />

schen, wie psychoanalytischen Praxis bevor‐<br />

steht. So hörten wir, dass zukünftig die analy‐<br />

tische Praxis mit Hilfe nationaler Standards<br />

reguliert und kontrolliert werden soll, wozu<br />

mehr als 450 Einzelregelungen ausgearbeitet<br />

wurden. Zu diesen Bestimmungen gehören<br />

Regulierungen, die quasi alle Aspekte des<br />

Rahmens, der Interventionen und des Stils<br />

festlegen. So geht es zum Beispiel um den<br />

Zeitpunkt, an dem eine Intervention erfolgen<br />

soll, um Vorschriften zur Äußerung „ange‐<br />

messener Gefühle“ bis hin zur Zielsetzung der<br />

Kur. Angesichts der europäischen Dimension<br />

der in Großbritannien drohenden Verschär‐<br />

fung der Rahmenbedingungen unserer Arbeit<br />

haben wir uns in Köln damals entschlossen,<br />

einen Aufruf zur Unterstützung der britischen


Kolleginnen und Kollegen zu formulieren. Wir<br />

schrieben, dass die zur Debatte stehenden<br />

Entwicklungen verkennen, „dass es der Psy‐<br />

choanalyse nicht um das statistisch<br />

Normierbare, das schnell Fassbare und Fixier‐<br />

bare geht, sondern um das Einzigartige des<br />

Sprechens in der Begegnung von Analysant<br />

und Analytiker, die sich dabei auf Spielregeln<br />

bezieht, „die ihre Bedeutung aus dem<br />

Zusammenhange des Spielplans schöpfen<br />

müssen.“ (Sigmund Freud: Zur Einleitung der<br />

Behandlung (1913), GW VIII, S.454). Der Unter‐<br />

schied zwischen der analytischen Kur und ei‐<br />

ner normierten und standardisierten Therapie<br />

besteht nicht zuletzt in einem je anderen Ver‐<br />

hältnis zum Benennbaren. Lacan sagt dazu im<br />

zweiten Seminar: „Das Begehren, die zentrale<br />

Funktion für jede menschliche Erfahrung, ist<br />

Begehren nach nichts Benennbaren. Und es ist<br />

dieses Begehren, das gleichzeitig an der Quelle<br />

jeglicher Lebendigkeit ist.“ 11 Wie also könnte<br />

ein solcher lebendiger Prozess wie die analyti‐<br />

sche Kur domestiziert werden?<br />

Wir haben unseren Appell auf verschie‐<br />

densten Wegen an die Öffentlichkeit versandt<br />

und waren überrascht und erfreut, dass<br />

schließlich fast 400 Personen die Resolution<br />

unterschrieben. In den folgenden Monaten ha‐<br />

ben wir über verschiedene Aspekte dessen ge‐<br />

sprochen, was der Normierung unserer Arbeit<br />

entgegensteht: so zum Beispiel, dass das Krite‐<br />

rium der Übereinstimmung, das in Normie‐<br />

rungsprozessen eine große Rolle spielt, für<br />

psychoanalytisches Arbeiten nicht gelten kann.<br />

Denn dies dreht sich gerade um das, was nicht<br />

übereinstimmt, nicht zur Korrespondenz<br />

kommt und der Komplementarität entgeht. So<br />

kann die Übereinstimmung zwischen Analyti‐<br />

ker und Analysant sogar Hinweis auf einen<br />

Widerstand gegen das Fortschreiten der Ana‐<br />

lyse sein. Eine Übereinstimmung der Kur mit<br />

einem Ideal für ihren Ablauf würde den Ana‐<br />

lysanten der Möglichkeit berauben, sein eige‐<br />

nes Symptom als singuläre Erfindung auszu‐<br />

arbeiten. Wie sollte man zudem das Auftreten<br />

von Fehlleistungen oder unbewusste Inszenie‐<br />

rungen regulieren, wie einen Standard für die<br />

vielfältigen Verwicklungen der Übertragung<br />

finden? Wenn zum Beispiel ein Patient, der<br />

sich in analytischer Psychotherapie befindet,<br />

11 Jacques, Lacan (1991): Das Seminar, Buch II: Das Ich in der<br />

Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse (1954/55).<br />

Übersetzung ins Deutsche durch Hans-Joachim Metzger.<br />

Quadriga Verlag, Weinheim, Berlin, S.284.<br />

9<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

im Rahmen einer standardisierten Befragung<br />

einer Krankenkasse zur Entwicklung der The‐<br />

rapie angäbe, dass er Abbruchgedanken habe,<br />

so kann dies für die Psychoanalyse auf ver‐<br />

schiedenes hinweisen und nicht nur darauf,<br />

dass diese Arbeit schlecht läuft. Man müsste<br />

vor allem die Assoziationen des Patienten zum<br />

Wort „Abbruch“ hören, dieses als Signifikant<br />

aufnehmen und nicht als Zeichen für einen de‐<br />

finierbaren Stand des Prozesses, in dem sich<br />

Analysant und Analytiker in der Übertragung<br />

befinden. Die Psychoanalyse geht also von ei‐<br />

ner Kluft aus, nicht von einer Harmonie. Ein<br />

neu auftretendes Symptom, das als Störung<br />

bezeichnet werden könnte, hat uns etwas zu<br />

sagen. Im elften Seminar spricht Lacan von der<br />

Diskontinuität, die das Unbewusste und seine<br />

Bildungen ausmacht. Das Unbewusste mani‐<br />

festiert sich als „Anecken, Misslingen,<br />

Knick“ 12 , als Straucheln. Es sind diese Kenn‐<br />

zeichen des Unbewussten, die zu den Überra‐<br />

schungen und Erfindungen jeder einzelnen<br />

Kur führen, die sich der Standardisierung ent‐<br />

ziehen. Es geht, wie Lacan mit Bezug auf<br />

Theodor Reik unterstrich, um das Überra‐<br />

schende dessen, „was sich in dieser Kluft pro‐<br />

duziert.“ 13 Reglementierung und Standardisie‐<br />

rung widersetzen sich als solche der Überra‐<br />

schung und haben für das Scheitern nichts üb‐<br />

rig – wobei das Scheitern des Unbewussten,<br />

wie der späte Lacan in einer Homophonie an‐<br />

klingen lässt, die Liebe ist.<br />

Diese Überlegungen betreffen auch die<br />

zentrale Bedeutung der Übertragung für die<br />

analytische Kur. Eine an einer Normalität ori‐<br />

entierte Übertragung bestünde darin, sie zum<br />

Maßstab der Realitätsanpassung des Patienten<br />

zu machen und die Dimension des Realen, ei‐<br />

nes Jenseits des Sinns, völlig auszuklammern.<br />

Dies hieße also, die Übertragung auf die Reali‐<br />

tät zurückzuführen, „deren Repräsentant der<br />

Analytiker ist“ und würde dazu führen, wie es<br />

Lacan 1958 formulierte, „das Objekt in der<br />

Treibhausluft einer geschlossenen Situation<br />

heranreifen zu lassen“. 14 Lacan fragt: „Und<br />

was hat die absurde Hymne an die Harmonie<br />

des Genitalen mit dem Realen zu tun? Ist es an<br />

uns Eros, den schwarzen Gott, umzufrisieren<br />

12 Lacan, J. (1996): Das Seminar, Buch XI: Die vier Grundbegriffe<br />

der Psychoanalyse (1964). Übersetzung ins Deutsche durch<br />

Norbert Haas. Quadriga Verlag, Weinheim, Berlin, S.31.<br />

13 Ibid.<br />

14 Lacan, J. (1996): Die Ausrichtung der Kur und die Prinzipien<br />

ihrer Macht. In: Schriften I. Übersetzung ins Deutsche von<br />

Norbert Haas. Quadriga Verlag, Weinheim, Berlin, S.197.


zum Lockenschaf des guten Hirten?“ 15 Zu ei‐<br />

nem solchen droht jedoch der Analytiker zu<br />

werden, wenn er die an einer normativen Rea‐<br />

lität orientierten Irrungen seiner Schäflein zu<br />

korrigieren aufgerufen wird. Der beste Hirte<br />

wäre dann der, der zu belegen vermag, dass<br />

seine Herde genau das blökt, was in der jewei‐<br />

ligen Einzäunung seiner Stallungen als Anzei‐<br />

chen guter Gesundheit gehört und bewertet<br />

wird.<br />

In Zusammenarbeit mit Anna‐Elisabeth<br />

Landis sprachen wir in Köln angesichts der<br />

Evaluierungsdebatte über die Herausforde‐<br />

rung, nicht einfach in einer defensiven Position<br />

zu verharren, sondern selber Qualitätskriterien<br />

psychoanalytischer Arbeit zu entwickeln. Es<br />

scheint mir wichtig, unsere Kritik an Standar‐<br />

disierung und Reglementierung nicht mit der<br />

Notwendigkeit zu verwechseln, darüber zu<br />

sprechen, was die Qualität psychoanalytischer<br />

Arbeit ausmacht. Dies entspricht dem Freud‐<br />

schen Junktim von Heilen und Forschen. 16<br />

In einer weiteren Etappe der Vorbereitung<br />

dieser Karlsruher Tagung wurde deutlich, dass<br />

es auch innerhalb der Psychoanalyse normie‐<br />

rende Tendenzen geben kann. Auch die lacan‐<br />

sche Theorie und Praxis ist vor solchen Gefah‐<br />

ren nicht gefeit. Vor allem scheint mir das<br />

Konzept der symbolischen Verankerung des<br />

Subjekts durch die Struktur, die Lacan den<br />

„Namen‐des‐Vaters“ nennt, zu onto‐<br />

logisierenden, theologisierenden und naturali‐<br />

sierenden Fehldeutungen Anlass geben zu<br />

können, die den Psychoanalytiker zu einem<br />

Symbolisierungsbeauftragten machen würden.<br />

Eine solche Schieflage scheint mir nicht nur auf<br />

eine ungenaue Lektüre auch des frühen Lacan<br />

hinzuweisen, sondern vor allem sein Spätwerk<br />

außer Acht zu lassen, das die Äquivalenz der<br />

drei Register des Realen, Symbolischen und<br />

Imaginären unterstreicht und als Ziel der Kur<br />

eine je singuläre Verknotung dieser drei Di‐<br />

mensionen anvisiert. Dazu gehört die Relati‐<br />

vierung der symbolisch‐väterlichen Dimensi‐<br />

on, die durchaus auch zu deletären Folgen für<br />

das Subjekt führen kann, wenn sie nicht in ei‐<br />

ner Art Zurückhaltung bleibt. Ich zitiere aus<br />

RSI: „Nicht die Normalität ist die herausra‐<br />

gende väterliche Tugend, sondern einzig das<br />

richtige Mi‐dieu, im Moment gesagt, also das<br />

richtige Nicht‐Gesagte...nichts Schlimmeres als<br />

15 Ibid..., S.196.<br />

16 Freud, S. (1927): Zur Frage der Laienanalyse. In: GW XIV,<br />

S.293.<br />

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MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

der Vater, der über alles das Gesetz verlauten<br />

lässt – vor allem kein Erzieher Vater, eher noch<br />

einen, der jenseits einer jeden Machtausübung<br />

steht.“ 17<br />

Das Spätwerk Lacans hat seine von Anfang<br />

an zentrale Behauptung, dass das Ziel der<br />

Analyse nicht in der Identifizierung mit dem<br />

Analytiker bestehen könne, weiter ausgearbei‐<br />

tet. Im Seminar „LʹInsu...“ geht Lacan soweit,<br />

auch das Unbewusste als Referenzpunkt der<br />

Identifizierung zurückzuweisen, da dies die<br />

Abhängigkeit vom großen Anderen als Ort der<br />

Signifikanten perpetuieren würde. Er sagt:<br />

„Also worin besteht diese Verortung, die die<br />

Analyse darstellt? Wäre es, wäre es nicht, sich<br />

zu identifizieren, sich zu identifizieren unter<br />

Vorsichtsmaßnahmen, einer Art Distanz, sich<br />

zu identifizieren mit seinem Symptom?“ 18 Die‐<br />

se 1976 von Lacan eingenommene Position war<br />

bereits zuvor in RSI mit einer wichtigen For‐<br />

mulierung vorbereitet worden: „Ich definiere<br />

das Symptom durch die Art, wie ein jeder das<br />

Unbewusste genießt, insofern das Unbewusste<br />

ihn bestimmt.“ 19 Am Ende der Analyse kann<br />

sich das Subjekt, so es gut geht, mit der Art<br />

und Weise identifizieren, wie es des Unbe‐<br />

wussten genießt, eines Unbewussten, das ihn<br />

zugleich durch die Signifikanten bestimmt.<br />

Dies ist ein Prozess, in dem sich für das Sub‐<br />

jekt ein Eichmaß, eine Norma, produziert, was<br />

jedoch eine Normierung durch den Analytiker<br />

ausschließt. Weder der gute Hirte, noch der<br />

Erzieher, noch der Gesetzgeber sind also Refe‐<br />

renzpunkte des Analytikers.<br />

Gerade das Werk Jacques Lacans macht auf<br />

die Gefahr aufmerksam, dass wir unsere Ana‐<br />

lysanten auf die scheinbar „normale Begier‐<br />

den“ zu orientieren suchen. So schreibt er:<br />

„Wer heute den Traum als Instrument für die<br />

Analyse verschmäht, hat, wie wir sehen konn‐<br />

ten, sicherere und direktere Wege gefunden,<br />

den Patienten auf gute Grundsätze zurückzu‐<br />

führen und auf normale Begierden, die den<br />

wahren Bedürfnissen Genüge tun. Welchen?<br />

Den Bedürfnissen von jedermann, mein Lieber.<br />

Wennʹs das ist, was Dir Angst macht, so ver‐<br />

traue Deinem Analytiker, steig auf den Eiffel‐<br />

turm und sieh, wie herrlich Paris ist. Schade<br />

17 Lacan, J. (1974/75): Das Seminar, Buch XXII: RSI. Arbeitsmaterialien<br />

2 des Lacan Archiv Bregenz, S.24.<br />

18 Lacan, J. (1976/77): Das Seminar, Buch XXIV: L'insu que sait<br />

de l'une bévue s'aile à mourre, Arbeitsmaterialien 4 des Lacan<br />

Archivs Bregenz. Übersetzung ins Deutsche durch Max Kleiner,<br />

S.2.<br />

19 Lacan, J. (1974/75): Das Seminar, Buch XXII: RSI..., S.37.


nur, dass schon einige von der ersten Etage<br />

aus über die Brüstung springen, und justament<br />

solche, deren Bedürfnisse sämtlich auf das<br />

richtige Maß zurückgeführt worden sind. Ne‐<br />

gative therapeutische Reaktion, nennen wir<br />

das. Gott sei Dank geht die Verweigerung<br />

nicht bei allen so weit. Das Symptom bricht<br />

ganz einfach wieder durch wie wildes Gras:<br />

Wiederholungszwang.“ 20 Aus diesen Worten<br />

Lacans hören wir, dass es uns nicht nur um ei‐<br />

ne Kritik der von gesellschaftlichen Instanzen<br />

kommenden Normierungstendenzen gehen<br />

kann, sondern um eine ständige Befragung un‐<br />

serer eigenen Arbeit. Nicht so selten stellen<br />

sich hartnäckig insistierende Symptome unse‐<br />

rer Analysanten oder gar bedrohliche acting<br />

outs als Folgen der Widerstände des Analyti‐<br />

kers dar, nicht zuletzt seinen Ideen von Nor‐<br />

malität. Die in Kontrollen, Supervision und<br />

klinischen Gruppen erfolgende Erforschung<br />

der Kur und der Interventionen des Analyti‐<br />

kers mit ihren Folgen ist ein besonders wichti‐<br />

ges Moment einer analytischen Qualitätssiche‐<br />

rung. Es geht dabei immer wieder um die vom<br />

Analytiker ausgehenden Widerstände und La‐<br />

can wurde nicht müde zu unterstreichen, dass<br />

„der Analytiker Widerstand leistet, wenn er<br />

nicht versteht, womit erʹs zu tun hat…“ 21<br />

Angesichts der vielfältigen Strebungen der<br />

Standardisierung der psychoanalytischen Pra‐<br />

xis und den Versuchen, das Ende einer analy‐<br />

tischen Arbeit festzulegen, erscheint mir be‐<br />

sonders wichtig, gerade dieser Frage weiter<br />

nachzugehen. Der Ruf nach Reglementierung<br />

wird vielleicht gerade dann lauter, wenn wir<br />

selber uns zu wenig über unsere Begriffe, un‐<br />

sere Theorie und die sich daraus ergebenden<br />

Konsequenzen im Klaren sind. Das heißt auch,<br />

Lacans düsteres Diktum ernst zu nehmen:<br />

„Das Abstumpfen der Technik durch fort‐<br />

schreitenden Theorieverlust kennt keine Gren‐<br />

ze.“ 22 So gibt es wichtige Fragen, die das Ende<br />

der Kur betreffen, an denen weiterhin zu arbei‐<br />

ten ist, zum Beispiel was wir unter einer ver‐<br />

änderten Libidoökonomie am Ende der Kur<br />

verstehen, was es heißt, wie Lacan es im XI.<br />

Seminar sagte, „den Trieb zu leben?“ 23 Diese<br />

20 Ibid., S.215.<br />

21Jacques, Lacan (1991): Das Seminar, Buch II: Das Ich in der<br />

Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse (1954/55),<br />

S.290.<br />

22 Lacan, J. (1996): Die Ausrichtung der Kur und die Prinzipien<br />

ihrer Macht..., S.199.<br />

23 Lacan, J. (1996): Das Seminar, Buch XI: Die vier Grundbegriffe<br />

der Psychoanalyse (1964)..., S.288.<br />

11<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

Frage ist vermutlich auch für alle regulieren‐<br />

den Instanzen, wo immer sie lokalisiert sein<br />

mögen, eine Frage der Angst.<br />

Wir haben im Vorfeld der Tagung eine<br />

Sammlung von Fragen erstellt, die wir unseren<br />

Gästen vorgelegt haben. Ein jeder wird sich zu<br />

den ihm oder ihr besonders wichtigen Aspek‐<br />

ten zuerst in einem kurzen Statement äußern.<br />

Diese Fragen beziehen sich auf die in den un‐<br />

terschiedlichen Ländern (Deutschland, Frank‐<br />

reich, Großbritannien und Israel) geltenden<br />

gesetzlichen Regelungen für Psychoanalyse<br />

und Psychotherapie, ihren Einfluss auf die<br />

analytische Praxis und darauf, welche Konflik‐<br />

te sie für die Analytiker hervorrufen können.<br />

Wir interessierten uns aber auch dafür, welche<br />

anderen gesellschaftlichen Normierungspro‐<br />

zesse außerhalb staatlicher Regulierung Ein‐<br />

fluss auf die Kur nehmen könnten und wenn ja<br />

in welcher Weise. Nicht zuletzt wollten wir<br />

gerne wissen, welche Rolle bei diesen Schwie‐<br />

rigkeiten den analytischen Assoziationen,<br />

Schulen und anderen Gesellungen zukommt<br />

und wieweit in ihnen selbst Normierungspro‐<br />

zesse stattfinden.<br />

Ich freue mich also nun sehr über das, was<br />

wir aus den verschiedenen Ländern hören<br />

werden, auf den Austausch untereinander und<br />

mit Ihnen, die zu unserer Tagung gekommen<br />

sind.<br />

Michael Meyer zum Wischen, Köln/Paris<br />

‒ Gabrielle Devallet‐Gimpel<br />

Zur Lage der Psychoanalyse in Frankreich<br />

Fragen:<br />

1. Welche Wirkungen und welche Folgen<br />

haben Gesetze und gesetzliche Regelungen in<br />

Ihrem Land auf Ihre Tätigkeit als Psychoanaly‐<br />

tiker oder Psychotherapeut?<br />

Die gesetzliche Regelung der Ausbildung<br />

der Psychoanalytiker und der Ausübung der<br />

Psychoanalyse in Frankreich kann schwerwie‐<br />

gende Folgen haben: es hängt davon ab, ob die


neue gesetzliche Regelung angewandt wird<br />

und wie sie angewandt wird.<br />

Im Artikel 52 des Gesetzes vom 9. August<br />

2004 erscheint zum ersten Mal in der französi‐<br />

schen Geschichte das Wort „Psychoanalyse“ in<br />

einem Gesetzestext (Das Gesetz <strong>Nr</strong>. 2004‐806<br />

und das Dekret <strong>Nr</strong>. XXX, siehe: Marie‐Noël<br />

Godet, „Des Psychothérapeutes d’Etat à l’Etat thé‐<br />

rapeute“, Paris, L’Harmattan, <strong>2009</strong>, S.43 u. 63).<br />

Seit der Abgeordnete Accoyer am 8. Okto‐<br />

ber 2003 seinen Vorschlag zur Revidierung des<br />

Gesetzes gemacht hatte, um den Titel „Psycho‐<br />

therapeut“ gesetzlich zu schützen und damit<br />

die französische Bevölkerung vor Scharlatanen<br />

und Sekten zu bewahren, ging eine hitzige<br />

Diskussion durch die psychoanalytische Ge‐<br />

meinschaft Frankreichs: ist die Psychoanalyse<br />

von einem Psychotherapie‐Gesetz betroffen?<br />

Gehört sie zu den Psychotherapien? gehört die<br />

psychoanalytisch ausgerichtete Psychotherapie<br />

zur Psychoanalyse? Auf jeden Fall kann sie<br />

nur von ausgebildeten Psychoanalytikern aus‐<br />

geführt werden. Die Psychotherapie, sagt La‐<br />

can in „Télévision“, tamponiert mit Sinn, um<br />

den Schmerz zu lindern, schläfert aber das<br />

Subjekt ein (zitiert in: Geneviève Morel, „La loi<br />

de la mère“, Paris, Economica, 2008, S.200). Die<br />

französischen psychoanalytischen Vereinigun‐<br />

gen traten aufgesplittert in die Verhandlungen<br />

mit dem Gesundheitsministerium ein.<br />

Der Vorschlag Accoyer (2003) sah vor, dass<br />

die verschiedenen Arten von Psychotherapien<br />

durch Erlass vom Gesundheitsministerium<br />

festgesetzt würden, dass sie nur von Psychia‐<br />

tern, Ärzten oder diplomierten Psychologen<br />

ausgeübt werden dürften. Die Psychothera‐<br />

peuten, die schon seit fünf Jahren tätig seien,<br />

die weder Mediziner noch Diplompsychologen<br />

seien, müssten sich drei Jahre nach der Be‐<br />

kanntgabe des Gesetzes einer Prüfung unter‐<br />

ziehen und ihre theoretischen und praktischen<br />

Kenntnisse von einer Jury bewerten lassen<br />

(évaluer). Das Gremium würde durch Erlass<br />

vom Gesundheitsministerium ernannt.<br />

Von Oktober 2003 bis Ostern 2004 spielte<br />

sich darauf in Frankreich „Der verfehlte Tot‐<br />

schlag der Psychoanalyse» ab (siehe: Agnès<br />

Aflalo, „L’assassinat manqué de la psychanalyse“,<br />

Nantes, Editions Cécile Defaut, <strong>2009</strong>). Die Psy‐<br />

chotherapie und die Psychoanalyse sollten der<br />

Medizin ein‐ und untergeordnet werden. Die<br />

Zulassungsgremien sollten aus Universitäts‐<br />

medizinern bestehen. Ein Bericht des INSERM<br />

(Institut national de la santé et de la recherche<br />

12<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

médicale) schloss auf die höhere Effizienz der<br />

Verhaltenstherapie, die Methode dieser Unter‐<br />

suchung wurde anschließend kritisiert und der<br />

Bericht vom Gesundheitsminister selbst zu‐<br />

rückgenommen. 2005 erschien „Das Schwarz‐<br />

buch der Psychoanalyse“ („Le livre noir de la<br />

psychoanalyse“). Die Ärzte erhielten Richtlinien<br />

zur Behandlung psychischer Störungen von<br />

der Haute Autorité en Santé mit der ausschliess‐<br />

lichen Indikation von Verhaltenstherapien für<br />

alle neurotischen Angstzustände, ohne Aus‐<br />

nahme.<br />

2. Das Gesetz vom 9. August 2004 definiert<br />

die Berechtigung, den Titel „Psychotherapeut“<br />

zu tragen, der Titel ist von nun an für die Be‐<br />

rufstherapeuten (professionnels) reserviert, die<br />

im nationalen Register der Psychotherapeuten<br />

eingetragen sind. Diese Liste wird vom Präfekt<br />

regelmäßig aktualisiert und der Öffentlichkeit<br />

zugänglich gemacht. Sie enthält die Ausbil‐<br />

dungen und Qualifikationen der Fachkräfte<br />

(professionnels). Rechtens können eingeschrie‐<br />

ben werden: die Ärzte, die Diplompsycholo‐<br />

gen und die Psychoanalytiker, die regelmäßig<br />

in den <strong>Mitglieder</strong>listen ihrer Vereinigungen<br />

aufgeführt sind. Dieses Zugeständnis wurde<br />

nach langem Streit den Psychoanalytikern ge‐<br />

macht. Und erhob weitere Fragen, wie zum<br />

Beispiel: wer beurteilt welche Vereinigung ihre<br />

<strong>Mitglieder</strong>liste vorlegen darf?<br />

Die praktischen Verfügungen (modalités<br />

d’application) sollen noch durch ein weiteres<br />

Dekret definiert werden: die Bestimmungen<br />

über die theoretische und praktische Ausbil‐<br />

dung in klinischer Psychopathologie der zu‐<br />

künftigen staatlich geprüften Psychotherapeu‐<br />

ten, was mit dem Dekret vom 5. <strong>März</strong> <strong>2009</strong> ge‐<br />

