Mitglieder-Brief Nr. 85 19. März 2009 - freudlacan
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menschlichen Gehirns, seine Organisations‐<br />
ebenen und seine Plastizität weder verstanden<br />
noch überhaupt in Erwägung gezogen. Wenn<br />
ʺDer neuronale Menschʺ bei seinem Erscheinen<br />
ein lebhaftes Interesse hervorgerufen hat, hat<br />
er leider nicht die Öffnung zu den Wissen‐<br />
schaften des Menschen und der Gesellschaft<br />
zustande gebracht, die ich erhoffte. Aber mit<br />
Ihnen ändern sich ja die Dinge...<br />
C.M.: In dem Dialog, den Sie mit Paul Ricœur ge‐<br />
führt haben (ʺDie Natur und die Regel, was und<br />
denken lässtʺ), gibt es sicherlich einen echten Aus‐<br />
tausch. Dennoch scheint es mir, dass Ricœur in<br />
nichts nachgibt, was für ihn die Überlegenheit der<br />
phänomenologischen Analyse der Subjektivität be‐<br />
züglich jeder anderen Annäherung, insbesondere<br />
der neurobiologischen, ausmacht. So gehört nach<br />
ihm das Gehirn nicht zum eigentlichen Körper.<br />
Man kann sagen: meine Hand, mein Herz, aber<br />
man kann nicht sagen: mein Gehirn. Dieses bleibt<br />
mir ‐ aufgrund der Tatsache, dass ich davon nicht<br />
die geringste Empfindung haben kann ‐ fremd und<br />
äußerlich. Ich kann mich seiner nicht bemächtigen.<br />
Unmöglich deshalb, es als Grund des Subjekts zu<br />
konstituieren. Was denken Sie darüber? Ist ein<br />
Neurobiologe dazu verurteilt, nur über die objekti‐<br />
ven Aspekte des Geistes, wenn man das so sagen<br />
kann, zu arbeiten, ohne jemals Zugang zu dem In‐<br />
timen der Erfahrung zu haben?<br />
Es ist wahr, dass niemand sein eigenes Gehirn<br />
empfinden kann. Ist also Ihr Objekt dazu bestimmt,<br />
der Selbsterfassung durch sich selbst zu entwischen<br />
und folglich, in einem gewissen Sinne, auch dem<br />
Denken? Ist es letztlich nur ein Wissensobjekt?<br />
J.‐P.C.: Paul Ricœur war sehr erstaunt zu er‐<br />
fahren, dass, im Unterschied zu anderen Kör‐<br />
perorganen, das Gehirn über keine ihm eige‐<br />
nen Sinnesnerven verfügt. Es kann nicht seine<br />
eigenen Aktivitätszustände wahrnehmen! Ich<br />
kann nicht sagen, indem ich z.B. das Bild der<br />
ʺMona Lisaʺ in Erinnerung rufe: schau her,<br />
mein visueller Kortex und mein Stirnkortex<br />
werden genau an dieser oder jener Stelle mobi‐<br />
lisiert! Ich bleibe in meiner Subjektivität einge‐<br />
schlossen, außer wenn ich das wissenschaftli‐<br />
che Wissen in Anspruch nehme, die neuen<br />
Bildtechnologien. Diese bringen mir den Be‐<br />
ginn einer Antwort, indem sie mir die objekti‐<br />
ven Daten hinsichtlich meiner subjektiven Zu‐<br />
stände anbieten ... indem sie mir soz. ʺdie<br />
Selbsterfassung durch sich selbstʺ erlauben!<br />
Eine wichtige Arbeit des empirischen Interface<br />
findet sich auf diese Weise mit der Entwick‐<br />
lung der Bild‐ und Aufzeichnungsmethoden<br />
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MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />
EEG oder MEG in realer Zeit eröffnet, auch<br />
wenn die theoretische Arbeit, die sie begleiten<br />
sollte, von meinem Standpunkt aus unzurei‐<br />
chend bleibt. Warum sollte man sich nicht vor‐<br />
stellen, dass die Philosophen gemeinsam mit<br />
Biologen und Mathematikern an dieser Mo‐<br />
dellarbeit teil‐nehmen?<br />
C.M.: Was erwarten Sie heute von einem Dialog<br />
mit der Philosophie, wünschen Sie, dass er stattfin‐<br />
det und welche Form sollte er annehmen?<br />
Wären Sie mit mir einverstanden festzustel‐<br />
len, dass eine ʺKritik der neurobiologischen<br />
Vernunftʺ notwendig geworden ist, die den<br />
philosophischen Einfluss der Neurobiologie<br />
bestimmen würde, indem sie auch die Ver‐<br />
antwortung für gewisse ideologische Abirrun‐<br />
gen einer solchen Beeinflussung übernimmt?<br />
Ist es nicht notwendig geworden, das wahrhaf‐<br />
te Objekt der zeitgenössischen Neurobiologie<br />
zu situieren und abzugrenzen?<br />
J.‐P.C.: Ich hoffe natürlich, dass sich ein Di‐<br />
alog mit der Philosophie entwickeln möge.<br />
Aber ich bin nicht sicher, ob das mit der Aus‐<br />
breitung der angelsächsischen analytischen<br />
und kognitivistischen Tradition in der Folge<br />
von Fodor, Putnam, Quine und den anderen<br />
möglich sei, die nach meiner Meinung eine<br />
sehr negative Wirkung auf die Beziehungen<br />
zwischen Philosophie und Neurowissenschaft<br />
gehabt hat. Im Gegensatz dazu interessiere ich<br />
mich für die Arbeit von Hacking und von<br />
Sperber, obwohl ihre Aufnahme von Begriffen<br />
und Gegebenheiten der Neurowissenschaft<br />
mir noch unzureichend erscheint ... Ich glaube,<br />
man muss sich ein für alle Mal von der Meta‐<br />
pher des Geist‐Programms des Computers und<br />
der formalen Linguistik verabschieden, um an<br />
die neuen neuro‐kognitiven Paradigmen her‐<br />
anzukommen, für die eine neue ʺKritik der<br />
neurobiologischen Vernunftʺ sehr nützlich wä‐<br />
re. Es existiert eine reiche philosophische ‐ und<br />
auch mathematische ‐ Tradition in unserem<br />
Lande, die bei passender Gelegenheit auf diese<br />
Fragen hin neu bestimmt werden könnte, un‐<br />
ter der Bedingung, dass man mit Überzeugung<br />
das aktuelle neurobiologische Wissen und den<br />
sich durchsetzenden ʺinstruierten Materialis‐<br />
musʺ übernimmt. Wir warten sozusagen auf<br />
die neuen Bachelards... und vor allem auf die<br />
großen Theoretiker, wie es in ihrer Zeit Hebb<br />
und Penfield in Kanada, Piron und Hey in<br />
Frankreich, von Neumann, Herbert Simon und<br />
viele andere in den USA waren. Wie Sie es au‐<br />
ßerdem anregen, ʺist es unbedingt notwendig