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Mitglieder-Brief Nr. 85 19. März 2009 - freudlacan

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auch das Objekt der Kriminologie? Und zeigen<br />

sich dort nicht auch zwei Seiten ihres Gesichts?<br />

Ihre polizeiliche Seite als Wahrheit des Verbre‐<br />

chens und ihre anthropologische Seite als<br />

Wahrheit des Verbrechers?<br />

Welche Beziehung besteht bei dieser For‐<br />

schung zwischen der Technik, die unser Ge‐<br />

spräch mit dem Subjekt ausrichtet, und den<br />

Begriffen, die unsere psychologische Erfah‐<br />

rung bestimmt? Das ist das Thema, das uns<br />

heute beschäftigen soll: Wir wollen dabei we‐<br />

niger einen Beitrag zur Delinquenzforschung<br />

leisten ‒ das wird in anderen Vorträgen deut‐<br />

lich werden ‒; es geht uns hier eher darum, de‐<br />

ren legitime Grenzen aufzuzeigen, und das<br />

nicht etwa, um unsere Lehre, losgelöst von ih‐<br />

rer Methode, darzustellen, sondern um sie<br />

nochmals ‒ wie es uns stets aufgetragen ist ‒<br />

hinsichtlich eines neuen Gegenstands zu über‐<br />

denken.<br />

II. Von der soziologischen Wirklichkeit des Verbre‐<br />

chens und dem Gesetz und von der Beziehung der<br />

Psychoanalyse zu ihren dialektischen Grundlagen<br />

Weder das Verbrechen noch der Verbrecher<br />

sind Objekte der Forschung, die außerhalb ih‐<br />

res soziologischen Bezugs zu sehen sind.<br />

Die These, dass das Gesetz die Sünde ge‐<br />

biert, bleibt wahr, auch außerhalb der Perspek‐<br />

tive einer Eschatologie der Gnade, wie sie der<br />

Heilige Paulus vorgegeben hat.<br />

Sie lässt sich wissenschaftlich verifizieren<br />

durch die Behauptung, dass es keine Gesell‐<br />

schaft gibt, die kein positives Recht kennt ‒ sei<br />

es nun überliefert oder kodifiziert, als Brauch‐<br />

tum oder als Rechtsinstitution. Es gibt auch<br />

keine Gesellschaft, in der es nicht vielfältige<br />

Arten von Überschreitungen gibt, die man als<br />

Verbrechen definiert.<br />

Der «unbewusste», «erzwungene», «intuiti‐<br />

ve» Gehorsam des vorgeblich Primitiven ge‐<br />

genüber den Regeln der Gruppe taucht als Be‐<br />

griff in der Ethnologie auf; er wird als Spröss‐<br />

ling einer imaginären Instanz angesehen, die<br />

ihren Schatten auf mancherlei andere Vorstel‐<br />

lungen von den «Ursprüngen», die ebenso my‐<br />

thisch sind wie sie selbst, geworfen hat.<br />

Auch zeigt jede Gesellschaft, dass es eine<br />

Beziehung gibt zwischen dem Verbrechen ge‐<br />

gen das Gesetz und der Strafe (châtiments) ‒<br />

welcher Art sie auch immer sein möge ‒, die<br />

letztlich auf ein Einverständnis des betroffenen<br />

Subjekts angewiesen ist. Dies ist eine notwen‐<br />

46<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

dige Bedingung, damit die Strafe selbst ihre<br />

Bedeutung erhält. Und das zeigt sich in zwei‐<br />

erlei Hinsicht: sei es, dass der Verbrecher<br />

selbst die Strafe an sich einsieht, die vom Ge‐<br />

setz für sein Verbrechen vorgesehen ist ‒ wie<br />

das z.B. auf den Inseln der Trobriander der<br />

Fall ist bei der Todesstrafe für den Inzest zwi‐<br />

schen den Cousins mütterlicherseits, von de‐<br />

nen uns Malinowski in seinem Buch „Le crime<br />

et la coutume dans les sociétés sauvages“ berichtet<br />

(und zwar unter Absehung psychologischer<br />

Triebkräfte ‒ nach denen sich die Gründe für<br />

die Tat aufschlüsseln lassen könnten ‒, aber<br />

auch unter Absehung des durchaus in vielen<br />

Farben durchschimmernden Abscheus, der die<br />

Verdammung zum Suizid in der Gruppe selbst<br />

auslösen könnte) ‒ oder sei es, dass die durch<br />

ein Strafrecht erfasste und daher voraussehba‐<br />

re Sanktion eine Prozedur nach sich zieht, die<br />

durchaus nach recht differenzierten sozialen<br />

Einrichtungen verlangt.<br />

Der Glaube, durch den die Strafe im Indi‐<br />

viduum verankert wird, wie auch die Einrich‐<br />

tungen, durch die sie in der Gruppe in die Tat<br />

umgesetzt wird, erlauben es uns, in eine Ge‐<br />

sellschaft wie der unsrigen den Begriff der<br />

Verantwortlichkeit einzuführen.<br />

Doch hier ist es erforderlich, dass diese glo‐<br />

bale Verantwortlichkeit immer auch als Phä‐<br />

nomen einer Äquivalenz gesehen wird. Wir<br />

können grob davon ausgehen, dass immer<br />

auch die Gesellschaft insgesamt (als prinzipiell<br />

geschlossene Gesellschaft, wie die Ethnologen<br />

sagen) davon betroffen ist, wenn eines ihrer<br />

<strong>Mitglieder</strong> für ein Ungleichgewicht gesorgt<br />

hat, das es auszugleichen gilt; und dass dieses<br />

Individuum letztlich kaum [allein] dafür ver‐<br />

antwortlich zu machen ist, weshalb das Gesetz<br />

oftmals nach einer [kollektiven] Satisfaktion<br />

verlangt: entweder zuungunsten der für den<br />

Gesetzesbrecher verantwortlichen <strong>Mitglieder</strong><br />

(tenants) oder der Kollektivität einer „ingroup“,<br />

die ihn als ihr positives Mitglied akzeptiert.<br />

Es kommt sogar vor, dass sich eine Gesell‐<br />

schaft soweit für strukturell entwickelt hält,<br />

dass sie für die Prozedur der Ausschließung<br />

der Untat die Form eines Sündenbocks wählt<br />

oder auf eine der Gesellschaft fremde Hilfe zu‐<br />

rückgreift, um sich zu regenerieren. Das ver‐<br />

weist dann zusätzlich auf eine kollektive oder<br />

mystische Verantwortlichkeit, deren Spuren in<br />

den Gebräuchen zu finden sind oder in umge‐<br />

kehrten (inversés) Triebkräften ans Licht zu<br />

kommen versuchen.

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