regelt werden sollte.<br />

Eine Folge dieses Textes war, dass die psy‐<br />

chotherapeutischen Vereinigungen ihren Titel<br />

um „…und Psychoanalyse“ verlängerten und<br />

dadurch zu den „Rechtens“ gezählt werden<br />

wollten. Die Frage erhob sich, ob die Zulas‐<br />

sung der <strong>Mitglieder</strong>listen die Bildung einer<br />

Psychoanalytikerkammer benötigt. An diesem<br />

Zeitpunkt hatten die öffentlichen Behörden<br />

(pouvoir public) erkannt, dass die Ausübung<br />

der Psychoanalyse weder medizinisch noch<br />

universitär erfasst werden könnte.<br />

Das Dekret vom 5. <strong>März</strong> <strong>2009</strong> bestimmt zu‐<br />

sätzlich, dass die Ausbildung in klinischer<br />

Psychopathologie der zukünftigen Psychothe‐<br />

rapeuten den Ärzten und Diplompsychologen<br />

mit einem Master 2 in Psychologie oder Psy‐


choanalyse vorbehalten ist. Die Ärzte, Psycho‐<br />

logen und regelmäßig auf <strong>Mitglieder</strong>listen re‐<br />

gistrierten Psychoanalytiker können teilweise<br />

oder ganz von dieser Ausbildung in klinischer<br />

Psychopathologie befreit (dispensé) werden.<br />

Für die „weder‐noch“ gibt es Übergangslö‐<br />

sungen(?). Die Ausbildungsinstitute werden<br />

gesetzlich zugelassen. Die Psychotherapeuten‐<br />

Vereinigungen beantragen ihre Genehmigung<br />

als Ausbildungsinstitut. Die ursprüngliche Ab‐<br />

sicht, die Bevölkerung vor Scharlatanen und<br />

Sekten zu schützen, scheint nicht ganz erfüllt<br />

zu sein. Die Ausbildung zum Psychoanalytiker<br />

und seine Anerkennung liegen in den Händen<br />

der Universität und in den Händen der großen<br />

psychoanalytischen Assoziationen. Die Psy‐<br />

choanalytiker, die nicht der illegalen Aus‐<br />

übung der Psychotherapie angeklagt werden<br />

wollen, müssen in einer „anerkannten“ psy‐<br />

choanalytischen Vereinigung unterkommen.<br />

Das Psychologiestudium ist entwertet. Wo<br />

bleibt die „Laienanalyse“? Was natürlich hin‐<br />

derlich war und bleibt, ist der Mangel an Ver‐<br />

ständigung und Austausch unter den psycho‐<br />

analytischen Assoziationen in Frankreich!<br />

Wenn Sie in Ihrem Land zu einer Zulas‐<br />

sung zum öffentlichen Gesundheitssystem<br />

verpflichtet sind, führt dies für Sie zu Konflik‐<br />

ten als Psychoanalytiker oder Psychothera‐<br />

peut?<br />

Bisher besteht noch die Möglichkeit, die<br />

Psychoanalyse „uneingeschrieben“ auszuüben.<br />

Wie lang noch?<br />

3. Führt Ihre theoretische oder ethische<br />

Ausrichtung als Analytiker oder Psychothera‐<br />

peut zu Konflikten mit der staatlichen Autori‐<br />

tät oder mit den Krankenkassen?<br />

Die staatlich vorgeschriebene Ausbildung<br />

in klinischer Psychopathologie wird zeigen,<br />

wie groß der Unterschied sein wird.<br />

Zurzeit gibt es in Frankreich verschiedene<br />

Zusatzversicherungen (z.B. Die MGEN), die<br />

einen kleinen Teil der Honorare für psycho‐<br />

analytische Sitzungen zurückerstatten. Dazu<br />

braucht der Patient eine psychiatrische oder<br />

pediatrische Verschreibung, und der Psycho‐<br />

analytiker muss auf der präfektoralen Liste<br />

stehen! (Wie kann ein Psychiater eine Psycho‐<br />

analyse verschreiben?)<br />

4. Beobachten Sie soziale oder staatliche<br />

Tendenzen zur Entwicklung und Zwangsein‐<br />

führung weiterer restriktiver Normen in Ihrer<br />

Tätigkeit? Beeinflussung aus dem wissen‐<br />

schaftlichen Diskurs, aus der Politik, bestehen<br />

13<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

Veränderungen in der Haltung oder den Wer‐<br />

ten im sozialen Umfeld und in Ihren Patien‐<br />

ten?<br />

Eine starke Tendenz ist die Evaluation (ein<br />

Bewertungsprinzip, eine Art Qualitäts‐ und<br />

Verlaufskontrolle), die sich in den Kranken‐<br />

häusern und heilpädagogischen Einrichtungen<br />

breitmacht. Anfangs (Regierung Rocard,<br />

Gesundheitsminister Evin) ging es darum, das<br />

Gesundheitswesen effizienter zu machen, den<br />

spärlicher werdenden Finanzen anzupassen,<br />

die Willkür einzelner Chefärzte einzugrenzen,<br />

den Heilberufen die Verantwortung aufzuer‐<br />

legen, die Steuergelder nicht zu verschwen‐<br />

den. Kurz: die Verwaltung sollte das letzte<br />

Wort haben. (Wie viel kostet ein Tag Kranken‐<br />

hausaufenthalt?)<br />

Mit epidemiologischen Mitteln sollte die<br />

Wirksamkeit von Behandlungen geprüft wer‐<br />

den: die Behandlung einer psychotischen Ent‐<br />

gleisung wie die Behandlung eines Herzin‐<br />

farkts: eine Art Qualitätskontrolle der psychi‐<br />

atrischen Behandlung. Wie in der Industrie<br />

oder im Lebensmittelbereich. Ein neues Mana‐<br />

gement breitet sich in den Heilanstalten (Insti‐<br />

tutionen) aus: alle „nicht‐produktive“ Zeit wie<br />

Versammlungen (réunion), Essen‐zubereiten<br />

und Miteinander‐ essen auf Kinderstationen<br />

wird überflüssig. Es handelt sich um Rentabili‐<br />

tät.<br />

Das Subjekt findet in diesem Konzept kei‐<br />

nen Platz: im finanziellen, quantifizierbaren<br />

Diskurs wird es als „subjektives“ abgetan, als<br />

unzuverlässig, unfassbar abgelehnt. (Siehe:<br />

Bernhard Schwaiger, „Die Psychoanalytische<br />

Klinik als Sub‐Version der Institution“, Freud‐<br />

Lacan‐Gesellschaft Berlin, Dezember 2003).<br />

Gleichzeitig erscheint eine Wendung von<br />

der „psychischen Krankheit, Geisteskrankheit“<br />

(die behandelt werden kann) zur „psychischen<br />

Gesundheit, Geistesgesundheit“ (als Präventi‐<br />

on), die seit 1978 von der Organisation mondiale<br />

de la Santé (OMS) angestrebt wird. Die psychi‐<br />

sche Gesundheit ist mit naturwissenschaftli‐<br />

chen Mitteln nicht fassbar, es handelt sich um<br />

das Genießen, um den Mehrwert, um das Ob‐<br />

jekt (a) Lacans. Jedes Subjekt hat seine eigene<br />

Weise, dem Objekt‐Grund des Begehrens<br />

(cause du désir) entgegenzugehen, dieses Objekt<br />

ist für immer verloren und kann daher auf<br />

Fragebogen nicht formuliert werden. Der na‐<br />

turwissenschaftliche Determinismus ist auf das<br />

Genießen nicht anwendbar, es ist gesetzlos,<br />

gehört auch dem Todestrieb an. Diese Schwie‐


igkeit wird umgangen, indem der statistische<br />

Mittelwert zur Norm und anschließend zur<br />

Normalität erhoben wird. So gleitet die Norm<br />

zum Normativen. Ein Schritt weiter wird der<br />

Mensch, der von dem statistischen Mittelwert<br />

abweicht, a‐normal: abweichend! So werden<br />

neue Pathologien geschaffen: die „Dys“ (gra‐<br />

phie, lexie, praxie, etc) bei Kindern, von der<br />

„Hyperaktivität“ ganz zu schweigen. Die Ju‐<br />

gend Frankreichs wird so ausgegrenzt, ausge‐<br />

schlossen, disqualifiziert. Diese Norm hat mit<br />

dem psychoanalytischen Symptom nichts ge‐<br />

mein: das Symptom ist ‐in psychoanalytischer<br />

Sicht‐ ein Sprachfaktum, das eine zu entschlüs‐<br />

selnde Wahrheit beinhaltet. Die Evaluation in<br />

den Abteilungen für Kinderpsychiatrie stellt<br />

einen Kodex wie eine binäre Sprache auf: alles<br />

ist erfassbar. Wir haben alles, was Sie brauchen<br />

vorrätig! So gibt es keinen Mangel mehr, die<br />

Kinder können ihre Frage nicht stellen, weil<br />

die normative Antwort schon vorgegeben ist,<br />

bevor sie zum Sprechen kommen. Die psycho‐<br />

analytische Praxis hält sich an die Regel, dass<br />

jeder Fall einzeln angehört werden muss. (Der<br />

passage‐à‐l’acte und das acting‐out; Beispiele für<br />

Gewalttaten in Institutionen)<br />

Die Evaluation, die vorgibt, Qualität durch<br />

Quantifizierung zu bewerten, lässt den Betei‐<br />

ligten vorschweben, dass es eine Metasprache<br />

gibt, die alles erfasst. Die Sprache ist aber un‐<br />

endlich durch ihre bildlichen Ausdrücke<br />

(métaphorisation) und ihre Doppelsinnigkeit,<br />

keine Begrenzung zeichnet sich durch eine<br />

Ausnahme von der Regel ab. Es gibt kein<br />

übergreifendes Prinzip, keine Metasprache, die<br />

über die Zweideutigkeit entscheiden könnte.<br />

Den „Anderen des Anderen“ gibt es nicht.<br />

(siehe Geneviève Morel, „La loi de la mère“, Pa‐<br />

ris, Economica, Anthropos, 2008, S.327).<br />

5. Hat sich Ihre psychoanalytische Tätigkeit<br />

in der Vergangenheit durch die Änderung der<br />

Haltung und Werte verändert, insbesondere<br />

von Ihren Patienten ausgehend? Können Sie<br />

diese Änderungen beschreiben?<br />

Die Mutter eines zwölfjährigen Mädchens,<br />

das ich für verschiedene Phobien empfang,<br />

fragte mich anlässlich einer gemeinsamen Sit‐<br />

zung fünfmal (!): „Wie können Sie die Fort‐<br />

schritte der Therapie meiner Tochter bewer‐<br />

ten?“ Sie bestand in Anwesenheit ihrer Tochter<br />

auf einem wissenschaftlich medizinischen Dis‐<br />

kurs, als ob die Entwicklung des anwesenden<br />

Kindes wie ein lebloses Objekt quantifiziert<br />

werden könne. Die Therapeutin sollte ihre Ar‐<br />

14<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

beit rechtfertigen, ihre Arbeit wurde bei dieser<br />

Gelegenheit auch beurteilt. Es war eine Art<br />

Qualitätskontrolle durch den Kunden, seine<br />

Kundenbefriedigung. Und dass diese Sitzun‐<br />

gen bei einer Ärztin stattfanden, stellte keine<br />

„Garantie“ dar. Die Autorität der Ärzte, der<br />

Wissenschaftler und der Lehrer wird bis auf<br />

Universitätsebene in Zweifel gezogen. Nach‐<br />

dem die an der Universität tätigen Psychiater<br />

sich als „richtige“ Mediziner verstehen wollten<br />

und sich in den Neurowissenschaften und der<br />

Pharmakologie wohler fühlten als in der Diag‐<br />

nostik psychischer Erkrankungen, nachdem<br />

die epidemiologischen Mittel als Notwendig‐<br />

keit in Kauf genommen wurden, um die Pro‐<br />

duktivität des Gesundheitssystems zu verbes‐<br />

sern, frisst jetzt die rationalisierende Revoluti‐<br />

on ihre Kinder und wertet das Universitäts‐<br />

wissen selbst ab. (Zusätzliches Beispiel: die<br />

Expertise von Anne T.: eine Liste von medizi‐<br />

nischen Symptomen ohne Diagnose DSM und<br />

CIM).<br />

5. Welche Rolle spielen die psychoanalyti‐<br />

schen Gesellschaften in Ihrem Land, was die<br />

oben genannten Probleme und Fragen betrifft?<br />

Besteht eine offene Diskussion über diese Fra‐<br />

gen, finden Sie Unterstützung für eine kriti‐<br />

sche Beleuchtung, oder existiert im Gegenteil<br />

eine Tendenz, weitere restriktive Normen still‐<br />

schweigend hinzunehmen?<br />

Die französischen psychoanalytischen Ver‐<br />

einigungen haben die Öffentlichkeit schnell<br />

alarmiert und viel Unterstützung in der Presse<br />

erfahren. „Le Manifeste pour la Psychanalyse“<br />

organisierte öffentliche Versammlungen. Auf<br />

Universitätsebene wurde Stellung genommen.<br />

Gleichzeitig zu dieser Kontroverse haben Be‐<br />

wegungen für die Klinik (Sauvons la clinique!),<br />

gegen die Evaluation der drei‐jährigen Kinder<br />

in der Vorschule (Pas de zéro conduite!), für die<br />

psychiatrische Versorgung (La nuit sécuritaire)<br />

und gegen die Sicherheitshaft (Non à la<br />

perpétuité sur ordonnance) stattgefunden.<br />

Die Bücher von Marie‐Noël Godet und von<br />

Agnès Aflalo sind stimulierend, erfrischend.<br />

A. Aflalo hat unter anderem der Unterschei‐<br />

dung des Triebs von Freud und dem<br />

konditionnierten Reflex von Skinner ein langes<br />

Kapitel gewidmet (S.56ff.).<br />

Die Befürchtungen für die Zukunft sind:<br />

Dass der medizinischen und immer weni‐<br />

ger humanistischen Psychiatrie die Verschrei‐<br />

bung der Psychotherapien und der Psychoana‐<br />

lyse zukommt, dass der Meisterdiskurs allein


herrscht. Dass die Ausbildung der Psychoana‐<br />

lytiker zu einer schulischen Ausbildung wird<br />

und dass sie von Ausbildern ermächtigt wer‐<br />

den (siehe das Angebot an Ausbildungen der<br />

großen Assoziationen selbst, siehe: „Les forma‐<br />

tions cliniques des Forums du champ Lacanien“).<br />

Dass die Psychotherapeuten und die Ärzte<br />

zu den Garanten der öffentlichen sozialen<br />

Ordnung werden, dass sie zur kollektiven<br />

Normalisation beitragen sollen.<br />

Hoffen wir, dass die Hysterie weiterhin den<br />

Platz für das Subjekt des Unbewussten offen<br />

hält!<br />

***<br />

Uwe Lausen: Ich bin das Gesetz, 1967<br />

3.<br />

AFP-Forum: Norm-Normalität-Gesetz<br />

‒ Julia Kristeva:<br />

König Ödipus und der unsichtbare Frevel<br />

(abjection) *<br />

Das ebenso tragische wie erhabene Schick‐<br />

sal von Ödipus lässt die mythische Beschmut‐<br />

zung, die die Unreinheit dieser unberührbaren<br />

«anderen Seite» darstellt, in eins fassen und<br />

zugleich verschieben ‒ dieses «andere Ge‐<br />

schlecht», am Rande des Körpers ‒ die Lamelle<br />

des Begehrens ‒ und, vor allem in der Frau als<br />

Mutter, den Mythos der Fülle der Natur. Um<br />

das überzeugend zu finden, müssen wir den<br />

Spuren des sophokleischen König Ödipus und<br />

vor allem des Ödipus auf Kolonos folgen.<br />

Obgleich Ödipus Herrscher ist und zu‐<br />

gleich derjenige, der die logischen Rätsel zu lö‐<br />

sen weiß, ist er trotzdem ahnungslos gegenüber<br />

seinem eigenen Schicksal; denn er weiß nicht,<br />

dass er selbst derjenige ist, der seinen Vater<br />

Laios getötet und seine Mutter Jokaste geheira‐<br />

tet hat. Dieser Mord als auch das Begehren<br />

* abjection, dt. Schmach, Frevel, Schandtat, Niedertracht, Gemeinheit.<br />

AdÜ.<br />

15<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

bleibt ihm verborgen, beide wären allerdings ‒<br />

wider besseres Wissen ‒ die Kehrseite seiner<br />

logischen Macht und deren politische Folgen.<br />

Der Frevel wird erst sichtbar, als Ödipus ‒ der<br />

durch sein Begehren nach Wissen an die Gren‐<br />

ze seiner selbst gelangt ‒ als Herrscher das Be‐<br />

gehren und den Tod entdeckt. Und dann<br />

schreibt er diesen beiden ebendieselbe Fülle<br />

der Macht, deren Erkenntnis und deren Ver‐<br />

antwortung zu. Nichtsdestoweniger bleibt die<br />

Lösung in König Ödipus nicht vollkommen<br />

dem Mythos überlassen: sie entwickelt sich<br />

durch Ausschluss, so wie wir das in der Logik<br />

anderer mythischer und ritueller Systeme ge‐<br />

sehen haben.<br />

Zunächst ein räumlichen Ausschluss: Ödi‐<br />

pus muss ins Exil, d.h. den eigentlichen Ort<br />

verlassen, an dem er König ist; er muss die Be‐<br />

fleckung entfernen, damit die Grenzen des<br />

contrat social in Theben fortbestehen.<br />

Zugleich aber ist das auch ein Ausschluss<br />

des Blick: Ödipus wird blind, weil er den Blick<br />

auf die Objekte seines Begehrens und seines<br />

Mords nicht sieht (das Gesicht seiner Frau,<br />

seiner Mutter, seiner Kinder). Wenn es stimmt,<br />

dass diese Erblindung mit der Kastration<br />

gleichzusetzen ist, so bedeutet sie weder eine<br />

Entmannung noch den Tod. Diesen beiden ge‐<br />

genüber ist das Blind‐Werden ein symboli‐<br />

scher Ersatz, es ist dazu bestimmt, eine Mauer<br />

zu bauen, einen Damm, der die Schande, die<br />

als solche etwas ist, was nicht abgestritten<br />

werden kann, sondern als etwas Fremdes be‐<br />

zeichnet werden muss. Sie ist demnach eine<br />

Figur einer gespaltenen Blindheit: mit dem<br />

Makel der Beschmutzung kennzeichnet sie zu‐<br />

gleich auch den Körper und die eigene Verän‐<br />

derbarkeit ‒ sie ist die Narbe am Ort eines of‐<br />

fenkundigen, zugleich aber auch unsichtbaren<br />

Frevels. Die Unsichtbarkeit des Frevels. Indem<br />

dieser für die Stadt und die Macht steht, kön‐<br />

nen beide weiterfortbestehen.<br />

Das Pharmakon als Zwiespältiges<br />

Heben wir noch einmal die tragische Bewe‐<br />

gung in König Ödipus hervor: versinnbildlicht<br />

das nicht eine mythische Variante des Frevels?<br />

Indem Ödipus eine unreine, eine von einem<br />

Miasma gezeichnete Stadt betritt, wird er<br />

selbst zum agos, zur Beschmutzung, die er zu<br />

reinigen hat, um katharmos zu werden. Ein<br />

Reiniger ist er also allein dadurch, dass er agos<br />

ist. Sein Frevel nährt sich durch diese bestän‐<br />

dige Zwiespältigkeit der Rollen, die er, ohne es<br />

zu wissen, annimmt, während er doch zu‐


gleich meint zu wissen. 24 Und genau diese Dy‐<br />

namik der Umkehrungen ist es, die aus ihm<br />

sowohl einen Frevler als auch ein pharmakos<br />

macht, einen Sündenbock, der durch seinen<br />

Ausschluss die Stadt von der Befleckung rei‐<br />

nigt. Die Triebfeder der Tragödie liegt dem‐<br />

nach in dieser Zwiespältigkeit 25 : Verbot und<br />

Ideal treffen sich in einer einzigen Person; das<br />

bedeutet, dass das sprechende Wesen keinen<br />

eigenen Raum hat, sondern sich an einer fragi‐<br />

len Schwelle aufhält, wie am Ort einer unmög‐<br />

lichen Markierung. Wenn das die Logik des<br />

pharmakos katharmos ist, der Ödipus selbst ist,<br />

so muss man festhalten, dass das Theaterstück<br />

von Sophokles das Packende nicht nur aus<br />

diese Mathesis der Zweideutigkeit zieht, son‐<br />

dern aus den ganz und gar semantischen Wer‐<br />

ten, denen es den gegensätzlichen Begriffen<br />

verleiht. Und welche „Werte“ sind das?<br />

Theben ist ein Miasma an Unfruchtbarkeit,<br />

Krankheit, an Tod. Ödipus ist agos, weil er<br />

durch den Vatermord und den Inzest mit der<br />

Mutter die Kette der Reproduktion [des Le‐<br />

bens] gestört und unterbrochen hat. Die Befle‐<br />

ckung bedeutet ein Anhalten des Lebens: (wie)<br />

eine Sexualität ohne Reproduktion (die aus<br />

dem Inzest geborenen Söhne des Ödipus wer‐<br />

den umkommen, die Töchter werden nur in<br />

einer anderen Logik überleben, nämlich in ei‐<br />

nem symbolischen Vertrag oder in einer sym‐<br />

bolischen Existenz, wie wir das in Ödipus auf<br />

Kolonos noch sehen werden). Eine bestimmte<br />

Sexualität ‒ die in der griechischen Tragödie<br />

nicht die Bedeutung besitzt, die sie für uns<br />

Moderne hat, ja die sich nicht einmal durch<br />

Lust bemerkbar macht, sondern durch Souve‐<br />

ränität und Wissen ‒ entspricht der Krankheit<br />

und dem Tod. Die Befleckung vermischt sich<br />

darin ebenfalls: sie besteht hauptsächlich da‐<br />

rin, dass Hand an die Mutter gelegt wurde.<br />

Die Befleckung, das ist der Inzest als Über‐<br />

schreitung der Grenzen des Eigenen.<br />

Wo also verläuft die Grenze, die erste<br />

fantasmagorische Schwelle, die das Eigene des<br />

sprechenden und/oder sozialen Menschenwe‐<br />

sens ausmacht? Zwischen Mann und Frau?<br />

Oder zwischen Mutter und Kind? Oder viel‐<br />

leicht zwischen Frau und Mutter? Die Antwort<br />

auf den Ödipus‐pharmakos auf Seiten der Frau<br />

24 J.P. Vernant hat diese Logik analysiert in „Ambigüité et renversement.<br />

Sur la structure énigmatique d’Œdipe roi“, in: J.P.<br />

Vernant/P. Vidal-Naquet, Mythe et Tragédie, Paris (Maspero)<br />

1973, S.101ff.<br />

25 Vgl. ibid., doch auch die Arbeiten von L. Gernet.<br />

16<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

ist Jokaste, wie Janus selbst zwiespältig und<br />

umstürzlerisch, in derselben Gestalt, in dersel‐<br />

ben Rolle, in derselben Funktion. Ein Janus,<br />

wie vielleicht jede Frau, da jede Frau zugleich<br />

ein Wesen des Begehrens ist ‒ d.h. ein spre‐<br />

chendes Wesen ‒ und ein Wesen, das die Re‐<br />

produktion verkörpert ‒ d.h. eines, das sich<br />

von seinem Kind trennen kann. Ödipus hat<br />

vielleicht nur diese Spaltung der Jokaste gehei‐<br />

ratet: das Mysterium, das Rätsel der Weiblich‐<br />

keit. Letztlich ist diejenige, die den Frevel ohne<br />

Hoffnung auf Reinigung personifiziert ‒ die<br />

Frau! «Jede Frau», die «ganze Frau»; der Mann<br />

selbst trägt den Frevel nur zur Schau und weiß<br />

davon, wodurch er selbst wiederum zum Rei‐<br />

niger wird. Jokaste ist das Miasma, der agos ‒<br />

das ist selbstverständlich. Doch allein Ödipus<br />

ist pharmakos. Er kennt und schließt das mythi‐<br />

sche Universum, das aus der Frage nach der<br />

(sexuellen) Differenz entsteht; er beschäftigt<br />

sich mit der Teilung der beiden Mächte: Re‐<br />

produktion/Produktion, Weiblichkeit / Männ‐<br />

lichkeit. Ödipus vollendet dieses Universum<br />

dadurch, dass er es in die Partikularität eines<br />

jeden Individuums einführt, das dann unwei‐<br />

gerlich selbst zum pharmakos und universell<br />

zum tragischen Helden wird.<br />

Doch damit diese Internalisierung stattfinden<br />

kann, bedarf es eines [räumlichen] Übergangs:<br />

von Theben nach Kolonos: die Ambiguität und<br />

die Umkehrung der Differenzen werden zum<br />

Vertrag.<br />

Die Reinigung in Kolonos<br />

Ganz anders ist demnach der Ödipus auf Ko‐<br />

lonos. Der Ort hat sich geändert. Und auch<br />

wenn die göttlichen Gesetze ihre Strenge nicht<br />

eingebüßt haben, so hat doch Ödipus seine<br />

Haltung ihnen gegenüber verändert. Tatsäch‐<br />

lich hat eine Transformierung der politischen<br />

Gesetze zwischen diesen beiden Werken statt‐<br />

gefunden: Zwischen 420 vuZ. ‒ dem Jahr des<br />

König Ödipus ‒ und 402 vuZ. ‒ dem Jahr der<br />

ersten Vorstellung von Ödipus auf Kolonos<br />

(nach dem Tode des Sokrates 406‐405) ‒ fand<br />

ein Übergang von der Tyrannis zur Demokra‐<br />

tie statt. Doch die Tatsache, dass ein demokra‐<br />

tisches Prinzip das Alterswerk von Sophokles<br />

beherrscht, ist vielleicht nur einer der Gründe,<br />

die diesen Wechsel in der Auffassung der gött‐<br />

lichen Gesetze im Verlauf des Ödipus auf Kolo‐<br />

nos erklären können. Im Gegensatz zu dem<br />

durch seine Schandtat niedergeschmetterten,<br />

ruinierten, zerbrochenen Herrscher und Sou‐<br />

verän Ödipus, haben wir es hier mit einen


Ödipus zu tun, der kein König ist, alles in al‐<br />

lem also ein „Subjekt“ ‒ ein Unterworfener ‒<br />

Ödipus, der seine Unschuld lauthals hinaus‐<br />

schreit. Allerdings nicht ohne Einschränkung.<br />

Nachdem er zuerst daran gedacht hat, Theseus<br />

die Hand zu drücken und ihn zu umarmen,<br />

gesteht er ein, dass er ebenso unrein wie ohne<br />

Verantwortung ist:<br />

„Darf in meinem Elend ich<br />

verlangen, einem Manne mich zu nahn, an dem<br />

kein Makel haftet einer Schmach! Ich darf es nicht<br />

und lass‘ es auch nicht zu. Nur wer vertraut ist mit<br />

der Schmach, darf Anteil haben an dem Leid.“ (1132-1136) * )<br />

Von Beginn seines schicksalhaften Endes an<br />

schreit er es hinaus:<br />

„Denn mein Leib<br />

und meine Taten sind’s doch nicht: die Taten sind<br />

ja mehr von mir erlitten als verübt…“ (265-267)<br />

„Unwissend nämlich erschlug ich und tötete,<br />

kam ahnungslos dazu, dem Gesetz nach schuldlos…“ (548-549)<br />

Halten wir bei dieser Offenbarung inne: Sie<br />

ist weder ein Schuldbekenntnis (confession)<br />

noch eine Bitte um Anerkennung der Schuld‐<br />

losigkeit infolge der zahlreich erduldeten Lei‐<br />

den; dieser Satz weist auf ein Hinübergleiten<br />

des König Ödipus zum Ödipus als Subjekt hin.<br />

„…dem Gesetz nach schuldlos“, bedeutet zu‐<br />

nächst einmal: „ahnungslos“ gegenüber dem Ge‐<br />

setz. Derjenige, der die logischen Rätsel löst, kennt<br />

das Gesetz nicht, und das heißt wiederum: Ich, der<br />

weiß, bin nicht das Gesetz. Hier also findet eine<br />

erste Änderung zwischen dem Wissen und<br />

dem Gesetz statt, die den Souverän aus dem<br />

Lot bringt. Wenn das Gesetz im Anderen ist,<br />

dann ist mein Schicksal weder meine Macht<br />

noch mein Begehren, es ist ein verändertes<br />

Schicksal: mein Schicksal ist der Tod!<br />

Der Frevel des Königs Ödipus ist mit Wissen<br />

und Begehren unvereinbar, beide zeigen eine<br />

allmächtige Wirkung im Menschenwesen.<br />

Der Frevel des Ödipus auf Kolonos wird vom<br />

Sprachwesen nicht gewusst, und dieses Wesen<br />

ist das Subjekt zum Tode und gleichzeitig das<br />

Subjekt einer symbolischen Allianz.<br />

Denn an der Schwelle des Todes, als Ödi‐<br />

pus erklärt, dass er das Gesetz nicht kennt,<br />

geht er eine Allianz mit einem Fremden ein.<br />

Das Exil, das er zuerst gewünscht hat, das ihm<br />

dann von seinen Söhnen verweigert wurde,<br />

war zunächst eine Abweisung, ein Verweis,<br />

bevor es sich für Ödipus zur symbolischen Wahl<br />

und Transmission verwandelte. Denn in frem‐<br />

dem Land und an einen fremden Helden, The‐<br />

seus nämlich, dem symbolischen Sohn, über‐<br />

* Sophokles: Tragödien, München (Dtv/Artemis) 1990, übersetzt<br />

von Wilhelm Willige u.a.<br />

17<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

antwortet er zugleich seine Töchter und das<br />

Geheimnis seines Todes[orts]. Ohne eine Süh‐<br />

ne und ohne einer Errettung zu sein, ist sein<br />

Tod als solcher auch dem Wohle der anderen,<br />

der Fremden bestimmt: für Theseus und die<br />

Athener.<br />

In diesem Zusammen‐<br />

hang ist es Ismene, jene oft so stumme Tochter<br />

‒ die aber trotzdem zur Sprache findet, um ih‐<br />

re Missbilligung der doch recht ödipalen<br />

Kämpfe der Brüder zum Ausdruck zu bringen<br />

‒, die auch sein, des Ödipus‘ Heil durch die<br />

Götter verkündet: „Die Götter, die dich erst<br />

gestürzt, erhöhn dich jetzt.“ (394) Diese Erhö‐<br />

hung erklärt sich aus der Unschuld des Ödi‐<br />

pus gegenüber dem Gesetz (s. 549); doch um<br />

das zu konkretisieren, muss er die Reinigungs‐<br />

riten auf Kolonos durchmachen (466‐492); es<br />

sind Reinigungsriten, die in der klassischen Li‐<br />

teratur hier einzigartig deutlich dargestellt<br />

werden.<br />

Nach der Aufhebung des Frevels:<br />

der symbolische Vertrag<br />

Auf Kolonos hat der Frevel also sein<br />

Schicksal verändert. Er wird weder ausge‐<br />

schlossen noch blind entfremdet, er wird auf‐<br />

grund eines Unwissens in ein „Subjekt zum<br />

Tode“ gelegt. Der Frevel ist nichts anderes<br />

mehr als ein Fehl der unmöglichen Souveräni‐<br />

tät des Ödipus, ein Fehl in seinem Wissen.<br />

Wenn die Riten zu seiner Reinigung angerufen<br />

werden, so geschieht es im Sprechen des Ödi‐<br />

pus, angesichts des göttlichen Gesetzes wie<br />

angesichts von Theseus, der diese Reinigung<br />

übernimmt. Es handelt sich keineswegs um ein<br />

Schuldeingeständnis: der Frevel in diesem<br />

Griechenland, das auf dem Wege zur Demo‐<br />

kratie ist, wird als Last aufgenommen durch<br />

den, der spricht, der sich als sterblich erkennt<br />

(insofern er der Nachwelt keinen männlichen<br />

Erben hinterlässt) und als Subjekt des Symbo‐<br />

lischen (man beachte die nominelle Übertra‐<br />

gung seines Genießens am Tode auf dem<br />

Fremden, Theseus).


Hier wird die Brücke zu einer anderen Lo‐<br />

gik des Frevels geschlagen: es gibt nun keine<br />

Befleckung mehr, die ausgeschlossen werden<br />

muss wie der andere Rand der (sozialen, kul‐<br />

turellen, eigenen) Heiligen, sondern eine Über‐<br />

schreitung des Gesetzes aufgrund von dessen<br />

Unkenntnis.<br />

König Ödipus hat für Freud und seine Nach‐<br />

folger das Beispiel der Macht des (inzestuösen)<br />

Begehrens und des Begehrens nach dem Tode<br />

(des Vaters) offenbart. Wie frevlerisch auch<br />

immer diese Arten von Begehren sein mögen,<br />

die die Integrität des Individuums und der Ge‐<br />

sellschaft bedrohen, sie sind keineswegs sou‐<br />

verän: das ist die blind‐machende Klarheit, die<br />

Freud, nach Ödipus, in den Frevel hineinge‐<br />

dacht hat; und er hat uns dazu eingeladen, uns<br />

darin zu erkennen, ohne dass wir uns die Au‐<br />

gen ausstechen müssen.<br />

Doch was erspart uns letzten Endes diese<br />

entscheidende Geste? Die Antwort findet sich<br />

vielleicht im Ödipus auf Kolonos, der indessen<br />

Freud nicht zu interessieren scheint! Diesem<br />

Rand, der Schwelle zwischen Frevel und Hei‐<br />

ligem, zwischen Begehren und Wissen, zwi‐<br />

schen Tod und Gesellschaft kann man ins Ge‐<br />

sicht sehen, man kann ihn ansprechen ohne<br />

falsche Unschuld, ohne schamhafte Aus‐<br />

löschung, unter der Bedingung dass man darin<br />

ein partikuläres menschliches Ereignis sieht,<br />

das zugleich tödlich ist und spricht. „Es gibt<br />

den Frevel“, das heißt ab nun: „Ich bin frevle‐<br />

risch, d.h. sterblich und ich spreche.“ Diese<br />

Unvollständigkeit und diese Anhängigkeit<br />

vom [großen] Anderen erlauben es ihm, Ödi‐<br />

pus, seine dramatische Spaltung weiterzuge‐<br />

ben; freilich machen sie deshalb den begeh‐<br />

renden und mörderischen Ödipus lange nicht<br />

unschuldig! Die Weitergabe geschieht für ei‐<br />

nen fremden Helden und sie eröffnet dadurch<br />

die nicht zu entscheidende Möglichkeit für ei‐<br />

nige wirklichen Momente der Wahrheit. Unse‐<br />

re Augen können jetzt weiter offen bleiben, un‐<br />

ter der Bedingung, dass wir anerkennen, dass<br />

wir schon immer durchs Symbolische verän‐<br />

dert worden sind: und zwar mittels der Spra‐<br />

che. In der Sprache ‒ und nicht im anderen,<br />

nicht im anderen Geschlecht ‒ können wird<br />

das ausgestochene Auge, die Wunde, die<br />

grundlegende Unvollständigkeit hören, die die<br />

unendliche (indéfinie) Suche in der Signifikan‐<br />

tenkette darstellt. Das heißt zugleich, wir kön‐<br />

nen die Wahrheit der Verdoppelung (Fre‐<br />

vel/Heiliges) genießen. Und hier eröffnen sich<br />

18<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

zwei Wege: der Weg der Sublimierung und<br />

der Weg der Perversion.<br />

Und ihre Kreuzung: die Religion.<br />

Dafür brauchte Freud nicht nach Kolonos<br />

zu gehen. Er hatte Moses, der ihm vorausge‐<br />

gangen war bei der Umkehrung der Befle‐<br />

ckung in eine Unterwerfung (sujétion) unter<br />

das symbolische Gesetz. Aber Ödipus auf Kolo‐<br />

nos weist vielleicht ‒ neben anderen Entwick‐<br />

lungen der griechischen Kultur ‒ darauf hin,<br />

auf welchem Wege der Hellenismus auf die<br />

Bibel hat verzichten können.<br />

Aus: Julia Kristeva, Pouvoirs de l’horreur,<br />

Paris (Seuil) 1980, S.99‐105. ‒<br />

Aus dem Französischen von H.‐P. Jäck.<br />

‒ Martin Schulte:<br />

Impulse einer psychoanalytischen<br />

Rechtstheorie nach Freud und Lacan<br />

(Zusammenfassung)<br />

Abschließend soll noch einmal die Frage<br />

aufgeworfen werden, welche Impulse die Psy‐<br />

choanalyse in Bezug auf das Verständnis des<br />

Rechts geben kann. Dabei spielt der Umgang<br />

mit den Mythen eine entscheidende Rolle,<br />

denn hier zeigt sich besonders deutlich, wie<br />

unbewusste Phantasmen die subjektive Bezie‐<br />

hung zum Recht steuern. Anders als Legendre<br />

es proklamiert, führt die hier vertretene, un‐<br />

mittelbar an Lacan und Freud orientierte Ana‐<br />

lyse zu einer kritischen Betrachtung der My‐<br />

then und damit auch der libidinösen Beset‐<br />

zung der rechtlichen Beziehungen. Das liegt<br />

insbesondere daran, dass die Objektbeziehung<br />

– konkret zum objet petit a und dem Ding – bei<br />

Legendre keine nennenswerte Rolle spielt. Ge‐<br />

rade an der Objektbeziehung manifestiert sich<br />

aber das phantasmatische Supplement der<br />

Rechtsdiskurse, welches ihnen oft einen patho‐<br />

logischen Charakter verleiht. Die unbewusste<br />

Objektfixierung steht im engen Zusammen‐<br />

hang mit den mythischen Fiktionen, durch<br />

welche der pathologische Einschlag des objet<br />

petit a initiiert oder zumindest gestützt wird.<br />

Aus ethischer Sicht muss es gerade darum ge‐<br />

hen, den „unheimlichen Exzess des Genie‐<br />

ßens”, der nach Zizek durch den Todestrieb<br />

bezeichnet wird und den das Subjekt (auch)<br />

über das Recht als Objekt‐Ursache des Begeh‐<br />

rens veranstaltet, zu durchbrechen. Und zwar<br />

durch die gegenseitige Anerkennung als Man‐<br />

gelwesen.<br />

An dieser Stelle bietet sich ein weiterer<br />

Verweis auf Nietzsche an, der sich wie kaum


ein zweiter um ein aufgeklärtes Verständnis<br />

gegenüber der Vaterreligion, welche auch das<br />

für das Recht dominierende mythische Phan‐<br />

tasma enthält, bemüht hat. Nietzsche ging es<br />

um eine Entmythisierung insgesamt, also auch<br />

in Bezug auf Vernunft und Moral. Als „post‐<br />

humer Philosoph” beschreibt er die „Tötung<br />

Gottes” als das für den – aus seiner Perspekti‐<br />

ve kommenden – Zeitgeist zentrale Ereignis. 26<br />

Indem er die unbedingte Verknüpfung von<br />

Grammatik und Gottesglauben mit der einher‐<br />

gehenden Dekonstruktion des idealistischen<br />

(affektbefreiten) Vernunftbegriffes prokla‐<br />

miert, wird schon das angedeutet, was Lacan<br />

später mit der Position des Namens‐des‐Vaters<br />

– dem Pendant des toten Vaters in der diskur‐<br />

siven Kommunikation – beschreibt. Unbe‐<br />

wusste Phantasmen und libidinöses Begehren<br />

sind — um noch einmal die psychoanalytische<br />

Perspektive von der philosophischen abzu‐<br />

grenzen – aus der Operation der Vernunft<br />

nicht extrahierbar. Was bei Lacan eher als Be‐<br />

standsaufnahme und Analyse des status quo<br />

erscheint, ist bei Nietzsche bereits Gegenstand<br />

einer fundamentalen Kritik: Sowohl die Be‐<br />

schwörung des „toten Gottes”, als auch seine<br />

Sprachkritik, welche er in einem untrennbaren<br />

Zusammenhang sieht, kann als Ausgangs‐<br />

punkt der Forderung betrachtet werden, sich<br />

von dem Anderen der Liebe bzw. von dem<br />

ödipalen Signifikanten zu lösen. So wird das<br />

Verständnis von „Gott” als grammatikalisch<br />

strukturierte Sprachfunktion nirgendwo deut‐<br />

licher als in der Götzen‐Dämmerung:<br />

„Die „Vernunft” in der Sprache: oh was für ei‐<br />

ne alte betrügerische Weibsperson! Ich fürchte, wir<br />

werden Gott nicht los, weil wir noch an die Gram‐<br />

matik glauben.“ 27<br />

Das Dilemma, das Nietzsche in der Religi‐<br />

on als System des Vaterdogmas sieht, wird<br />

auch bei Legendre – nämlich als die „erotische<br />

Anbindung” des Subjekts an die Rechtsinstitu‐<br />

tionen – beschrieben, wobei Legendre diese<br />

Faszination im Gegensatz zu Nietzsche unkri‐<br />

tisch sieht. Nietzsches neue „Morgenröte”<br />

kann man als Hoffnung auf eine Zeit verste‐<br />

hen, die das „Vertrauen zur Moral” als das ul‐<br />

timative Symptom der phantasmatischen Va‐<br />

26 Vgl. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft. Drittes Buch,<br />

Sentenz 125 (Der tolle Mensch).<br />

27 Nietzsche, Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem<br />

Hammer philosophirt. Die „Vernunft” in der Philosophie,<br />

Sentenz 5.<br />

19<br />

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terbeziehung erkennt, 28 deren peinigenden<br />

Charakter die sublimierte Schuld für das ver‐<br />

drängte Urverbrechen aus Freuds metaphori‐<br />

schen Mythen widerspiegelt, hinter sich lässt.<br />

Liest man Nietzsche mit Lacan, erfordert dies<br />

eine neue Form der Verknüpfung der Register<br />

von Subjektivität, in der das Sinthôme den<br />

Namen‐des‐Vaters ersetzen soll. 29 Im Kern<br />

geht es Lacan darum, dieses Sinthôme, das die<br />

drei subjektiven Sphären des Realen, Imaginä‐<br />

ren und Symbolischen zusammenhält und es<br />

dem Subjekt damit erst zu leben ermöglicht,<br />

indem es die „Stütze seines Daseins bildet”, als<br />

nicht interpretierbaren Kern des Subjekts und<br />

seines Genießens anzuerkennen (d.h. gerade<br />

nicht über die Analyse zu versuchen, es „auf‐<br />

zulösen”) und die Identifikation mit ihm zu<br />

ermöglichen. 30<br />

Die hier eingeschlagene Richtung ist aller‐<br />

dings eine zwiespältige, denn es geht auch um<br />

die Dekonstruktion derjenigen Moral, welche<br />

sich an dem Namen‐des‐Vaters orientiert und<br />

damit auf fundamentalen psychischen Kau‐<br />

salitäten beruht. Silvia Ons unterstreicht, dass<br />

Nietzsches Nähe zu Lacan in seiner Beschrei‐<br />

bung von Wahrheit innerhalb einer strukturel‐<br />

len Parallele zur Fiktion liegt. Wahrheit „er‐<br />

scheint”, und dieser Status der Erscheinung ist<br />

die Folge ihrer fiktionalen Struktur, dem<br />

grammatikalischen Bruch in der Sprache, in<br />

der neue Werte produziert werden. So entsteht<br />

ein Pragmatismus, der nicht zuletzt auch aus<br />

der Demontage oder Entmythisierung der Me‐<br />

taphysik und der Konzeptionierung von<br />

jouissance als nicht gleichbedeutend mit Lust<br />

oder Wohlergehen folgt. 31 Das Subjekt steuert<br />

28 Vgl. Nietzsche. Morgenröthe. Gedanken über die moralischen<br />

Vorurtheile, Vorrede, Sentenz 2.<br />

29 Voruz, The Topology of the Subjekt of Law: The Nullibiquity<br />

of the Fictional Fith, in: Ragland/Milovanovic, Lacan, Topologically<br />

Speaking, S.296ff.<br />

30 Zizek, Liebe Dein Symptom wie Dich selbst, S.26.ff.<br />

31 Ons, Nietzsche, Freud, Lacan, in: Zizek, Lacan – The Silent<br />

Partners, S.80.


zwanghaft und fortwährend auf die jouissance<br />

zu, weil es der Grammatik nicht entfliehen<br />

kann, die es fest an das Phantasma des ambi‐<br />

valenten Vaters bindet. Dieser Vater steht hin‐<br />

ter der universellen Fassade des Anderen, der<br />

als An‐derer des Rechts sowohl im Bild oder in<br />

den Symbolen des säkularen und werteorien‐<br />

tierten Vaters Staat als auch des alttestamentli‐<br />

chen Gottes auf‐tritt. Wahrheit wird immer<br />

dort vermutet, wo sie als jouissance verwertet<br />

werden kann. Wie qualvoll diese pragmatische<br />

Wahrheit ist, zeigt sich in den biblischen Lei‐<br />

den des Volkes Israel an den Gesetzen des<br />

Herrn im Exodus und Leviticus genauso wie<br />

in dem täglichen Kampf um das Recht bzw.<br />

des Ringens um Signifikanz im demokrati‐<br />

schen Rechtsstaat. Was bei Nietzsche als plaka‐<br />

tiver Kampf mit dem Christentum erscheint,<br />

den er — wenn auch weniger oft zitiert —<br />

auch gegen das Vernunftideal Kants und<br />

schließlich die Grammatik selbst geführt hat,<br />

ist bei Lacan die radikale Analyse und implizi‐<br />

te Kritik an dem der jouissance unterworfenen<br />

Subjekt.<br />

Ein mögliches Fazit aus den psychoanalyti‐<br />

schen Rechtsbetrachtungen ist damit schon bei<br />

Nietzsche angelegt. Dieses liegt in der rechts‐<br />

ethischen Forderung nach einer Lösung von<br />

der phantasmatischen, „erotischen” Beziehung<br />

zum Anderen der Liebe und des Rechts. Ob es<br />

sich dabei um eine utopische oder realisierbare<br />

Vorstellung handelt, kann hier nicht entschie‐<br />

den werden. Psychoanalytische Parameter er‐<br />

möglichen es aber, und das könnte als erster<br />

Schritt in Richtung einer „Befreiung des Be‐<br />

gehrens” betrachtet werden, manche der un‐<br />

bewussten Phantasmen innerhalb unserer<br />

Rechtsordnung zu reflektieren und damit auf<br />

ihre Dekonstruktion hinzuwirken. Man sollte<br />

aber nicht vergessen, dass in den Phantasmen<br />

der jouissance eine — wenn auch schmerzliche<br />

— aber drängende Form des Genießens liegt,<br />

die den Abschied hiervon deutlich erschwert.<br />

Dass man das Zentrum dieses Phantasmas als<br />

ödipalen Signifikanten bezeichnet, ist sicher‐<br />

lich nicht zwangsläufig, lässt sich aber mit La‐<br />

can begründen. So kann man auf dieser<br />

Grundlage vertreten, dass der Wunsch nach<br />

einem „toten Gott” bei Nietzsche eben dem<br />

Leiden an eben diesem „väterlichen Signifi‐<br />

kanten” entspringt.<br />

Der progressive Impuls der hier dargestell‐<br />

ten psychoanalytischen Rechtstheorie kann<br />

damit schließlich im Sinne einer Neuorientie‐<br />

20<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

rung auf das Lacanschen Sinthôme formuliert<br />

werden. Konkret heißt dies, der jouissance,<br />

welche der phantasmatischen Identifikation<br />

mit dem — um noch einmal die Freudsche Me‐<br />

tapher zu gebrauchen — an) guten oder bösen<br />

Vater leidenden Brüderclan entspringt, zu ent‐<br />

sagen. In diesem Sinne muss das Recht einen<br />

Weg finden, dem Subjekt das von libidinösen<br />

Implikationen befreite Gefühl zu vermitteln, in<br />

seinem ureigensten Kern Anerkennung durch<br />

den Anderen zu finden, ohne ihn dabei aber<br />

zu einem Genießen auf Kosten seines Nächsten<br />

oder zu einem Genießen aus einem Schuld‐<br />

komplex heraus zu verleiten. Dabei geht es<br />

insbesondere um die Vermittlung eines<br />

Rechtsverständnisses, das sich von dem patho‐<br />

logischen Genießen der jouissance nicht nur<br />

löst, sondern bewusst distanziert. Der Rechts‐<br />

diskurs ist oft von der hysterischen Vermu‐<br />

tung durchsetzt, dass ein anderes Subjekt an<br />

einem Mehr‐Genießen teilhat. Zu diesem<br />

möchte man sich entweder selbst — über das<br />

Recht — Zugang verschaffen oder zumindest<br />

dem anderen Subjekt den Zugang unterbin‐<br />

den. Dieses ominöse Mehr‐Genießen wird bei<br />

Lacan an Objekt‐Ursachen (objet petit a) fest‐<br />

gemacht, wobei — aufgrund der trügerischen<br />

Natur dieser Objekte — regelmäßig verkannt<br />

wird, dass dieses ein bloßer Schein, eine trans‐<br />

zendente Leerstelle ist.<br />

Die psychoanalytische Betrachtung der<br />

Entstehung und der diskursiven Erscheinungs‐<br />

formen des Rechts zeigt, dass das Recht von<br />

einem Leiden geprägt ist, welches in der Struk‐<br />

tur des ödipalen Signifikanten begründet liegt.<br />

Recht dient dem Subjekt dazu, seinen Mangel<br />

zu verhandeln und ihm (partielle) Befriedi‐<br />

gungserlebnisse zu verschaffen. Zentral ist da‐<br />

bei die omnipräsente Fixierung auf die Objekte<br />

des Begehrens, welche in Wahrheit aber re‐<br />

gelmäßig — wie Lacan betont — nur Objekt‐<br />

Ursachen und damit ein bloßer Schein, Teil ei‐<br />

nes Phantasmas sind. Bedeutung, Wahrheit<br />

und Vernunft treten auf, wenn das Subjekt sich<br />

dem Objekt bzw. dem Ding anzunähern<br />

glaubt. Diese Annäherung wird im Recht dis‐<br />

kursiv vermittelt. Ein Rechtsakt wird als ge‐<br />

recht erfahren, wenn er dem Subjekt ein<br />

(phantasmatisches) Näheverhältnis zum Ob‐<br />

jekt seines Begehrens vermittelt. Die hier vor‐<br />

geschlagene psychoanalytische Rechtstheorie<br />

stellt ein System und Vokabular vor, mit dem<br />

dieses Begehren innerhalb der einzelnen<br />

Rechtsakte identifiziert und der spezifische


Objektbezug offengelegt werden kann. Wird<br />

so ein Ausweg aus dieser Spirale eröffnet?<br />

Kann ein neues, progressives Rechtsverständ‐<br />

nis über die Psychoanalyse vermittelt werden?<br />

Ein solches Unternehmen steht vor dem Prob‐<br />

lem, dass es sich um unbewusste — und damit<br />

kaum zugängliche, verschlüsselte — Prozesse<br />

handelt, die ihren Ursprung in der frühkindli‐<br />

chen Entwicklung des Subjekts haben. Das<br />

primäre Ziel einer „psychoanalytischen Auf‐<br />

klärung” liegt also darin, den pathologischen<br />

Charakter dieser Objektfixierung in das Be‐<br />

wusstsein der Rechtssubjekte zu übertragen<br />

und ihnen damit den Grund für ihr Leiden am<br />

Recht verständlich zu machen. Dieses Leiden<br />

ist essentiell ein Leiden an der Sprache, deren<br />

Struktur uns dazu zwingt (oder zu zwingen<br />

scheint), uns auf den Mangel zu konzentrieren<br />

und die Welt aus der Perspektive der Gespal‐<br />

tenheit heraus zu erfahren. Wir vermuten den<br />

Grund für den Mangel im Anderen.<br />

Das symbolische Universum mit seiner Fül‐<br />

le an Rechtszeichen lässt uns den Mangel kon‐<br />

kret erfahren, und wir versuchen über den<br />

Rechtsdiskurs, diesen Mangel im Anderen<br />

„zurecht” zu rücken. Die Mythen bieten eine<br />

Form, innerhalb der sich das Subjekt auf<br />

phantasmatischer Ebene in den Zustand der<br />

Ungespaltenheit versetzen kann und sie wer‐<br />

den glaubwürdiger, wenn sie sich innerhalb<br />

einer bestimmten Tradition historisch verfes‐<br />

tigt haben. Deshalb sollte man – ungeachtet<br />

des Vorgesagten – den Mythos auch nicht vor‐<br />

schnell abtun, denn es besteht eine begründba‐<br />

re Notwendigkeit für die glaubensstärkende<br />

institutionelle Vermittlung eines Referenz‐<br />

punktes: Solange es ein universelles Phantas‐<br />

ma gibt, idealerweise gestützt durch eine an‐<br />

erkannte Dogmatik, ist das System zumindest<br />

nicht instabil und bietet weitgehende Identifi‐<br />

kationsmöglichkeiten, die für die Existenz ei‐<br />

nes Rechtsstaates wohl conditio sine qua non<br />

sind. Sobald eine Beziehung zum Ursprung<br />

hergestellt werden kann, wird der Mangel<br />

ausgeblendet, denn der Ursprung ist der Zu‐<br />

stand der Ungespaltenheit, da er sich auf der<br />

Ebene des Unbewussten auf die pränatale Ein‐<br />

heit – die Zeit vor dem Einschnitt der symboli‐<br />

schen Kastration – bezieht, welcher durch den<br />

ödipalen Signifikanten des Namens‐des‐Vaters<br />

verursacht wird. Diese Bindung darf aber nicht<br />

in eine Abhängigkeit führen, die dem Subjekt<br />

geistige Freiräume verschließt, die es ebenso<br />

nötig hat. Die Geschichte belegt diesen Drang,<br />

21<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

sich von den jeweils dominierenden Manifes‐<br />

tationen der Mythen (sei es eine Religion oder<br />

ein politisches System) zu lösen, vielfältig,<br />

zeigt aber auch, dass die Prozesse von Distan‐<br />

zierung und Annäherung zyklisch verlaufen.<br />

Offen bleibt damit, wie ein Rechtssystem<br />

konkret strukturiert sein muss, um die dem<br />

Begehren entspringende libidinöse Investition<br />

der Teilnehmer der Rechtsdiskurse zu vermei‐<br />

den oder zumindest zu reduzieren. Ob dies<br />

praktisch überhaupt möglich ist oder ob es da‐<br />

zu vielleicht Nietzsches „Über‐Menschen” be‐<br />

darf, muss an anderer Stelle beantwortet wer‐<br />

den. Die Erkenntnis des Unbewussten allein<br />

kann aber schon einen Autonomiegewinn<br />

bringen, der die Möglichkeit eines von patho‐<br />

logischen Symptomen befreiten Rechtsver‐<br />

ständnisses eröffnet.<br />

Aus: Martin Schulte, Das Gesetz des Unbe‐<br />

wussten im Rechtsdiskurs: Grundlinien einer psy‐<br />

choanalytischer Rechtstheorie nach Freud und La‐<br />

can, Berlin (Duncker&Humblot), Schriften zur<br />

Rechtstheorie, 2010, S.230‐234.<br />

‒ Ein Hinweis von Karl‐Josef Pazzini:<br />

Normung: DIN-Preise<br />

Nachwuchsförderung - Andere Förderinstitutionen - Preise + Wettbewerbe<br />

- Geistes- und Gesellschaftswissenschaften, Kunst - Natur-<br />

und Ingenieurwissenschaften, Mathematik - Lebenswissenschaften<br />

(Agrarwissenschaften, Biologie, Medizin)<br />

Preise des Deutschen Instituts für Normung e. V.: Der DIN-Preis<br />

„Nutzen der Normung“ prämiert Beiträge, die Anhand eines<br />

überzeugenden Beispiels den Nachweis eines signifikanten, konkreten<br />

Nutzens aufzeigen. Dieser Wettbewerb steht allen interessierten<br />

Kreisen offen.<br />

Ziel des Wettbewerbes ist es, der Öffentlichkeit die breite Wirkung<br />

der Normung im wirtschaftlichen Kontext mittels konkreter Beispiele<br />

aus der Praxis verstärkt ins Bewusstsein zu bringen.<br />

Preisgeld: 15.000 Euro, 7.500 Euro, 2.500 Euro<br />

Der DIN-Preis „Junge Wissenschaft“ zeichnet studentische Arbeiten<br />

(Diplom, Studien-, Semesterarbeiten) aus, die Fragen der<br />

Normung oder Standardisierung behandeln. Insbesondere sollen<br />

Fragen, die mit Effizienzsteigerung verbunden sind, im Vordergrund<br />

stehen, wobei möglichst auch der Praxisbezug mittels Beispielen<br />

darzustellen ist.<br />

Preisgeld: 500 Euro<br />

Die Bewerbungsunterlagen sind formlos spätestens bis zum 31.<br />

August einzureichen.<br />

Weitere Informationen:<br />

http://www.din.de/cmd?level=tplunterrubrik&menuid=47392&cmsareaid=$areaId&cmsrubid=DIN-<br />

Preise&menurubricid=DIN-<br />

Preise&cmssubrubid=47471&menusubrubid=47471&languageid=d<br />

ehttp://www.din.de/sixcms_upload/media/2896/PDF_NdN.pdfht<br />

tp://www.din.de/cmd?level=tplunterrubrik&menuid=47392&cmsareaid=$areaId&cmsrubid=DIN-<br />

Preise&menurubricid=DIN-<br />

Preise&cmssubrubid=47472&menusubrubid=47472&languageid=d<br />

ehttp://www.din.de/sixcms_upload/media/2896/PDF_JW.pdf


4.<br />

Medienschau<br />

A) PSYCHOANALYTICA<br />

‒ Fotini Ladaki zu Lacans Haa<br />

Nach Lacans Stenografin: Endlich! Lacans Friseur!<br />

Zur Empfehlung des Buchs der AFP‐Förderin Fotini Ladaki<br />

Im Anfang war das Haar<br />

Ich weiß, was Sie denken. Sie denken:<br />

Hatte Einstein überhaupt einen Friseur?<br />

Robert L. Wolke<br />

Und ich weiß, was auch Sie denken, weil<br />

Sie es denken müssen. Sie denken: „Hatte La‐<br />

can überhaupt einen Friseur?” Ja, er hatte ei‐<br />

nen, Karlos Kambelopoulos, Friseur, Maler<br />

und Bildhauer, in La Maison de Beauté Carita.<br />

Dieser Friseur hat es der Öffentlichkeit offen‐<br />

bart, am 26. <strong>März</strong> des Jahres 2008, in einer<br />

ARTE‐Reportage mit dem Thema „Gesichter<br />

Europas”. Damit gab er den Stachel für diesen<br />

Text, der ohne diese Wunder‐Sagung weder<br />

erdacht, noch zustande gebracht worden wäre.<br />

Drum gilt Karlos Kambelopoulos vor allen<br />

Anderen ein großer Dank. Zehn Jahre lang, je‐<br />

den zehnten Tag, meistens inmitten der Wo‐<br />

che, besuchte Lacan diesen Salon. Denn auch<br />

Lacan war jenseits des Mythos seines<br />

Psychismus, den er erfand und mit aller Kraft<br />

kolportierte, eine öffentliche Person, die vom<br />

esse est percipi nicht lassen wollte. In seiner<br />

Theorie begann er erst zu ahnen, wie prekär<br />

und suspekt die Beziehung des Subjekts zu<br />

seinem Körper sein kann. Die Formen seiner<br />

katastrophischen Wirkungen aber waren<br />

wahrscheinlich auch ihm noch dicht gänzlich<br />

bekannt. Vielmehr schien er mit den Katastro‐<br />

phen zu experimentieren, um sie besser ermes‐<br />

sen zu können. Nach seiner Definition der lo‐<br />

gischen Zeit stand Lacan selbst noch in dem<br />

Augenblick des Öffnens und Sammelns. Des‐<br />

wegen traute er sich womöglich, sich selbst<br />

dem obskuren Diskurs „Ich komme vom Fri‐<br />

seur” zu stellen. Kam es ihm womöglich wie<br />

gerufen, dass das Spitzenprodukt der Kosme‐<br />

tiklinie des renommierten Hauses Carita in<br />

seiner Glanzzeit Beauté de Carita hieß? Zu dem<br />

Wasser der Gnade muss man pilgern, um ge‐<br />

heiligt oder geweiht zu werden. Ob dieses<br />

Wasser jedoch das Salz in der Geschichte wer‐<br />

den kann, ist ungewiss. Vielleicht kann es aber<br />

das Haar in der Suppe werden. Denn um das<br />

22<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

Haar wird es hier gehen und um die Kunst mit<br />

den schönen Frisuren und Perücken. Aber<br />

denken Sie keinen Augenblick an die<br />

Trikotillomanie. Wie wäre es mit dem Musical<br />

Hair, das sich wie Herr anhört? Und ist dieses<br />

Musical nicht zum Symbol der Hippie‐<br />

Bewegung geworden, die gegen das Militäri‐<br />

sche und Unnatürliche in der Gesellschaft pro‐<br />

testierte? […]<br />

Karolos Kambelopoulos: Minotaure<br />

Der Figaro von Lacan hat einen Namen, ein Dop‐<br />

pelleben und zwei goldene Hände<br />

Karolos Kambelopoulos wurde 1930 in Kai‐<br />

ro geboren. Mit elf Jahren verlor er seine Mut‐<br />

ter. Von da an hatte er das Gefühl, auf sich al‐<br />

lein gestellt zu sein. Mit neun‐zehn Jahren<br />

wurde er zum Friseur der königlichen Familie<br />

in Ägypten. Mit Anfang Zwanzig verließ er<br />

Kairo. Er wollte nach Paris, um Karriere zu<br />

machen. Über vierzig Jahre lang arbeitete er in<br />

der Maison de Beauté der Schwestern Carita. Sie<br />

legten Wert auf goldene Hände und nicht so<br />

sehr auf Berufszertifikate. Karlos<br />

Kambelopoulos wurde nachgesagt, er führe<br />

ein Doppelleben, da er abends in seinem Ateli‐<br />

er seine Kunst betrieb. Dort entstanden be‐<br />

rühmte Köpfe von Maria Callas, Silvia Mont‐<br />

fort, Melina Mercouri, Nikos Kazanzakis, And‐<br />

reas Papandreou, Pournara, Ritsos, Voutsinas,<br />

Jack Lang. Seine Keramikarbeiten haben einen<br />

Hauch von Zen‐Buddhismus. Sein „Minotaure”<br />

scheint wie aus drei Keramiksträngen gebogen<br />

zu sein, als wären sie den borromäischen Kno‐<br />

ten entsprungen.<br />

Nach seiner Pensionierung entschied sich<br />

Karlos Kambelopoulos nach Griechenland zu<br />

gehen. Denn auch er war die ganze Zeit im<br />

undefinierbaren Exil. Er kaufte sich auf der In‐<br />

sel Kreta ein mittelalterliches Kloster. Venezia‐<br />

nische und arabische Prägungen und Stilele‐<br />

mente wurden mit besonderer Sorgfalt her‐<br />

ausgestellt. In diesem Anwesen sind heute eine<br />

Bibliothek, Atelierräume, Konferenzräume, ei‐


ne Friseurschule, ein Theater, Ausstellungs‐<br />

räume und ein Café untergebracht. Das Anwe‐<br />

sen dient als Ort der Kultur.<br />

Das Kloster trägt den Namen<br />

„Karolos Kloster”, war aber einst unter dem<br />

Namen Santa Maria della Misericordia bekannt.<br />

Aus: Fotini Ladaki: Lacan und sein Friseur, Wien (Passagen)<br />

<strong>2009</strong>, 106 S.<br />

„Der Text versteht sich als schillernde Metapher, die sich an<br />

Lacans Fogaro entzündet und eine Vielzahl von Signifikanten<br />

aufwirbelt, die der fundamentalen Wahrheit des menschlichen<br />

Seins unterliegen.“ (Aus der Ankündigung)<br />

Inhaltsverzeichnis: Einführung - Im Anfang war das Haar -<br />

Hair-regie, Häresie und RSI - Die genichtete Haar-monie - Von<br />

der Kunst Locken auf Glatzen zu drehen - Die Perücken des<br />

Borromäers - Haarscharf den Signifikanten entlang sucht Lacan<br />

einen Salon - Ist die Haar-kur auch eine Kur? - Was Sie immer<br />

haarklein wissen wollten - Die Glatze des Genießens und die<br />

Zöpfe des Begehrens - Das Haar von Objekt klein a zum Ding<br />

erheben - Wo sich immer ein ungeordneter Haufen von Abfällen<br />

findet, gibt es Mensch - Wie Köpfe machen bei den Azephalen?<br />

- Der Figaro von Lacan war ein Selbstgelehrter - Wie<br />

Lacan mit Hellenisieren den Signifikanten des Figaro in die Irre<br />

führte - Non serviam oder Das Ende der Kur - Eine Sardine<br />

im Schönheitsbassin oder Die Parallaxe – Epilog - Das leere<br />

Versprechen - Die leere Geste - Der Figaro von Lacan hat einen<br />

Namen, ein Doppelleben und goldene Hände<br />

‒ Der «Mutter‐Effekt» von Dominique Guyomard<br />

Dominique Guyomard: L’effet‐mère. L’entre mère et fille. Du<br />

lien à la relation, Paris (PUF, Petit Bibliothèque de Psychana‐<br />

lyse) 2010, 212 S., 12 Euro<br />

Die Autorin ist Mitglied einer Gruppe von<br />

Psychoanalytikerinnen (wie Michèle<br />

Montrelay oder Monique Schneider), die sich<br />

mit der Frage des „dunklen Kontinents“ der<br />

Weiblichkeit auseinandersetzen, der bei Freud<br />

noch als Rätsel empfunden wurde. Die Schat‐<br />

tenseite, die in diesem Buch erkundet wird, ist<br />

die der Mutterschaft: Anhand einer Reihe von<br />

Fällen von Patientinnen untersucht die Auto‐<br />

rin mit großer Sorgfalt die Schwierigkeiten des<br />

Mutter‐Seins, das mit Identitäts‐ und narzissti‐<br />

schen Schwierigkeiten verbunden sein kann,<br />

aber auch mit Problemen, die die Analytikerin<br />

als „Fehlschläge der Übertragung“ bezeichnet.<br />

So schreibt sie: „Mütterlichkeit heißt nicht nur<br />

Mutter und Tochter, sondern das ist eine ganze<br />

Geschichte!“ Das Kapitel über den „Baby‐<br />

Blues“ schildert in einfachen Worten, dass<br />

nichts für die Zeit der Niederkunft vorherbe‐<br />

stimmt ist; dieser Augenblick ist einer Art „an‐<br />

gehaltener Zeit“ gleichzusetzen, bevor sich die<br />

werdende Mutter der Phase der mütterlichen<br />

Bindung, d.h. der Mütterlichkeit im eigentli‐<br />

23<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

chen Sinne zuwendet. Die Aktivität der Phan‐<br />

tasien erscheint „gesättigt durch eine erstaun‐<br />

liche Realität“, nämlich die Realität von zwei<br />

Körpern, d.h. der Körper einer gebärenden<br />

Frau und der Körper eines kleinen werdenden<br />

Menschenkinds.“ Denn die in die Mutterschaft<br />

(im Sinne einer Wohnstatt) tretende Frau ist<br />

das Eine, der Austritt aus ihr, ist ein Zweites.<br />

Das mag zu Unrecht eine Banalität sein… Aber<br />

es kommt hier zu einer „psychischen Zeit der<br />

Mutter als einer höchstwichtigen Phase, näm‐<br />

lich dem Mutter‐Effekt. Eine Zeit, die ebenso<br />

einmalig wie vergänglich ist!“ Dort lässt sich<br />

entdecken, wie viele Fallstricke in der mütter‐<br />

lichen Funktion und der Mutterrolle (capacité<br />

maternante) den Weg der Mutterschaft säumen.<br />

Das mündet schließlich und endlich in ein Sta‐<br />

dium, in dem sich die Mutter von einer Schuld<br />

befreien möchte. Geneviève Delaisi de Parseval<br />

Aus: Libération, Livres, vom 25. Februar<br />

2010, S.IV. ‒ Aus dem Französischen von H.‐P.<br />

Jäck.<br />

‒ Federico Fellinis Psychoanalytiker<br />

Der Weg zu den Traumwelten ‐ Federico Fel‐<br />

linis Austausch mit seinem Psychoanalytiker<br />

Ernst Bernhard – Von Regine Igel<br />

Federico Fellini hatte die Gewohnheit, aller‐<br />

lei Zettel mit Notizen in seiner Jackentasche<br />

aufzubewahren. Eines Tages, im Spätsommer<br />

1960, zieht der Regisseur zufällig einen davon<br />

her‐aus, auf dem nur eine Telefonnummer<br />

steht. Die könnte von einer Frau sein. Er wählt<br />

sie an. Doch es antwortet Ernst Bernhard.<br />

Der Mann, der ihm kurze Zeit später die<br />

Tür in der Via Gregoriana No.12, gleich neben<br />

der Piazza Spagna mitten in Rom öffnet,<br />

scheint ihm ein orientalischer Geistlicher zu<br />

sein, ruhig, warmherzig, strahlend. Der schon<br />

weltberühmte Filmkünstler fühlt sich da sofort<br />

heimisch. „Er hörte meinen unzusammenhän‐<br />

genden Bekenntnissen, Träumen und Lügen<br />

zu. Mit einem freundlichen Lächeln, voll liebe‐<br />

voller Ironie. Er wurde zu dem wichtigsten<br />

Menschen in meinem Leben”, erzählt Fellini<br />

Jahre später.<br />

Beide verbindet sofort mehr als nur die<br />

passende Chemie: eine ausgeprägte Sensibilität<br />

für die Welt der Bilder und des Traums, für<br />

das Unbewusste und dessen Grenzbereiche<br />

wie die Parapsychologie und den Spiritismus.<br />

Zwei gebildete Anti‐Intellektuelle entdecken<br />

einander. Fellini ist nur allzu empfänglich für<br />

Bernhards Affinität zum Taoismus, zum I Ging<br />

und zur Yoga‐Philosophie.


Schon der kleine Federico lebte in intensi‐<br />

ven Traumwelten, war von Zauberern, Hexen<br />

und Magiern fasziniert. Am Abend konnte er<br />

es kaum erwarten, ins Bett zu gehen. Die vier<br />

Ecken seines Bettes hatte er nach den Kinos in<br />

Rimini benannt: Fulgor, Savoia, Opera<br />

Nazionale Balilla und Sultano. Die Vorführung<br />

begann, sobald er die Augen schloss.<br />

Doch darüber<br />

sprach er mit niemandem. Vertraute gab es<br />

nicht. Er befürchtete, man würde ihn für ver‐<br />

rückt erklären, und er wollte nicht eingesperrt<br />

werden. War sein Vater, Handelsreisender für<br />

Olivenöl und Salami, einmal zu Hause, ärgerte<br />

der sich, dass sein Sohn zeichnete und nicht<br />

Fußball spielte.<br />

In der Traumanalyse mit Bernhard wird er<br />

sich gewahr, dass das Gefühl der Fremdheit zu<br />

den Eltern keineswegs in allen Familien be‐<br />

steht. Ein Traum:<br />

„Ich war im „Grand Hotel” in Rimini abge‐<br />

stiegen, ging zum Empfang und füllte das<br />

Formular aus, das man mir entgegenstreckte.<br />

Der Portier blickte auf meinen Namen und<br />

sagte: „Fellini? Hier sind schon Leute, die ge‐<br />

nauso heißen”. Er deutete zur Terrasse und<br />

sagte: „Schauen Sie, da sind sie.” Ich schaute.<br />

Es waren mein Vater und meine Mutter. Ich<br />

sagte gar nichts. „Kennen Sie sie?” fragte er<br />

mich. Ich verneinte, und er sagte: „Möchten Sie<br />

sie gern kennen lernen?” Ich sagte noch ein‐<br />

mal: „Nein. Nein, danke.”<br />

Familiäre Verbundenheit findet der Filme‐<br />

macher am Set. Mit Bernhard schüttelt er die<br />

Vorwürfe der Eltern und Lehrer ab. Auch den<br />

Spott der Kinder, die ihm das Gefühl eingru‐<br />

ben, unterlegen zu sein, weil er sich anders<br />

fühlte.<br />

Wohl gab es in der Kindheit Freunde. Ein‐<br />

sam blieb er trotzdem. Fellini lernt, seine<br />

Träume zu beachten, darüber sein Blickfeld zu<br />

erweitern, sie als lebendige Realisierung seines<br />

Selbst zu sehen. Durch die Sitzungen nehmen<br />

„8 ½” und „Julia und die Geister” in seinen<br />

Gedanken Form an: „Die Idee war, das Innen‐<br />

24<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

leben der Protagonisten auf eine Weise zu be‐<br />

handeln, dass das Bewusstsein und das Unbe‐<br />

wusste sich ausbreiten wie Rauchringe.”<br />

Bis zum Tode des Psychoanalytikers im Ju‐<br />

ni 1965 treffen sie sich fast fünf Jahre lang jede<br />

Woche, auch schon mal wie Freunde im Cafe<br />

unten am Platz. Erst 2008 wird das fast 600 Sei‐<br />

ten umfassende Traumtagebuch Fellinis veröf‐<br />

fentlicht. Angeregt von Bernhard, hat er seine<br />

Träume skizziert und kommentiert. Ein kost‐<br />

bares Kaleidoskop nicht nur seiner Seele, Lei‐<br />

den und Gelüste, auch seiner gesellschaftli‐<br />

chen Kreise.<br />

Anders als in deutscher Geisteswelt äußern<br />

sich bekannte Persönlichkeiten in Italien ohne<br />

Scheu öffentlich über ihre Psychoanalyse. So<br />

wie Fellini gegenüber seinen Biographen spra‐<br />

chen auch die Schriftsteller Natalia Ginzburg<br />

und Giorgio Manganelli über Bernhard voller<br />

Wertschätzung.<br />

Doch wer war dieser Magier, der so viele<br />

zum Blühen brachte und ihnen innere Welten<br />

öffnete? Ernst Bernhard emigriert 1936 mit sei‐<br />

ner zweiten Frau von Berlin nach Rom. Mit<br />

sich bringt er die Ideen C.G. Jungs, hält Vor‐<br />

träge über den therapeutischen Effekt der<br />

Traumanalyse und die Unterschiede zu Sig‐<br />

mund Freud. 1940 wird er aus dem Einleben in<br />

Italien abrupt herausgerissen. Die von Musso‐<br />

lini übernommenen Rassegesetze zwingen ihn,<br />

ein Jahr in einem Internierungslager in Kalab‐<br />

rien zu verbringen.<br />

Durch Beziehungen befreit, kann Bernhard<br />

nach Rom zurückkehren. Er erleidet aber einen<br />

plötzlichen Gedächtnisverlust, muss sich ver‐<br />

steckt halten, in einem Verschlag neben der<br />

Wohnung. Dort erfährt er vom Tod des Vaters<br />

in einem Konzentrationslager in Polen und<br />

vom Selbstmord der Mutter in Paris.<br />

Nach Kriegsende melden sich neue Patien‐<br />

ten. Er wird zum Geheimtipp in der römischen<br />

Kultur‐ und Intellektuellenwelt.<br />

Notizen Ernst Bernhards zu seinem Leben<br />

und seine ganz eigenen Gedanken zum „Indi‐<br />

viduationsprozess” werden posthum, auch<br />

übersetzt, in dem kleinen Band<br />

„Mythobiografie” veröffentlicht.<br />

Darin findet sich ein kleines Juwel: ein Es‐<br />

say, wie eine Psychoanalyse mit Italienern ab‐<br />

zuhalten sei. Er fühlte sich heimisch im „Land<br />

der großen Mittelmeer‐Mutter”. „Hier konnte<br />

ich meine preußische Erziehung abstreifen und<br />

jüdisch‐mediterrane Wurzeln aufleben lassen.”


Patienten von Bernhard hörten schon von<br />

der ersten Analysestunde an, dass die Seiten,<br />

die sie in ihrer Persönlichkeit als die problema‐<br />

tischsten, schwierigsten in ihrer Lebensge‐<br />

schichte empfanden sich als Lichtseiten erwei‐<br />

sen können. Daran gelte es, zu arbeiten und<br />

die eigene Individualität wie der zu finden,<br />

den eigenen individuellen Kern. Auch gegen<br />

di Macht des Kollektivs.<br />

Nach dem Tod Bernhard schlägt Fellini sich<br />

zwei Jahr lang mit Albträumen herum, steckt<br />

fest in einer Schaffenskrise. Das geplante Film‐<br />

projekt „Mastorna” wird nie realisiert. Später<br />

dann singt der Regisseur ein Hohelied auf die<br />

Psychoanalyse. Schulfach solle sie werden:<br />

„Denn welches andere Abenteuer könnte so<br />

faszinierend sein wie die Reise in unsere inne‐<br />

ren Dimensionen, die Erforschung des unbe‐<br />

kannten Teils an uns?”<br />

Aus: Frankfurter Rundschau vom<br />

16.‐17. Januar 2010, S.38.<br />

‒ Martin Altmeyer zur Traumaforschung<br />

Martin Altmeyer: Erfrierungen der Seele<br />

Eine Frankfurter Tagung zur Traumaforschung<br />

Kriege, Massenvertreibungen, ethnische<br />

„Säuberungen”, Terroranschläge, Amokläufe,<br />

Folter, Vergewaltigungen, Misshandlungen in<br />

der Familie — Gewalterfahrungen jeder Art<br />

haben neben den körperlichen auch seelische<br />

Folgen. Erschüttert von Empfindungen pani‐<br />

scher Angst, tiefer Verzweiflung und absoluter<br />

Hilflosigkeit werden nicht nur die Opfer, son‐<br />

dern häufig auch diejenigen, die als emotional<br />

teilhabende Zeugen das Geschehen miterleben.<br />

Wenn solche Erschütterungen eine mentale<br />

Belastungsgrenze überschreiten und den inne‐<br />

ren Reizschutz aufheben, wird ein grundle‐<br />

gendes Sicherheitsgefühl verletzt. Dann spre‐<br />

chen wir von einem Psychotrauma, einer seeli‐<br />

schen Verletzung. Psychische Traumatisierung<br />

bedeutet stets einen massiven Zugriff der Au‐<br />

ßen‐ auf die Innenwelt, der tiefe Spuren im Ge‐<br />

füge von Wahrnehmung, Denken und Fühlen<br />

hinterlässt, psychische Funktionen vorüberge‐<br />

hend oder auf Dauer stört und das Vertrauen<br />

zu sich selbst wie zur Umwelt untergräbt.<br />

Mit diesem hochaktuellen Thema beschäf‐<br />

tigte sich eine internationale Forschungskonfe‐<br />

renz, zu der das Frankfurter Sigmund Freud‐<br />

Institut anlässlich seines fünfzigjährigen Be‐<br />

stehens eingeladen hatte. Da außerdem die<br />

1910 gegründete Internationale Psychoanalyti‐<br />

sche Vereinigung ihren hundertsten Geburts‐<br />

25<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

tag feierte und die Konferenz zum zwanzigs‐<br />

ten Mal stattfand, hatte die Wissenschaft vom<br />

Unbewussten gleich dreifachen Anlass, über<br />

„Lange Schatten früher und später Traumati‐<br />

sierungen” zu diskutieren.<br />

In klassischer Weise betrachtete Charles<br />

Hanly (Toronto) bereits die normale frühkind‐<br />

liche Entwicklung als Kumulation traumati‐<br />

scher Verlusterfahrungen – vom Geburtsakt<br />

über die Entwöhnung von der Mutterbrust bis<br />

zum ödipalen Drama. Gegen ein<br />

intrapsychisch reduziertes Traumakonzept er‐<br />

hob Werner Bohleber (Frankfurt) sogleich Ein‐<br />

spruch, während Horst Kächele (Ulm) Hanlys<br />

entwicklungspsychoanalytische Kausalitäts‐<br />

annahme unter Hinweis auf die bei Freud<br />

schon erwogene, von den modernen Kogniti‐<br />

onswissenschaften in‐zwischen bestätigte<br />

„Nachträglichkeit” von Traumakonstruktionen<br />

bestritt.<br />

Traumakonzepte wurzeln ihrerseits in un‐<br />

bewussten Theorien von Psychoanalytikern,<br />

die sie therapeutisch anwenden – diese ebenso<br />

irritierende wie erhellende These demonstrier‐<br />

te Peter Fonagy (London) am Gebrauch von<br />

Metaphern im Traumadiskurs: Das häufig<br />

verwendete Bild vom Trauma als einem „ein‐<br />

gefrorenen” Seelenzustand könnte das Unbe‐<br />

wusste des Therapeuten widerspiegeln, der<br />

angesichts der grauenvollen Realität, von der<br />

der Patient berichtet, in seinem eigenen Den‐<br />

ken und Fühlen (und womöglich auch in sei‐<br />

ner Gestik und Mimik) „einfriert”, weil er<br />

selbst traumatisiert wird.<br />

Dass und wie traumatische Erfahrungen<br />

von Eltern an ihre Kinder weitergegeben wer‐<br />

den, zeigte Bohleber an Psychoanalysen von<br />

Holocaust‐Überlebenden der zweiten Genera‐<br />

tion, die über den Mechanismus der unbe‐<br />

wussten Identifizierung am Schicksal der ers‐<br />

ten Generation teilhaben. Dazu trug Kurt<br />

Grünberg (Frankfurt) ein erschütterndes Fall‐<br />

beispiel aus dem Jüdischen Beratungszentrum<br />

vor, ergänzt durch szenische Videoanalysen<br />

aus Interviews mit hospitalisierten Holocaust‐<br />

Überlebenden (Dorf Laub, Yale; Andreas<br />

Hamburger, München).<br />

Inzwischen thematisieren solche generatio‐<br />

nenübergreifenden Forschungsprojekte nicht<br />

mehr nur die Spätfolgen der Shoah, sondern<br />

auch Gewalterfahrungen, denen Menschen in<br />

totalitären Gesellschaften kommunistischer<br />

Provenienz ausgesetzt waren; so untersuchte<br />

Tomas Plänkers (Frankfurt) mentale Auswir‐


kungen der chinesischen Kulturrevolution.<br />

Und Marianne Leuzinger‐Bohleber, die rühri‐<br />

ge Direktorin des veranstaltenden Freud‐<br />

Instituts, berichtete aus klinischen Langzeit‐<br />

studien, in welcher Weise auch die depressi‐<br />

ven Kinder einer deutschen „Tätergeneration”<br />

noch an den traumatischen Folgen von Natio‐<br />

nalsozialismus und Weltkrieg leiden.<br />

Welche inneren und äußeren Ressourcen<br />

stehen zur Verfügung, um Traumafolgen psy‐<br />

chisch zu bewältigen? Für diese von der For‐<br />

schung als „Resilienz” bezeichnete Bewälti‐<br />

gungskompetenz haben sich soziale Bindungs‐<br />

erfahrungen als entscheidend erwiesen. Eine<br />

Erkenntnis, über deren heilsamen Nutzen für<br />

die sekundärpräventive Katastrophenpsycho‐<br />

logie und ‐psychiatrie Sverre Varvin (Oslo) be‐<br />

richtete: neben der medizinischen Versorgung<br />

seien die persönliche Zuwendung und die<br />

Schaffung einer sicheren Umgebung für die<br />

Betroffenen überlebenswichtig.<br />

Am Ende ließ der Primatenforscher Ste‐<br />

phen Suomi (Bethesda) seine Rhesus‐Affen<br />

buchstäblich vorführen, wie „gute Bemutte‐<br />

rung” eine innere Sicherheit vermittelt, die vor<br />

Gefahren der Außenwelt schützt, die Expressi‐<br />

on „schlechter” Gene unterdrückt und sogar<br />

dazu beitragen kann, dass das Sicherheitsge‐<br />

fühl als traumaimmunisierendes Erbe epigene‐<br />

tisch an die nächste Generation weitergegeben<br />

wird.<br />

Offen blieb dabei, ob dieses aus dem Sozi‐<br />

algefüge einer uns nahe verwandten Tiergat‐<br />

tung gewonnene Wissen auch einer Men‐<br />

schenwelt nützt, die rapide zusammenwächst,<br />

zugleich jedoch aus den Fugen zu geraten<br />

droht: Ist eine globale Traumavorbeugung<br />

durch interkulturelle Bindungen und gemein‐<br />

sam geschaffene Sicherheitsverhältnisse denk‐<br />

bar?<br />

Aus: Frankfurter Rundschau vom 11. Februar<br />

2010, S.31.<br />

‐ Liebe auf der Couch<br />

Frauke Haß: „Als ob es plötzlich Liebe wäre”<br />

Zwölf Prozent der männlichen Psychotherapeuten räumen sexu‐<br />

elle Kontakte zu Patientinnen ein / Schwere Traumata bei den<br />

Missbrauchten sind die Folge<br />

Edith war am Ende. „Ich konnte keine Be‐<br />

ziehung eingehen, 30 hatte Angst, vor Leuten<br />

zu sprechen. Warum? Meine Mutter wurde<br />

jahrelang missbraucht und en konnte meine<br />

Nähe nicht ertragen. So wurde aus mir ein<br />

26<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

traumatisiertes Kind.” Dann kam der Tag, en<br />

an dem etwas passieren musste.<br />

Edith (Name von der Red. geändert) wand‐<br />

te sich bedürftig und verzweifelt im Sommer<br />

2004 an einen Therapeuten — zunächst mit Er‐<br />

folg: „Keiner verstand mich, so wie er, er gab<br />

mir Sicherheit und Rückhalt und ich übertrug<br />

meine Sehnsucht auf ihn.” Schon nach weni‐<br />

gen Monaten Therapie an ging es Edith deut‐<br />

lich besser. Sie begann sogar das Studium, das<br />

sie sich rund 15 Jahre zuvor — nach dem Abi‐<br />

tur — nicht zugetraut hatte. „Und dann lag ich<br />

auf einmal mit ihm auf der Couch. Als ob es<br />

plötzlich Liebe wäre.”<br />

Warum nicht, könnte man denken. Und als<br />

Laie vermuten, dass an so etwas nun einmal<br />

vorkommen kann: Dass sich auch ein Thera‐<br />

peut in eine Patientin, ein Patient in seine The‐<br />

rapeutin verlieben kann. Oder?<br />

Kann schon, sagt die Psychotherapeutin<br />

und ‐analytikerin Monika Becker‐Fischer. Aber<br />

dann komme es darauf an, wie man damit<br />

umgeht. „Es darf dann nicht zur sexuellen<br />

Handlung kommen, und die Gefühle müssen<br />

therapeutisch bearbeitet werden”, erläutert Be‐<br />

cker‐Fischer. „Denn einer therapeutischen Si‐<br />

tuation unterliegt auch immer ein Machtver‐<br />

hältnis, weil sich die Patientin ja immer aus ei‐<br />

ner hilflosen Lage heraus an den Therapeuten<br />

wendet. Wenn dieser das Machtgefälle zu ei‐<br />

gennützigen Zwecken ausnutzt, ist das Miss‐<br />

brauch”, befindet die Autorin des Buchs „Se‐<br />

xuelle Übergriffe in Psychotherapie und Psy‐<br />

chiatrie”. Das Buch fußt auf den Ergebnissen<br />

einer Studie, die Becker‐Fischer mit ihrem<br />

Mann Gottfried Fischer im Auftrag des Bun‐<br />

desfamilienministeriums Mitte der 90er Jahre<br />

vornahm. Sie sorgte schließlich 1998 für eine<br />

Strafgesetzänderung: Therapeuten, die sich an<br />

ihren Patientinnen vergreifen, droht nun eine<br />

Gefängnisstrafe von bis zu fünf Jahren.<br />

„Aber leider gilt als sexuelle Handlung im<br />

juristischen Sinn nur die Spannbreite vom Be‐


ühren erogener Zonen bis zum sexuellen Akt<br />

an sich”, kritisiert Becker‐Fischer. „Missbrauch<br />

in der Therapie ist aber viel weiter zu fassen.<br />

Es reicht schon, wenn der Therapeut — zu 90<br />

Prozent verursachen männliche Therapeuten<br />

die Übergriffe — eine private Beziehung ein‐<br />

geht, und so seine Interessen in den Vorder‐<br />

grund stellt. Das ist emotionaler Missbrauch.”<br />

Welch fatale Folgen solch unprofessionelles<br />

Verhalten haben kann, hat Mathilde S. (Name<br />

geändert) erlebt, die sich in ihren Therapeuten<br />

verliebte und ihm das nach wochenlangem ge‐<br />

genseitigem Flirt schließlich gestand — was<br />

die Therapie sofort beendete. „Er sagte, dass<br />

aus uns natürlich nichts werden könne, wegen<br />

des Arzt/Patienten‐Verhältnisses. Es sei mög‐<br />

lich, dass wir uns in einigen Wochen mal auf<br />

einen Kaffee irgendwo treffen könnten. Er ver‐<br />

sprach, dass wir uns wiedersehen würden:<br />

„Ich halte mein Wort!ʹ Vier Wochen vergingen,<br />

und ich schrieb ihm mehrmals. Aber es kam<br />

keine Antwort. Ich war inzwischen wieder in<br />

meiner Depression, fühlte mich verlassen und<br />

ausgenutzt, war einfach nur verwirrt. Ich<br />

schrieb ihm von meiner Verzweiflung und<br />

auch von den Selbstmordgedanken, aber er re‐<br />

agierte nicht mehr.”<br />

Obwohl der Therapeut offenbar selbst<br />

kaum aktiv wurde, hätte er Monika Becker‐<br />

Fischer zufolge seine Patientin auf keinen Fall<br />

allein lassen dürfen. „Wenn er merkt, dass sich<br />

ein Interesse an der Patientin regt, muss er auf<br />

jeden Fall eine Supervision machen und seine<br />

Gefühle klären, bei Bedarf das Geschehene in<br />

einer eigenen Therapie aufarbeiten.” Die The‐<br />

rapie abzubrechen, sei meist richtig. „Aber er<br />

muss seine Patientin an einen anderen Thera‐<br />

peuten vermitteln. Er darf sie nicht einfach fal‐<br />

len lassen, sonst ist sie doppelt verlassen: Ihre<br />

Hoffnung auf Heilung und auf eine private<br />

Beziehung werden enttäuscht.”<br />

Wie bei Mathilde, die in der Folge fürchter‐<br />

lich litt: „Er wusste ja, wie schwer ich mich mit<br />

Vertrauen tue, wie oft ich in meinem Leben be‐<br />

reits im Stich gelassen wurde. Und gerade er<br />

reißt diese Wunde wieder auf. Für mich ging<br />

es von da an stetig bergab. Ich war wieder sehr<br />

depressiv und ich konnte meinen Alltag nicht<br />

mehr bewältigen. Ich habe dann meine Schule<br />

abgebrochen, bin wieder zurück zu meinen El‐<br />

tern gezogen. Ich habe mich vollkommen von<br />

der Welt abgeschottet, und es hat eineinhalb<br />

Jahre gedauert, bis ich nicht mehr jede Nacht<br />

geweint habe.”<br />

27<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

Drei von vier Missbrauchsopfern in der<br />

Therapie sind traumatisiert, hat Christiane Ei‐<br />

chenberg, Psychologin an der Uni Köln und<br />

Autorin einer aktuellen Studie zum Thema<br />

(PPmP, Band 59, S.337‐344, <strong>2009</strong>) herausge‐<br />

funden. Symptome seien: emotionaler Rück‐<br />

zug, Misstrauen, Depression, Schlaf‐ und Kon‐<br />

zentrationsstörungen, Selbstmordgedanken,<br />

Angst. „Bei 60 Prozent der von ihr 77 im Inter‐<br />

net Befragten verstärkten sich die Beschwer‐<br />

den, wegen derer sie in Therapie gegangen<br />

waren, bei 60 Prozent kamen neue Symptome<br />

hinzu.” Eichenberg empfiehlt, schon frühzeitig<br />

auf Warnsignale zu reagieren.<br />

Eine Grenzüberschreitung sei es schon,<br />

wenn der Therapeut von seinem Privatleben<br />

berichte, „Termine in die Abendstunden legt,<br />

häufig anruft, Stunden überzieht, die Patientin<br />

bittet, auf die Kinder aufzupassen, mit ihr ins<br />

Restaurant geht”.<br />

Der Therapeut sei aus Sicht der Patientin<br />

eine Elternperson, an die sich das hilflose Kind<br />

in seiner Not wende: „Deshalb ist der Miss‐<br />

brauch so traumatisch wie für ein Kind”, sagt<br />

Becker‐Fischer, „sein Vertrauen wird zutiefst<br />

erschüttert.”<br />

Anders als bei Mathilde war Ediths Bezie‐<br />

hung zu ihrem Therapeuten ausgeprägt sexua‐<br />

lisiert: „Wir haben uns monatelang regelmäßig<br />

getroffen und wurden immer intim.” Ange‐<br />

fangen habe alles ganz subtil. „Er hat mir sug‐<br />

geriert, ich würde meine Sexualität in der Ehe<br />

nicht ausleben und dass meine Ängste damit<br />

zusammenhingen.” Den Sex lieferte er dann<br />

gleich selbst. Die Zudringlichkeiten des Thera‐<br />

peuten sorgten zunächst einmal dafür, dass<br />

Edith abstürzte und Psychopharmaka brauch‐<br />

te: „Es ging mir richtig schlecht: Ich stand vor<br />

dem Spiegel und sagte mir: Es kann doch nicht<br />

sein, dass ein Arzt so etwas tut.” Und dann:<br />

„Du hast Dich prostituiert und wirst mit Tab‐<br />

letten bezahlt.”<br />

Erst nach Monaten und einer Recherche im<br />

Internet wurde Edith so richtig klar, „dass ein<br />

Therapeut das nicht darf”. Sie stellte ihn zur<br />

Rede und er rief die Polizei, weil sie sich wei‐<br />

gerte zu gehen. „Er sagte mir, ich hätte einen<br />

Schizophrenie‐Schub gehabt, um mir zu sug‐<br />

gerieren, ich sei verrückt, und mir glaube ja<br />

sowieso keiner. Das Schlimme ist: Ich fühlte<br />

mich ja auch total verrückt.” Am nächsten Tag<br />

ging sie in die Psychiatrie statt zur Polizei.<br />

Ein Einzelfall? Keineswegs. Befragungen<br />

zufolge gibt fast jeder neunte männliche The‐


apeut zu, schon einmal mit einer Patientin in‐<br />

tim gewesen zu sein, betont Eichenberg.<br />

Triebfedern der meisten regelmäßig miss‐<br />

brauchenden Therapeuten sind laut Becker‐<br />

Fischer Wunscherfüllung oder Rache. Vieles<br />

spreche dafür, „dass bei bestimmten Thera‐<br />

peuten in der Begegnung mit sexuell ausge‐<br />

beuteten Patienten eigene Traumata aus der<br />

Kindheit reaktiviert werden”. Viele seien Wie‐<br />

derholungstäter, älter, sehr erfahren, „sie sit‐<br />

zen oft in Führungspositionen, sind Lehrthe‐<br />

rapeuten oder gar <strong>Mitglieder</strong> von Ethikkom‐<br />

missionen.”<br />

Möglich ist das nur wegen der begleitend<br />

auftretenden Persönlichkeitsspaltung: „Der er‐<br />

fahrene, oft renommierte Therapeut realisiert<br />

nicht, was seine andere Seite Stunden später<br />

mit der Patientin auf der Couch macht. Es ist<br />

ihm nicht unbewusst, aber er kann das nicht<br />

zusammenführen.”<br />

Es sei alarmierend, dass Traumatisierungen<br />

der angehenden Therapeuten in deren Lehr‐<br />

therapien offenbar nicht oft genug auffallen,<br />

sagt Becker‐Fischer: Viele hätten Angst, dass<br />

sie nicht Therapeut werden können, wenn sie<br />

zu‐geben, dass sie Schlimmes erlebt haben.<br />

„Die Ausbildungsinstitute müssen hier auf‐<br />

merksamer werden.” Doch Becker‐Fischer<br />

kennt viele schwarze Schafe unter den Institu‐<br />

ten: „Man weiß, dass Grenzüberschreitungen<br />

dort an der Tagesordnung sind”.<br />

Auch Eichenberg berichtet von einem Fall,<br />

wo der Lehranalytiker „mit einer Lehranaly‐<br />

sandin et‐was angefangen hat: Als sie sich<br />

verwirrt an einen Kollegen wandte, empfahl<br />

der ihr, das Institut zu wechseln.” Ärgerlich<br />

nennt sie das: „So wird verschleiert.”<br />

Becker‐Fischer fordert deshalb dringend,<br />

„eine bessere Aufklärung des gesamten Be‐<br />

rufsstandes der Psychotherapeuten und Psy‐<br />

choanalytiker, eine Sensibilisierung für grenz‐<br />

wertiges Verhalten und klare Regeln, was zu<br />

tun ist, sobald man vom Missbrauch im Kolle‐<br />

genkreis erfährt”. Außerdem appelliert sie an<br />

ihre Kollegen, Patientinnen, die von sexuellem<br />

Missbrauch in der Therapie berichten, künftig<br />

mehr Glauben zu schenken.<br />

Wie Edith, der von ihrer Folgetherapeutin<br />

so lange zugesetzt wurde, bis sie ihren Thera‐<br />

peuten vor Gericht entlastete und prompt<br />

wieder in ein Verhältnis mit dem Mann rutsch‐<br />

te. Sie brauchte vier Monate in einer Klinik, bis<br />

sie wie‐der Lebensfreude empfinden konnte.<br />

„Man muss den Täter zwingen, Verantwor‐<br />

28<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

tung zu über‐nehmen, seine eigenen Traumata<br />

aufzuarbeiten. Ich habe zu lange gedacht, ich<br />

könnte ihn mit meiner kindlichen Liebe heilen,<br />

aber das ist Schwachsinn.”<br />

Monika Becker‐Fischer, Gottfried Fischer: Sexuelle Übergriffe<br />

in Psychotherapie und Psychiatrie, Asanger Verlag 2008, 222<br />

Seiten<br />

Bei Befragungen von Psychotherapeuten, ob sie in ihrem Leben je<br />

sexuelle Kontakte zu Patienten hatten, bejahen das rund zwölf<br />

Prozent der männlichen Therapeuten und etwa drei Prozent der<br />

weiblichen Therapeuten, so die Psychotherapeutin Monika Becker-<br />

Fischer. US-Haftpflichtversicherer schätzen, dass rund 20 Prozent<br />

der Therapeuten mindestens einmal in ihrer Laufbahn sexuelle Intimitäten<br />

mit Patienten aufnehmen. „Wir gehen davon aus, dass<br />

mindestens zehn bis 20 Prozent der Patientinnen mindestens einmal<br />

Opfer von sexuellem Missbrauch sind”, so Becker-Fischer. 90<br />

Prozent der missbrauchen-den Therapeuten seien Männer. In einer<br />

Studie der Psychologin Christiane Eichenberg, die auf der Forschung<br />

Becker-Fischers fußt, gaben fast 30 Prozent der Befragten<br />

an: „Die Täter waren Frauen.”<br />

Fast immer seien die Täter selbst traumatisiert. Hier gibt es<br />

zwei Tätertypen:<br />

Rache steht bei einem Teil der Täter im Vordergrund: „Er<br />

wehrt sein Kindheitstrauma ab, indem er sich mit dem damaligen<br />

Täter identifiziert und schützt sich so vor der Erinnerung an die<br />

eigene Hilflosigkeit und Ohnmacht”, so Becker-Fischer. Ihn beherrsche<br />

die Wunschphantasie des Allmächtigen, der nie in eine verletzende<br />

Lage geraten kann. Deshalb meidet er intensivere Beziehungen.<br />

Eichenberg zufolge neigt er zu Gewalt.<br />

Der Wunscherfüllungstypus verwickelt die Patientin in eine<br />

exklusive Zweierbeziehung und teilt mit ihr die Phantasie, dass<br />

nur er sie retten kann. Im Gegenzug rutscht er allmählich selbst in<br />

die Rolle des Hilfsbedürftigen und macht die Patientin zu seinem<br />

Rettungsengel - sexuelle Hilfeleistung inbegriffen.<br />

Nicht immer müssen laut Becker-Fischer Traumata bei den<br />

Tätertherapeuten zugrunde liegen: Machtbedürfnisse, sadistische<br />

Neigungen oder auch Naivität und Unerfahrenheit seien in einzelnen<br />

Fällen Hintergrund der Taten.<br />

Mit Haft bis zu fünf Jahren können Therapeuten belegt werden,<br />

die sexuelle Kontakte mit Patienten haben. Das steht seit 1998<br />

im Strafgesetzbuch. Eichenbergs Studie belegt: „Die meisten Betroffenen<br />

wissen nichts von dem Gesetz.”<br />

Missbrauch in der Therapie muss dringend in den Lehrplan<br />

der Psychotherapeuten-Ausbildung, fordert Eichenberg. An Beispielen<br />

müsse Patienten per Handzettel klar gemacht werden, welches<br />

Verhalten unethisch und welches in Ordnung sei. Auch fehle in<br />

Deutschland eine Anlaufstelle nach dem Vorbild der Lizenzbehörden<br />

in den USA. fra<br />

Eine Infobroschüre gibt es im Internet: www.<br />

bmfsfj.de/Kategorien/Publikationen/Publikationen,did=25588.html<br />

Aus: Frankfurter Rundschau vom<br />

23.‐24. Januar 2010, S.14‐15.<br />

‒ Pierre‐Henri Castel: Krankheit des Geistes<br />

Manche reduzieren den Wahnsinn auf eine neuronale<br />

Disfunktion. Andere sehen sie in Beziehung zur Macht. Einen dritten<br />

Weg schlägt Pierre-Henri Castel in einem subtilen Essai vor.<br />

Pierre‐Henri Castel: L’Esprit malade ‒ Cerveaux, folies, indivi‐<br />

dus, Paris (Ithaque «Philosophie, anthropologie, psychologie»)<br />

2010, 353 S., 25 Euro<br />

Das neue Buch des Philosophen und Psy‐<br />

choanalytikers Pierre‐Henri Castel leitet eine<br />

neue Reihe im Verlag Ithaque ein, und zwar in<br />

jeglicher Beziehung: es ist hierzu das erste<br />

Werk, doch man könnte auch glauben, dass es<br />

den Beginn eines neuen Stils in der französi‐<br />

schen Philosophie des Geistes ankündigt. Zu‐<br />

nächst allerdings scheint diese Essai‐<br />

Sammlung mit dem Titel L’Esprit malade nur


der Versuch einer erneuten und unendlichen<br />

Aufklärung über eine Tautologie zu sein, was<br />

sich folgendermaßen zusammenfassen ließe:<br />

im Falle der «mentalen Krankheit» ist … das<br />

Mentale krank»; oder, wenn man das lieber<br />

hört: der Geist. Das ist sicherlich eine Tautolo‐<br />

gie, aber nichts weniger als evident!<br />

Denn diese These steht der herrschenden<br />

Position in den Neurowissenschaften konträr<br />

gegenüber, für die der Geist nichts weiter als<br />

ein Ensemble neuronaler Aktivitäten ist.<br />

Castels These lehnt zugleich aber auch die<br />

umgekehrte, einschränkende Hypothese ab,<br />

die im Wahnsinn die Wirkung der gesell‐<br />

schaftlichen Macht sieht und die gesamte Psy‐<br />

chiatrie als Pseudo‐Wissenschaft geißelt, die<br />

nichts weiter tue als «die Geisteskrankheit …<br />

als einen Gegenstand zu reproduzieren, auf<br />

den sie ihre normative Kraft ausüben kann».<br />

Hier stellt sich der Autor explizit gegen Michel<br />

Foucault und nimmt ihm gegenüber eine be‐<br />

merkenswert deutliche Gegenposition ein.<br />

Nach Castel müsste man dagegen «die Fra‐<br />

gen einer Philosophie des Geistes auf den Ar‐<br />

beitstisch der Psychiater legen» und das «Men‐<br />

tale» als solches in seinem theoretischen und<br />

praktischen Zusammenhang verstehen, der<br />

sich zwischen dem Zerebralen und der sozia‐<br />

len Einbettung des Subjekts abspielt. Es ist si‐<br />

cherlich, den Geist mit dem Gehirn gleichzu‐<br />

setzen. Doch umgekehrt darf man aber auch<br />

nicht glauben, dass die Mentalitäten und die<br />

Vorstellungen «wie der Geist Gottes über den<br />

Wassern des Realen» der neuro‐biologischen<br />

Mechanismen schweben. Das Buch lässt sich<br />

demnach kurz so zusammenfassen: L’Esprit<br />

malade «versucht beide Enden einer Kette zu‐<br />

sammenzuhalten; es bewegt sich zwischen ei‐<br />

nem molekularen und genetischen Determi‐<br />

nismus und dem Leben als einer Beziehung<br />

der Menschen untereinander.»<br />

Die Gelehrsamkeit und die Subtilität, mit<br />

denen der Autor dieses Forschungsprogramm<br />

entfaltet, sind stupend. Man denke nur an das<br />

erste Kapitel, das Tierbeispiele untersucht, die<br />

in der Bio‐Psychiatrie benutzt werden, um die<br />

rein organischen Ursprünge bestimmter<br />

menschlicher Pathologien zu erklären. Oder an<br />

den Essai über das Gilles‐de‐la‐Tourette‐<br />

Syndrom. Oder auch an die packende Umwer‐<br />

tung der Debatte über die komplexen Mecha‐<br />

nismen, die bei den Schizophrenen «die nor‐<br />

male Vorstellung, sich selbst zu sein» und das<br />

Bewusstsein hemmen, der Autor der eigenen<br />

29<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

Handlungen zu sein, die dann wiederum der<br />

erschreckenden Erfahrung ausgesetzt sind,<br />

dass man durch einen Anderen «zur Tat ge‐<br />

trieben» wird.<br />

Doch wohl am besten zeigt sich die Metho‐<br />

de des Autors in dem Kapitel mit dem Titel<br />

«Die nicht zu verbergende Scham». Er geht hier<br />

zunächst von einer in gewissem Sinne natura‐<br />

listischen Position aus, die die Scham, diesen<br />

eminent moralischen Affekt, auf bloßes psy‐<br />

chobiologisches Verhalten zurückführt, das<br />

seinen Ursprung im «Unterwürfigkeitsverhal‐<br />

ten» der Primaten besitze. Danach untersucht<br />

er einige ziemlich reduktionistischen Entwick‐<br />

lungen dieser These, die sich abmühen, die<br />

Scham auf einen rein neurophysiologischen<br />

Mechanismus zurückzuführen ‒ der z.B. mit<br />

der Schwankung des Serotoninspiegels zu‐<br />

sammenhängt. Ganz nebenbei lässt Castel da‐<br />

bei durchblicken, dass, wenn man an einer sol‐<br />

chen Erklärung festhält, man die gesamte Be‐<br />

deutung des Begriffs ‚Scham‘ entleert, der<br />

doch, ob man will oder nicht, ein Teil unserer<br />

Sprache ist und darin sogar eine höchst zentra‐<br />

le Stelle einnimmt. «Alles in allem: wenn die<br />

natürlichen Bedingungen die Scham determi‐<br />

nieren würden, dann gäbe es an sich keine<br />

Scham, über die man sich zu schämen brauch‐<br />

te!» Es würde nichts nützen, wenn man zum<br />

Beispiel alles, was uns die Ethnologie und die<br />

Neurobiologie an Hinweisen über unsere Ge‐<br />

fühle erbringen, strikt abweisen würde. Und<br />

wenn man dieses Wissen über die tatsächli‐<br />

chen Wirkungen dieses Begriffs nicht einer<br />

gründlichen logischen und linguistischen Un‐<br />

tersuchung unterzöge, käme das einem Ver‐<br />

zicht gleich zu begreifen, «welche Funktion ich<br />

der Scham in meinen Interaktionen mit meinen<br />

Mitmenschen, oder, noch schlimmer, in mei‐<br />

nem eigenen moralischen Bewusstsein beimes‐<br />

sen muss».<br />

Man versteht nun, dass Castel auf einem<br />

dünnen Seil balanciert. Denn er zwingt sich<br />

zum einem zur Analyse einzelner Gegen‐<br />

standbereiche und zugleich auch zur Analyse<br />

eines Netzes von Begriffen, die äußerst ver‐<br />

schiedenen Faktoren entstammen: rein materi‐<br />

alistische Kausalitäten, die die mentalen Stö‐<br />

rungen an neurologischen Dysfunktionen<br />

festmachen (und hier vermutlich an ihren<br />

Wurzeln in der Evolutionsbiologie); das logi‐<br />

sche, von Klinikern erstellte Klassifikationssys‐<br />

tem der Symptome; die «Grammatik» (im Sinne<br />

Wittgensteins), nach der die Klagen der Patien‐


ten ausgedrückt werden; die kollektiven sym‐<br />

bolischen Systeme, mit denen sich die Kranken<br />

herumschlagen und über die wiederum andere<br />

(und hier vor allem die Therapeuten) ihren<br />

«Deutungen» Sinn zu geben versuchen; oder<br />

auch die sozialen Institutionen, die diese Be‐<br />

ziehungen regeln und die die Sprechakte kon‐<br />

stituieren.<br />

Das ist ein riesiges Unterfangen. Es geht<br />

demnach nicht nur um eine strenge Theorie,<br />

sondern auch um die Wirksamkeit, ja sogar<br />

um die Ethik der Behandlung. Wenn man<br />

glaubt, das psychische Leiden sei nur der äu‐<br />

ßere Ausdruck substanzieller Veränderungen<br />

in den Nervenbahnen, dann würde man den<br />

Wahnsinnigen auf sein Gehirn reduzieren und<br />

völlig vergessen, auf seine Stimme, auf sein<br />

Wort zu hören und damit «den machtvollen<br />

Ruf in der psychotischen Erfahrung glattho‐<br />

beln». Sieht man aber, umgekehrt, in der «An‐<br />

kündigung eines Wahns» nur Wirkungen ge‐<br />

sellschaftlicher Kräfte und Mächte, wie das in‐<br />

nerhalb einer bestimmten Foucault’schen Or‐<br />

thodoxie getan wird, dann würde das verken‐<br />

nen, dass die Psychiatrie eben nicht ausschließ‐<br />

lich durch soziale oder politische Normen be‐<br />

stimmt, wenn nicht durch diese sogar manipu‐<br />

liert ist: Sie trägt auch zur Konstruktion wis‐<br />

senschaftlicher Normen bei. Beide symmetri‐<br />

schen Irrtümer, so Castel, verkennen den Sinn,<br />

den die Hauptakteure ihren Handlungen bei‐<br />

messen.<br />

Das Ineinander so vieler Disziplinen und<br />

Hilfskonstruktionen machen die Gedanken‐<br />

gänge des Buches manchmal zu einem regel‐<br />

rechten Labyrinth und die Lektüre wird von<br />

daher oft anstrengend und erfordert große<br />

Geduld, auch wenn Castels Diskurs dabei<br />

niemals in der Sackgasse einer Konfusion lan‐<br />

det. Ganz im Gegenteil: seine Darlegungen<br />

sind meist treffend, oft auch langatmig, sie<br />

finden aber zu dem ihnen innewohnenden Zu‐<br />

sammenhang in der Art und Weise, wie er be‐<br />

harrlich bestimmte zentrale traditionellen<br />

Probleme der reinen Philosophie herausarbei‐<br />

tet, die er zugleich neu denkt. So etwa auch die<br />

alte Frage des Zusammenhangs von Körper<br />

und Geist (der neuerdings im Angelsächsi‐<br />

schen unter dem Begriff «mind‐body‐problem»<br />

fungiert), die Natur des Selbstbewusstseins<br />

oder auch der Zusammenhang von Denken<br />

und Sprache. Das lässt sich nicht besser als in<br />

den Worten von Henri‐Pierre Castel selbst<br />

formulieren: wenn «die Menschheit ein fortge‐<br />

30<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

setztes Experiment ist», wie er schreibt, dann<br />

ist das auch der Fall mit der wirklichen Philo‐<br />

sophie. Stéphane Legrand<br />

Aus: Le monde des livres vom 12. Februar<br />

2010, S.6. ‒ Aus dem Französischen von H.‐P.<br />

Jäck.<br />

‒ Slavoj Žižeks neue Sicht auf den Kapitalismus<br />

Éric Aeschimann: Slavoj Žižek und der Aus‐<br />

weichschritt des Kommunismus ‐ Die Affäre<br />

Madoff, der chinesische Boom… der slovenischePhilosoph<br />

wirft einen schrägen Blick auf den Kapitalismus und entdeckt<br />

dessen fetischistischen Kern<br />

Slavoj Žižek: Après la tragédie: la farce! ou comment<br />

l’histoire se répète, Paris (Flammarion, Bibliothèques<br />

des savoirs) 2010, 141 S., 20 Euro<br />

Der slovenische Philosoph und Neo‐<br />

Kommunist Slavoj Žižek ist allseits wegen sei‐<br />

ner Witzchen bekannt, mit denen er seine Vor‐<br />

träge und Bücher krönt. Aber ein wenig sind<br />

es inzwischen immer dieselben, endlos taucht<br />

dabei der allgemeine Gedanke von der umge‐<br />

kehrten Welt immer wieder auf: dass eine Sa‐<br />

che ohne Weiteres in ihr Gegenteil umschlagen<br />

kann. Auch in seinem neuen Buch «Après la<br />

tragédie, la farce!» greift er die alte Anekdote<br />

vom Fetisch (ohne sie, wie wir noch sehen<br />

werden, kindisch zu finden!) wieder auf, wo‐<br />

nach sich ein Gast überrascht zeigt, als er ein<br />

Hufeisen an der Eingangstür des Landhauses<br />

des berühmten Physikers findet, der ihm na‐<br />

türlich sagt, dass er keinesfalls abergläubisch<br />

sei, aber: «Ich habe mir sagen lassen, dass das<br />

trotzdem wirkt, auch wenn man nicht daran<br />

glaubt!» So gehe das, nach Meinung von Žižek,<br />

auch mit dem Kommunismus: niemand glaubt<br />

mehr daran, aber es könnte vielleicht dennoch<br />

funktionieren!<br />

Žižek ist von seiner Ausbildung her<br />

Lacanianer; sein Doktorvater war Jacques‐<br />

Alain Miller. Der Glaube ist für ihn der Eck‐<br />

stein des menschlichen Geistes, das<br />

alleranfänglichste Begehren, das die Wünsch<br />

zu Worten werden lässt, ihnen Gestalt und<br />

Kraft verleiht. Es ist gerade der Zyniker, der an<br />

nichts glaubt, der sich täuscht ‒ wie etwa Hen‐<br />

ry Kissinger, der sich im Sommer 1991 mit den<br />

Putschisten gegen Gorbatschow treffen wollte,<br />

und nicht wissen konnte, dass dieser Putsch<br />

nach drei Tagen jämmerlich in sich zusam‐<br />

menbrach. «Als die sozialistischen Regime mehr<br />

tot als lebendig waren, glaubte dieser Kissinger, ei‐<br />

nen langfristigen Pakt mir ihm eingehen zu kön‐<br />

nen! […] Die Zyniker sind die „non‐dupes qui<br />

errent“; ihnen entgeht der symbolische Effekt der<br />

Illusionen. […] Was ihnen entgeht, ist ihre eigene


Naivität.» Diese Art von Umkehrung ist die Il‐<br />

lustration eines Ausspruchs von Lacan, der<br />

genauso berühmt wie dunkel ist: «le non‐dupe<br />

erre!» ‒ «le nom‐du‐père».<br />

Ein Lacanianer als Kommunist? Alain Ba‐<br />

diou hat schon diese «Hypothese über den<br />

Kommunismus» aufgestellt 32 und Žižek nimmt<br />

den Ball nochmals auf, kehrt aber den Sinn um<br />

und macht daraus ein leeres Feld: Nach Žižek<br />

ist der Kommunismus eine Art Idee vom<br />

«Notausstieg», der sich anhand von vier Prob‐<br />

lemen des heutigen Kapitalismus stellt, sog.<br />

«vier Antagonismen»: ökologische Bedrohung,<br />

Einbahnstraße des geistigen Eigentums, Gen‐<br />

manipulation und, zuletzt, die Vervielfälti‐<br />

gung von Mauern und territorialen<br />

Segregierungen. Alle vier werfen die Frage<br />

nach dem „gemeinen“, dem „communis“ auf,<br />

d.h. nach dem, woraus der Mensch wirklich<br />

besteht, was seine «Substanz» ausmacht (Ran‐<br />

cière nennt das «le sensible»). Der Kapitalismus<br />

neigt demnach dazu, die Substanz zu privati‐<br />

sieren: «Die Wiederbelebung des Begriffs Kommu‐<br />

nismus […] erlaubt es, den „Ausschluss“ als einen<br />

Proletarisierungsprozess all jener zu verstehen, die<br />

ihrer eigenen Substanz beraubt sind.»<br />

Bei Žižek erscheint der Kommunismus als ei‐<br />

ne Art Dezentralisierung des Blicks, eine «Pa‐<br />

rallaxe», um den Titel seines letzten Buches<br />

aufzugreifen. 33 Eine Art Ausfallschritt, die ihn<br />

verschiedene Figuren in anderem Lichte be‐<br />

trachten lässt, deren widersprüchliche Struktu‐<br />

ren er dann enthüllen kann. So kann er die Fi‐<br />

nanzkrise, die Affäre Madoff, das Marketing<br />

von Starbucks, den chinesischen Boom oder<br />

auch die Erinnerungen an einige ehemaligen<br />

amerikanischen Präsidenten kommentieren.<br />

Dabei sind die Verkettungen rein assoziativ<br />

und zufällig, alles erscheint wie ein Spazier‐<br />

gang durch einen Freizeitpark, der einem nur<br />

die einzige Sicherheit bietet, alles sei bloßer<br />

Schein.<br />

So kann Žižek schreiben, dass Nixon «der<br />

letzte authentisch‐tragische US‐Präsident war […].<br />

Ein Schurke, doch ein Schurke als Opfer der Kluft,<br />

die seine Ideale und seinen Ehrgeiz von der Realität<br />

und seinen wirklichen Taten trennte». Er be‐<br />

schreibt Reagan als einen «post‐ödipalen […],<br />

postmodernen […] Teflon‐Präsidenten», von dem<br />

32 Alain Badiou/Slavoj Žižek, L‘Idée du communisme; ein<br />

Sammelband mit Beiträgen von Rancière, Nancy, Negri,<br />

Hardt, Vattimo u.a. über eine Tagung vom <strong>März</strong> <strong>2009</strong> in London;<br />

Édition Lignes, 336 S., 20 Euro.<br />

33 Fayard 2008.<br />

31<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

man nicht glauben sollte, er «klebe» an seinem<br />

Programm und sei jeder Kritik gegenüber un‐<br />

empfänglich gewesen: seine sei Popularität mit<br />

jedem seiner Schnitzer gestiegen. Das Modell,<br />

für alles verantwortlich zu sein, um nichts<br />

mehr verantworten zu müssen, floriere von<br />

Bush bis Berlusconi immer mehr.<br />

Ein Wort trifft den Neo‐Kapitalismus am<br />

besten: Fetischismus. In «Parallaxe» analysierte<br />

Žižek den Übergang des Kapital, wo Marx ge‐<br />

zeigt hat, wie die Waren den Menschen erset‐<br />

zen und schließlich untereinander ‒ menschli‐<br />

che! Beziehungen eingehen. Dieser Prozess be‐<br />

rührt nun die Ideologien selbst, die immer<br />

noch nicht zu ihrem Ende gefunden haben,<br />

sondern selbst zu Fetischen geworden sind. Es<br />

tauchen nun zwei Verhaltensweisen auf: Ei‐<br />

nerseits praktiziert man den Fetischismus, oh‐<br />

ne daran zu glauben: wie der Liberale, der<br />

«permissive Zyniker», der langfristig zum Aus‐<br />

sterben verurteilt ist, aber kurzfristig zum poli‐<br />

tischen Parteifreund geworden ist: für Žižek<br />

üben selbst die formalen, fetischisierten Men‐<br />

schenrechte Wirkung auf das Reale aus. Ande‐<br />

rerseits begeht man umgekehrt denselben Irr‐<br />

tum: man glaubt kritiklos, man verwechselt<br />

das Reale mit dem Symbol, das es repräsen‐<br />

tiert. Hier haben wir den Fundamentalisten,<br />

den Populisten, und auch manchmal den<br />

Linksradikalen, und zwar immer dann, wenn<br />

sich dieser im Protest ergeht, d.h. sich mit dem<br />

Islamisten nach dem Motto «der Feind meines<br />

Feindes ist mein Freund» verbündet (ein auf<br />

die Freundschaft angewendeter Fetischismus).<br />

«Der gefährlichste Philosoph des Abendlandes»<br />

zitiert ihn der Buchumschlag, nach einem Zitat<br />

aus der amerikanischen Zeitschrift New<br />

Republic. Hier trägt man aus verkaufstechni‐<br />

schen Gründen ein wenig zu dick auf, denn im<br />

Grunde ist Žižek ein Moralist ‒ im Sinne eines<br />

Chronisten der Sitten der Zeit ‒ und wird<br />

deswegen unterschätzt. Moralist ist er zum<br />

Beispiel, wenn er der Linken vorwirft, sich<br />

«dem Narzissmus als einer verlorenen Sache»<br />

hinzugeben, nicht mehr auf ein universales<br />

Wunder zu warten ‒ denn das Universale, das<br />

ist jeder von uns: «Wir sind das, was wir erwar‐<br />

ten!» Das Beispiel: Die Sklaven von Haiti, die<br />

sich im Namen derselben Ideale der französi‐<br />

schen Revolution gegen die französischen Ko‐<br />

lonialherrn aufgelehnt haben. Das war wieder<br />

eine Umkehrung, und sie verweist wiederum<br />

auf eine andere, denn, nach Susan Buck‐Morse,<br />

inspirierte ebendieselbe haitianische Revolte


die Dialektik von Herr und Knecht, den<br />

Grundstein der Hegel’schen Philosophie. Hier<br />

zeigt sich eine unerwartete Begegnung des<br />

deutschen Idealismus und karibischem Postko‐<br />

lonialismus, aus der Žižek am Ende eine Defi‐<br />

nition ableitet, die in der gegenwärtigen Zeit<br />

ein besonderes Echo findet: «“Hegel und Haiti“<br />

[…], das ist die knappste Formel des Kommunis‐<br />

mus.»<br />

Zupančič jenseits des heutigen Moralisierens<br />

Die slovenische Philosophin und nahe Be‐<br />

kannte von Žižek, Alenka Zupančič, beschäf‐<br />

tigt sich wie er mit dem Diskurs der heutigen<br />

Moral auf dem Hintergrund vergangener Me‐<br />

taphysik. In ihrem neusten Buch entziffert sie,<br />

wie der aktuelle moralische Diskurs (ethische<br />

Gesetze, Obsessionen des Bösen, Verwerfung<br />

des Absoluten, Verlangen nach Autorität, Ma‐<br />

nipulationen mit falschen Dilemmata) das<br />

ethisch Gute als Lager unveränderlicher<br />

Wahrheiten begreift, die man auf alle Situatio‐<br />

nen bloß noch anzuwenden braucht. Bei Kant<br />

aber, zu dessen Auffassung von der Moral<br />

man sich allseits bekennt, ist das ethisch Gut<br />

etwas ganz anderes: eine stets von neuem zu<br />

erzeugende Haltung, eine endlose Bewegung<br />

zum Realen hin, ein unmöglicher und vitaler<br />

Trieb ‒ letztlich also ein Äquivalent zu Lacans<br />

Begehren. Der Pragmatismus der Liberalen<br />

fordert von jedem, niemals sein «Wohlergehen<br />

einer bloßen Idee zu opfern», die Gesetze nur<br />

für seine eigenen Interessen zu benutzen, nie‐<br />

mals das Unmögliche zu wollen, «freiwillig<br />

seine Unfreiheit zu wählen». Zupančič gibt<br />

hier in einem mit großer Eleganz geschriebe‐<br />

nen Buch offen kund, dass die Ethik im Gegen‐<br />

teil dazu ein Experiment der Freiheit ist, der<br />

man ‒ wie dem Begehren ‒ nachgehen, aber<br />

nie nachgeben muss. É.A.<br />

Aus: Libération Livres vom 21. Januar 2010,<br />

S.VII. ‒ Aus dem Französischen von H.‐P. Jäck.<br />

‒ Gérard Wajman und die Tyrannei des Blicks<br />

Leute, zittert, denn ihr filmt euch selbst! ‐ Der<br />

Psychoanalytiker Gérard Wajman beschreibt die<br />

neue Tyrannei des Blick zwischen Videoüberwa‐<br />

chung und Ideologie der Transparenz<br />

In einem Pariser Mietshaus wurde kürzlich<br />

eine Vorrichtung zur totalen Videoüberwa‐<br />

chung installiert. Die Bewohner können von<br />

ihren Fernsehgeräten aus den Gebäudekom‐<br />

plex beobachten. Dank eines solchen «Closed<br />

Circuit TV» (CCTV), das in Großstädten (vor<br />

allem in London) wie Pilze aus dem Boden<br />

32<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

schießt, kann jeder sein Treppenhaus, ja sogar<br />

sein eigenes Wohnzimmer überwachen. «Die<br />

Bedeutung des «closed circuit» über Fernsehen<br />

lässt sich hier klar erkennen: es ist der «closed<br />

cicuit»‐Blick, der vollständige und allumfas‐<br />

sende Blick. Das führt letztlich dazu, dass der<br />

Zuschauer sich selbst auf seinem Fernsehgerät<br />

betrachtet, wie er sich betrachtet und sich da‐<br />

bei selbst überwacht!», kommentiert Gérard<br />

Wajman.<br />

Das ist eines der Symptome, die zum klini‐<br />

schen Bild gehören, das der Psychoanalytiker<br />

und der Schriftsteller von einer Epoche zeich‐<br />

net, die sich mit Haut und Haaren dem Kult<br />

einer neuen Tyrannei verschrieben hat: L’ŒIL<br />

ABSOLU ‒ Das absolute Auge. Die Diagnose<br />

ist beängstigend: «Ein Auge ohne Lider wacht<br />

über die Welt. Der Blick ist der neue Levia‐<br />

than. Es geht darum, alles zu sehen und alles<br />

sichtbar werden zu lassen.» Mit Hilfe der Un‐<br />

tersuchung einer Reihe von «Vermischtem»<br />

aus Tageszeitungen wird hier ein alarmieren‐<br />

der Kommentar vorgelegt über Ereignisse wie<br />

das Reality‐TV oder die Bilder des 11. Septem‐<br />

ber, aber auch über den digitalen Taumel eines<br />

Zooms von Google Earth, das Ergebnis des Sa‐<br />

tellitenauges von allerhöchster Präzision, dem<br />

GPS.<br />

Jenseits allen technologischen Fortschritts<br />

verweisen uns diese Tatsachen auf einen<br />

Wandel der Zivilisation insgesamt, so konsta‐<br />

tiert der Universitätsprofessor. Willkommen in<br />

der «hypermodernen Gesellschaft», in einer<br />

Art Wohnstatt, in der man heute «wie früher<br />

das Wasser und das Gas, nun auch den Blick<br />

auf alle Etagen geliefert bekommt». So vergrö‐<br />

ßert sich, im selben Maße wie das Ozonloch,<br />

auch das Schlüsselloch im XXI. Jahrhundert.<br />

Schon in Hitchcocks Film «Vertigo», so der Au‐<br />

tor, gab die Hauptdarstellerin Stella zu beden‐<br />

ken, dass im Grunde das Hauptproblem allein<br />

im Fenster liege. Und mit der theoretischen<br />

Beschäftigung in der Renaissance anhand der<br />

Perspektive, hat das Fenster eine Öffnung auf<br />

die Welt hergestellt, zugleich aber auch den<br />

Raum für Intimität, den Raum als «Recht auf<br />

Verborgenheit» zum Thema gemacht.<br />

Doch die Hypermoderne ersetzt das Fens‐<br />

ter durch Mauern aus Bildschirmen und das<br />

Full TV. Deshalb hätte hier auch der Psycho‐<br />

analytiker ein Wort mitzureden: es geht hier‐<br />

bei um die Ideologie der Transparenz [‒ die<br />

Ideologie des gläsernen Menschen]. Gerade die<br />

Psychoanalyse ‒ und hier vor allem Jacques


Lacan ‒ hat sich unaufhörlich mit der Schat‐<br />

tenseite des menschlichen Subjekts beschäftigt;<br />

sie ist zum Schluss gekommen, dass ausge‐<br />

hend von dieser Seite, das Reale selbst nie<br />

transparent sein kann. Es lässt sich nur über<br />

das Fantasma zugänglich machen. Wajman<br />

kritisiert deshalb offen jegliche Anstrengungen<br />

der Neurowissenschaften, das menschliche<br />

Gehirn auf einen «sichtbaren» Mechanismus<br />

zurückführen zu wollen. Darunter versteht er<br />

aber auch bestimmte «Vorhersehbarkeiten»<br />

menschlichen Verhaltens, wie z.B. die Vorher‐<br />

sicht von Verbrechen auf der Basis der «Be‐<br />

obachtung» unserer Allerjüngsten bis hin zur<br />

Datenerfassung der gesamten Bevölkerung. Er<br />

illustriert diese Logik mit Hilfe von Science‐<br />

fiction‐Filmen, wie z.B. Minority Report von<br />

Steven Spielberg. Die Originalität dieses Essais<br />

beruht in der Tat auf den Rückgriff auf die<br />

Analyse von Kinofilmen und amerikanischen<br />

Fernsehserien, die, wie in einer hypermoder‐<br />

nen Mythologie, die neuen Gestalten einer<br />

Medusa oder eines alles sehenden Argus, dem<br />

Riesen mit hundert Augen, deutlich werden<br />

lassen.<br />

«L’ŒIL ABSOLU» müsste demnach noch<br />

genauer bestimmt werden, doch es dürfte klar<br />

sein, dass es sich wesentlich von jenem be‐<br />

rühmten Modell des «Panopticon» eines Ben‐<br />

tham unterscheidet, das von Foucault in Über‐<br />

wachen und Strafen genauer untersucht worden<br />

ist: Im Zentrum des Panoptikums sitzt der<br />

Herr und sieht alles; doch sein Blick bleibt den<br />

Blicken des Subjekts, das er überwacht, ver‐<br />

borgen. Das ist nun heute in unseren «Kont‐<br />

rollgesellschaften» nicht mehr der Fall: der<br />

Blick hat es nicht mehr nötig, verborgen zu<br />

bleiben, um seine Gewalt auszuüben. Er ist<br />

mitten unter uns, könnte man sagen. Walter<br />

Benjamin hatte das schon auf seine Art vor‐<br />

hergesehen, als er von einer Menschheit ge‐<br />

sprochen hat, die sich selbst beobachtet, nach‐<br />

dem sie nicht mehr unter dem Blick göttlicher<br />

Transparenz stand.<br />

Dennoch scheint Gérard Wajman in dieser<br />

«Gesellschaft des Blicks» mehr als ein Bild zu se‐<br />

hen; er skizziert ein Paradox: wenn die Kamera<br />

gottähnlich geworden ist, so deshalb weil sich<br />

Gott die Kamera hat stehlen lassen. Anders ge‐<br />

sagt: es bleibt aufzuklären, warum ein «absolu‐<br />

tes Auge» seine Macht ohne einen bestellten Big<br />

Brother auszuüben vermag. Es geht demnach<br />

um die kollektive Aneignung der Visionsin‐<br />

strumente, da jeder sich gleichzeitig vor und<br />

33<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

hinter der Kamera befindet. So etwas bedürfte<br />

allerdings eines kreativen opaken Bildpotenzi‐<br />

als, hinter dem man sich von neuem gegen die<br />

durstige Begierde eines «absoluten Auges» nach<br />

Transparenz verbergen könnte. Einige hierzu<br />

zitierten Künstler, wie etwa Bruce Nauman<br />

und seine Installationen zur Enttäuschung des<br />

Narzissmus (man schreitet voran und glaubt<br />

sein eigenes Bild zu sehen, doch das entfernt<br />

sich von uns…), könnten diese Möglichkeit er‐<br />

hellen. Neben dieser Apokalypse des im vollen<br />

Lichte stehenden Blicks, wie sie Wajman be‐<br />

schreibt, bliebe demnach noch eine politische<br />

Theorie der Eklipse zu schreiben. David Zerbib<br />

Hinzuweisen ist noch auf den Essai von Markos Zafiropoulos:<br />

L’ŒIL DÉSESPÉRÉ PAR LE REGARD, Paris (Éd. Arkhè), 128 S.,<br />

14,90 Euro, der einen anderen psychoanalytischen Zugang zum<br />

heutigen «Blick» als solchem und zum «skopischen Trieb» im<br />

Besonderen eröffnet.<br />

Aus: Le monde des livres vom 12. Februar<br />

2010, S.6. ‒ Aus dem Französischen von H.‐P.<br />

Jäck.<br />

‒ Irvin D. Yalom, Psychoanalytiker, USA<br />

Ein guter Therapeut braucht selbst Therapie<br />

Der US‐amerikanische Autor und Psychiater Irvin D.<br />

Yalom spricht über Nietzsches Tränen, Lou Salomé,<br />

Freud, Breuer und den Tod<br />

Sie haben in zwei Bereichen Karriere gemacht ha‐<br />

ben – als Psychotherapeut und als Schriftsteller:<br />

Was macht einen guten Schriftsteller aus, und wo<br />

treffen Therapeut und Schriftsteller aufeinander?<br />

Gute Frage! Ich habe eine persönliche Re‐<br />

gel, an die ich mich beim Schreiben halte: Ich<br />

schreibe nie über etwas, das ich selbst nicht<br />

ganz verstehe.<br />

Tun das Ihrer Meinung nach viele andere Autoren?<br />

Es gibt doch einige, die eine unnötig kom‐<br />

plizierte und hermetische Prosa schreiben. Ein<br />

sehr gutes Beispiel dafür ist Martin Heidegger.<br />

Von ihm stammen viele tiefe Einsichten, aber<br />

er schreibt in einem unzugänglichen Stil. Die‐<br />

sen Zugang zum Schreiben verstehe ich nicht.<br />

Ich denke darüber im Moment viel nach, weil<br />

ich gerade einen Roman über Spinoza schreibe,<br />

der sehr schwer zu fassen ist, weil er so unend‐<br />

lich komplex ist. Ich selbst möchte im Schrei‐<br />

ben klar und konzise sein. Und ich bemühe<br />

mich darum, interessante Geschichten zu er‐<br />

zählen. Auch in meinen Lehrbüchern wie<br />

„Theorie und Praxis der Gruppenpsychothe‐<br />

rapieʺ...<br />

…das sich allein in den USA über 700 000 Mal<br />

verkauft hat...<br />

Ja, es ist einer meiner größten Erfolge. Der<br />

Grund ist, glaube ich, dass es für die Studenten


eine anregende Lektüre ist. Das liegt an den<br />

vielen Geschichten, mit denen ich es vollge‐<br />

packt habe. Ich habe immer wieder gehört, es<br />

lese sich wie ein Roman und nicht wie trocke‐<br />

ne Theorie.<br />

Sie haben einmal geschrieben, dass es Ihre Liebe zur<br />

Literatur war, die Sie die medizi‐<br />

nisch‐psychiatrische Karriere hat einschlagen las‐<br />

sen. Wie das?<br />

Ich bin im russischen Immigrantenmilieu<br />

meiner Eltern in Washington D.C. aufgewach‐<br />

sen. Dort wusste man nicht viel über Berufe.<br />

Zwei Dinge kamen für mich in Frage: Ge‐<br />

schäftsmann oder Arzt. Auch weil die größten‐<br />

teils farbige Nachbarschaft für einen kleinen,<br />

jüdischen Jungen wie mich ein gefährliches<br />

Pflaster war, hielt ich mich vor allem drinnen<br />

auf und wurde zu einem leidenschaftlichen<br />

Leser. Und die Medizin schien mir bedeutend<br />

näher an Tolstoj und Dostojewski als die Ge‐<br />

schäftswelt. Ich wusste auch, dass ich mich in<br />

dem Gebiet der Medizin spezialisieren wollte,<br />

das der Literatur am nächsten liegt — und das<br />

ist sicher die Psychiatrie.<br />

Weil die groß en Autoren auch als große Meister<br />

der Psychologie gelten?<br />

Sie waren tatsächlich geniale Psychologen<br />

und Psychiater und hatten ungeheuer tiefen<br />

Einblick in die menschliche Seele. Wir müssen<br />

von ihnen lernen. Freud zum Beispiel hat das<br />

getan.<br />

In Ihrem Roman „Als Nietzsche<br />

weinte” erzählen Sie die — fiktive — Geschichte<br />

des Zusammentreffens zweier historischer Figuren:<br />

des renommierten Wiener Arztes und Freud‐<br />

Mentors Josef Breuer und des Philosophen Fried‐<br />

rich Nietzsche. Warum haben Sie gerade diese bei‐<br />

den zusammengespannt?<br />

Die Jahre zwischen 1881 und 1882, in denen<br />

Josef Breuer die Hysterikerin Bertha Pappen‐<br />

heim behandelte, die später als der berühmte<br />

Fall „Anna O.” die Grundlage für seine und<br />

Freuds „Studien zur Hysterie” bildete, waren<br />

zu‐fällig auch eine schreckliche Zeit für Fried‐<br />

rich Nietzsche. Er war nie näher am Selbst‐<br />

mord, den er damals in <strong>Brief</strong>en auch dezidiert<br />

als Möglichkeit erwähnt. Unter anderem ging<br />

es dabei um das Ende seiner Beziehung zu Lou<br />

Salomé.<br />

34<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

...die in Ihrem Buch das erste Treffen zwischen<br />

Breuer und dem suizidgefährdeten und unter<br />

schwerster Migräne leide‐den Nietzsche einfädelt.<br />

Die echte Lou Salome wurde später eine Schülerin<br />

Freuds.<br />

Die Beziehung zu Lou Salomé war einer<br />

der Gründe für Nietzsches schlechten Zustand.<br />

Jedenfalls dachte ich mir: Es wäre doch toll<br />

gewesen, wenn Nietzsche in dieser Zeit tat‐<br />

sächlich zu einem Therapeuten hätte gehen<br />

können.<br />

Nur dass es damals keine Therapeuten im heutigen<br />

Sinn gab?<br />

Es gab ein bisschen Arbeit mit Hypnose in<br />

Frankreich, aber der einzige, der damals tat‐<br />

sächlich in Frage gekommen wäre, war Josef<br />

Breuer in Wien.<br />

Für Freud selbst war es noch ein paar Jahre<br />

zu früh.<br />

Am Ende ist nicht mehr klar, wer Patient ist und<br />

wer Therapeut. Einen solchen Rollentausch gibt es<br />

auch in Ihrem Roman „Die rote Couch”. Was inte‐<br />

ressiert Sie so an diesem Motiv?<br />

Ich will damit zeigen, dass jede Psychothe‐<br />

rapie ein Kooperationsprozess ist. Indem ich<br />

beschreibe, wie Breuer langsam auf den Ge‐<br />

danken kommt, dass er mit seinen Problemen<br />

auch ein bisschen Hilfe gebrauchen könnte,<br />

zeige ich außerdem, wie wichtig Therapie ist.<br />

Dazu kommt noch: Will man ein guter Thera‐<br />

peut sein, braucht man selber ebenfalls Thera‐<br />

pie, um die Rolle des Patienten aus eigener<br />

Anschauung zu kennen.<br />

Todesangst und Todessehnsucht spielen eine be‐<br />

trächtliche Rolle in Ihrem Buch über Nietzsche. Be‐<br />

schäftigt Sie der Tod sehr?<br />

Ich halte die Beschäftigung mit dem Tod<br />

für eine der Grundvoraussetzungen für ein ge‐<br />

lungenes, erfülltes Leben. Das ist ein uralter<br />

Gedanke, den ich teile. Durch den Tod wird<br />

einem bewusst, dass man nur eine bestimmte<br />

Zeit zur Verfügung hat. Außerdem kann man<br />

ihn ohnehin nicht ignorieren: Er klopft an die<br />

Tür, er taucht in Träumen auf. Jeder hat uner‐<br />

klärliche Gefühle angesichts eigener runder<br />

Geburtstage oder des Todes eines Freunds<br />

oder Verwandten.<br />

Ja, 1882 war er noch Student. Breuer hinge‐<br />

gen hatte schon Erfahrung mit dem Fall Anna<br />

O. Ich hatte folgende Idee: Vielleicht kann ich<br />

Studenten vieles über Psychotherapie beibrin‐<br />

gen, wenn ich sie zu lesenden Augenzeugen<br />

der Erfindung der Psychoanalyse mache.


Bald behandelt ja Nietzsche Breuer mindestens ge‐<br />

nauso wie Breuer Nietzsche. Ist in der Art von<br />

Psychotherapie, die Sie die beiden durch ihre Ge‐<br />

spräche miteinander entwickeln lassen, auch Ihre<br />

Kritik an der Freudschen Psychoanalyse enthalten?<br />

Mein Hauptkritikpunkt an Freud war im‐<br />

mer, dass das Psychosexuelle so sehr im Mit‐<br />

telpunkt seiner Theorien steht. Also habe ich<br />

mir eine Geschichte und eine Personenkonstel‐<br />

lation einfallen lassen, bei denen der Kern der<br />

Entwicklung der Psychotherapie eher in der<br />

Existenzphilosophie liegt.<br />

Hat Ihnen die Auseinandersetzung geholfen, Ihre<br />

eigene Angst vorm Tod zu bewältigen?<br />

Zweifellos. Als ich als Therapeut begonnen<br />

habe, wollte ich unbedingt mehr Erfahrung auf<br />

diesem Gebiet haben. Ich habe also begonnen,<br />

unheilbar kranke Krebspatienten zu behan‐<br />

deln. Das war damals noch sehr ungewöhn‐<br />

lich, weil der Tod ein solches Tabu war. Ich<br />

habe dabei sehr viel gelernt – auch über meine<br />

eigene Angst.<br />

Was bedeutet Ihnen der Nietzsche‐Satz „Stirb zur<br />

rechten Zeit”, den Sie auch zitieren?<br />

Er bedeutet, dass man sein Leben auch tat‐<br />

sächlich führen, dass man es buchstäblich kon‐<br />

sumieren und voll auskosten muss. Nur dann<br />

stirbt man, ohne noch sehr viel ungelebtes Le‐<br />

ben mit sich herum‐zutragen. Niemand möch‐<br />

te am Ende seines Lebens feststellen, dass er<br />

immer nur auf dem Wartegleis gestanden ist.<br />

Interview: Julia Kospach<br />

ZUR PERSON<br />

Irvin D. Yalom, geboren 1931 als Sohn russischer Einwanderer in<br />

Washington D.C., gilt als einer der einflussreichsten Therapeu‐<br />

ten der USA. Als Autor von Romanen und Erzählbänden („Und<br />

Nietzsche weinte”, „Die rote Couch”, „Die Schopenhauer‐Kur"),<br />

die in erster Linie im Milieu der Psychoanalyse angesiedelt sind,<br />

erreichte er international ein Millionenpublikum. Yalom war als<br />

Professor an der Stanford‐Universität tätig und lebt im kaliforni‐<br />

schen Palo Alto. ksp<br />

Aus: Frankfurter Rundschau vom<br />

21./22. November <strong>2009</strong>, S.36‐37.<br />

‒ Volkmar Sigusch/G. Grau: Personenlexikon<br />

zur Sexualforschung<br />

Christine Pries: Das erste seiner Art ‐ V.<br />

Siguschs und G. Graus „Personenlexikon der Se‐<br />

xualforschung”<br />

Arthur Kronfeld zum Beispiel wäre einer<br />

breiteren Öffentlichkeit für immer unbekannt<br />

geblieben, hätten Volkmar Sigusch und Günter<br />

Grau ihn jetzt nicht in ihr „Personenlexikon<br />

der Sexualforschung” aufgenommen. Von den<br />

Nazis ins Moskauer Exil getrieben, nahm sich<br />

Kronfeld, der sieben Jahre lang an Magnus<br />

Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft tä‐<br />

35<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

tig und in der Weimarer Republik recht be‐<br />

kannt gewesen war, 1941 während der Herbst‐<br />

offensive der deutschen Wehrmacht das Le‐<br />

ben. Im Dritten Reich wurde seine Arbeit tot‐<br />

geschwiegen, und nach 1945 wurde sie kaum<br />

rezipiert, bevor zu Beginn der 1980er Jahre ein<br />

Psychotherapeut Nachforschungen über<br />

Kronfeld anzustellen begann. Über den Ver‐<br />

bleib von Kronfelds Nachlass ist bis heute<br />

nichts bekannt, und auch die neuerliche Aus‐<br />

einandersetzung mit seinem Werk steht noch<br />

ganz am Anfang.<br />

Ein besonderes Augenmerk dieses Lexikons<br />

liegt denn auch auf den jüdischen Wissen‐<br />

schaftlern, die aus Deutschland und dadurch<br />

häufig aus der Wahrnehmung überhaupt ver‐<br />

trieben wurden, wodurch eine ganze Traditi‐<br />

on, in deren Zentrum Deutschland gestanden<br />

hatte, zum Abbruch kam. Es wäre jedoch irre‐<br />

führend, das Projekt, in das die Herausgeber<br />

nach eigenem Bekunden 30 Jahre Arbeit inves‐<br />

tiert haben, auf dieses Anliegen zu reduzieren.<br />

Der Anspruch ist enzyklopädisch, und na‐<br />

türlich finden sich neben nahezu vergessenen<br />

und noch wiederzuentdeckenden Forschern<br />

wie eben Kronfeld auch die großen Namen<br />

von Sigmund Freud, Wilhelm Reich oder auch<br />

Alfred C. Kinsey. Das Buch, das nur verstor‐<br />

bene Forscherinnen und Forscher berücksich‐<br />

tigt, birgt aber auch Überraschungen, wenn<br />

zum Beispiel Georges Bataille, Michel Foucault<br />

oder Niklas Luhmann ganz selbstverständlich<br />

— und selbstbewusst — als Sexualforscher<br />

verzeichnet sind.<br />

Beteiligt sind 60 teils internationale Auto‐<br />

ren, die für rund 200 (aus ursprünglich 500 an‐<br />

gedachten ausgewählte) Einträge unter‐<br />

schiedlicher Länge verantwortlich zeichnen.<br />

Die Texte sind nicht medizinisch orientiert und<br />

daher auch für den Laien verständlich. Das<br />

„Personenlexikon der Sexualforschung” ist das<br />

erste seiner Art und krönt, so kann man ohne<br />

Übertreibung sagen, nach Siguschs letztjähri‐<br />

ger „Geschichte der Sexualwissenschaft”<br />

(ebenfalls Campus, vgl. FR vom 18. Juni 2008)<br />

das Lebenswerk des renommierten Frankfurter<br />

Sexualwissenschaftlers.<br />

Volkmar Sigusch/Günter Grau (Hrsg.): Personenlexikon der Se‐<br />

xualforschung. Campus Verlag, Frankfurt/M. <strong>2009</strong>, 816 S. mit<br />

150 Abb., 149 Euro.<br />

Aus: Literatur‐Rundschau der Frankfurter Rund‐<br />

schau vom 8. Dezember <strong>2009</strong>, S.A13.


‒ Psychoanalyse im Fernsehen<br />

Michael G. Meyer: Jeden Abend ab auf die<br />

Couch ‐ 3 Sat zeigt die neue US‐Serie „In Treat‐<br />

ment”<br />

Psychotherapie war für Filmemacher schon<br />

immer ein reiz‐volles Thema: Ungezählte Fil‐<br />

me von Woody Allen befassen sich mit den<br />

meist sehr lustigen Auswirkungen der Thera‐<br />

pie auf gestresste Großstädterpsychen. Doch<br />

die neue US‐Serie „In Treatment – Der Thera‐<br />

peut”, ist im Gegensatz zu den Woody Allen‐<br />

Figuren vor allem sehr ernst. Sie basiert auf<br />

der israelischen Serie „Be Tipul” – alle Charak‐<br />

tere und die Dialoge sind von dort übernom‐<br />

men worden.<br />

Der irisch‐amerikanische Schauspieler Gab‐<br />

riel Byrne verkörpert den Therapeuten Dr.<br />

Paul Weston, der tagaus, tagein zuhört, wie<br />

ihm Patienten aus ihrem Leben erzählen. Mon‐<br />

tags ist es Laura, eine attraktive, junge Frau<br />

(Melissa George, bekannt aus „Aliasʺ), in die<br />

sich Paul im Laufe der Serie verliebt Dienstags<br />

heißt der Patient Alex, ein selbstbewusster US‐<br />

Kampfpilot, der sich aber nach einem Bom‐<br />

benangriff im Irak Vorwürfe macht, weil er<br />

das Leben irakischer Kinder auf dem Gewissen<br />

hat. Mittwochs kommt die junge, depressive<br />

Sportlerin Sophie, am Donnerstag ist es ein<br />

Paar: Amy und Jake stecken in einer Krise.<br />

Und freitags sucht Paul Weston selbst Supervi‐<br />

sion bei seiner ehemaligen Professorin Gina<br />

(Dianne Wiest), die für ihre Rolle mit einem<br />

Emmy ausgezeichnet wurde. Absurderweise<br />

siezen sich die beiden in der deutschen Versi‐<br />

on – obwohl klar wird, dass sie sich seit über<br />

20 Jahren gut kennen.<br />

Die Serie<br />

braucht zwar etwas, um in Fahrt zu kommen.<br />

Aber sobald der Zuschauer die Figuren ken‐<br />

nengelernt hat, will er unbedingt wissen, wie<br />

es weitergeht mit Laura, Alex, Sophie, Jake<br />

und Amy. Die 43 Folgen der ersten Staffel zei‐<br />

gen kaum mehr als die Sitzungen zwischen<br />

Therapeut und Patient ‐ der Zuschauer muss<br />

sich auf das Erzählte einlassen. Da an jedem<br />

Wochentag therapiert wird, heißt das für die<br />

36<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

Zuschauer: Jeden Abend der Woche ab auf die<br />

Couch.<br />

In den USA war „In Treatment” zwar ein<br />

großer Erfolg bei den Kritikern, aber die Quo‐<br />

ten waren nur mittelmäßig. Dennoch gab es<br />

eine Fortsetzung. Im US‐Fernsehen läuft in<br />

diesem Jahr bereits die dritte Staffel.<br />

In Treatment ‐ Der Therapeut,<br />

Aus: Frankfurter Rundschau vom 15. Februar<br />

2010, S.25.<br />

B) PHILOSOPHICA<br />

‒ Jacques Derridas Seminar zur Bestiologie<br />

Der Mensch, die Schlange, der Elefant ‒ und<br />

immer wieder der Wolf<br />

Wie Jacques Derrida einen Zoo politischer Tierfigu‐<br />

ren eröffnete: Zur florierenden philosophischen Li‐<br />

teratur über Souveränität, Macht und Biopolitik<br />

Sind Tiere politische Wesen? Oder, umge‐<br />

kehrt gefragt, bezeichnet die Fähigkeit, in einer<br />

politischen Gemeinschaft zu leben, die Schwel‐<br />

le vom Tier zum Menschen? Mit Aristotelesʹ<br />

berühmter Kennzeichnung des Menschen als<br />

ein politisches Lebewesen trat diese Frage auf<br />

die Bühne der Philosophie – und sie wurde zu‐<br />

letzt durch die Unterscheidung des italieni‐<br />

schen Philosophen Giorgio Agamben zwischen<br />

einem „nackten” und einem „politisch qualifi‐<br />

zierten” Leben in das Zentrum aktueller De‐<br />

batten gerückt.<br />

In seinem letzten Seminar aus den Jahren<br />

2001 bis 2003 widmete sich der französische<br />

Philosoph Jacques Derrida, der 2004 verstor‐<br />

ben ist, unter dem Titel „Das Tier und der<br />

Souverän” in einer Reihe von Einzelinterpreta‐<br />

tionen den unter‐schiedlichsten Szenarien, in<br />

denen sich die Wege von Mensch und Tier<br />

kreuzen – von politischen Herrschern wie von<br />

Königen des Tierreichs. Tatsächlich begegnet<br />

dem Leser dieser bisher nur auf Französisch<br />

erschienenen Seminar‐Aufzeichnungen im<br />

Laufe der Lektüre nichts weniger als ein gan‐<br />

zer Zoo politischer Tierfiguren — von der<br />

Schlange über den Elefanten bis zum Löwen,<br />

und natürlich taucht dabei zuerst und immer<br />

wieder der Wolf auf, in der berühmten Wen‐<br />

dung des römischen Komödiendichters Plau‐<br />

tus, wonach ein Mensch dem anderen als sol‐<br />

cher gegenübertrete.<br />

Dabei wird das Feld der politischen Tier‐<br />

metaphorik im Laufe von Derridas Untersu‐<br />

chung zunehmend unübersichtlich: Ist der<br />

Mensch selbst ein Tier, das zum Zwecke der<br />

Vergemeinschaftung gezähmt und dessen na‐<br />

türliche Instinkte in Schach gehalten werden


müssen? Oder muss die höchste Macht im<br />

Staate, die des Souveräns, zu ihrer Durchset‐<br />

zung nicht auch etwas von der ungebändigten<br />

Kraft der Tiere besitzen, wie Derrida anhand<br />

einer Interpretation von Machiavellis „Fürs‐<br />

ten” fragt: Überwindet die Staatlichkeit die na‐<br />

turwüchsige Logik vom Recht des Stärkeren –<br />

oder benötigt das Recht nicht vielmehr zu sei‐<br />

ner Durchsetzung immer auch eine Form von<br />

Gewalt? Fragen zum Zusammenhang von<br />

Recht, Macht und Gewalt hatten Derrida seit<br />

den späten achtziger Jahren in unterschiedli‐<br />

cher Form beschäftigt, sei es in seinen Interpre‐<br />

tationen von Walter Benjamin und Carl<br />

Schmitt zur „Gesetzeskraft”, sei es in seiner<br />

Kritik an der internationalen Politik, die im In‐<br />

teresse hegemonialer Bestrebungen sogenann‐<br />

te Schurkenstaaten aus der internationalen<br />

Gemeinschaft ausgrenzt und mit Waffenge‐<br />

walt angreift. In der hier aufgerufenen Tierme‐<br />

taphorik finden diese Überlegungen ihre Fort‐<br />

setzung, indem sie auf aufschlussreiche Weise<br />

mit weiteren Strängen der aktuellen Diskussi‐<br />

onen um das Thema der Souveränität ver‐<br />

knüpft werden.<br />

Ausgangspunkt ist auch bei Derrida die<br />

klassische Frage der politischen Ideengeschich‐<br />

te nach dem Ort der höchsten politischen Ge‐<br />

walt, die ein Kennzeichen von Staatlichkeit<br />

schlechthin darstellt. Derrida setzt bei den<br />

Stichwortgebern für die neuzeitliche Souverä‐<br />

nitätstheorie, bei Bodin oder Hobbes an, auch<br />

wenn deren Werke, wie er einschränkend an‐<br />

merkt, in starker Weise von den politischen<br />

Turbulenzen ihrer eigenen Zeit geprägt sind.<br />

Wenn er dennoch am Konzept der Souveräni‐<br />

tät festhalten will, so er‐gibt sich das gewis‐<br />

sermaßen ex negativo aus seiner Diagnose der<br />

gegenwärtigen politischen Situation. Denn<br />

dass die ökonomischen und politischen<br />

Grundlagen des modernen Nationalstaates<br />

brüchig werden, dass wir uns, so schließt sich<br />

Jacques Derrida zumindest auf der deskripti‐<br />

ven Ebene Carl Schmitts Überlegungen an, in<br />

einer Zone der Entpolitisierung und Neutrali‐<br />

sierung bewegen, soll nicht das letzte Wort zur<br />

Möglichkeit von politischem Eingreifen bedeu‐<br />

ten. Dekonstruktion heißt hier also, das Kon‐<br />

zept der Souveränität nicht zu verabschieden,<br />

sondern dessen unterschiedliche Formen und<br />

Logiken aufzuzeigen.<br />

Eine dieser Formen, die durch das Aufgrei‐<br />

fen der Tiermetaphorik teils untergründig,<br />

teils ausdrücklich mit aufgerufen wird, ist Mi‐<br />

37<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

chel Foucaults folgenreiches Konzept der Bio‐<br />

Politik. Damit ist die Tatsache bezeichnet, dass<br />

seit dem 18. Jahrhundert die Körper der Unter‐<br />

tanen und die Bevölkerung als Gesamtheit<br />

zum Gegenstand der administrativen Regulie‐<br />

rung wurden. Foucault nahm Prozesse in den<br />

Blick, die parallel zur oder unterhalb der Ebe‐<br />

ne der staatlichen Gesetzgebung elementare<br />

biologische Vorgänge wie Geburt, Tod, Repro‐<br />

duktion oder die Gesundheit der Bevölkerung<br />

steuerten. Seine Entzifferung dieser gesonder‐<br />

ten Machttechnologien warf immer wieder die<br />

Frage nach deren innerer Zusammengehörig‐<br />

keit auf, um schließlich sogar zum Ausgangs‐<br />

punkt von Agambens Überlegungen in „Homo<br />

sacer” zu werden. Dessen Antwort darauf ist<br />

eben die Theorie des „nackten” Lebens, über<br />

das die souveräne Macht verfügt, das sie aber<br />

gleichzeitig aus sich heraus erzeugt, und worin<br />

Agamben konsequent die verschiedenen Sou‐<br />

veränitätsformen in eine, umfassende ver‐<br />

schmilzt.<br />

Man wird aus Derridas Feder wohl kaum<br />

eine vehementere Kritik lesen können als die<br />

an Agambens forcierter Unterscheidung zwi‐<br />

schen bios und zoe, gedacht als Ergänzung und<br />

Berichtigung Foucaults. „Armer Foucault!ʺ,<br />

entfährt es Derrida an einer Stelle, „Hatte er je<br />

einen grausameren Bewunderer?” Die An‐<br />

nahme einer vor‐ oder unpolitischen Kreatür‐<br />

lichkeit hält er mehr oder minder unumwun‐<br />

den für biologistisch. Stattdessen, so sein Fazit,<br />

nachdem er Agambens Argument im Detail<br />

zerpflückt hat, ist der Mensch nach der aristo‐<br />

telischen Definition als zoon politikon ein un‐<br />

mittelbar auf die Politik angelegtes Wesen. Das<br />

Tier taucht dagegen in der titelgebenden Paa‐<br />

rung mit dem Souverän sozusagen als Grenz‐<br />

wert des Menschlichen nach unten auf, denn<br />

nur im Menschen können sich Dummheit<br />

(französisch: bêtise) und Bestialität vereinen.<br />

Originell ist an Derridas Überlegungen we‐<br />

niger die Tatsache, dass er politische Tierme‐<br />

taphern aufgreift, und viele seiner Thesen sind<br />

im Grunde nicht neu. Originell ist vor allem,<br />

lässt man sich auf das Umwegige seines Vor‐<br />

trags ein, der Parcours, auf dem die bekannten<br />

Theorien abgeschritten und in neue Perspekti‐<br />

ven gerückt werden. Ähnlich ergeht es einem<br />

bei der Lektüre der umfangreichen Habilitati‐<br />

onsschrift des Weimarer Philosophen Friedrich<br />

Balke, deren Einzelstudien zur Antigone, zu<br />

Hobbes, Heidegger oder Kafka lose unter der<br />

Überschrift „Figuren der Souveränität” zu‐


sammen‐gehalten werden. Auch Balke geht es<br />

darum, die klassischen Theorien monarchi‐<br />

scher Gewalt und die Souveränitätspraktiken<br />

moderner Staaten gemeinsam in den Blick zu<br />

bekommen. Eine stärkere inhaltliche Fokussie‐<br />

rung, etwa auf die im Zusammenhang mit<br />

Bodin und Hobbes behandelten Fragen der<br />

Repräsentierbarkeit und Sichtbarkeit der<br />

Macht, wäre im Hinblick auf die Vielzahl der<br />

behandelten Aspekte allerdings wünschens‐<br />

wert gewesen. Andererseits führt die fast leit‐<br />

motivische Verwendung des Konzepts der<br />

Biopolitik weniger zu einer thematischen Bün‐<br />

delung, als vielmehr zu teilweise unplausiblen<br />

Interpretationen, so wenn Balke Heideggers<br />

Todesverständnis mit der Konzeption des<br />

französischen Anatomen Xavier Bichat kurz‐<br />

schließt. Etwas gewaltsam nimmt sich auch<br />

seine Hobbes‐Interpretation aus, wo er zu dem<br />

Ergebnis kommt, dessen politische Theorie sei<br />

„in einem fundamentalen Sinne Biopolitik”,<br />

„da sie den Souverän mit der Aufgabe betraut,<br />

die ,bloße Existenzʹ der Bürger zu schützen<br />

und sie zu diesem Zweck zu allererst als<br />

,nacktes Lebenʹ zu konstituieren”. Vielleicht<br />

wird daran aber auch nur deutlich, dass die in<br />

den letzten Jahren florierende Literatur zum<br />

Themenkreis um Souveränität, Macht und<br />

Biopolitik mittlerweile den Punkt ihrer maxi‐<br />

malen Ausdehnung er‐reicht hat. SONJA<br />

ASAL<br />

FRIEDRICH BALKE: Figuren der Souveränität. Verlag Wilhelm<br />

Fink, München <strong>2009</strong>. 545 Seiten, 58 Euro.<br />

JACQUES DERRIDA: Séminaire La bête et le souverain. Volume<br />

1 (2001‐2002). Editions Galilée: Paris 2008. 469 Seiten, 33 Eu‐<br />

ro.<br />

Aus: Süddeutsche Zeitung vom 14. Januar<br />

2010, S.14.<br />

‒ Michel Foucault: Die Regierung des Selbst<br />

Claude Haas: Der Politik die Wahrheit sagen ‐<br />

Demokratie II: Warum Michel Foucault in seinen letzten Vorle‐<br />

sungen Abweichung und Aufbegehren verteidigt.<br />

Kann von Demokratie die Rede sein, wenn<br />

alle reden dürfen? Bedingt, wie Michel Fou‐<br />

cault in seinen letzten am College de France<br />

gehaltenen Vorlesungen aus dem Winterse‐<br />

mester 1982/83 zu zeigen versucht. Dabei ist es<br />

vordergründig gerade nicht die philosophische<br />

Reflexion oder gar Legitimation bestimmter<br />

Staatsformen, der er auf der Spur ist. Ganz im<br />

Gegenteil verschreibt sich Foucault in diesen<br />

kürzlich auf Deutsch erschienenen Vorlesun‐<br />

gen lediglich den Einsatzmöglichkeiten des<br />

konkreten Wahrsprechens in etablierten politi‐<br />

schen Ordnungen. Es müsse möglich sein, der<br />

38<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

Politik die Wahrheit zu sagen, ohne die Wahr‐<br />

heit der Politik zu sagen.<br />

Als Garant dieser Unterscheidung dient<br />

dem Autor die antike Figur der parrhesia: der<br />

Redefreiheit, der Freimut, des Aufbegehrens<br />

oder eben auch des Wahrsprechens, deren po‐<br />

litisches Potenzial er von Euripides über Pla‐<br />

ton und Plutarch bis hin zu Kant auslotet. Den<br />

Parrhesiasten will er als ein Selbst begriffen<br />

wissen, das sich durch Besonnenheit, Mut und<br />

Risikobereitschaft auszeichnet. Er mische sich<br />

in tagespolitische Belange ein, infiziere seinen<br />

Protest aber niemals mit der eigenen philoso‐<br />

phischen Reflexion. Nicht ohne Penetranz be‐<br />

harrt Foucault auf dieser Trennung: »Die Phi‐<br />

losophie hat nicht zu sagen, was in der Politik<br />

geschehen soll.« Es sei kein Verhältnis der<br />

»Kongruenz«, sondern das einer »widerstre‐<br />

benden Exteriorität«, in dem sich die<br />

parrhesiastische Philosophie der Politik ge‐<br />

genüber befinde.<br />

Die philosophische Fundierung politischer<br />

Strömungen und Systeme hat sich für ihre je‐<br />

weiligen Befürworter oft genug als blamable<br />

Angelegenheit erwiesen. Insofern sollte man<br />

Foucaults Aufruf zur philosophischen Enthalt‐<br />

samkeit in der Politik nicht von vorn‐herein<br />

belächeln. Indem er auf eine Analyse histori‐<br />

scher Formen der Vermengung von Philoso‐<br />

phie und Politik aber so gut wie ganz verzich‐<br />

tet, stellt man sich über weite Strecken die Fra‐<br />

ge, wogegen er eigentlich spricht.<br />

Dennoch wäre es naiv, Foucault über 500<br />

Seiten der ideologischen Demut zu verdächti‐<br />

gen. Immer wieder betreibt er mithilfe der<br />

parrhesia genau das, was der Parrhesiast blei‐<br />

ben lässt: politische Theorie. Zur athenischen<br />

Demokratie etwa hält er fest, dass sie die<br />

parrhesia zwar ermöglicht, dass die parrhesia ihr<br />

aber unmittelbar eine fundamentale Ungleich‐<br />

heit eingetragen habe. Und von dieser Un‐<br />

gleichheit weit eher als von der Gleichheit aller<br />

hänge das Gelingen der Demokratie auch<br />

nachhaltig ab. Schließlich sei der parrhesia der<br />

Mut zum Risiko und zur Exklusivität imma‐<br />

nent. Vor allem neu zugelassene Bürger<br />

Athens drohten in ihrem Sprechen indes allzu<br />

leicht nur die Meinung der Mehrheit zu repro‐<br />

duzieren. Sie seien falsche Parrhesiasten und<br />

stellten damit eine Gefahr ausgerechnet für je‐<br />

ne Staatsform dar, die sie zum Reden gebracht<br />

habe.<br />

Foucault lässt es sich nicht nehmen, »in ei‐<br />

ner Zeit, nämlich der unseren« — und somit


vor einem Vierteljahrhundert — an dieses Pa‐<br />

radox zu erinnern. Keineswegs aber weist er<br />

einen Weg, es zu durchbrechen. Es ist dieser<br />

doppelte Gestus, der seinen Ausführungen<br />

Aktualität verleiht.<br />

Langsam spricht es sich herum, dass es eine<br />

Dummheit der Informationsgesellschaft war,<br />

sich eine Belebung der Demokratie von der<br />

bloßen Zunahme an öffentlichen Redemög‐<br />

lichkeiten zu versprechen. Je mehr geredet<br />

wird, desto mehr wird auch das Gleiche ge‐<br />

sagt. Die Inflationierung so unsäglicher Begrif‐<br />

fe wie »Streitkultur« führt deutlich vor, dass<br />

sich mit ihnen nie die Bereitschaft zur Abwei‐<br />

chung von gängigen Meinungsmustern ver‐<br />

bunden hat. Eindämmen lässt sich der diskur‐<br />

sive Einheitsbrei mit demokratischen Mitteln<br />

wiederum ebenfalls nicht. Er ist Bedingung<br />

und Gefährdung der Demokratie in einem.<br />

Die Zumutung dieser Binsenweisheit gilt es<br />

aber selbst dann noch auszuhalten, wenn sie<br />

auch ihrerseits eines Tages weltweit gebloggt<br />

und getwittert wird. Für diese Erkenntnis hätte<br />

man Foucault nicht unbedingt gebraucht. Aber<br />

es ist doch schön, ihn immer noch an Bord zu<br />

haben.<br />

Michel Foucault: Die Regierung des Selbst und der anderen.<br />

Vorlesungen am College de France 1982/1983; aus dem Fran‐<br />

zösischen von Jürgen Schröder; Suhrkamp Verlag, Frank‐<br />

furt/M. <strong>2009</strong>; 506 S., 45,‐ €<br />

Aus: DIE ZEIT <strong>Nr</strong>. 4 vom 21. Januar 2010, S.46.<br />

‒ Jean-Michel Palmiers Walter-Benjamin-Biografie<br />

Rolf Wiggershaus: Im Labyrinth ‐ Geschichte, aus<br />

Sicht der Verlierer geschrieben: Jean‐Michel Palmiers monumen‐<br />

tale, aber nichtvollendete Walter‐Benjamin‐Studie<br />

Drei Jahre nach der französischen Original‐<br />

ausgabe ist nun die deutsche — wahrhaft kon‐<br />

geniale — Übersetzung einer monumentalen<br />

Monographie über Walter Benjamin erschie‐<br />

nen. Ende der achtziger Jahre veröffentlichte<br />

der französische Kunsthistoriker und Philo‐<br />

soph Jean‐Michel Palmier eine zweibändige<br />

Untersuchung über das Exil Weimarer Intel‐<br />

lektueller. Aus dem Vorhaben einer Ausarbei‐<br />

tung des Schlusskapitels wurde eine Studie<br />

über Benjamin, die wegen Palmiers Tod im<br />

Jahre 1998 Fragment blieb. Doch dass dies<br />

1300‐seitige Fragment je übertroffen werden<br />

könnte, ist schwer vorstellbar.<br />

Das hat mit dem roten Faden dieser Studie<br />

zu tun: der kritischen Rettung Benjamins als so<br />

origineller wie politischer Autor. Deshalb die<br />

beiden so disparat wirkenden Untertitel des<br />

Buches: zum einen „Lumpensammler, Engel<br />

und bucklicht Männlein”, dies Spektrum<br />

39<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

Benjaminscher Gespenster, zum anderen „Äs‐<br />

thetik und Politik bei Walter Benjamin”.<br />

Fünf Teile plante Palmier. Die ersten drei —<br />

Tragödie eines deutsch jüdischen Intellektuel‐<br />

len; Sprache, Philosophie und Magie; Das Pro‐<br />

jekt einer materialistischen Ästhetik — und der<br />

An‐fang des vierten — Materialismus und<br />

Messianismus — liegen laut Herausgeber in<br />

„annähernder” Endfassung vor. Im fünften<br />

Teil sollte es um „Die Pariser Passagen oder<br />

die Archäologie der Moderne” gehen.<br />

Auf einen ersten Teil mit biographisch‐<br />

autobiographischer Orientierung folgen also<br />

vier weitere, die den Wandel des Schwer‐<br />

punkts von Benjamins literarisch‐<br />

philosophischer Weltsicht beleuchten. Auf das<br />

Fehlende wäre man gespannt. Aber doch nur,<br />

weil das nahezu erzählerische Kreisen in im‐<br />

mer neuen Schichten von Benjamins Welt für<br />

dauernde Faszination sorgt.<br />

Der Leser hat am Ende nicht den Eindruck<br />

einer Unvollständigkeit des Buches, sondern<br />

den der Unabschließbarkeit einer Studie, die<br />

einem Leben und vor allem einem damit eng‐<br />

vermählten Werk angemessen ist, die glei‐<br />

chermaßen durch ungewöhnliche Komplexität<br />

wie durch untergründige Verbindungen ge‐<br />

kennzeichnet sind.<br />

Palmiers Meisterschaft in der Kombination<br />

von Einfühlung und Kritik zeigt sich schon im<br />

ersten Teil. So heißt es über die „Berliner<br />

Kindheit um 1900”: „Die Einzigartigkeit des<br />

Buches liegt, abgesehen von seiner bestechen‐<br />

den Schönheit, in der Unkenntnis einer prosai‐<br />

schen Realität, die das Herzstück so vieler<br />

Werke der Epoche ausmacht.”<br />

Anwesend ist das Abwesende bei Benjamin<br />

aber in der „Bipolarität der unentzifferten Zei‐<br />

chen”. Dass sie das Leitmotiv der „Berliner<br />

Kindheit” bilden, entspringe, so Palmier, der<br />

„Enttäuschung des Erwachsenen — des prole‐<br />

tarisierten Schriftstellers, der dem Paradies<br />

dieser bürgerlichen Kindheit entrissen wurde<br />

und der im selben Moment ein Bewusstsein<br />

seiner Klassenlage gewann, in dem er seine<br />

materielle Sicherheit verlor”.<br />

Deshalb hatte gerade das Stück „Loggien”<br />

für Benjamin die Bedeutung einer Art von<br />

Selbstporträt, wie er an seine Vertraute, Gretel<br />

Adorno, schrieb. Die Loggia ist eine Schwelle<br />

zwischen der erstickenden Sicherheit der elter‐<br />

lichen Wohnung und dem Blick in die Hinter‐<br />

höfe mit den Unterkünften der Armen. Benja‐<br />

min, dem proletarisierten Intellektuellen, sind


die Loggien nah „des Trostes wegen, der in ih‐<br />

rer Unbewohnbarkeit für den liegt, der selber<br />

nicht mehr recht zum Wohnen kommt”.<br />

Durch den Vergleich mit Marcel Proust und<br />

Ernst Bloch verleiht Palmier Benjamins Eigen‐<br />

tümlichkeit zusätzlich Konturen. Für Proust<br />

bedeutet Erinnerung die Suche nach verborge‐<br />

nen Augenblicken des Glücks, für Bloch sind<br />

Erinnerungen Sammellinsen für utopische<br />

Stoffe.<br />

Für Benjamin dagegen sind die Augenbli‐<br />

cke der Kindheit solche eines Scheiterns, das<br />

entziffert werden muss, eines Versprechens,<br />

das das Leben nicht gehalten hat. Die Bewah‐<br />

rung der eigenen Kindheit gewinnt für Benja‐<br />

min in genau dem Moment einen historischen<br />

Sinn, in dem das Tragische seines Lebens und<br />

das der Geschichte miteinander verschmelzen.<br />

„Das Kind und der Unterdrückte”, so in‐<br />

terpretiert Palmier die politische Seite von Ben‐<br />

jamins Verhältnis zu seiner Kindheit, „sind<br />

Teil derselben Geschichte: derjenigen, die ,aus<br />

Sicht der Verliererʹ geschrieben wird. In Ben‐<br />

jamins theologisch‐politischer Vision ist das<br />

Kind, das er war, identifiziert mit der Ge‐<br />

schichte selbst, ihrem unerlösten Leid. Die<br />

,Erinnerungenʹ verkörpern die gleichen messi‐<br />

anischen Erwartungen [...], die aber ,die<br />

Flamme der Hoffnung entfachenʹ muß.”<br />

Die einfühlend‐kritische Hal‐<br />

tung Palmiers und sein Interesse am originär<br />

politischen Benjamin bewähren sich, gleich‐<br />

viel, ob es um Benjamins Verhältnis zu Scho‐<br />

lem, Adorno, Bloch, Kracauer, Brecht oder<br />

dem Frankfurter Institut für Sozialforschung<br />

geht oder um Themen wie Mimesis, dialekti‐<br />

sches Bild, Phantasmagorie, Aura, um Erneue‐<br />

rung der Literaturkritik, die Rolle der Intellek‐<br />

tuellen, die Vereinbarkeit von Marxismus und<br />

Theologie oder die Politisierung der Kunst.<br />

Jeder, der etwa Benjamins erkenntniskriti‐<br />

sche Vorrede zum Trauerspielbuch zu verste‐<br />

hen suchte, wird mit Dankbarkeit und Gewinn<br />

lesen, was Palmier über Benjamins Praxis be‐<br />

richtet, für je‐den seiner großen Essays er‐<br />

kenntnistheoretische Grundannahmen zu‐<br />

40<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

sammenzustellen, die durch die Vielfalt ihrer<br />

Quellen verblüffen.<br />

Benjamins Interesse am Universitätsbetrieb<br />

und an den philosophischen Strömungen sei‐<br />

ner Zeit war gering. Einzig in Lukácsʹ „Ge‐<br />

schichte und Klassenbewusst‐sein” sah er die<br />

Aporien der klassischen Erkenntnistheorien<br />

mit ihrem Ausgang von einer Subjekt‐Objekt‐<br />

Spaltung philosophisch aufgehoben. Im Übri‐<br />

gen holte er sich Anregungen bei der Roman‐<br />

tik und dem Judentum, bei vergessenen Auto‐<br />

ren und Außenseitern. „Diese Marginalität<br />

Benjamins”, so Palmier, „dieser ,Schritt zurückʹ<br />

hinter die Begriffsbildungen seiner Zeit, ist die<br />

Bedingung seiner Originalität.”<br />

Dazu gehörte auch das Prägen eigener Be‐<br />

griffe bzw. die Ersetzung von Begriffen durch<br />

Bilder, Konstellationen sinnlicher Objekte, Stil‐<br />

figuren wie die Allegorie. So praktizierte Ben‐<br />

jamin auf seine Weise den „Tigersprung ins<br />

Vergangene”, der die Gegenwart erhellen soll‐<br />

te.<br />

Palmiers Führung durchs Labyrinth von<br />

Benjamins Welt ist bewundernswert, und es<br />

fehlt dabei auch nicht an Hinweisen auf den<br />

politischen und intellektuellen Kontext, in dem<br />

Benjamins Leben, Denken und Dichten sich<br />

abspielte. Doch sich derart intensiv wie Pal‐<br />

mier auf ein Leben und Denken einzulassen,<br />

das so wie das Benjamins in Gestalt von Texten<br />

– weitaus mehr unveröffentlichten und nicht<br />

zur Veröffentlichung gedachten als veröffent‐<br />

lichten — existiert, das hat auch einen be‐<br />

klemmenden Effekt. Es entsteht eine geschlos‐<br />

sene Welt, in der das „sollte”, diese merkwür‐<br />

dig imperativische Vorwegnahme der bekann‐<br />

ten Zukunft, auffallend häufig auftritt. Unbe‐<br />

fangene Einschätzungen werden dann schwie‐<br />

rig.<br />

Ein Beispiel dafür ist, wie Ludwig Klages<br />

bei Palmier vorkommt. In einer Fußnote er‐<br />

wähnt er Benjamins Bewunderung für den Au‐<br />

tor der Bücher „Vom kosmogonischen Eros”<br />

und „Der Geist als Widersacher der Seele”,<br />

doch nichts, was diese Bewunderung ver‐<br />

ständlich machen könnte. Statt über den 1914<br />

erschienenen Aufsatz „Vom Traumbewusst‐<br />

sein” informiert zu werden, um dessen Fort‐<br />

setzung Benjamin Klages bat, erfährt man nur,<br />

dass Klages „ein echter Vorläufer des national‐<br />

sozialistischen Irrationalismus und notorischer<br />

Antisemit” gewesen sei, von dem Benjamin<br />

sich erst unter dem Einfluss Adornos endgül‐<br />

tig losgesagt habe.


Trotz aller Bewunderung hinterlässt<br />

Palmiers Buch ein zwiespältiges Gefühl. Der<br />

Autor führt mit sicherer Hand durch ein Laby‐<br />

rinth – aber nicht mehr hinaus. Bei aller An‐<br />

gemessenheit im Einzelnen hat die Monumen‐<br />

talität des Ganzen angesichts der einen Person,<br />

um die bzw. um deren Werk es geht, etwas<br />

Unmäßiges.<br />

Jean‐Michel Palmier: Walter Benjamin. Lumpensammler, En‐<br />

gel und bucklicht Männlein. Ästhetik und Politik bei Walter<br />

Benjamin. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen<br />

von Florent Perrier. Aus dem Französischen von Horst<br />

Brühmann. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. <strong>2009</strong>, 1372 Seiten,<br />

64 Euro.<br />

Aus: Frankfurter Rundschau<br />

vom 16.‐17. Januar 2010, S.34‐35.<br />

‒ Jean-Luc Nancy: Blick auf die wahre Demokratie<br />

Christian Schlüter: Die Freiheit des Menschen<br />

ist seine Unbestimmtheit ‐ Jean‐Luc Nancy<br />

sucht die „Wahrheit der Demokratie”<br />

In unruhigen Zeiten wie diesen bekommt<br />

man es immer wieder mit Tabubrechern zu<br />

tun, solchen intellektuellen Dienstleistern also,<br />

denen die allgemeine Ratlosigkeit ein will‐<br />

kommener Anlass ist, der Menschheit ganz<br />

allgemein mit ihren gefährlichen Gedanken<br />

auf die Sprünge zu helfen. In der Regel läuft<br />

dies, was die wirklich bedenkenswerten Inhal‐<br />

te angeht, auf bloße Schaumschlägerei hin‐aus,<br />

wie wir zuletzt bei den Herren Sloterdijk und<br />

Bolz beobachten durften. Doch wollen wir<br />

nicht ungerecht sein: Die Abwesenheit von be‐<br />

denkenswert‐bedenklichen Inhalten ist nicht<br />

allein dem Unvermögen der Autoren geschul‐<br />

det, sondern auch dem beinahe vollständigen<br />

Fehlen von Tabus.<br />

Eigentlich ist alles erlaubt. Etwas zugespitzt<br />

ließe sich sagen, dass heute nur noch auf zwei‐<br />

erlei Weise ein Tabu zu brechen ist: Entweder<br />

man kündigt die öffentliche Hinrichtung sei‐<br />

nes Dackels oder Wellensittichs an, oder man<br />

stellt öffentlich die Demokratie in Frage. Was<br />

letzteres Tabu angeht, haben in letzter Zeit ei‐<br />

nige Philosophen die Provokation gesucht, al‐<br />

len voran Alain Badiou, Slavoj Zizek und Toni<br />

Negri. Und nun präsentiert uns auch noch der<br />

Franzose Jean‐Luc Nancy seine Version:<br />

„Wahrheit der Demokratie” heißt sie, ein<br />

schmales Buch von gerade mal 102 Seiten.<br />

Während seine Kollegen ganz brachial,<br />

wenn auch gut begründet die Demokratie ih‐<br />

rer Bütteldienste für das Kapital wegen ab‐<br />

schaffen wollen, geht Nancy etwas behutsamer<br />

vor. Ihm ist es nicht so sehr um die Abschaf‐<br />

fung zu tun als vielmehr um das Bestreiten ei‐<br />

nes zentralen Geltungsanspruches: Die Demo‐<br />

41<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

kratie „ist nicht eine politische Form unter an‐<br />

deren, im Unterschied dazu, was sie für die<br />

Antike war. Sie ist überhaupt keine politische<br />

Form, oder sie ist zumindest nicht zuerst eine<br />

politische Form”. Damit möchte Nancy aller‐<br />

dings den Ansprüchen nicht nur des Politi‐<br />

schen, sondern auch des Religiösen, Ästheti‐<br />

schen, Ökonomischen oder Szientistischen eine<br />

klare Absage erteilen.<br />

Dergleichen Einzeldisziplinen folgen doch<br />

nur den Kalkülen der Aneignung und Unter‐<br />

werfung, nicht zuletzt der Ausbeutung und<br />

Stillstellung einer dem Menschen eigenen Un‐<br />

ruhe. Demokratie, so Nancy, habe im Unter‐<br />

schied dazu dem Menschen zu dienen, indem<br />

sie ihn „als Risiko und Chance ,seiner selbstʹ<br />

einsetzt, als ,Tänzer über dem Abgrundʹ, um es<br />

auf paradoxe und absichtlich nietzscheanische<br />

Weise zu sagen”. Der Mensch, das nicht fest‐<br />

gestellte Tier: Nancys Projekt ließe sich auch<br />

als das Paradox beschreiben, aus der negativen<br />

Anthropologie eines Helmuth Plessners oder,<br />

was beinahe dasselbe ist, aus dem ontologi‐<br />

schen, vor allem in „Sein und Zeit” vorgeführ‐<br />

ten Sprachspiel eines Martin Heideggers einen<br />

normativen Begriff des Politischen gewinnen<br />

zu wollen.<br />

In ihrer gegenwärtigen politischen<br />

Schwundstufe wäre die Demokratie demnach<br />

zu einer Versicherungsagentur für risiko‐<br />

scheue Investoren geworden – mit der ideolo‐<br />

gisch von der „bürgerlichen Mitte” vorbereite‐<br />

ten Zumutung, für die Schadenssummen die<br />

Allgemeinheit aufkommen zu lassen. Und der<br />

Fehler des Systems bestünde darin, den Men‐<br />

schen in seiner Unruhe und Unbestimmtheit<br />

nicht sein zu lassen.<br />

Jean‐Luc Nancy: Wahrheit der Demokratie. A. d. Frz. v. Richard<br />

Steurer. Passagen Verlag , Wien <strong>2009</strong>, 104 Seiten, 12,90 Euro.<br />

Aus: Literatur‐Rundschau der Frankfurter Rundschau vom 8.<br />

Dezember <strong>2009</strong>, S.A10.<br />

‒ Jean-Luc Nancy und die nationale Identität<br />

Nancy und die Kirchturmpolitik ‐ Der Philosoph<br />

erinnert daran, dass individuelle oder nationale<br />

Identität pluralisch ist<br />

Angesichts der von einem Minister in Gang<br />

gesetzt wurde, der es verstand, nationale Iden‐<br />

tität mit Immigration zu vermengen, kann der<br />

Philosoph Jean‐Luc Nancy nur seine Bestür‐<br />

zung äußern. Tieferliegende und weitgehende<br />

Gründe spielen hier eine Rolle: Gegen eine<br />

Philosophie, die das Subjekt als eine Abge‐<br />

schlossenheit auf sich selbst betrachtet, kann<br />

Nancys gesamtes Werk wahrlich zeigen, dass<br />

jedes Subjekt «auf einzigartige Weise plural»


und «auf plurale Art einzigartig» ist. M.a.W.:<br />

dass alles Existierende in Wirklichkeit eine Ko‐<br />

Existenz ist, und dass es von daher schwierig<br />

ist, hier «einen Horizont von „Identität“ anzu‐<br />

visieren». Solche Gründe haben ihre Fundie‐<br />

rung in der Gegenwart: Der Philosoph gesteht<br />

sehr wohl ein, dass «so belastete Begriffe wie<br />

„Identität“ und „Nation“, die seit einem hal‐<br />

ben Jahrhundert zumindest auch philosophi‐<br />

sche, psychoanalytischer, ethnologische, sozio‐<br />

logische und politische Befragungen infiltrie‐<br />

ren, leichtfertig zu sogenannten „Debatten“<br />

herhalten können.» Das Unverständnis sorgt<br />

für einen Stillstand der begrifflichen Arbeit<br />

oder verführt sogar dazu, «um den heißen Brei<br />

herum zu reden». Hiervon heben sich die<br />

«fragmentarisch und rasch entworfenen» Ge‐<br />

danken wohltuend ab, aus denen dieses kleine<br />

erhellende Büchlein über die «Identität» be‐<br />

steht, wohltuend ab.<br />

Was also heißt Identität? Kurz und knapp:<br />

«Die Identität ist ein Geschehen eines Einzel‐<br />

nen, der sich ein (ein persönliches oder kollek‐<br />

tives) «Eines» anzueignen versucht.» Und das<br />

«geschieht nie nur einmal, sondern unaufhör‐<br />

lich»! Man könnte hier auch von «Enteignung»<br />

(Jacques Derrida) sprechen, weil es niemals ein<br />

kompaktes, zu identifizierendes Subjekt gibt,<br />

dem eine solche «Aneignung» zukäme: «jedes<br />

Mal ist es verschieden, verschieden von ande‐<br />

ren und von sich selbst, d.h. es fehlt ihm jegli‐<br />

che Identität. Das soll aber nicht heißen, es sei<br />

labil, inkonsistent und beliebig in Veränderung<br />

begriffen: die wirkliche Konsistenz eines Sub‐<br />

jekts besteht zu jedem Augenblick darin, dass<br />

es seine tatsächliche Identifizierung über‐<br />

schreitet». Gilt das auch für die «nationale»<br />

Identität? Nancy bejaht das: Identität ist nie ein<br />

«Einbruch» (précipité), ein unauflöslicher<br />

«Körper», der aus einer Art Lager historischer,<br />

religiöser, geopolitischer, ethischer, sozialer<br />

oder mythischer Charakterzüge dessen, was<br />

wir als «Nation» bezeichnen, besteht. Sie ist<br />

bloß ein «Fingerzeig …, auf das, was kommt,<br />

was unaufhörlich auf uns zukommt, uns neue<br />

Wege bahnt, Spuren hinterlässt, aber niemals<br />

ein Ding oder ein einheitlicher Sinn.»<br />

Da sind wir, wie wir sehen, weit entfernt<br />

von den Vorstellungen des französischen<br />

Staatspräsidenten, die er vor seinen Ministern<br />

geäußert hat, als er die großen Leitlinien vor<br />

den Regionalwahlen im <strong>März</strong> 2010 darzulegen<br />

versuchte: «Ich will Nägeln mit Köpfen!» (No‐<br />

vember <strong>2009</strong>). «Man kann das nicht besser<br />

42<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

formulieren», kommentiert Nancy. «Nägel mit<br />

Köpfen, das heißt einen reifen Camembert und<br />

darauf jenen gallischen Hahn, den man aller‐<br />

orts auf die Kirchtürme gepflanzt hat; dass soll<br />

ein echtes und unauslöschliches Identitäts‐<br />

merkmal der französischen Nation sein!? Noch<br />

dazu jener französischen Nation, die seit ei‐<br />

nem guten Jahrhundert ihren Ausdruck findet<br />

auf den gestanzten und verschimmelten Bilder<br />

unserer Weinkisten?»<br />

So wie man dadurch unsere Kunst des<br />

Weinanbaus beleidigt, so beleidigt man auch<br />

«vierzig Jahre harter und ergebnisreicher wis‐<br />

senschaftlicher Forschung», die auf allen Ge‐<br />

bieten unserer Humanwissenschaften und der<br />

Philosophie geleistet wurde ‒ man braucht<br />

bloß den Namen Claude Lévi‐Strauss zu er‐<br />

wähnen. Und dann zwingt man die Gesell‐<br />

schaft zu einer Debatte darüber, womit sie sich<br />

identifizieren soll! Die Gesellschaft, und das<br />

sagt schon ihr Name, ist etwas, was vergesell‐<br />

schaftet, assoziiert: «Sie identifiziert nicht, au‐<br />

ßer bei der Staatsangehörigkeit, der Sozialver‐<br />

sicherung oder bei all den unterschiedlichen<br />

Formen staatlicher Datenerhebungen.» Man<br />

sollte auch bedenken, dass es hier um etwas<br />

ganz anderes geht als um eine nationale Identi‐<br />

fizierung, zu der der Staat ebenso wenig in der<br />

Lage ist wie die Gesellschaft. Es stellt sich nicht<br />

die Frage, ob man über eine französische Iden‐<br />

tität sprechen kann oder muss, sondern man<br />

«lädt dazu ein zu formulieren, worin sie beste‐<br />

he, woraus sie gemacht sei, wozu sie nützlich<br />

sei; und mit noch größerer Unverblümtheit<br />

will man ein für allemal festlegen, «was vom<br />

Einzelnen verlangt wird, wie er sich zu integ‐<br />

rieren, zu assimilieren oder gar sich ihr zu un‐<br />

terwerfen habe.»<br />

Das ist ein gefährliches, aber alles in allem<br />

auch ein vergebliches Unterfangen, und das<br />

nicht nur weil Völker sich niemals vollständig<br />

als eine Einheit identifizieren lassen, sondern<br />

auch deshalb weil sich am Horizont schon<br />

«tektonische Verwerfungen» abzeichnen, die al‐<br />

lerorts die «Identität» in Erschütterung verset‐<br />

zen; die Identität kann man nur im Plural de‐<br />

klinieren, sie entzieht sich jeglicher Fixierung.<br />

Das zeigt sich schon in der Literatur: «Was<br />

macht die Identität eines großen Schriftstellers<br />

aus? Dass man sich nie glaubt erdreisten zu<br />

können, die Identität seiner Figuren vollstän‐<br />

dig erfassen erfasst zu haben. Denken Sie nur<br />

an Henry James, Marcel Proust, Faulkner.<br />

Demgegenüber hat ein schlechter Schriftsteller


von Anfang an, noch bevor er begonnen hat zu<br />

schreiben, eindeutig zu identifizierende Figu‐<br />

ren vor sich!» Robert Maggiori<br />

Jean‐Luc Nancy : Identités. Fragments, Paris<br />

(Galilée), 2010, 80 S., 14 Euro.<br />

Aus: Libération Livres vom 11. Februar 2010, S.I.<br />

‒ Aus dem Französischen von H.‐P. Jäck.<br />

C) SOCIOLOGICA<br />

Matthias Becker: Ungleichheit macht krank<br />

„Gleichheit ist Glück”: Zwei englische Mediziner haben<br />

erforscht, dass für die Gesundheit der Menschen Reich‐<br />

tum weniger wichtig ist als Verteilungsgerechtigkeit<br />

„Manches, was man heute als Armut be‐<br />

klagt, wäre in meiner Kindheit beinahe klein‐<br />

bürgerlicher Wohlstand gewesen.ʺ Viele den‐<br />

ken wie der ehemalige Bundeskanzler Helmut<br />

Schmidt, der immer wieder betont, dass es den<br />

Unterprivilegierten hierzulande so schlecht<br />

nicht gehen könne, schließlich besäßen fast alle<br />

einen Fernseher, Videorecorder oder ein Auto<br />

— Dinge, die noch in den 70er Jahren für viele<br />

Facharbeiter unerreichbar waren. Falsch, sagen<br />

Richard Wilkinson und Kate Pickett, zwei eng‐<br />

lische Epidemiologen, deren Buch „Gleichheit<br />

ist Glück” gerade auf Deutsch erschienen ist.<br />

Zumindest in den entwickelten Ländern sei<br />

das Schlimme an der Armut nicht Mangel,<br />

sondern Kränkung.<br />

Wilkinson und Pickett untersuchen seit Jah‐<br />

ren, welche Faktoren das Wohlergehen der<br />

Menschen bestimmen. Sie sind überzeugt, dass<br />

Gesundheit und Lebenserwartung in einer Ge‐<br />

sellschaft unmittelbar davon abhängen, wie<br />

gleichmäßig der Reichtum verteilt ist. Un‐<br />

gleichheit dagegen „führt zu geringerer Le‐<br />

benserwartung, zu geringerem Geburtsge‐<br />

wicht und höherer Säuglingssterblichkeit. Die<br />

Menschen erreichen eine geringere Körpergrö‐<br />

ße, sie sind anfälliger für Infektionskrankhei‐<br />

ten und Depressionen”. Es kommt demnach<br />

gar nicht so sehr darauf an, ob jemand über ei‐<br />

nen Fernseher verfügt oder nicht. Wichtig ist,<br />

ob die anderen einen haben. In den USA ver‐<br />

fügen 80 Prozent der nach offizieller Definition<br />

Armen über eine Klimaanlage, 75 Prozent über<br />

ein Auto und 33 Prozent über Computer,<br />

Zweitwagen oder Geschirrspülmaschine. Den‐<br />

noch leiden sie häufiger unter Krankheiten als<br />

Menschen mit dem gleichen Konsumniveau in<br />

anderen Gesellschaften. Wilkinson und Pickett<br />

43<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

zeigen, dass derselbe Lebensstandard unter‐<br />

schiedliche Folgen hat — je nachdem, wie hoch<br />

der Lebensstandard der anderen ist.<br />

Der wichtigste Grund dafür ist der „sozia‐<br />

len Psychosomatik” von Wilkinson und Pickett<br />

zufolge, dass Ungleichheit chronischen Stress<br />

erzeugt. Besonders die vermehrte Ausschüt‐<br />

tung des Hormons Cortisol führe in den ent‐<br />

wickelten Ländern zu Herz‐Kreislauf‐<br />

Erkrankungen, Schlaganfällen und Fettleibig‐<br />

keit.<br />

Keine Angst vor Unpopulärem<br />

Deshalb führe ab einem bestimmten Ni‐<br />

veau der Gesundheitsfürsorge mehr Wohl‐<br />

stand nicht zu einer entsprechenden Steige‐<br />

rung der durchschnittlichen Lebens‐zeit, wie<br />

gemeinhin angenommen wird. Das Pro‐Kopf‐<br />

Einkommen in Portugal beispielsweise ist nur<br />

halb so groß wie in den USA. Die Lebenser‐<br />

wartung aber liegt in beiden Ländern bei un‐<br />

gefähr 75 Jahren.<br />

Anders gesagt: Je gleichmäßiger die Vertei‐<br />

lung, desto weniger Reichtum ist nötig, um<br />

das gleiche Maß an Lebenszeit und Lebensqua‐<br />

lität zu erreichen. Dabei geht es wohlgemerkt<br />

nicht um „Chancengleichheit”, um faire Start‐<br />

bedingungen beim Wettlauf um Einkommen<br />

und Status, sondern um Gleichheit im Ergeb‐<br />

nis: ein politischer Standpunkt, der heute völ‐<br />

lig marginalisiert ist.<br />

Aber die beiden Mediziner haben keine<br />

Angst, Unpopuläres auszusprechen. Lapidar<br />

stellen sie fest, Gleichheit könne durch geringe<br />

Lohnspreizung wie durch staatliche Umvertei‐<br />

lung erreicht werden; der Effekt für den<br />

Gesundheitszustand der Bevölkerung sei der‐<br />

selbe.<br />

Der Untertitel der englischen Originalaus‐<br />

gabe — „Warum es egalitäreren Gesellschaften<br />

fast immer besser geht” — zeigt den Geist, der<br />

hier weht: Zwei Naturwissenschaftler, die<br />

ebenso fest an ihre Forschungsergebnisse wie<br />

an den kollektiven Erkenntnisfortschritt glau‐<br />

ben, aufrichtig bis zur Naivität — beispiels‐<br />

weise wenn sie versuchen, die Begüterten da‐<br />

von zu überzeugen, dass weniger individueller<br />

Besitz in ihrem eigenen wohlverstandenen<br />

(Gesundheits‐)Interesse wäre.<br />

Wilkinson und Pickett argumentieren fast<br />

ausschließlich mit Statistiken, die Zahlen<br />

kommen von den UN, Unicef oder der WHO.<br />

Mit diesem Material können sie eindrucksvoll<br />

belegen, wie eng der Zusammenhang zwi‐<br />

schen Gesundheit und Gleichheit ist. Im Detail,


wenn es etwa um die Häufigkeit von Gewalt‐<br />

taten, Drogenkonsum oder psychische Krank‐<br />

heiten geht, ist die Argumentation gelegentlich<br />

etwas holzschnittartig. Aber die Grundthese<br />

von Wilkinson und Pickett ist so unmissver‐<br />

ständlich wie aktuell: Ungleichheit macht<br />

krank.<br />

Kate Pickett/Richard Wilkinson: Gleichheit ist Glück.<br />

Tolkemitt‐Verlag, Berlin 2010, 320 Seiten, 19,90 Euro.<br />

Aus: Frankfurter Rundschau vom<br />

27.‐28. Februar 2010, S,24‐25.<br />

5.<br />

<strong>Brief</strong> von Hajo Hübner<br />

„… zurück aus Bangladesch, geht es mir<br />

nicht gut. Ich laboriere an einer Pneumonie.<br />

Trotzdem.<br />

Hier ein etwas älterer Artikel aus der FAZ.<br />

Als ich mir in Dhaka den <strong>Mitglieder</strong>brief <strong>Nr</strong>.<br />

84 runtergeladen hatte, das war sehr erfreu‐<br />

lich, dahinten, im fernen Bangladesch, fiel mir<br />

der Artikel bei der Lektüre des Artikels über<br />

Hans Kelsen ein.<br />

Wenn Herzkrankheiten und ein höheren<br />

Herzinfarktrisiko bei Rezessionskindern Fol‐<br />

gen von Arbeitslosigkeit sind, dann ist Arbeits‐<br />

losigkeit ein Trauma, und die Folgen gehören<br />

zur Posttraumatischen Belastungsstörung. Im<br />

Kapitalismus oder Neokapitalismus wird das<br />

vielleicht nicht so gesehen, aber da gilt nun<br />

mal wieder Teddys Aphorismus:<br />

«Aufforderung zum Tanz. — Die Psychoanalyse tut sich<br />

etwas zugute darauf, den Menschen ihre Genussfähigkeit wiederzugeben,<br />

wie sie durch die neurotische Erkrankung gestört<br />

sei. Als ob nicht das bloße Wort Genussfähigkeit genügte, diese,<br />

wenn es so etwas gibt, aufs empfindlichste herabzusetzen.<br />

Als ob nicht ein Glück, das sich der Spekulation auf Glück<br />

verdankt, das Gegenteil von Glück wäre, ein weiterer Einbruch<br />

institutionell geplanter Verhaltensweisen ins immer<br />

mehr schrumpfende Bereich der Erfahrung. Welch einen Zustand<br />

muss das herrschende Bewusstsein erreicht haben, dass<br />

die dezidierte Proklamation von Verschwendungssucht und<br />

Champagnerfröhlichkeit, wie sie früher den Attachés in ungarischen<br />

Operetten vorbehalten war, mit tierischem Ernst zur<br />

Maxime richtigen Lebens erhoben wird. Das verordnete Glück<br />

sieht denn auch danach aus; um es teilen zu können, muss der<br />

beglückte Neurotiker auch noch das letzte bisschen an Vernunft<br />

preisgeben, das ihm Verdrängung und Regression übrig<br />

ließen, und dem Psychoanalytiker zuliebe an dem Schundfilm,<br />

dem teuren aber schlechten Essen im French Restaurant, dem<br />

seriösen drink und dem als sex dosierten Geschlecht wahllos<br />

sich begeistern. Das Schillersche »Das Leben ist doch schön«,<br />

das immer schon Papiermaché war, ist zur Idiotie geworden,<br />

seitdem es im Einverständnis mit der omnipräsenten Reklame<br />

ausposaunt wird, zu deren Fanalen auch die Psychoanalyse, ihrer<br />

besseren Möglichkeit zum Trotz, Scheite herbeiträgt. Wie<br />

die Leute durchweg zu wenig Hemmungen haben und nicht zu<br />

viele, ohne doch darum um ein Gran gesünder zu sein, so<br />

müsste eine kathartische Methode, die nicht an der gelungenen<br />

Anpassung und dem ökonomischen Erfolg ihr Maß findet, darauf<br />

ausgehen, die Menschen zum Bewusstsein des Unglücks,<br />

des allgemeinen und des davon unablösbaren eigenen, zu bringen<br />

und ihnen die Scheinbefriedigungen zu nehmen, kraft de-<br />

44<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

rer in ihnen die abscheuliche Ordnung nochmals am Leben<br />

sich erhält, wie wenn sie sie nicht von außen bereits fest genug<br />

in der Gewalt hätte. Erst in dem Überdruss am falschen Genuss,<br />

dem Widerwillen gegens Angebot, der Ahnung von der<br />

Unzulänglichkeit des Glücks, selbst wo es noch eines ist, geschweige<br />

denn dort, wo man es durch die Aufgabe des vermeintlich<br />

krankhaften Widerstands gegen sein positives Surrogat<br />

erkauft, würde der Gedanke von dem aufgehen, was man<br />

erfahren könnte. Die Ermahnung zur happiness, in der der<br />

wissenschaftlich lebemännische Sanatoriumsdirektor mit den<br />

nervösen Propagandachefs der Vergnügungsindustrie übereinstimmt,<br />

trägt die Züge des wütenden Vaters, der die Kinder<br />

anbrüllt, weil sie nicht jubelnd die 'Treppe hinunterstürzen,<br />

wenn er misslaunisch aus dem Geschäft nach Hause kommt.<br />

Es gehört zum Mechanismus der Herrschaft, die Erkenntnis<br />

des Leidens, das sie produziert, zu verbieten, und ein gerader<br />

Weg führt vom Evangelium der Lebensfreude zur Errichtung<br />

von Menschenschlachthäusern so weit hinten in Polen, dass jeder<br />

der eigenen Volksgenossen sich einreden kann, er höre die<br />

Schmerzensschreie nicht. Das ist das Schema der ungestörten<br />

Genussfähigkeit. Triumphierend darf die Psychoanalyse dem,<br />

der es beim Namen nennt, bestätigen, er habe halt einen Ödipuskomplex.»<br />

Aus: Theodor W. Adorno: Minima Moralia ‒ Reflexionen<br />

aus dem beschädigten Leben (1951), Frankfurt am Main (Suhrkamp)<br />

1969, S.73-75. Aphorismus 38.<br />

Es gehört zum Mechanismus von Herr‐<br />

schaft, die Erkenntnis des Leidens, das sie<br />

produziert, zu verbieten…<br />

Der Alltag im Kapitalismus ist vielleicht für<br />

viele «das Trauma», wie des Königs neue<br />

Kleider.<br />

Die AFP sollte die Arbeit von Professor Ge‐<br />

rard van den Berg im Auge behalten. Das wird<br />

spannend.<br />

Von Bangladesch bin ich energiegeladen<br />

zurück. Sie wird wiederkommen, wenn die<br />

Pneumonie vorbei ist. Ich will noch nach Afri‐<br />

ka!<br />

Liebe Grüße […] Hajo“<br />

Köln, den 25. Februar 2010<br />

Hajo Hübners empfohlener Artikel:<br />

Ein Humboldt‐Ökonom aus Holland<br />

Mit 3,5 Millionen Euro lockt die Humboldt‐Stiftung den<br />

VWL‐Professor Gerard van den Berg nach Deutschland<br />

Vor ein paar Tagen hat er an der Universi‐<br />

tät Mannheim zu arbeiten angefangen. Gerard<br />

van den Berg ist offensichtlich zufrieden. „Es<br />

war ein äußerst harter Wettbewerb”, sagt der<br />

47 Jahre alte VWL‐Professor aus Holland.<br />

Doch er hat sich gegen starke Konkurrenz aus<br />

anderen Disziplinen durchgesetzt. Im vergan‐<br />

genen Jahr hat die Alexander von Humboldt‐<br />

Stiftung ausschließlich Naturwissenschaftler,<br />

darunter Physiker, Informatiker und Biologen,<br />

ausgewählt.<br />

Dieses Jahr gehört mit van den Berg erst‐<br />

mals auch ein Ökonom zu den acht Topwis‐<br />

senschaftlern, welche die Stiftung nach


Deutschland lockt. Mit der stolzen Summe von<br />

3,5 Millionen Euro über fünf Jahre ist die<br />

Humboldt‐Professur dotiert. Es ist ein großer<br />

Gewinn für die Universität Mannheim. Deren<br />

VWL‐Dekan Enno Mannen freut sich, nun ge‐<br />

linge „der Sprung in die Gruppe der führen‐<br />

den Zentren für empirische Wirtschaftsfor‐<br />

schung und Ökonometrie”. Aber es sei auch<br />

eine neue Erfahrung. „Die Uni muss sich erst<br />

einmal daran gewöhnen, dass es da jetzt eine<br />

Person mit sehr viel Geld und ohne Lehrver‐<br />

pflichtung gibt”, sagt van den Berg [Mann‐<br />

heim‐Karlsruhe‐Frankfurt am Main]. Seine ers‐<br />

te Professur erhielt er 1996 an der Freien Uni‐<br />

versität Amsterdam. Seitdem hat er sich inter‐<br />

national einen Ruf als stark mathematisch und<br />

empirisch ausgerichteter Ökonom gemacht.<br />

Nun ist er in Mannheim angekommen. Mit<br />

dem vielen Geld plant der Arbeitsmarktfor‐<br />

scher, einige „Post‐Docs” — also promovierte<br />

Mitarbeiter — einzustellen und zudem „ganz<br />

viele Daten einzukaufen”. Die Daten sind Basis<br />

großangelegter ökonometrischer Studien. Van<br />

den Berg hat dabei zwei Forschungsschwer‐<br />

punkte: die Wirkung von aktiver Arbeits‐<br />

marktpolitik und der Zusammenhang zwi‐<br />

schen Arbeitslosigkeit und Gesundheit der Be‐<br />

völkerung. So hat er nachgewiesen, dass Men‐<br />

schen, die in einer Rezession geboren wurden,<br />

ein signifikant höheres Risiko von Herzkrank‐<br />

heiten haben. Gründe dafür sind die schlechte‐<br />

re Ernährung und die schlechtere Hygiene in<br />

wirtschaftlich harten Zeiten. „Zudem verur‐<br />

sacht die Sorge der Eltern um ihren Job einen<br />

starken Stress den die Kinder offenbar schon<br />

vor der Geburt mitbekommen.” Rezessions‐<br />

kinder haben noch siebzig Jahre später ein<br />

deutlich höheres Herzinfarktrisiko oder leiden<br />

häufiger unter Kreislaufschwierigkeiten.<br />

Van den Bergs ökonometrische Studien zur<br />

Wirkung der deutschen Arbeitsmarktpolitik<br />

brachten ernüchternde Ergebnisse: „Die meis‐<br />

ten Maßnahmen des Staates funktionieren lei‐<br />

der nicht gut”, sagt er. Die Milliarden, die der<br />

Staat für Fortbildungskurse ausgibt, haben nur<br />

wenig direkte Effekte. In puncto Qualifikation<br />

bringen sie fast nichts, ergaben van den Bergs<br />

Untersuchungen. Es gibt aber unerwartete Ne‐<br />

benwirkungen: Hatten sie die Aussicht, an ei‐<br />

nem Kurs teilnehmen zu müssen, so beschleu‐<br />

nigte dies die Suche der Arbeitslosen nach ei‐<br />

ner Stelle. „Viele Leute haben offenbar keine<br />

Lust, noch mal einige Wochen in die Schule zu<br />

gehen, da suchen sie lieber intensiver nach ei‐<br />

45<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

nem Job.” Ein fragwürdiger Erfolg, findet der<br />

Ökonom.<br />

PHILIP PLICKERT<br />

Aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23,<br />

November <strong>2009</strong>.<br />

[Vgl. dazu auch oben: Medienschau, Abschnitt<br />

SOCIOLOGICA; d.sekr.]<br />

6.<br />

Jacques Lacan<br />

Welche Funktionen kann die Psychoanalyse<br />

in der Kriminologie erfüllen?<br />

Eine theoretische Einführung<br />

(1950) (I‐II)<br />

Vortrag auf der XIII. Konferenz der französisch‐<br />

sprachigen Psychoanalytiker (29. Mai 1950) in<br />

Zusammenarbeit mit Michel Cénac<br />

I. Auf dem Weg zur Wahrheit in den Humanwis‐<br />

senschaften<br />

Die Naturwissenschaften haben ihrer Theo‐<br />

rie nach niemals die Forderung nach ihrer in‐<br />

neren Kohärenz aufgegeben; dieses Ansinnen<br />

ist auch die Bedingung des Wegs der Erkennt‐<br />

nis selbst. Deshalb vermögen auch die Hu‐<br />

manwissenschaften der Frage nach ihrem Sinn<br />

nicht auszuweichen: sie können auch nicht da‐<br />

von absehen, dass die Antwort darauf sich der<br />

Frage der Wahrheit stellen muss; denn sie sind<br />

Teil des wirklichen Verhaltens ihres For‐<br />

schungsgegenstands.<br />

Dass die menschliche Wirklichkeit den Pro‐<br />

zess dieser Enthüllung in sich trägt, ist der<br />

Grund, weshalb einige Philosophen den Ge‐<br />

schichtsprozess als eine der Materie einge‐<br />

schriebenen Dialektik ansehen; kein «behavio‐<br />

ristisches» Schutzritual des Subjekts gegenüber<br />

seinem Forschungsgegenstand kann dieser<br />

Wahrheit diesen schöpferischen und vergäng‐<br />

lichen Stachel nehmen; jeder Wissenschaftler,<br />

der sich der «reinen» Erkenntnis verpflichtet<br />

sieht, zeichnet sich in allererster Linie durch<br />

seine Verantwortung hinsichtlich dieser<br />

Wahrheit aus.<br />

Niemand weiß das besser als der Psycho‐<br />

analytiker; im Wissen um das, was ihm sein<br />

Subjekt anvertraut, und in der Technik der Be‐<br />

handlung von konditionierten Verhaltenswei‐<br />

sen, übt er sein Handwerk aus auf der Basis<br />

der Erkenntnis, dass die Wahrheit allein Wir‐<br />

kung zeitigt.<br />

Ist aber die Suche nach Wahrheit anderer‐<br />

seits auf dem Gebiet der Jurisprudenz nicht


auch das Objekt der Kriminologie? Und zeigen<br />

sich dort nicht auch zwei Seiten ihres Gesichts?<br />

Ihre polizeiliche Seite als Wahrheit des Verbre‐<br />

chens und ihre anthropologische Seite als<br />

Wahrheit des Verbrechers?<br />

Welche Beziehung besteht bei dieser For‐<br />

schung zwischen der Technik, die unser Ge‐<br />

spräch mit dem Subjekt ausrichtet, und den<br />

Begriffen, die unsere psychologische Erfah‐<br />

rung bestimmt? Das ist das Thema, das uns<br />

heute beschäftigen soll: Wir wollen dabei we‐<br />

niger einen Beitrag zur Delinquenzforschung<br />

leisten ‒ das wird in anderen Vorträgen deut‐<br />

lich werden ‒; es geht uns hier eher darum, de‐<br />

ren legitime Grenzen aufzuzeigen, und das<br />

nicht etwa, um unsere Lehre, losgelöst von ih‐<br />

rer Methode, darzustellen, sondern um sie<br />

nochmals ‒ wie es uns stets aufgetragen ist ‒<br />

hinsichtlich eines neuen Gegenstands zu über‐<br />

denken.<br />

II. Von der soziologischen Wirklichkeit des Verbre‐<br />

chens und dem Gesetz und von der Beziehung der<br />

Psychoanalyse zu ihren dialektischen Grundlagen<br />

Weder das Verbrechen noch der Verbrecher<br />

sind Objekte der Forschung, die außerhalb ih‐<br />

res soziologischen Bezugs zu sehen sind.<br />

Die These, dass das Gesetz die Sünde ge‐<br />

biert, bleibt wahr, auch außerhalb der Perspek‐<br />

tive einer Eschatologie der Gnade, wie sie der<br />

Heilige Paulus vorgegeben hat.<br />

Sie lässt sich wissenschaftlich verifizieren<br />

durch die Behauptung, dass es keine Gesell‐<br />

schaft gibt, die kein positives Recht kennt ‒ sei<br />

es nun überliefert oder kodifiziert, als Brauch‐<br />

tum oder als Rechtsinstitution. Es gibt auch<br />

keine Gesellschaft, in der es nicht vielfältige<br />

Arten von Überschreitungen gibt, die man als<br />

Verbrechen definiert.<br />

Der «unbewusste», «erzwungene», «intuiti‐<br />

ve» Gehorsam des vorgeblich Primitiven ge‐<br />

genüber den Regeln der Gruppe taucht als Be‐<br />

griff in der Ethnologie auf; er wird als Spröss‐<br />

ling einer imaginären Instanz angesehen, die<br />

ihren Schatten auf mancherlei andere Vorstel‐<br />

lungen von den «Ursprüngen», die ebenso my‐<br />

thisch sind wie sie selbst, geworfen hat.<br />

Auch zeigt jede Gesellschaft, dass es eine<br />

Beziehung gibt zwischen dem Verbrechen ge‐<br />

gen das Gesetz und der Strafe (châtiments) ‒<br />

welcher Art sie auch immer sein möge ‒, die<br />

letztlich auf ein Einverständnis des betroffenen<br />

Subjekts angewiesen ist. Dies ist eine notwen‐<br />

46<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

dige Bedingung, damit die Strafe selbst ihre<br />

Bedeutung erhält. Und das zeigt sich in zwei‐<br />

erlei Hinsicht: sei es, dass der Verbrecher<br />

selbst die Strafe an sich einsieht, die vom Ge‐<br />

setz für sein Verbrechen vorgesehen ist ‒ wie<br />

das z.B. auf den Inseln der Trobriander der<br />

Fall ist bei der Todesstrafe für den Inzest zwi‐<br />

schen den Cousins mütterlicherseits, von de‐<br />

nen uns Malinowski in seinem Buch „Le crime<br />

et la coutume dans les sociétés sauvages“ berichtet<br />

(und zwar unter Absehung psychologischer<br />

Triebkräfte ‒ nach denen sich die Gründe für<br />

die Tat aufschlüsseln lassen könnten ‒, aber<br />

auch unter Absehung des durchaus in vielen<br />

Farben durchschimmernden Abscheus, der die<br />

Verdammung zum Suizid in der Gruppe selbst<br />

auslösen könnte) ‒ oder sei es, dass die durch<br />

ein Strafrecht erfasste und daher voraussehba‐<br />

re Sanktion eine Prozedur nach sich zieht, die<br />

durchaus nach recht differenzierten sozialen<br />

Einrichtungen verlangt.<br />

Der Glaube, durch den die Strafe im Indi‐<br />

viduum verankert wird, wie auch die Einrich‐<br />

tungen, durch die sie in der Gruppe in die Tat<br />

umgesetzt wird, erlauben es uns, in eine Ge‐<br />

sellschaft wie der unsrigen den Begriff der<br />

Verantwortlichkeit einzuführen.<br />

Doch hier ist es erforderlich, dass diese glo‐<br />

bale Verantwortlichkeit immer auch als Phä‐<br />

nomen einer Äquivalenz gesehen wird. Wir<br />

können grob davon ausgehen, dass immer<br />

auch die Gesellschaft insgesamt (als prinzipiell<br />

geschlossene Gesellschaft, wie die Ethnologen<br />

sagen) davon betroffen ist, wenn eines ihrer<br />

<strong>Mitglieder</strong> für ein Ungleichgewicht gesorgt<br />

hat, das es auszugleichen gilt; und dass dieses<br />

Individuum letztlich kaum [allein] dafür ver‐<br />

antwortlich zu machen ist, weshalb das Gesetz<br />

oftmals nach einer [kollektiven] Satisfaktion<br />

verlangt: entweder zuungunsten der für den<br />

Gesetzesbrecher verantwortlichen <strong>Mitglieder</strong><br />

(tenants) oder der Kollektivität einer „ingroup“,<br />

die ihn als ihr positives Mitglied akzeptiert.<br />

Es kommt sogar vor, dass sich eine Gesell‐<br />

schaft soweit für strukturell entwickelt hält,<br />

dass sie für die Prozedur der Ausschließung<br />

der Untat die Form eines Sündenbocks wählt<br />

oder auf eine der Gesellschaft fremde Hilfe zu‐<br />

rückgreift, um sich zu regenerieren. Das ver‐<br />

weist dann zusätzlich auf eine kollektive oder<br />

mystische Verantwortlichkeit, deren Spuren in<br />

den Gebräuchen zu finden sind oder in umge‐<br />

kehrten (inversés) Triebkräften ans Licht zu<br />

kommen versuchen.


Aber auch in Fällen, bei denen die Strafe<br />

darauf ausgerichtet ist, den Verursacher des<br />

Verbrechens [direkt] zu treffen, kann man<br />

nicht unbedingt davon sprechen, dass sich so<br />

etwas gewissermaßen nur an jenen richtet, der<br />

als der Verantwortliche gilt: Es ist dabei offen‐<br />

sichtlich, dass man eine Unterscheidung mit‐<br />

denken muss, die die Person betrifft, die für<br />

ihre Untaten eine Antwort schuldig ist, je<br />

nachdem ob ihr Richter in einem Heiligen Offi‐<br />

zium oder in einem Volksgericht besteht.<br />

Die Psychoanalyse führt in ihrer Lehre von<br />

den verschiedenen Instanzen eine deutliche<br />

Unterscheidung beim modernen Menschen<br />

ein; sie kann deshalb den in unserer Epoche<br />

unklaren Begriff der Verantwortung bzw. der<br />

Verantwortlichkeit einer genaueren Definition<br />

zuführen und demgemäß einen Beitrag zu ei‐<br />

ner objektiveren Sicht des Verbrechens leisten.<br />

Durch die ihr eigene Begrenzung aufs Indi‐<br />

viduum maßt sich die psychoanalytische Er‐<br />

fahrung nicht an, einen Gegenstand der Sozio‐<br />

logie in seiner Gänze erfassen zu wollen; eben‐<br />

so wenig kann sie alle Triebkräfte, die heutzu‐<br />

tage in unserer Gesellschaft insgesamt am<br />

Werk sind, erkennen; sie muss sich damit be‐<br />

gnügen, die Spannungen in den Beziehungen<br />

herauszuarbeiten, die in der gesamten Gesell‐<br />

schaft grundlegend am Werke sind, und zwar<br />

deswegen weil nur das Unbehagen in der Kul‐<br />

tur die Verbindung (la jointe) zwischen Kultur<br />

und Natur in ihrer ganzen Klarheit zu enthül‐<br />

len vermag. Diese Gleichsetzungen lassen sich<br />

weiter ausdehnen, wenn man den Transforma‐<br />

tionen Rechnung trägt, aus denen jene Hu‐<br />

manwissenschaften, und speziell ‒ wie wir<br />

noch sehen werden ‒ die Kriminologie Nutzen<br />

ziehen können.<br />

Nicht vergessen sollten wir dabei, dass der<br />

Rückgriff auf das Geständnis des Subjekts, das<br />

in der Kriminologie als einer der Schlüssel zur<br />

Wahrheit gilt, und die Wiedereingliederung in<br />

die soziale Gemeinschaft, die als eines der an‐<br />

gestrebten Ziele angesehen wird, im analyti‐<br />

schen Dialog eine privilegierte Stellung ein‐<br />

nimmt; vor allem weil dieser Dialog bis an sei‐<br />

ne äußerste Grenze der Bedeutungshaftigkeit<br />

getrieben werden kann, berührt er sich mit<br />

dem Universellen der Sprache. Dieser Dialog<br />

lässt sich auch nicht aus der Anthropologie<br />

ausgrenzen, denn er bildet ihre Grundlage und<br />

ihr Ziel. Letztlich ist die Psychoanalyse nichts<br />

weiter als eine technische Extrapolation, die im<br />

Individuum die Wirkungsweise jener Dialektik<br />

47<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

erforscht, die das Werden unserer Gesellschaft<br />

gliedert (scande), und die ‒ nach dem Urteil des<br />

Paulus ‒ zur absoluten Wahrheit findet.<br />

Wer uns hier fragen möge, wohin unser<br />

Vortrag führt, dem werden wir im guten<br />

Glauben ‒ und zwar weil wir uns sehr wohl<br />

dieses Risikos bewusst sind ‒ antworten mit<br />

dem Hinweis auf einen jener bekannten Dialo‐<br />

ge aus den Heroengeschichten der Dialektik,<br />

hier besonders auf Platons Dialog Georgias,<br />

dessen Untertitel auf die Rhetorik verweist,<br />

und der allein dazu gemacht scheint, um die<br />

heutzutage existierende Unwissenheit auszu‐<br />

treiben: hier enthüllt sich wirklich eine Ab‐<br />

handlung über die Herausbildung dessen, was<br />

man Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit nen‐<br />

nen kann.<br />

Sokrates weist hier die Selbstgefälligkeit je‐<br />

nes Meisters zurück, der als freier Mann die<br />

Freiheit der antiken Polis verkörpert, deren<br />

Grenze das Sklaventum bildet. Die Ausfüh‐<br />

rungen kulminieren im Postulat für Freiheit<br />

der Weisheit, die allein aus einer absoluten Ge‐<br />

rechtigkeit (l’absolu de Justice) besteht. Sie be‐<br />

ruht einzig und allein auf der Tugend der<br />

Sprache und der Mäeutik des Dialogpartners.<br />

Sokrates macht dem Dialogpartner die Dialek‐<br />

tik von Leidenschaft und Macht klar, die eben‐<br />

so bodenlos ist wie das Fass der Danaer; er er‐<br />

spart ihm zudem nicht die Erkenntnis des Ge‐<br />

setzes, wonach er seine eigene politischen Exis‐<br />

tenz der Ungerechtigkeit zu verdanken hat, die<br />

in der Polis existiert; er veranlasst ihn dazu,<br />

Demut vor dem ewigen Mythos zu zeigen,<br />

nach dem die Bedeutung der Sühne, der Besse‐<br />

rung des Individuums und seines Beispiels für<br />

die Gruppe [erst] dann zu ihrem Ausdruck<br />

findet, wenn dieses Individuum selbst im Na‐<br />

men desselben Universellen sein eigenes<br />

Schicksal annimmt und sich im Vornherein<br />

dem absurden Gerichtsurteil (verdict) der Polis<br />

beugt, das ihn allererst zum Menschen macht.<br />

Es ist in der Tat keineswegs müßig, wenn<br />

man an jenen historischen Moment erinnert,<br />

aus dem jene Tradition entspringt, die das<br />

Aufkommen der Gesamtheit unserer Wissen‐<br />

schaften bildet und in der sich das Denken des<br />

Erfinders der Psychoanalyse einreiht, nämlich<br />

da wo Sigmund Freud mit pathetischer Be‐<br />

stimmtheit behauptet: «Die Stimme der Ver‐<br />

nunft ist die Grundlage, doch sie schweigt<br />

nicht, bevor man sie gehört hat.» Hier meinen<br />

wir ein stummes Echo von Sokrates‘ Stimme<br />

vernehmen zu können, der sich mit folgenden


Worten an Kallikles wendet: «Die Philosophie<br />

sagt immer das Gleiche.»<br />

Jacques Lacan, Introduction théorique aux<br />

fonctions de la psychanalyse en criminologie, in:<br />

Écrits (Seuil) 1966; S. 125‐149. ‒ Übersetzung<br />

aus dem Französischen von H.‐P. Jäck.<br />

[Fortsetzung folgt]<br />

7.<br />

AFP-Forum: Neurowissenschaften<br />

und Psychoanalyse<br />

‒ Ein Dialog zwischen Catherine Malabou und<br />

Jean‐Pierre Changeux<br />

PLATZ DER NEUROBIOLOGIE!<br />

Jean-Pierre Changeux, Neurobiologe, Mitglied der Akademie<br />

der Wissenschaften (1986), ist mit seinem Buch "L'Homme<br />

neuronal" ("Der neuronale Mensch") bekannt geworden. In einem<br />

Interview, das er mit Catherine Malabou geführt hat, die<br />

Philosophin ist und versucht, die Grundlagen einer plastischen<br />

Ontologie, ausgehend von den Entdeckungen der Biologie, zu<br />

entwerfen, kommt er auf seine Beziehungen zu den Philosophen,<br />

auf die strukturale Anthropologie und auf das Kunstwerk<br />

zu sprechen.<br />

Catherine Malabou: Nach dem Erscheinen der Re‐<br />

zension, die ich über Ihr Buch ʺDu Vrai, du Beau,<br />

du Bienʺ (ʺVom Wahren, Schönen und Gutenʺ) in<br />

der ʺQuinzaine littéraireʺ (Januar <strong>2009</strong>) geschrie‐<br />

ben habe, haben wir beide gewünscht, die Diskussi‐<br />

on fortzusetzen und ich freue mich, dass wir das in<br />

dieser Unterhaltung machen können<br />

In dieser Rezension übe ich heftige Kritik an den<br />

Philosophen, die heute bezüglich der Neurobiologie,<br />

zumindest in Frankreich, eine doppelte Haltung<br />

einnehmen, die scheinbar widersprüchlich, aber im<br />

Grunde identisch ist. Die erste besteht darin, eine<br />

Art des ʺalles ist biologischʺ zu feiern und das phi‐<br />

losophische Denken in einen kognitiven Positivis‐<br />

mus zu transformieren. Die zweite zeichnet sich im<br />

Gegenteil durch eine idealistische Verachtung des<br />

angeblichen Reduktionismus aus, den man der<br />

Neurobiologie nachsagt. Keine dieser beiden Hal‐<br />

tungen ist dazu geeignet, die authentische ideologi‐<br />

sche, theoretische und, woran ich festhalte, philoso‐<br />

phische Revolution zu begreifen, welche die jüngs‐<br />

ten Entdeckungen über das Gehirn seit etwa dreißig<br />

Jahren schon hervorrufen.<br />

Ich glaube, dass es nun wirklich an der Zeit ist,<br />

einmal abzuschätzen, inwiefern diese Entdeckun‐<br />

gen, und besonders Ihre Arbeiten, dazu geeignet<br />

sind, die Landschaft der Philosophie, wie die der<br />

Humanwissenschaften im allgemeinen, zu verän‐<br />

dern. Ich beginne mit der Philosophie, indem ich<br />

Ihnen eine sehr allgemeine Frage stellen möchte:<br />

Wie fühlen Sie sich von den Philosophen in Frank‐<br />

reich, von der einen oder anderen Schule, aufge‐<br />

nommen? Glauben Sie, dass Sie verstanden worden<br />

sind seit dem Erscheinen Ihres Buches ʺDer neuro‐<br />

48<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

nale Menschʺ? Welchen Missverständnissen war<br />

dieses Werk ausgesetzt?<br />

Jean‐Pierre Changeux: Ich muss sagen, dass<br />

ich mich von den französischen Philosophen<br />

nicht sehr aufgenommen fühle. Meine Kontak‐<br />

te sind leider sehr beschränkt gewesen. Ver‐<br />

gessen wir die Philosophen wie Derrida, De‐<br />

leuze oder Marion, sowie die Intellektuellen<br />

eines größeren Publikums wie BHL (Bernard‐<br />

Henry Levy), Glucksmann und Finkielkraut ...,<br />

deren Desinteresse ‐ ja Feindseligkeit ‐ gegen‐<br />

über der Wissenschaft offenkundig ist. Positive<br />

Kontakte wurden zu Michel Onfray herge‐<br />

stellt, aber sie sind folgenlos geblieben. Ich ha‐<br />

be früher sehr fruchtbare Dialoge mit Edgar<br />

Morin geführt, und, im Rahmen des Collège de<br />

France, leider nur sehr kurze Kontakte zu Mi‐<br />

chel Foucault gehabt, der am Vorabend seines<br />

Todes eine Debatte über künstliche und natür‐<br />

liche Intelligenz organisieren wollte. Pierre<br />

Bourdieu interessierte sich konkret für die<br />

Neurowissenschaften des Lernens, aber der<br />

Austausch ist da wiederum durch seinen Tod<br />

unterbrochen worden. Ich habe einen kleinen<br />

Text über den ʺneuronalen Habitusʺ und über<br />

die Neurowissenschaften der sozialen Interak‐<br />

tion geschrieben, um ihn zu ehren, aber er ist<br />

ein toter Text im Feld der Sozialwissenschaften<br />

geblieben.<br />

Ich weiß nicht, an welchen französischen<br />

Philosophen Sie denken, der das ʺalles ist bio‐<br />

logischʺ zelebriert und der das philosophische<br />

Denken in einen kognitiven Positivismus<br />

transformiert ‐ sollen das Patricia und Paul<br />

Churchland sein? Aber sie sind Amerikaner.<br />

Wenn sie in Frankreich leben würden, wäre<br />

das schon ein Ausgangspunkt, auch wenn das,<br />

wie Sie sagen, ungenügend ist! Andererseits<br />

bin ich oft mit der idealistischen Geringschät‐<br />

zung des Reduktionismus konfrontiert wor‐<br />

den. Die Kritiken kamen aus sehr unterschied‐<br />

lichen Richtungen und sind oft heftig gewesen.<br />

Zunächst, und das mag überraschen, aus den<br />

philosophischen Lagern der Marxisten und<br />

Psychoanalytikern: mit der Befürchtung, dass<br />

mit dem biologischen Determinismus der<br />

Mensch sowohl seine soziale Dimension als<br />

auch seine irreduzible Individualität einbüßen<br />

könnte! Ebenso die Befürchtung der religiösen<br />

Dualisten, die überzeugt sind, dass keine<br />

Chemie der Welt von den unsagbaren Qualitä‐<br />

ten des geistigen Lebens wird jemals Rechen‐<br />

schaft geben können ... In beiden Fällen wer‐<br />

den die außerordentliche Komplexität des


menschlichen Gehirns, seine Organisations‐<br />

ebenen und seine Plastizität weder verstanden<br />

noch überhaupt in Erwägung gezogen. Wenn<br />

ʺDer neuronale Menschʺ bei seinem Erscheinen<br />

ein lebhaftes Interesse hervorgerufen hat, hat<br />

er leider nicht die Öffnung zu den Wissen‐<br />

schaften des Menschen und der Gesellschaft<br />

zustande gebracht, die ich erhoffte. Aber mit<br />

Ihnen ändern sich ja die Dinge...<br />

C.M.: In dem Dialog, den Sie mit Paul Ricœur ge‐<br />

führt haben (ʺDie Natur und die Regel, was und<br />

denken lässtʺ), gibt es sicherlich einen echten Aus‐<br />

tausch. Dennoch scheint es mir, dass Ricœur in<br />

nichts nachgibt, was für ihn die Überlegenheit der<br />

phänomenologischen Analyse der Subjektivität be‐<br />

züglich jeder anderen Annäherung, insbesondere<br />

der neurobiologischen, ausmacht. So gehört nach<br />

ihm das Gehirn nicht zum eigentlichen Körper.<br />

Man kann sagen: meine Hand, mein Herz, aber<br />

man kann nicht sagen: mein Gehirn. Dieses bleibt<br />

mir ‐ aufgrund der Tatsache, dass ich davon nicht<br />

die geringste Empfindung haben kann ‐ fremd und<br />

äußerlich. Ich kann mich seiner nicht bemächtigen.<br />

Unmöglich deshalb, es als Grund des Subjekts zu<br />

konstituieren. Was denken Sie darüber? Ist ein<br />

Neurobiologe dazu verurteilt, nur über die objekti‐<br />

ven Aspekte des Geistes, wenn man das so sagen<br />

kann, zu arbeiten, ohne jemals Zugang zu dem In‐<br />

timen der Erfahrung zu haben?<br />

Es ist wahr, dass niemand sein eigenes Gehirn<br />

empfinden kann. Ist also Ihr Objekt dazu bestimmt,<br />

der Selbsterfassung durch sich selbst zu entwischen<br />

und folglich, in einem gewissen Sinne, auch dem<br />

Denken? Ist es letztlich nur ein Wissensobjekt?<br />

J.‐P.C.: Paul Ricœur war sehr erstaunt zu er‐<br />

fahren, dass, im Unterschied zu anderen Kör‐<br />

perorganen, das Gehirn über keine ihm eige‐<br />

nen Sinnesnerven verfügt. Es kann nicht seine<br />

eigenen Aktivitätszustände wahrnehmen! Ich<br />

kann nicht sagen, indem ich z.B. das Bild der<br />

ʺMona Lisaʺ in Erinnerung rufe: schau her,<br />

mein visueller Kortex und mein Stirnkortex<br />

werden genau an dieser oder jener Stelle mobi‐<br />

lisiert! Ich bleibe in meiner Subjektivität einge‐<br />

schlossen, außer wenn ich das wissenschaftli‐<br />

che Wissen in Anspruch nehme, die neuen<br />

Bildtechnologien. Diese bringen mir den Be‐<br />

ginn einer Antwort, indem sie mir die objekti‐<br />

ven Daten hinsichtlich meiner subjektiven Zu‐<br />

stände anbieten ... indem sie mir soz. ʺdie<br />

Selbsterfassung durch sich selbstʺ erlauben!<br />

Eine wichtige Arbeit des empirischen Interface<br />

findet sich auf diese Weise mit der Entwick‐<br />

lung der Bild‐ und Aufzeichnungsmethoden<br />

49<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

EEG oder MEG in realer Zeit eröffnet, auch<br />

wenn die theoretische Arbeit, die sie begleiten<br />

sollte, von meinem Standpunkt aus unzurei‐<br />

chend bleibt. Warum sollte man sich nicht vor‐<br />

stellen, dass die Philosophen gemeinsam mit<br />

Biologen und Mathematikern an dieser Mo‐<br />

dellarbeit teil‐nehmen?<br />

C.M.: Was erwarten Sie heute von einem Dialog<br />

mit der Philosophie, wünschen Sie, dass er stattfin‐<br />

det und welche Form sollte er annehmen?<br />

Wären Sie mit mir einverstanden festzustel‐<br />

len, dass eine ʺKritik der neurobiologischen<br />

Vernunftʺ notwendig geworden ist, die den<br />

philosophischen Einfluss der Neurobiologie<br />

bestimmen würde, indem sie auch die Ver‐<br />

antwortung für gewisse ideologische Abirrun‐<br />

gen einer solchen Beeinflussung übernimmt?<br />

Ist es nicht notwendig geworden, das wahrhaf‐<br />

te Objekt der zeitgenössischen Neurobiologie<br />

zu situieren und abzugrenzen?<br />

J.‐P.C.: Ich hoffe natürlich, dass sich ein Di‐<br />

alog mit der Philosophie entwickeln möge.<br />

Aber ich bin nicht sicher, ob das mit der Aus‐<br />

breitung der angelsächsischen analytischen<br />

und kognitivistischen Tradition in der Folge<br />

von Fodor, Putnam, Quine und den anderen<br />

möglich sei, die nach meiner Meinung eine<br />

sehr negative Wirkung auf die Beziehungen<br />

zwischen Philosophie und Neurowissenschaft<br />

gehabt hat. Im Gegensatz dazu interessiere ich<br />

mich für die Arbeit von Hacking und von<br />

Sperber, obwohl ihre Aufnahme von Begriffen<br />

und Gegebenheiten der Neurowissenschaft<br />

mir noch unzureichend erscheint ... Ich glaube,<br />

man muss sich ein für alle Mal von der Meta‐<br />

pher des Geist‐Programms des Computers und<br />

der formalen Linguistik verabschieden, um an<br />

die neuen neuro‐kognitiven Paradigmen her‐<br />

anzukommen, für die eine neue ʺKritik der<br />

neurobiologischen Vernunftʺ sehr nützlich wä‐<br />

re. Es existiert eine reiche philosophische ‐ und<br />

auch mathematische ‐ Tradition in unserem<br />

Lande, die bei passender Gelegenheit auf diese<br />

Fragen hin neu bestimmt werden könnte, un‐<br />

ter der Bedingung, dass man mit Überzeugung<br />

das aktuelle neurobiologische Wissen und den<br />

sich durchsetzenden ʺinstruierten Materialis‐<br />

musʺ übernimmt. Wir warten sozusagen auf<br />

die neuen Bachelards... und vor allem auf die<br />

großen Theoretiker, wie es in ihrer Zeit Hebb<br />

und Penfield in Kanada, Piron und Hey in<br />

Frankreich, von Neumann, Herbert Simon und<br />

viele andere in den USA waren. Wie Sie es au‐<br />

ßerdem anregen, ʺist es unbedingt notwendig


geworden, das wahre Objekt der gegenwärti‐<br />

gen Neurobiologie zu situieren und einzu‐<br />

grenzenʺ, insbesondere in seinen Beziehungen<br />

zu den besonders lebendigen Feldern der<br />

Ethik und der Ästhetik, aber auch zur Episte‐<br />

mologie, die noch von rückständigen Ideolo‐<br />

gien beherrscht werden.<br />

Auf einer praktischeren Ebene sind sich die<br />

Politiker ‐ die allgemein die Bedeutung der<br />

wissenschaftlichen Forschung und die sich da‐<br />

raus ergebenden Fortschritte nicht genug<br />

ernstnehmen ‐ noch nicht der wichtigen An‐<br />

wendungsmöglichkeiten bewusst geworden,<br />

welche die Fortschritte der Neurowissenschaft<br />

auf den Feldern der Erziehung, der Ursprünge<br />

der Gewalt, des Altwerdens, des Lebens unse‐<br />

rer Gesellschaften im Allgemeinen haben kön‐<br />

nen... Gleichermaßen sind Abweichungen mit<br />

ökonomischem oder militärischem Ziel zu<br />

fürchten, und es ist erstaunlich festzustellen,<br />

dass die Neurowissenschaft nicht auf der<br />

Agenda der Revision der bioethischen Gesetze<br />

steht!<br />

Strukturale Anthropologie und<br />

mentaler Darwinismus<br />

C.M.: In meiner Rezension über die wirkliche phi‐<br />

losophische Bedeutung Ihrer Arbeiten ‐ wenn ich<br />

darauf insistieren darf, wie ich gerade daran erin‐<br />

nert habe ‐ erlaube ich mir auch, auf etwas hinzu‐<br />

weisen, was wie eine Schwäche erscheinen könnte,<br />

wenn wir nicht darauf zurückkommen. Sie sagen,<br />

dass viele große französische Intellektuelle (Fou‐<br />

cault, Derrida...) die neurobiologischen Forschun‐<br />

gen als Vektoren von totalitären, zumindest repres‐<br />

siven Ideologien angesehen haben (die bekannte Re‐<br />

duktion des Menschen auf einen Roboter!). Sie stel‐<br />

len Lévi‐Strauss auf die gleiche Ebene. Das er‐<br />

scheint mir etwas vorschnell. Glauben Sie nicht,<br />

dass ein vertiefter Dialog mit dem, was der Struk‐<br />

turalismus war, notwendig geworden ist?<br />

J.‐P.C.: Die Idee, dass die ʺBiologisierungʺ<br />

des Menschen ein Auswuchs totalitärer Ideo‐<br />

logien ist, stammt meiner Meinung nach nicht<br />

aus der Reduzierung des Menschen auf einen<br />

Roboter, sondern hängt in Europa mit der Er‐<br />

innerung an die Verwüstungen durch die Na‐<br />

zi‐Ideologie und mit der Furcht jeglicher Dis‐<br />

kriminierung zusammen, die sich auf die Bio‐<br />

logie stützen kann. Es ist bemerkenswert, dass<br />

in den USA die Wahrnehmung dieser Frage oft<br />

das Gegenteil darstellt. Nehmen wir den Fall<br />

der Homosexuellen: die Existenz einer biologi‐<br />

schen Differenz wird dort als befreiend erlebt,<br />

hier als diskriminierend!<br />

50<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

Was Lévi‐Strauss betrifft, nein!, ich reihe<br />

ihn nicht in die Kategorie der ʺNeuro‐Phobenʺ<br />

ein. Die persönlichen Kontakte zu ihm haben<br />

mir im Gegenteil sein wirkliches Interesse für<br />

die Neurowissenschaft gezeigt. Aber dennoch<br />

muss man sein Zögern feststellen, sie in seine<br />

wissenschaftliche Reflexion zu integrieren. Das<br />

ist ebenfalls der Fall seiner Erben wie Descola<br />

oder Godelier gewesen. Gleichwohl habe ich<br />

die jüngsten Stellungnahmen von Godelier an‐<br />

lässlich des 30. Geburtstages der Fondation<br />

Fyssen registriert. Dieser geht, gemäß seiner<br />

Begriffe, sogar soweit, den Verzicht sowohl<br />

des Paradigmas des Gesellschaftsvertrages als<br />

auch den Freudianischen Gesichtspunkt (end‐<br />

lich!) zugunsten einer kognitiven und kulturel‐<br />

len Geschichte der Vor‐ und Proto‐Menschen<br />

vorzuschlagen. Er unterstreicht ebenfalls die<br />

Anerkennung der Produktion von nicht be‐<br />

weisbaren Ideen(heiten) ‐ von Abstraktionen,<br />

die durch die tägliche Praxis nicht validierbar<br />

sind ‐ ʺdurch das Gehirnʺ, die aber unabhängig<br />

voneinander in der ganzen Welt auftauchen<br />

konnten und die, indem sie sozial geteilt wur‐<br />

den, zur Schaffung von Institutionen Anlass<br />

gegeben haben. Ich freue mich über diese Ent‐<br />

wicklung, die ich sehr vielversprechend finde.<br />

C.M. ‐ Wie Sie wissen, wünscht sich Lévi‐Strauss<br />

in ʺRace et cultureʺ (ʺRasse und Kulturʺ) klar und<br />

nachdrücklich eine Zusammenarbeit von Biologie<br />

(besonders der Genetik) und den Humanwissen‐<br />

schaften. Was er kritisiert, ist überhaupt nicht die<br />

Darwinʹsche Theorie der Evolution, sondern das,<br />

was er die vulgäre ʺbiologische Evolutionslehreʺ<br />

nennt, die darin besteht, jede Kultur mit einem<br />

Wertkoeffizienten (vom wenigsten zum meisten)<br />

gemäß ihrem vorgeblichen Entwicklungsgrad aus‐<br />

zustatten. Ich stelle mir vor, dass Sie auch das nicht<br />

verteidigen würden.<br />

Mit anderen Worten, es scheint mir, dass Lévi‐<br />

Strauss Ihren Positionen viel näher ist, als Sie es<br />

zuzugestehen scheinen. Er hat niemals auch nur<br />

einen Moment Darwin kritisiert, sondern hat im<br />

Gegenteil immer auf der Schuld des Strukturalis‐<br />

mus gegenüber der Biologie beharrt.<br />

Freilich konnte Lévi‐Strauss nicht die neuesten<br />

Entdeckungen der Gehirn‐Plastizität kennen, und<br />

seine Auffassung der Biologie im Allgemeinen, sein<br />

Blick auf die Evolution im Besonderen, sind gewiss<br />

ein wenig veraltet. Ich weiß andererseits, dass Sie<br />

nicht Anthropologe sind und dass Neurobiologie<br />

und Anthropologie selbstverständlich zwei sehr un‐<br />

terschiedliche Felder sind. Wäre es trotz allem nicht


fruchtbar, die Beziehungen zwischen Darwinismus<br />

und Strukturalismus neu zu denken?<br />

J.‐P.C.: Im 3. Kapitel von ʺRace et histoireʺ<br />

(ʺRasse und Geschichteʺ), S.25‐26, über den Eth‐<br />

nozentrismus ist Lévi‐Strauss über Darwin<br />

und die biologische Evolutionstheorie gewiss<br />

des Lobes voll, aber er greift heftig die Vorstel‐<br />

lung der sozialen oder kulturellen Evolution<br />

an, die ihm zufolge ʺhöchstens nur eine ver‐<br />

führerische, aber gefährlich bequeme Methode<br />

der Darstellung der Fakten mit sich bringtʺ<br />

oder auch noch ʺdie fälschliche wissenschaftli‐<br />

che Aufmachung eines alten philosophischen<br />

Problemsʺ. Warum diese überraschende Kluft,<br />

wenn nicht um die Spencer‘sche Sichtweise<br />

des Sozialdarwinismus zu verurteilen, die, wie<br />

jeder weiß, nur eine irrtümliche Anwendung<br />

der Evolutionstheorie auf das soziale Leben<br />

ist? Wie Patrick Tort gut gezeigt hat, wider‐<br />

setzt sich Darwin in ʺLa Filiation de lʹhommeʺ<br />

(ʺDie Abstammung des Menschenʺ) der These des<br />

Sozialdarwinismus, indem er erklärt, dass ʺdie<br />

natürliche Auslese, indem sie gemeinsam die<br />

Entwicklung der sozialen Instinkte, der affek‐<br />

tiven Gefühle und der Rationalität auswählt,<br />

die Menschwerdung auf den Weg einer Aner‐<br />

kennung des anderen und einer Moral ge‐<br />

bracht hat, die jegliche Form der selektiven<br />

Eliminierung verurteilen...ʺ Es ist selbstver‐<br />

ständlich dringend, die Beziehungen zwischen<br />

Darwinismus und Strukturalismus neu zu<br />

denken, indem man hier das neuronale Inter‐<br />

face einführt. Ich verlasse mich da auf Sie!<br />

C.M.: Es scheint mit folglich sicher zu sein, dass<br />

Levi‐Strauss offensichtlich keineswegs die Existenz<br />

einer Kontinuität zwischen dem Biologischen und<br />

dem Kulturellen leugnet. Er macht sie wiederholt<br />

in seinem Werk geltend. Als Beispiel nehme ich die‐<br />

se bekannte Behauptung aus der ʺStrukturalen<br />

Anthropologieʺ: ʺ(...) Die Verwandtschafts‐ und<br />

Heiratsregeln definieren einen vierten Kommunika‐<br />

tionstyp (nach der Kommunikation der Frauen, der<br />

Kommunikation der Güter und Dienste und der<br />

Kommunikation der Botschaften): den der Gene<br />

zwischen den Phänotypen. Die Kultur besteht folg‐<br />

lich nicht ausschließlich aus Formen der Kommu‐<br />

nikation, die ihr im eigentlichen Sinn zugehören<br />

(wie die Sprache), sondern auch ‐ und vielleicht vor<br />

allem ‐ aus Regeln, die auf alle Arten von ʺKom‐<br />

munikationsspielenʺ anwendbar sind, ob nun diese<br />

auf der Ebene der Natur oder der Kultur sich ab‐<br />

spielenʺ (Anthropologie structurale, pp.326‐327).<br />

Meinen Sie nicht, dass Lévi‐Strauss dieses an‐<br />

dere Gesetz, dieses andere Kommunikationsprinzip,<br />

51<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

das Sie in Ihren Büchern klar herausarbeiten, hätte<br />

erkennen können: es handelt sich um die Theorie<br />

der Epigenese durch selektive Stabilisierung der<br />

Synapsen. Sie ist auch noch bekannt unter dem<br />

Namen des mentalen Darwinismus. Die Kommu‐<br />

nikation beim lebendigen Individuum zwischen ei‐<br />

nerseits einer ʺgenetischen Hülleʺ, die strikt de‐<br />

terminiert ist, und andererseits den epigenetischen,<br />

nicht determinierten Faktoren, deren wichtigster in<br />

der Neurobiologie die zerebrale Plastizität ist? Ein<br />

Dialog, mit anderen Worten, zwischen einem Pro‐<br />

gramm und einer Freiheit der Improvisation, die<br />

durch die unzähligen synaptischen Verbindungen<br />

eröffnet wird, deren unser Gehirn fähig ist? Besteht<br />

da nicht ein ʺKommunikationsspielʺ, dem, zwi‐<br />

schen Natur und Kultur angesiedelt, auch der Wert<br />

eines Gesetzes zugesprochen werden muss?<br />

J.‐P.C.: Ich teile da völlig Ihren Standpunkt.<br />

Das ist genau die Position, die ich im<br />

ʺLʹHomme de véritéʺ (ʺDer Mensch der Wahrheitʺ)<br />

und in meinem letzten Buch ʺDu Vrai, du Beau,<br />

du Bienʺ (ʺVom Wahren, Schönen und Gutenʺ),<br />

das meine vergangenen Vorlesungen am<br />

Collège de France wiederaufnimmt, zu vertei‐<br />

digen versuche. Ich stimme völlig überein mit<br />

dem Begriff des ʺKommunikationsspielsʺ, der<br />

sich dem annähert, was ich die ʺkognitiven<br />

Spieleʺ nenne, die zur Zeit der epigenetischen<br />

Erlernung der Sprache durch das Neugebore‐<br />

ne intervenieren würden. Jedoch mit dem Un‐<br />

terschied, dass ich neuronale Grundlagen vor‐<br />

zuschlagen versuche.<br />

C.M.: Ebenso sehr wie Levi‐Strauss die Strukturen<br />

oft mit dem identifiziert, was er ʺGesetze des Un‐<br />

bewusstenʺ nennt, wobei letzterer Ausdruck hier<br />

überhaupt nicht das Freud‘sche Unbewusste be‐<br />

zeichnet, sondern wohl ein Ensemble von biologisch<br />

verwurzelten Konstruktionsregeln, die mit den ze‐<br />

rebralen Gesetzmäßigkeiten korrespondieren! Wür‐<br />

den Sie eine solche Definition des Unbewussten ak‐<br />

zeptieren?<br />

J.‐P.C.: Ich vermeide den Ausdruck des<br />

ʺUnbewusstenʺ genau aus dem Grunde, um<br />

mich nicht explizit auf das Freud‘sche Unbe‐<br />

wusste zu beziehen. Ich gebrauche dagegen<br />

lieber den Ausdruck Nicht‐Bewusstes, der viel<br />

weniger ideologisch belastet ist und ganz ein‐<br />

fach die Gehirnaktivitäten bezeichnet, die nicht<br />

bewusst sind, und diese sind zahlreich! Ich ak‐<br />

zeptiere selbstverständlich, was Sie ʺbiologisch<br />

verwurzelte Konstruktionsregelnʺ nennen. Ich<br />

entwickle übrigens im ʺMenschen der Wahrheitʺ<br />

und ʺVom Wahren, Schönen und Gutenʺ den Be‐<br />

griff der ʺepigenetischen Regelʺ hinsichtlich


der kulturellen Evolution und insbesondere<br />

des künstlerischen Schaffens (cf. p.226 und<br />

p.320 von ʺDer Mensch der Wahrheitʺ). Ich un‐<br />

terbreite dort, dass unser Gehirn imstande ist,<br />

gewissermaßen wie erworbene Operatoren<br />

Verbindungs‐Dispositive zu benutzen, die fä‐<br />

hig sind, die Produktion der Vor‐<br />

Repräsentationen zu bezwingen ‐ sie gleich‐<br />

sam in einem Rahmen einzufassen ‐ und somit<br />

gegen die kombinatorische Explosion zu<br />

kämpfen, die durch den außergewöhnlichen<br />

Reichtum der zerebralen Verbindungsfähigkeit<br />

(Kopplungsfähigkeit) hervorgerufen wird. Jene<br />

(die Verbindungspositive) sind gewiss biolo‐<br />

gisch verwurzelt, können aber mit angebore‐<br />

nen Dispositiven korrespondieren, die von der<br />

biologischen Evolution beerbt wurden, wie<br />

z.B. die Regeln der Invarianz der Farben oder<br />

des Klangs, aber auch mit jenen erworbenen<br />

Produktionen, die einer Kultur oder sogar ei‐<br />

nem Künstlerstil eigentümlich sind. Die gene‐<br />

tische Kombinatorik erweitert sich durch die<br />

neuronale, epigenetische Kombinatorik. In die‐<br />

sem letzten Fall hat sich der Erwerb der Regel<br />

auf bewusste Weise einstellen müssen, dann,<br />

einmal routinemäßig geworden, konnte ihr<br />

Gebrauch nicht‐bewusst werden. Aus diesem<br />

Grunde zögere ich, Ausdrücke wie ʺGesetz des<br />

Unbewusstenʺ zu verwenden. Im Gegensatz<br />

dazu finde ich es interessant, wenn man ver‐<br />

sucht, in dieser Kombinatorik das Erworbene<br />

des Eigenen der Gattung als auch das Bewuss‐<br />

te des Nicht‐Bewussten zusammenzufügen.<br />

Die ʺStrukturenʺ und die neuronale Plastizität<br />

C.M.: Von da komme ich zu einer meiner Ansicht<br />

nach der wichtigsten Fragen, die nochmal die Be‐<br />

ziehung zwischen ʺmentalem Darwinismusʺ und<br />

ʺStrukturalismusʺ betrifft. Würden Sie akzeptie‐<br />

ren, die durch Selektion, dann durch synaptische<br />

Stabilisierung erreichten Konfigurationen, die An‐<br />

lass zu kulturellen Formen geben (logisches Den‐<br />

ken, Urteile, Theorien, Bräuche, Glauben, Kunst‐<br />

werke) ‐ ʺStrukturenʺ anzusehen?<br />

J.‐P.C.: Wie ich eben gesagt habe, habe ich<br />

den Ausdruck ʺepigenetische Regelʺ benutzt,<br />

um diese kulturellen Formen zu kennzeichnen,<br />

und ich sehe keinen Gegensatz zu dem, dass<br />

Sie sie mit den ʺStrukturenʺ des Strukturalis‐<br />

mus gleichsetzen. Aber ich vermeide das Wort<br />

Struktur in diesem Kontext. In den biologi‐<br />

schen Wissenschaften hat das Wort Struktur<br />

eine ‐ oder vielmehr sehr unterschiedliche ‐<br />

Sinnbedeutungen, was viel Verwirrung nach<br />

sich ziehen kann.<br />

52<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

C.M.: Welche Konsequenzen sind aus der Applika‐<br />

tion der zerebralen Epigenese auf die soziale Evolu‐<br />

tion zu ziehen? Welche Rolle spielt die Plastizität<br />

in dieser Entwicklung?<br />

J.‐P.C.: Ich habe die Bedeutung der Epige‐<br />

nese ‐ und folglich der zerebralen Plastizität ‐<br />

in der sozialen Evolution seit dem Buch ʺDer<br />

neuronale Menschʺ ausgiebig diskutiert, das ist<br />

schon mehr als 25 Jahre her, ohne dass das un‐<br />

sere Kollegen der Human‐ und Sozialwissen‐<br />

schaften besonders interessiert hätte ..<br />

In Frankreich sind die Spaltungen zwischen<br />

den Disziplinen bedauernswert. In dem Uni‐<br />

versum der Wissenschaften vom Menschen<br />

und der Gesellschaft konnte ich feststellen,<br />

dass ‐ noch in unseren Tagen ‐ das Gewicht<br />

der Ideologien sehr groß ist. Sich mit den Bio‐<br />

logen zusammenzutun, ist für einen Soziolo‐<br />

gen eine ideologische Stellungnahme, was<br />

wichtiger zu sein scheint als der Fortschritt des<br />

Wissens! Eine erstaunliche Tatsache im Land<br />

der Aufklärung, dass die kulturelle Welt die<br />

Wissenschaftler bewusst aus ihrer Mitte in ei‐<br />

nem Maße auszuschließen scheint, dass in den<br />

großen Tageszeitungen jene sogar nicht als ʺIn‐<br />

tellektuelleʺ angesehen werden. Es gibt noch<br />

viel zu tun, um die geistigen Einstellungen zu<br />

verändern... Es zeigen sich da die Grenzen der<br />

zerebralen Plastizität unserer Mitbürger!<br />

Das Beispiel des Kunstwerks<br />

C.M.: Ich habe in meiner Rezension bei Ihnen auf<br />

einen gewissen evolutionistischen Optimismus<br />

hingewiesen. Als ob der mentale Darwinismus zu<br />

der Einrichtung einer besseren Welt führen würde!<br />

So sagen Sie in Ihrem letzten Werk: ʺDas Schöne<br />

würde so unter der Form von einzigartigen und<br />

harmonischen Synthesen zwischen Gefühl und Ver‐<br />

stand befördert werden, die das soziale Band ver‐<br />

stärken würden; das Gute bestünde in der Verfol‐<br />

gung eines glücklichen Lebens in der Gesellschaft;<br />

schließlich wäre das Wahre die ständige Suche nach<br />

objektiven, rationalen, allgemeinen und kumulati‐<br />

ven Wahrheiten, mit beständiger kritischen Infra‐<br />

gestellung und dem auf diese Weise hervorgebrach‐<br />

ten Wissensfortschrittʺ (p.514).<br />

Sind Sie nicht zu sehr noch an die Teleologie, an<br />

den schließlichen Sieg des Sinns gebunden? Unter‐<br />

stellt man dem Kunstwerk einen solchen Sieg? Gibt<br />

es nicht, wie Darwin sagte, eine Abwesenheit des<br />

Sinns bei der natürlichen Auswahl?<br />

J.‐P.C.: Selbstverständlich teile ich Darwins<br />

Standpunkt hinsichtlich der biologischen Evo‐<br />

lution und der Sinn‐Absenz bei der natürli‐<br />

chen Auswahl. Gilt das Gleiche für die kultu‐


elle Evolution? Das menschliche Gehirn ist<br />

der Hauptakteur, und dieses ist genau durch<br />

eine ständige Aktivität charakterisiert, einen<br />

Sinn auf die es umgebende Welt zu projizie‐<br />

ren, auch wenn es sich dabei oft, um die Aus‐<br />

drucksweise von Godelier aufzugreifen, um<br />

nicht validierbare Abstraktionen durch die täg‐<br />

liche Praxis handelt. Es gibt eine Überproduk‐<br />

tion des Sinns durch das menschliche Gehirn,<br />

und von dieser Tatsache her die Notwendig‐<br />

keit einer Selektion. Die ʺBlindheitʺ der kultu‐<br />

rellen Evolution hängt meines Erachtens damit<br />

zusammen, dass die durch die <strong>Mitglieder</strong> der<br />

sozialen Gruppe getroffene Auswahl (Selekti‐<br />

on) die konkrete Realität des individuellen<br />

Überlebens mit der Referenz auf ein nicht<br />

überprüfbares Symbolisches vermischt, das<br />

von einer Kultur zur anderen zu variieren<br />

vermag. Von daher die interkulturellen Kon‐<br />

flikte und die vielfältigen Veränderungen des<br />

gemeinschaftlichen Lebens. Von daher auch<br />

die von mir gemachten Vorschläge, diese Kon‐<br />

flikte zu überwinden und auf eine harmoni‐<br />

schere Allgemeinheit abzuzielen. Ich bin nicht<br />

so sehr an den ʺEndsieg des Sinnsʺ gebunden<br />

als an einen bescheidenen Beitrag des ʺgesun‐<br />

den Menschenverstandesʺ zugunsten einer<br />

harmonischen Zukunft der Menschheit ... und<br />

ich denke, dass die Kunstwerke ein allgemein‐<br />

gültigeres und trächtigeres Formenuniversum<br />

darstellen als jede andere kulturelle Repräsen‐<br />

tation.<br />

C.M.: Was trägt der neuro‐ästhetische Gesichts‐<br />

punkt zum Kunstwerk bei?<br />

J.‐P.C.: Ein besseres Verständnis dessen,<br />

was das Kunstwerk ist und was es repräsen‐<br />

tiert. Das erscheint mir ganz selbstverständlich<br />

zu sein!<br />

C.M.: Was bedeutet für Sie das ʺSammelnʺ? Kön‐<br />

nen Sie von Ihrer Sammler‐Erfahrung sprechen<br />

und sie zu Ihrer wissenschaftlichen Praxis in Be‐<br />

ziehung setzen?<br />

J.‐P.C.: Ich habe seit meiner frühesten Ju‐<br />

gend zuerst, wie alle Kinder, <strong>Brief</strong>marken ge‐<br />

sammelt, dann Insekten, Pflanzen und Fossi‐<br />

lien... Ich glaube, dass das eine sehr wirkungs‐<br />

volle Art ist, die uns umgebende Welt im De‐<br />

tail zu kennen, in dem Maße natürlich, dass es<br />

sich dabei nicht einfach um eine zwanghafte<br />

Tätigkeit handelt. So lernt man auf rationale<br />

und systematische Weise ‐ und auf der Basis<br />

von bestimmten Kriterien ‐ zu klassifizieren<br />

und zu organisieren. Das ist ein erster Versuch<br />

von wissenschaftlicher Praxis gewesen, der<br />

53<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

mich überdies als Heranwachsen‐der mit den<br />

Forschern des naturgeschichtlichen Museums<br />

in Kontakt gebracht hat und mich soz. auf die<br />

Ochsentour der biologischen Forschung ge‐<br />

bracht hat.<br />

Schlussfolgerung<br />

C.M.: Glauben Sie an eine neue interdisziplinäre<br />

Zusammenarbeit (von Biologie, Neurowissenschaft,<br />

den Wissenschaften vom Menschen, der Gesell‐<br />

schaft und der Geschichte der Zivilisationen) und<br />

was sollte sie versuchen auszuarbeiten?<br />

J.‐P.C.: Das ist nicht eine Glaubensangele‐<br />

genheit, sondern eine feste Überzeugung. Ich<br />

betrachte es als unbedingt erforderlich, das<br />

Ideal der ʺEnzyklopädieʺ wieder aufzunehmen<br />

und zu erneuern, indem man gegen die Auf‐<br />

spaltungen der Disziplinen, bei gleichzeitiger<br />

Respektierung ihrer Besonderheiten, kämpft.<br />

Ich mag das Wort ʺinter‐disziplinärʺ nicht und<br />

spreche lieber von ʺPluriʺ‐Disziplinarität. Es ist<br />

unbedingt erforderlich, jede Disziplin an den<br />

Wissensfortschritten in den anderen Wissens‐<br />

bereichen teilhaben zu lassen. Man muss eine<br />

Einheit des Wissens konstruieren und ständig<br />

weiterentwickeln lassen. Ich glaube nicht, dass<br />

man an einen dauerhaften Frieden unter den<br />

Menschen denken kann ohne diese fundamen‐<br />

tale Bedingung.<br />

Aus: La Quinzaine littéraire vom 15.‐31. Ok‐<br />

tober <strong>2009</strong>, S.4‐6. – Aus dem Französischen<br />

von Thomas Mahlow, Heilmannstr. 9 c, 81479<br />

München.<br />

Herzlichen Dank für das Auffinden des Artikels und für die<br />

Übersetzungsmühe! d.sekr.<br />

‒ Pädagogik und Hirnforschung<br />

Das Kind als Aktenordner<br />

Können Pädagogen von Hirnforschern lernen?<br />

Mancher Erziehungswissenschaftler sagt. Nein!<br />

Von Walter Schmidt<br />

Der Versuch, einer Waschmaschine das<br />

Würstchen‐Grillen beizubringen, scheitert in<br />

aller Regel. Ihre Speicherchips enthalten dafür<br />

einfach kein taugliches Programm. Ist der Job<br />

des Lehrers ähnlich aussichtslos, wenn er Kin‐<br />

dern und Heranwachsenden et‐was beibringen<br />

will? Ist es dann nicht oft schon viel zu spät?<br />

Sind die Schüler‐Hirne dann nicht bereits so<br />

stark vorgeprägt und Nervenverschaltungen<br />

so fest fixiert, dass die Würfel längst gefallen<br />

sind? Längst festgelegt ist, ob das einzelne<br />

Kind wissbegierig, lernbereit und also ausrei‐<br />

chend motiviert ist, Anregungen als Heraus‐<br />

forderungen wahrzunehmen?


Lässt sich das Ruder bei an‐scheinend fau‐<br />

len oder gar verhaltensauffälligen Kindern<br />

noch her‐umreißen? Können Pädagogen von<br />

einem freien Willen bei ihren Schülern ausge‐<br />

hen und mit Begriffen wie Schuld und Ver‐<br />

antwortung hantieren, wenn doch das Hirn oft<br />

schon über das Verhalten entscheidet, bevor es<br />

dem Individuum bewusst wird?<br />

Otto Speck, bis zu seinem Ruhestand Pro‐<br />

fessor für Sonderpädagogik an der Ludwig‐<br />

Maximilians‐Universität München, hat sich<br />

diesen Fragen in seinem kürzlich erschienenen<br />

Buch über „Hirnforschung und Erziehung”<br />

ausführlich gewidmet und er‐muntert seine<br />

Fachkollegen dazu, sich intensiv mit Hirnfor‐<br />

schung zu beschäftigen. „Die Pädagogik hat al‐<br />

len Grund, sich für das Zentralorgan des Men‐<br />

schen, für sein Gehirn, zu interessieren, laufen<br />

doch hier die Prozesse ab, die allem Lernen<br />

physiologisch zugrunde liegen”, befindet der<br />

Münchner Heilpädagoge.<br />

Tröstlich für engagierte Erzieher dürfte<br />

sein, dass laut Speck ihr Beitrag zum Reifen<br />

eines Menschen durch die Entdeckungen der<br />

Hirnforschung nicht kleiner werde. Zwar<br />

könnten Erzieher nur noch begrenzt gegen das<br />

bei Drei‐ oder gar Sechsjährigen schon weithin<br />

vorgeformte Hirn an erziehen und allenfalls<br />

noch einen Teil der angesammelten Entwick‐<br />

lungsmängel beseitigen. Doch seien sie ande‐<br />

rerseits auch keine Maschinisten, die kleine<br />

Denkapparate bloß noch gut ölen müssten.<br />

Für Motivation und Anspruch von Erzie‐<br />

hern hält Speck es für keineswegs gleichgültig,<br />

ob sie es „mit einem seiner selbst bewussten<br />

Kind oder Jugendlichen” zu tun hätten oder<br />

„mit determinierenden chemo‐physikalischen<br />

Prozessen in seinem Gehirn” – einem nach fes‐<br />

ten Vorgaben ablaufenden „Zusammenspiel<br />

von Nervenzellen und Molekülen”. Ziel von<br />

Pädagogen müsse es bleiben, Kinder zu ver‐<br />

antwortlichen Menschen mit moralischem<br />

Empfinden heranzubilden – unabhängig da‐<br />

von, ob jemand vollumfänglich schuld an sei‐<br />

nem Tun sei.<br />

Zudem sei eine Reihe wichtiger Fragen<br />

noch offen. So ist Speck zufolge bis heute nicht<br />

verstanden, wie und warum aus physikalisch‐<br />

chemischen Prozessen die Inhalte des Be‐<br />

wusstseins entstehen. „Der Streit um das Ver‐<br />

hältnis von neuronalen und mentalen Prozes‐<br />

sen erscheint – jedenfalls gegenwärtig – nicht<br />

lösbar” urteilt der Buchautor. Weder ließen<br />

sich beide Phänomene sauber unterscheiden,<br />

54<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

noch könne man sie gleichsetzen oder gegen‐<br />

einander austauschen.<br />

Eine der wichtigsten Erkenntnisse der Hirn‐<br />

forschung aus jüngerer Zeit dürfte sein, dass<br />

Gehirne in den ersten Lebensjahren zwar ent‐<br />

scheidend geprägt werden, aber bis ins hohe<br />

Alter – wenn auch in Grenzen – formbar blei‐<br />

ben. „Zum Zeitpunkt der Geburt sind nahezu<br />

alle Nervenzellen angelegt, aber noch nicht<br />

überall im Gehirn miteinander verbunden”,<br />

schreibt Speck.<br />

Ein großer Teil der angelegten Nervenzel‐<br />

len gehe jedoch „unwiederbringlich verloren,<br />

wenn diese nicht in Anspruch genommen<br />

werden”. Nur etwa ein Drittel der angelegten<br />

Nervenverbindungen bleibe erhalten. Damit<br />

werde die „große Bedeutung der frühen Ent‐<br />

wicklungsanreize deutlich”.<br />

Diese Sichtweise hat sich allgemein durch‐<br />

gesetzt. „Ein Kind ist kein Aktenordner, in den<br />

man Blatt für Blatt Wissensinhalte ein‐heften<br />

kann, sondern ein Lebewesen, dessen Erleben<br />

und Verhalten neurobiologischen Grundregeln<br />

unterworfen ist”, sagt etwa der Freiburger<br />

Psychiater und Neurowissenschaftler, Profes‐<br />

sor Joachim Bauer.<br />

Zu den „fatalen Irrtümern unserer Zeit”<br />

gehöre die Ansicht, „das Verhalten von Men‐<br />

schen sei im Wesentlichen bereits durch seine<br />

Gene determiniert, weshalb äußere Faktoren<br />

nur wenig ausrichten können”. Doch Men‐<br />

schen seien nun mal „keine durch Gene pro‐<br />

grammierten Selbstläufer, die mit Hilfe eines<br />

Autopiloten durchs Leben fahren”. Umwelt‐<br />

einflüsse, also auch Bezugspersonen, wirken<br />

erheblich daran mit, welche Gene aktiviert<br />

werden. Das Gehirn verwandele „seelische<br />

Eindrücke in biologische Signale, es macht –<br />

salopp ausgedrückt – aus Psychologie also Bio‐<br />

logie.”<br />

Gute Pädagogik tut also sehr wohl not,<br />

doch sie sollte stets die Möglichkeiten des je‐<br />

weiligen Kindes statt seine Schwächen im Au‐<br />

ge haben.<br />

„Jedes Kind ist einzigartig und verfügt über<br />

einzigartige Potenziale zur Ausbildung eines<br />

komplexen, vielfach vernetzten und zeitlebens<br />

lernfähigen Gehirns”, urteilt der Neurobiologe<br />

Professor Gerald Hüther. Was dem Göttinger<br />

Hirnforscher aber eines der größten Anliegen<br />

ist: „Wichtiger als alles Wissen über das Ge‐<br />

hirn eines Dreijährigen ist es, dass man das<br />

Kind mag, und zwar so, wie es ist.” Sonst kön‐<br />

ne man es nämlich nicht „einladen, ermutigen


und inspirieren, sich als kleiner Weltentdecker<br />

auf den Weg zu machen”. Und genau das gelte<br />

„auch für jeden Lehrer, der Pubertierende un‐<br />

terrichtet”.<br />

Mindestens ebenso selbstbewusst wie Otto<br />

Speck zeigt sich der Erziehungswissenschaftler<br />

Volker Ladenthin. „Die Hirnforschung kommt<br />

nicht auf neue pädagogische Ideen, so wenig,<br />

wie ein Internist, der die Magensäfte und Ver‐<br />

dauungsenzyme kennt, neue Speisen erfinden<br />

kann”, sagt der Bonner Universitäts‐Professor.<br />

Was Hirnforscher herausgefunden haben, sei<br />

tüchtigen Erziehern schon lange bekannt.<br />

Ein solcher Fall ist die Erkenntnis, dass rea‐<br />

le, buchstäblich mit Hand und Fuß und allen<br />

Sinnen gemachte Erfahrungen wertvoller sind<br />

als mediale, etwa vorm Fernseher oder Com‐<br />

puter‐Bildschirm gesammelte.<br />

„Bei Kindern, die vornehmlich virtuell, also<br />

über Bilder und sonstige Medien die Wirklich‐<br />

keit kennenlernen, die sich nicht selber, das<br />

heißt auch physisch, mit anderen auseinander‐<br />

setzen, die sich nicht selber in das Ungewisse<br />

ihrer Umwelt hineinwagen, und nicht unmit‐<br />

telbar die Folgen ihres Tuns mit allen echten<br />

Konsequenzen erleben”, werde das Erfahrene<br />

nicht klar oder nur unzureichend im Hirn<br />

strukturiert und verankert, befindet Otto<br />

Speck. Er leitet daraus die Hoffnung ab, „dass<br />

die relativ harten wissenschaftlichen Fakten<br />

dazu beitragen könnten, dass mehr Bewegung<br />

in die pädagogische Szene kommt”, und zwar<br />

trotz der „Schwerbeweglichkeit” der öffentli‐<br />

chen und staatlichen Erziehungs‐ und Bil‐<br />

dungsszene in Deutschland.<br />

BUCHTIPPS<br />

Otto Speck: Hirnforschung und Erziehung. Eine pädagogische<br />

Auseinandersetzung mit neurobiologischen Erkenntnissen.<br />

<strong>2009</strong>, 198 Seiten, Ernst‐Reinhardt‐Verlag, 19,90 Euro.<br />

Joachim Bauer: Lob der Schule. Sieben Perspektiven für Schü‐<br />

ler, Lehrer und Eltern. 2007, 142 Seiten, Hoffmann & Campe,<br />

12,95 Euro.<br />

Karl Gebauer, Gerald Hüther (Hg.): Kinder brauchen Wurzeln.<br />

Neue Perspektiven für eine gelingende Entwicklung. 2001, 214<br />

Seiten, Walter Verlag, 14,90 Euro.<br />

Gerald Hüther: Bedienungsanleitung für ein menschliches Ge‐<br />

hirn. 2006, 139 Seiten, Vandenhoeck & Ruprecht, 15,90 Euro.<br />

Aus: Frankfurter Rundschau<br />

vom 13. Januar 2010, S.22‐23.<br />

8.<br />

Hans‐Peter Jäck<br />

Film‐Arbeitskreis<br />

«Sexuelle Différance im Kino»<br />

Auf den Spuren von Spiel‐ und Spiegelformen<br />

von Männlichkeit und Weiblichkeit<br />

Das Kino nimmt die Rolle als Modemacher und<br />

Abbildner der inzwischen ins Fließen geratenen<br />

55<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

Geschlechtsdifferenz ein. Schlagwörter wie „Neosexualitäten“,<br />

„Metrosexualität“, „Transsexualismus“<br />

machen in Zeitschriften und Wissenschaftspublikationen<br />

die Runde: Was ist demnach dran, an<br />

der in der Psychoanalyse vielzitierten „Neuen Ökonomie<br />

des Psychischen“, die sich offenbar gründlich<br />

von den tradierten Formen der Geschlechterdifferenz<br />

bzw. -polarität unterscheiden soll?<br />

In Serge Gainsbourghs Film „Je t’aime, moi non<br />

plus“ von 1976 behauptet die weibliche Hauptfigur<br />

Johnny (Jane Birkin) gegenüber dem Mann, den sie<br />

für sich zu gewinnen sucht und von dem sie weiß,<br />

dass er homosexuell ist, „Ich bin ein Junge!“, nur<br />

um wenige Szenen später freudig im rosafarbenen<br />

Kleid ihm über die Wiese entgegenzulaufen und<br />

seiner Abwehr mit dem stolzen Ausruf zu begegnen:<br />

„Aber ich bin doch ein Mädchen!“ ‒ Der neue<br />

Roman der 17-jährigen Helene Hegemann, „Axolotl<br />

Roadkill“ (2010) berichtet vom Stand der Dinge in<br />

Sachen Sex der modernen Teenies; „stockbisexuell“<br />

zu sein, wird für diese neue Generation als normal<br />

behauptet. Zugleich aber spielt im Roman der titelgebende<br />

nachtaktive mexikanische Lurch, das<br />

BABY-AXOLOTL, eine zentrale Rolle, die man als<br />

Spiel- und Spiegelform einer „neuer“ Art von Geschlechtsformation<br />

ansehen könnte. Helene Hegemann<br />

ironisiert dies folgendermaßen: „Sieht aus<br />

wie eine Comicfigur, hat keine großen Ansprüche<br />

an irgendetwas und bleibt sein gesamte Leben lang<br />

im Lurchstadium, das heißt, es wird einfach nicht<br />

erwachsen.“ Die neu gewonnene ‒ nicht nur sexuelle<br />

‒ Freiheit verbreitet keinerlei Glücksgefühl,<br />

sondern wird eher trocken und melancholisch zur<br />

Kenntnis genommen: „Ich habe zwar keine Freudensprünge<br />

gemacht, als ich das herausgefunden<br />

habe…“, ‒ wie der Verlust eines Begehrens, das<br />

bisher die herkömmliche(n) Beziehung(en) der Geschlechter<br />

beherrscht und womöglich dadurch in<br />

Dynamik gehalten habe.<br />

Woran lassen sich die „Grenzen“ von Männlichkeit<br />

oder Weiblichkeit erkennen? Sind sie inzwischen<br />

nach beiden Seiten überschreitbar und<br />

überschritten oder verharren wir ‒ wie Franz Kafkas<br />

„Mann vom Lande“ in „Vor dem Gesetz“ ‒ immer<br />

noch auf der Schwelle? ‒ Der Filmarbeitskreis<br />

zu „Film und Psychoanalyse“ will in diesem Semester<br />

dieser Frage anhand von Filmen aus fernen<br />

und nahen Zeiten nachgehen und zeigen, wie das<br />

Bild der Geschlechter sich seit der Erfindung des<br />

Kinos verändert hat; zu fragen wird auch sein nach<br />

„Moden“ und „Logik“ der Darstellungen der Ge-


schlechtsdifferenz. Und somit auch: Was ist und<br />

wohin treibt [uns] die sexuelle différance? Dabei<br />

werden männliche und weibliche Stereotypen ebenso<br />

thematisiert wie differierende Männlichkeits-<br />

und Weiblichkeitsrollen.<br />

Der Arbeitskreis Film am Abendgymnasium Frankfurt<br />

am Main (AGF) trifft sich im Sommersemester wieder<br />

am Donnerstag, 14-täglich, B-Woche, im Bildungszentrum<br />

Ostend (BZO), Raum 1041, 19-15-22.15 Uhr. −<br />

Anmeldung bei H.-P. Jäck, hpjck@t-online.de<br />

Der Arbeitskreis ist auch für Teilnehmerinnen und<br />

Teilnehmer außerhalb des Abendgymnasiums offen.<br />

9.<br />

Hans‐Peter Jäck<br />

Rasche Bemerkungen (4)<br />

Antigone und Kreon<br />

vor einem modernen deutschen Gericht!<br />

Gedanken zu einem unzeitgemäßen Prozess<br />

Vorbemerkung: Dem Einwand von Kreons Verteidigung,<br />

die Taten bzw. die Untaten, die seinem<br />

Mandanten zur Last gelegt werden, seien in Zeiten<br />

des mythischen Griechenland begangen worden<br />

und deshalb nach dem deutschen Strafrecht, das<br />

erst am 15. Mai 1871 erlassen worden ist, nicht zu<br />

bestrafen (allgemeines Rechtsprinzip: Nulla poena<br />

sine lege siehe auch: Grundgesetz der BRD Artikel<br />

103, Ansatz 2), begegnet das Gericht mit den<br />

legendäre gewordenen Begründung, die Ernst von<br />

Pidde 1968 all jenen entgegenhält, die die Untaten<br />

in Richard Wagners Bühnendrama „Der Ring der<br />

Nibelungen“ schon allein aus dem Grunde nicht<br />

für strafwürdig halten, weil das Bühnendrama <br />

ähnlich wie Sophokles’ Antigone in Urzeiten<br />

spiele: „Diese Auffassung ist jedoch zu eng. Zwar<br />

ist nicht zu leugnen, dass sich die (...) zugrunde<br />

liegenden Urdelikte lange vor Erlass des StGB zugetragen<br />

haben. Auf der anderen Seite ist ebenso<br />

wenig zu bestreiten, dass die Straftaten mit jeder<br />

Aufführung (...) erneut begangen werden, so dass<br />

für alle Inszenierungen auf deutschem Boden die<br />

Anwendbarkeit des StGB gemäß §4 ohne Bedenken<br />

unterstellt werden kann.“ (Pidde, S.11) Der<br />

entsprechende Paragraph des StGB lautet: „Das<br />

deutsche Strafrecht gilt, unabhängig vom Recht<br />

des Tatorts, für Taten, die auf einem Schiff oder<br />

Luftfahrzeug begangen werden, das berechtigt ist,<br />

die Bundesflagge oder das Staatszugehörigkeitszeichen<br />

der Bundesrepublik Deutschland zu führen.“<br />

(StGB §4) Desgleichen: „Das deutsche Strafrecht<br />

gilt für Taten, die im Inland begangen werden.“<br />

(StGB § 3)<br />

Das Urteil<br />

Nach allem bisher Gesagten 34 lässt sich<br />

die Schuld beider Figuren – Antigone und<br />

Kreon – näher verdeutlichen: Beide Figuren<br />

34 Vgl. H.P. Jäck, Rasche Bemerkungen (3) in MB 84, Januar<br />

2010.<br />

56<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

tragen eine SCHULD, diese „Schuld“ aber<br />

steht allerdings in den Anklagen vor dem Ge‐<br />

richt nicht zur Debatte: Es geht nicht, wie bei<br />

dieser allgemeinen SCHULD, um die Verabso‐<br />

lutierung des Gesetzes, sondern im Gegenteil<br />

um die Anklage wegen Nichteinhaltung des<br />

Gesetzes!<br />

Und genau dies lässt das Gericht zur<br />

Auffassung kommen, dass beide nicht schul‐<br />

dig sind im Sinne der Anklagen.<br />

Begründung betr. Kreon<br />

A) Eine Verletzung der Fürsorgepflicht<br />

gegenüber abhängigen Minderjährigen nach §<br />

171 StGB liegt nicht vor: Es handelt sich, nach<br />

Aussage des Haimon, nicht um Minderjährige.<br />

Dass die Rechtsfähigkeit eines Jugendlichen<br />

im klassischen Athen noch früher beginnt als<br />

heute, ist erwiesen; dennoch ist anzumerken,<br />

dass diese Jugendlichen, also Haimon und<br />

Antigone, damals wesentlich jünger gewesen<br />

sein müssen als jene 16‐18 Jahre, bei denen<br />

heute die Rechtsfähigkeit beginnt. M.a.W:<br />

wahrscheinlich wären sie im Sinne unseres<br />

heutigen Rechts noch durchaus minderjährig,<br />

aber dennoch schon rechtsfähig gewesen. <br />

B) Eine Beleidigung religiöses Gefühle<br />

nach § 167 StGB liegt nicht vor: Die Einlassun‐<br />

gen des Angeklagten vor Gericht lassen weder<br />

den Verdacht erhärten, es handle sich um Vor‐<br />

sätzlichkeit noch um Fahrlässigkeit bei Belei‐<br />

digung religiöser Gefühle: Es ist vielmehr<br />

deutlich geworden, dass es sich bei dem An‐<br />

geklagten (inzwischen) um einen atheistischen,<br />

areligiösen Menschen handelt, dem keinesfalls<br />

eine antireligiöse Absicht unterstellt werden<br />

kann; vgl. „vielleicht auch kommt sie zur Er‐<br />

kenntnis noch zuletzt, dass man vergebens<br />

[Hervorhebung HPJ] Unterirdische verehrt.“<br />

779f.) Inwieweit hier eine neuerliche Wendung<br />

bezüglich der Haltung am Schluss der Tragö‐<br />

die vorliegt, ist nicht mehr Gegenstand des Ge‐<br />

richts. Vgl.: „Ich weiß es selbst, und es erschüt‐<br />

tert meinen Sinn, hart ist es nachzugeben; doch<br />

im Widerstand dem Unheil zu erliegen hart<br />

und mehr als hart.“ (1095); „Wehe, wie schwer!<br />

Doch ich entsage meinem Sinn und tu’ es [ <br />

nämlich Antigone mit eigener Hand zu befrei‐<br />

en; HPJ]: gegen das Notwendige hilft kein<br />

Kampf.“ (1105) Und der Chor kommentiert<br />

Kreons Lage: „Denn aus dem Geschick, das<br />

nun bestimmt ist, gibt’s Erlösung nicht für<br />

Sterbliche.“ (1337f.)<br />

C) Die Anklage auf Mord oder fahrlässi‐<br />

ge Tötung im Amt nach §§ 211‐123 StGB wird


abgewiesen: dem Gericht ist nicht bewiesen,<br />

dass der Tod der Antigone, des Haimon (und<br />

auch der Eurydike deren Tod hier nicht Ge‐<br />

genstand der Anklage war) unmittelbar dem<br />

Angeklagten zur Last gelegt werden kann: die<br />

genannten Personen verloren ihr Leben durch<br />

Suizid, der im modernen Recht selbst keine<br />

strafwürdige Tat darstellt 35 ; eine moralische<br />

Schuld könnte dem Angeklagten höchstens<br />

dann zugesprochen werden, wenn er die ge‐<br />

nannten Personen außer vielleicht Antigone<br />

durch seine Handlungen zum Selbstmord<br />

getrieben hat; doch eine Schuld im Sinne eines<br />

Verstoßes gegen das StGB liegt nicht vor.<br />

D) Die Anklage wegen Verstoßes gegen<br />

das Bestattungsgesetz gemäß §§ 167‐168 StGB<br />

ist im vollen Sinne zu bejahen: die Totenruhe,<br />

d.h. die ordentliche Bestattung einer Leiche ist<br />

zu gewährleisten. Dabei handelt es sich heute<br />

nicht mehr um eine göttliches, sondern um ein<br />

menschliches Gebot, das unter allen Umstän‐<br />

den einzuhalten ist (Hygiene. Ansteckung, To‐<br />

tenruhe usf.). Dennoch ist das Gericht zu dem<br />

Ergebnis gekommen, dass die persönlichen<br />

Verluste, die der Angeklagte erlitten hat Tod<br />

der Gattin, Tod des Sohnes so groß sind, dass<br />

von einer Bestrafung abgesehen werden kann:<br />

der Angeklagte ist nach seinen eigenen Aussa‐<br />

gen (siehe oben) genug bestraft.<br />

Festzustellen ist insgesamt, dass gegen‐<br />

über den Aussagen in der Tragödie die münd‐<br />

lichen Vernehmungen des Angeklagten eine<br />

gewisse Verschiebung, um nicht zu sagen:<br />

Verhärtung zu erkennen gegeben haben; es ist<br />

zu hoffen, dass hier eine Belehrung durch das<br />

Gericht dem Angeklagten für die Zukunft hilf‐<br />

reich sein kann: Die einsichtslose Verabsolutie‐<br />

rung staatlichen Rechts ruft unweigerlich das<br />

„andere Recht“ auf den Plan; das hat der blin‐<br />

de Teiresias treffend und ironisch formuliert:<br />

35 Wie Cellist Miller in Friedrich Schillers „Kabale und Liebe“<br />

treffend formuliert, ist der Selbstmord nicht strafwürdig, weil<br />

ja „Tod und Missetat zusammenfallen“. Dennoch soll nicht<br />

verschwiegen werden, dass eben dieser Selbstmord früher<br />

strafbar war; so nach dem nach § 90 des österreichischen Gesetzes<br />

über schwere Polizeiübertretungen: „Bei vollbrachtem<br />

Selbstmorde soll der Körper blos von einer Wache begleitet,<br />

außer dem Leichenhof durch gerichtliche Diener verscharrt<br />

werden.“ (Pidde, S.66) Auch das kanonische Recht verweigert<br />

dem Selbstmörder die Ruhe in geweihter Erde (s. c. 9-12 c.23<br />

qu.5, cap. 11.12. X de sepult.). Und selbst das preußische Landrecht<br />

forderte noch: „Ist bereits ein Strafurtheil ergangen, so<br />

soll dasselbe, soweit möglich, anständig und zur Abschreckung<br />

dienlich am todten Körper vollzogen werden.“ (§ 803) (Pidde.<br />

ebda) Das Gericht kann sich allerdings Gedankengänge in<br />

dieser Richtung ersparen, sowohl weil der Bezug zum Christentum<br />

im vorliegenden Drama abwegig ist als auch diese Regelungen<br />

nicht ins Strafgesetzbuch Eingang gefunden haben.<br />

57<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

„Nur Eigensinn verfällt der Schuld des Unver‐<br />

stands. Gib nach dem Warner: stich nach dem<br />

Erschlagnen nicht! Den Toten nochmals töten <br />

welcher Heldenmut!“ (1028‐1030) Es sei Kreon<br />

eine Warnung, dass die Tat, die er dem Ande‐<br />

ren zugedacht hat (d.h. den nochmaligen Tod),<br />

gerade ihn zuletzt selbst trifft (vgl. „Dem To‐<br />

ten gabst du nochmals den Tod.“ 1288).<br />

Ein weiteres Problem, das hier zur Spra‐<br />

che kam, aber nicht juristisch zu bewerten war,<br />

besteht darin, dass ein gewisser Verdacht auf‐<br />

kommen konnte, dass die Annahme des Kö‐<br />

nigsamtes sowie dessen Ausübung wohl nicht<br />

so selbstlos zum „Wohle des Staates“ diente,<br />

wie das bei der Vernehmung bekundet wor‐<br />

den ist: einerseits stellt sich durchaus die Fra‐<br />

ge, warum Kreon das Amt des vertriebenen<br />

Bruders Ödipus übernommen hat, obgleich es<br />

leibliche Erben des vormaligen Königs gibt<br />

(Ismene und Antigone; vgl.: „Sehet, ihr Edlen<br />

aus Thebens Volk, die letzte, die blieb vom<br />

Königsgeschlecht!“ (940f.)); die Begründung,<br />

dass das Königtum nicht in weiblicher Linie<br />

vererbbar sei, lässt sich zwar für die Vergan‐<br />

genheit begründen, nicht aber für die Zukunft:<br />

das Volk und der Senat Thebens hätten durch‐<br />

aus die Möglichkeit gehabt, eine weibliche<br />

Thronfolgeregelung zu schaffen, wenn Kreon<br />

das Amt abgelehnt hätte. Vielleicht war aber<br />

auch Kreon nicht von einer gewissen Macht‐<br />

gier frei, die seiner Enttäuschung entstammt,<br />

dass er nach dem Tod des Königs Laios nicht<br />

sogleich selbst zum König ausgerufen wurde<br />

und Ödipus, der „Fremde“ also, vorgezogen<br />

wurde. Jedenfalls scheint die Unbarmherzig‐<br />

keit seines Handelns gegenüber den Kindern<br />

des Ödipus zu zeigen, dass auch ein Ressenti‐<br />

ment gegenüber dem Rivalen (Ödipus) um<br />

den Thron weiter bestand und an dessen Kin‐<br />

dern abreagiert worden zu sein scheint; wie<br />

sonst wäre sein Generalverdacht gegenüber<br />

Ismene zu erklären: „Du, die im Haus wie eine<br />

Schlange mich beschlich und heimlich aussog!<br />

Und ich habe nicht gemerkt, dass ich zwei<br />

Schäden nährte zum Verderb des Throns! Nun<br />

sprich! Bekenne, dass auch du bei diesem Grab<br />

geholfen! Oder schwörst du, dass du nichts<br />

gewusst?“ (531‐535) Vgl. auch: „Die beiden<br />

Mädchen sind wahnsinnig; eine ward es eben<br />

jetzt, die andre war’s von Anfang an.“ (561f.)<br />

Auch ließ Kreon Antigone ein Ressentiment<br />

gegenüber der Verwandten spüren, das darauf<br />

verweist, dass das Ressentiment gegenüber<br />

Ödipus und dessen Kinder bei Weitem noch


nicht durchgearbeitet worden ist: „Mit kurzem<br />

Zügel, weiß ich, wird der Übermut der Rosse<br />

rasch gebändigt; denn es ziemt sich nicht, sich<br />

groß zu dünken, wenn man Knecht im Hause<br />

ist.“ (477‐479) An dieser Aussage wird klar,<br />

dass Kreon hier zu Antigone wie zu seinem<br />

Spiegel spricht: Er spricht hier aus, was Sig‐<br />

mund Freud über zweieinhalb Jahrtausende<br />

später bestätigt hat: „Das Ich ist nicht Herr im<br />

eigenen Hause.“ Nur, dass Kreon in Selbstver‐<br />

blendung nicht sich selbst gemeint sieht.<br />

Kreon Haltung gegenüber Antigone<br />

führt uns hier noch zu einem weiteren Mo‐<br />

ment, das ebenfalls als Schuld einer Verabsolu‐<br />

tierung zu sehen ist, nämlich seinem Verhält‐<br />

nis zum anderen Geschlecht. Er sieht in Anti‐<br />

gone nicht bloß die wahre Thronerbin seines<br />

Schwagers Ödipus, sondern zudem noch eine<br />

Frau, die durch ihr unbedingtes, und das heißt<br />

für damals: ‚männliches‘ Auftreten seinen pat‐<br />

riarchalischen Herrschaftsanspruch bedroht:<br />

„Die [sc. Antigone] hier verstand nur allzu gut<br />

aufs Freveln sich, als sie bestehende Gesetze<br />

übertrat. Das aber ist ihr zweiter Frevel, dass<br />

sie sich nun lachend noch mit ihrer Tat zu<br />

brüsten wagt. Da wäre wahrlich ich kein<br />

Mann, sie wäre Mann, wenn straflos solcher<br />

Übermut frohlocken darf.“ (480‐4<strong>85</strong>) Und zu‐<br />

letzt zeigt die trotzige Aussage: „Mich lenkt<br />

mein Leben lang kein Weib!“ (525), wie sehr<br />

Kreon sich von Antigones „unweiblicher“ Hal‐<br />

tung in seiner Männlichkeit bedroht fühlt. Was<br />

ihn bedroht, ist anscheinend die Auflösung der<br />

patriarchalisch bestimmten Geschlechterdiffe‐<br />

renz, die ihn zu einem antifeministischen Af‐<br />

fekt treibt; und dieser Affekt zeigt umso deut‐<br />

licher, dass die charakterlichen Geschlechtszu‐<br />

schreibungen insoweit verabsolutiert werden,<br />

damit die männliche Dominanz in der patriar‐<br />

chalisch beherrschten Gesellschaft unangefoch‐<br />

ten bleibt. Der „weibliche Protest“ (Joan<br />

Riviere) bedroht die bis dato klare Hierarchie<br />

der Geschlechter; Antigone ist in Gestalt und<br />

Haltung der Ausdruck für eine mögliche Auf‐<br />

lösung der strikten Geschlechterdifferenz; die<br />

Perspektive, dass einerseits eine Frau die<br />

männliche Herrschaftsfunktion übernehmen<br />

will (und kann) und andererseits die starren<br />

Geschlechtergrenzen aufgeweicht werden<br />

könnten, lässt sich als Parallele lesen zur<br />

sophokleischen These der Diffusion zwischen<br />

göttlichem und menschlichem Recht: mit der<br />

Grenzziehung zwischen Göttern und Men‐<br />

schen kommt auch die Grenzziehung zwi‐<br />

58<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

schen den Geschlechtern ins Gleiten. Der<br />

„Fall“ Kreon steht demnach für ein Beispiel,<br />

bei dem bisher scheinbar feste dualistische<br />

Dispositive fragwürdig geworden sind und<br />

nur in einem verblendeten Aufbäumen noch<br />

fixiert werden können die Frau als Symptom<br />

des Mannes.<br />

Begründung betr. Antigone<br />

A) Die Anklage wegen Widerstands ge‐<br />

gen die Staatsgewalt gemäß §§ 113‐114 StGB<br />

sind abzuweisen. Der Angeklagten kann im<br />

weitesten Sinne zudem ein Notstand gem. § 34<br />

StGB bzw. eine Notwehr gem. § 32 StGB zuge‐<br />

billigt werden.<br />

Dies gilt auch, wenn das Gericht den<br />

Verdacht nicht ausgeräumt sieht, dass die An‐<br />

geklagte in ihrer Berufung auf das göttliche<br />

Recht tieferliegende Motive zu verdecken<br />

sucht; vgl. „den Bruder werd’ ich selbst begra‐<br />

ben. Schön ist mir nach solcher Tat der Tod.<br />

Von ihm geliebt, lieg’ ich bei ihm, dem Lieben,<br />

dann, die fromm gefrevelt hat.“ (71‐74) Das<br />

Gericht konnte nicht die Frage klären, weshalb<br />

die Angeklagte ihren Bruder Polyneikes zum<br />

Geliebten erhebt, ihm also den Platz ihres Ver‐<br />

lobten Haimon einräumt, während anderer‐<br />

seits der zweite Bruder, Eteokles offenbar nicht<br />

ebenso „geliebt“ wird wie Polyneikes; die<br />

„Liebe“ zu dem einen Bruder lässt immerhin<br />

die Frage nach einem gewünschten Inzest (vgl.<br />

„lieg ich bei ihm...“) aufkommen, was auch<br />

durch die in der Anhörung wiederholte Behar‐<br />

rung auf einer „geschwisterlichen“ Liebe nicht<br />

völlig zu klären war. Zu vermuten ist, dass<br />

sich Antigone mit dem unter das Bestattungs‐<br />

verbot gefallenen Bruder Polyneikes identifi‐<br />

ziert und dadurch den alten Bruderzwist über<br />

die Gräber der Brüder hinaus fortsetzt; ihre<br />

„Liebe“ zum Unbestatteten ist gleich dem Hass<br />

gegenüber dem bestatteten Bruder: So setzt se<br />

die alte Familiengeschichte der Labdakiden in<br />

anderer Weise fort und wird selbst schuldig.<br />

Die Identifizierung mit dem toten Bruder<br />

schließt dabei den Willen zum eigenen Tod mit<br />

ein.<br />

Auch der Verdacht des vorentschiede‐<br />

nen Selbstmords ließ sich nicht klären, ob‐<br />

gleich es deutliche Hinweise gibt, die dies un‐<br />

termauern: vgl. Antigone zu Ismene: „Ah,<br />

schrei es aus!. Du wirst mir viel verhasster sein<br />

mit diesem Schweigen: tu es allen kund.“ (86f.)<br />

Es scheint sich hier eine Entschlossenheit we‐<br />

niger zum Gesetzesverstoß als zum eignen Tod


zu zeigen. Auch die Wiederholung der Tat<br />

(erneutes Beerdigen der Leiche) weist in diese<br />

Richtung, was auch durch die Zeugenaussage<br />

des Wächters bestärkt wird: „Und wir gewah‐<br />

ren’s, eilen hin und greifen sie sofort, und sie<br />

erschrak nicht, und wir klagten sie der frühern<br />

Tat sowohl wie dieser neuen an. Doch sie<br />

stand da und leugnete mitnichten ab.“ (432ff.)<br />

Als Geständnis lässt sich die Aussage werten:<br />

„Ja, ich bekenne, dass ich’s tat, und leugne<br />

nicht.“ (443) In beiden Aussagen spiegelt sich<br />

ein Todeswunsch, der zugleich allerdings tief<br />

in die Familiengeschichte der Labdakiden zu‐<br />

rückreicht: Laios entschied sich, aufgrund des<br />

Orakels den eigenen Sohn Ödipus zu töten,<br />

und diese Tat gebiert nun immer neue Unge‐<br />

heuerlichkeiten wie der Chor in „Antigone“<br />

offenbart: „Vieles ist ungeheuer, nichts unge‐<br />

heurer als der Mensch“ (332f.): der Mord des<br />

Ödipus an seinem Vater Laios, der Inzest des<br />

Ödipus mit seiner Mutter Jokaste, der an der<br />

Wiege der Kinder Eteokles, Polyneikes, Ismene<br />

und Antigone steht, schließlich auch die Hyb‐<br />

ris des Ödipus, seine Blendung und der<br />

Selbstmord seiner Frau und Mutter Jokaste.<br />

B) Die Anklage wegen des Verdachts der<br />

gemeinschaftlichen Gründung einer terroristi‐<br />

schen Vereinigung gem. §§ 129‐129a StGB wird<br />

im vollen Umfang abgewiesen: die als Mitver‐<br />

schwörerin verdächtigte Ismene hat klar dar‐<br />

gestellt, dass sie das Ansinnen einer gemein‐<br />

schaftlich zu begehenden Tat weit von sich<br />

gewiesen hat; dass Ismene nach der Tat sich<br />

mit der Schwester solidarisch erklärt, ist<br />

durchaus aus falsch verstandener Schwestern‐<br />

liebe zu erklären: „Wenn sie es tat, so tat ich’s<br />

mit: Ich geb’ es zu und habe teil daran und<br />

trage mit die Schuld.“ (536ff.) Demgegenüber:<br />

„Ich werde beten zu den Unterirdischen, dass<br />

sie verzeih’n: ich beuge mich ja nur dem<br />

Zwang. Denen, die an der Macht sind, füg’ ich<br />

mich: es hat ja keinen Sinn, zu handeln übers<br />

Maß hinaus.“ (65‐69)<br />

C) Die Anklage wegen Beleidigung reli‐<br />

giöser Gefühle nach § 167 StGB wir abgewie‐<br />

sen. Es kann zwar nicht ausgeschlossen wer‐<br />

den, dass die Berufung auf ein göttliches Recht<br />

als bloße Schutzbehauptung (vgl. Punkt A) zu<br />

bewerten ist und dass bei der Tat noch andere<br />

Motive mit hinein spielen; auch der Nachweis<br />

der Staatsanwältin, dass die Angeklagte dem<br />

König Kreon fälschlicherweise unterstellt, er<br />

folge dem göttlichen Recht nicht, weist in diese<br />

59<br />

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Richtung; dennoch ließ sich letzten Endes die‐<br />

ser Verdacht nicht erhärten.<br />

D) Die Anklage wegen Volksverhetzung<br />

gem. § 130 StGB in Tateinheit mit Landesverrat<br />

gem. § 82 StGB wird abgewiesen: Die Verneh‐<br />

mung der Zeugen (Chor) hat erbracht, dass<br />

das Volk von Theben zwar anfangs gänzlich<br />

zum rechtmäßigen Herrscher stand wenn es<br />

auch eine recht distanzierte Haltung zu dessen<br />

autokratischen Regierungsführung einnahm <br />

vgl. „Dir, des Menoikeus Sohn, beliebt es, so<br />

zu tun, wenn’s einer übel oder wohl meint mit<br />

der Stadt, und jede Satzung anzuwenden steht<br />

bei dir: auf die Verstorbnen wie auf uns, die<br />

Lebenden.“ (211ff.); vgl. auch der Wächter:<br />

„Wie schlimm, wer urteilt und ein falsches Ur‐<br />

teil fällt“ (324) und schließlich Antigone selbst:<br />

„Die alle hier, sie fänden es wohl lobenswert,<br />

wenn ihnen nicht die Furcht die Zunge fessel‐<br />

te. Doch ist die Tyrannei mit vielem ja be‐<br />

glückt: ihr steht auch zu, zu tun, zu reden, was<br />

sie mag!“ (504ff.); doch der Gesinnungswandel<br />

des Volkes/Chores und seine Abkehr von<br />

Herrscher wurde nicht von Antigone herbeige‐<br />

führt, sondern entstammen der Einsicht: „Uralt<br />

im Geschlechte der Labdakos‐Enkel seh’ ich<br />

Leiden immer auf andere Leiden sich stürzen:<br />

nie befreit ein Spross diesen Stamm; doch dar‐<br />

nieder reißt ihn ein Gott, der kein Erlösen<br />

kennt.“ (594ff.) Letztlich ist der Gesinnungs‐<br />

wandel des Volkes ganz allein dem Wahrsager<br />

Teiresias zuzuschreiben: „Seit ich dies weiße<br />

Haar anstatt des dunklen trage auf dem grei‐<br />

sen Haupt, hat er [sc. Teiresias] mit keiner Lü‐<br />

ge je die Stadt getäuscht.“ (1092ff.)<br />

Abschließend sei nochmals hervorgeho‐<br />

ben, dass die Freisprüche zwar nach juristi‐<br />

scher, nicht aber in moralischer Hinsicht, als<br />

Wertung zu rechtfertigen sind. Den Freige‐<br />

sprochenen hofft das Gericht die Notwendig‐<br />

keit einer Katharsis vor Augen geführt zu ha‐<br />

ben, die wohl auch die Zuschauer von »Anti‐<br />

gone« in klassischer Zeit erfasst haben könnte:<br />

Jede Verabsolutierung des Gesetzes bricht mit<br />

der Verpflichtung gegenüber einer Gerechtig‐<br />

keit, die der ursprünglich gewalttätigen<br />

Rechtssetzung eine gewisse Legitimität ver‐<br />

schaffen kann und fordert gerade dadurch den<br />

dialektischen Umschlag in ihr Gegenteil her‐<br />

aus; dabei ruft sie jenes Dritte auf den Plan,<br />

das die versteinerte Statik einer so gearteten<br />

Hypostasierung des Gesetzes wieder in Bewe‐<br />

gung bringt und das gerade zum Nachteil<br />

eines ungezügelten Umgangs mit dem Gesetz.


Entscheidung ohne Recht ist Willkür, Recht‐<br />

sprechung ohne Gerechtigkeit ist Selbstzerstö‐<br />

rung.<br />

H.‐P. Jäck, Frankfurt am Main; aus einem<br />

Antikenprojekt am Abendgymnasium<br />

Frankfurt am Main, 2003<br />

10.<br />

Lachen mit Freud<br />

Aus: tip, Magazin, Berlin 19/08, S.124<br />

60<br />

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